Jüdische Bibelauslegung

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f. Bibelstudium in feindlicher Umgebung

Neben diesen eher intellektuellen Auseinandersetzungen mit den Auslegungen anderer, zeigen sich in den nordfranzösischen Bibelkommentaren aber immer wieder Spitzen und Nadelstiche, die zumeist weniger eine Zurückweisung christlich-exegetischer Auslegungen als vielmehr Selbstbestätigungen und Ermutigungen für eine in schweren Zeiten mental und physisch zunehmend geschwächte jüdische Gemeinschaft darstellen, vor allem zwischen dem ersten (1096–99) und dem dritten Kreuzzug (1189–92). Ein interessantes Beispiel dafür findet sich in Raschis Kommentar zu Gen 1,1. Raschi diskutiert die Frage, warum die Tora mit dem Schöpfungsbericht beginnt:

|95|Raschi zu Gen 1,1Im Anfang: R. Jitzchaq sagte: (Mit „Im Anfang schuf …“) hätte die Tora eigentlich nicht anfangen dürfen, sondern mit Dieser Monat sei euch der Anfang (der Monatszählung) (Ex 12,2), denn dies ist das erste Gebot, das Israel (als einer Kultgemeinde) gegeben wurde (…). Was (also) ist der Grund, dass (der Text mit) Im Anfang … eröffnet? Die Kraft seiner Taten hat er seinem Volk kundgetan, ihnen das Erbe der Nationen zu geben (Ps 111,6): Wenn nämlich die Völker der Welt zu Israel sagen sollten: ‚Ihr seid Räuber, denn ihr habt die Länder der sieben Nationen eingenommen‘, so sagen sie ihnen: ‚Das ganze Land gehört dem Heiligen, er sei gepriesen. Er hat es erschaffen, und dem gegeben, der in seinen Augen gerecht ist‘ (vgl. Jer 27,5). Nach seinem Willen hat er es ihnen gegeben, und nach seinem Willen hat er es (wieder) von ihnen genommen und uns gegeben.

Im Zentrum dieser Deutung steht die Aussage, dass das Land Israel durchaus einmal anderen Völkern gehört habe, dass aber aufgrund der göttlichen Entscheidung das Land in den Besitz Israels gelangt sei (nach Raschi auch nicht grundlos, wie der Hinweis auf Israels Gerechtigkeit betont). Touitou (Touitou 1990) sieht hier eine Reaktion Raschis auf den ersten Kreuzzug (1096–99), zu dem Urban II. aufgerufen hatte und der 1099 mit der ‚Befreiung‘ des Heiligen Landes durch die Kreuzritter und der Einnahme Jerusalems endete, die vor allem als Befreiung des Heiligen Grabes verstanden wurde. Die Einnahme von Eretz Israel bedeutete natürlich Wasser auf die christlich-theologischen Mühlen, wonach der alte Israelbund endgültig durch den Neuen Bund Gottes mit der Kirche abgelöst sei, und stellte darin den jüdischen Erwählungsglauben und die damit verbundene Verheißung auf erneute Inbesitznahme des Landes und die Rückkehr der Juden einmal mehr in Frage. Raschis Auslegung ist allerdings sehr subtil formuliert: Man weiß nicht genau, ob sie auf die Zeit anspielt, als die Juden das Land einmal besaßen, oder ob sie eine Zukunftsaussage impliziert und damit die Hoffnung stärken möchte, dass einstmals das Land auf jeden Fall wieder an die Juden (zurück-)fällt, schon deshalb, weil es die Tora programmatisch an den Anfang stellt! Diese Auslegung richtet sich an eine angeschlagene und mutlose Gemeinde und zeigt, dass Raschis Bibelauslegung immer auch eine ‚seelsorgerliche‘ Aufgabe versah (zur weiteren Auseinandersetzung Rambans mit Raschis Kommentar siehe unten Kap. 6.3.a.).

Aktualisierende PsalmenauslegungDie Psalmen bieten sich wie kaum eine andere der biblischen Literaturen an, den Gegensatz zwischen ‚gerecht‘ und ‚frevelhaft‘ aufzuzeigen und als für die eigene Zeit geltend zu beanspruchen. Ps 6,11 lautet in der biblischen Überlieferung: Zuschanden und sehr verstört werden alle meine Feinde, sie weichen zurück [jaschuvu] und werden im Nu beschämt. Raschis Erklärung nimmt ihren Ausgangspunkt bei dem Verb jaschuvu (*שוב), das nicht nur ‚zurück-umkehren/zurückweichen‘ zum Ausdruck bringt, sondern, |96|sofern mit einem zweiten Verb verbunden, das Moment der Wiederholung impliziert:

Raschi zu Ps 6,11Was bedeutet sie weichen zurück und werden im Nu beschämt? [Es bedeutet]: ein zweites Mal. Rabbi Jochanan sagte (vgl. Jalqut Schim‘oni, Bd. 2, § 714 [zu Ps 31,1]): In den zukünftigen Tagen wird der Heilige, er sei gepriesen, die Frevler unter den Völkern der Welt richten und sie zur gehinnom (‚Hölle‘) verurteilen. Wenn sie dann gegen ihn zornig werden, wird der Heilige, er sei gepriesen, sie wieder (zur Erde) zurückbringen und ihnen ihre Evangelien (giljonim; Sg. gillajon) zeigen. Und er wird sie (danach) richten und sie (wiederum) verurteilen. (Dann) bringt er sie zur gehinnom (‚Hölle‘) zurück. Dieses (nochmalige Verurteilen zur gehinnom ist eine doppelte Beschämung (buscha kefula) (für sie).

Auch diese Erklärung entspringt dem unbedingten Wunsch, dass die Frevler unter den Christen (die Nennung der Evangelien zeigt einen eindeutigen Bezug auf die christliche Umwelt) ihre gerechte Strafe dereinst erhalten werden. Zentral ist hier der Begriff der Beschämung. Er spielt in der hebräischen Traditionsliteratur ohnehin eine große Rolle, meistens jedoch im Kontext von Scham und Verachtung (buscha u-khelima) Israels angesichts der Massaker durch die anderen Völker (vgl. EkhaR Petichta 24; Raschi zu Ps 14,6). Zugute halten kann man Raschi hier, dass er offenbar einen Unterschied zwischen den ‚Gerechten‘ und den ‚Frevlern‘ auch unter den Christen voraussetzt. Die Konkurrenzsituation zwischen Juden und Christen wird mit dem Bezug auf die Evangelien auf den Punkt gebracht: Die Christen, die auch nach Raschis Ansicht nicht zu den Götzendienern gehören, werden an ihren eigenen heiligen Schriften gemessen und deshalb zum zweiten Mal verdammt. Schärfer kann man den christlichen Erwählungsanspruch kaum zurückweisen.

In der ausgehenden zweiten Generation nach Raschi lässt sich erkennen, dass die jüdische Exegese unter dem Druck der Verfolgungen ihren exklusiv intellektuellen Zugang zur Bibel ein erstes Mal wieder aufgibt, um die an den narrativen Bibelauslegungen erprobte Technik der Nach- oder Neuerzählung nun unmittelbar auf die tröstende Anrede der Gemeinde anzuwenden: Aus Hos 2,1–3, einer in unpersönlicher 3. Pers. formulierten Verheißung der endzeitlichen Wiederherstellung Israels, wird bei R. Eli‘ezer aus Beaugency eine in der 1. Pers. formulierte göttliche Zusicherung:

R. Eli‘ezer aus Beaugency zu Hos 2,1–3Die Zahl der Kinder Israels in den Ländern ihrer Feinde wird am Ende der Tage wie Sand am Meer werden, denn auch dann noch, da sie sich im Land ihrer Feinde befinden, habe ich sie nie verworfen und verabscheut, um sie zu vernichten. Nein, ich werde sie dort fruchtbar werden und sich vermehren lassen, und dann werden alle Völker begreifen und erkennen, dass ich sie noch immer liebe. Und es wird geschehen, statt dass dort, wenn sie sich noch im Exil befinden, gesagt wird, dass sie nicht mein Volk seien, (man also meint), dass sie nicht im Exil wären, wenn sie mein Volk wären, wird |97|zu ihnen gesagt werden: Söhne des lebendigen Gottes, denn wenn auch ihre Väter gestorben sind – ihr Gott lebt (…).

Dieser Text reagiert unmittelbar auf den christlichen Vorwurf, dass das jüdische Exil ein Zeichen für das bleibende Verworfensein Israels sei. Auch diese Auslegung zeigt, wie kunstvoll in R. Eli‘ezers Auslegung der biblische Text mit seiner Erklärung verwoben ist. Der Peschat* wird unversehens zu einem göttlichen Manifest für die in der Diaspora befindliche Gemeinde.

Bibelauslegung zur ErbauungDer Bibeltext, vor allem die prophetischen Verheißungen, stellten für die nordfranzösischen Ausleger auch eine Quelle der Erbauung dar. Dies zeigt der Kommentar des R. Eli‘ezer aus Beaugency zu Ez 37,12 (Siehe, ich öffne eure Gräber und lasse euch aus euren Gräbern heraufkommen als mein Volk und bringe euch ins Land Israel), der sich wie eine Predigt liest:

R. Eli‘ezer aus Beaugency zu Ez 37,12(Aus euren Gräbern), d.h. aus dem Land der (anderen) Völker (…) Und dies ist ein großer Trost (nechama gedola) für all jene, die um der Einheit des göttlichen Namens willen [d.h. als Märtyrer] gestorben sind. Aber (auch für jene), die nicht (eigentlich) umgebracht wurden (gilt diese Verheißung), da sie all ihre Tage Schmähungen (charafot), Schmach (qalon) und Erniedrigungen erdulden (mussten) und geschlagen wurden, weil sie nicht an die christlichen ‚Heilmittel‘ glaubten, und daran starben. Und (dieser Trost vollzieht sich nicht allein) durch (die) Sündenvergebung; vielmehr werden sie (wirklich) leben, auf ihren Füßen stehen und ins Land Israel gehen.

Der Hinweis auf die jüdischen Märtyrer verweist entweder auf den zweiten Kreuzzug von 1146, bei dem es vor allem in der Normandie zu Ausschreitungen und Übergriffen gegen die Juden kam (Battenberg 2000, 81–96), mehr noch aber auf die Judenverfolgungen, die 1171 durch eine Ritualmordaffäre in Blois an der Loire, nur knapp 40 km südlich von Beaugency, ausgelöst wurden (Einbinder 1998). Die Gräber, das sind die Länder der fremden Völker, d.h. jene Länder, in denen Israel in der Diaspora lebt. Anders als noch bei Raschi und Raschbam, zeigt sich jetzt bei R. Eli‘ezer aus Beaugency ein deutliches Bewusstsein für die ‚Uneigentlichkeit‘, in der das jüdische Volk unter den anderen Völkern leben musste.

R. Eli‘ezer aus Beaugency zu Jes 24,23Die ezechielische Verheißung der Rückkehr in das Land Israel war für die Juden vor allem in Zeiten der Kreuzzüge nicht nur unrealistisch; sie stellte im Kontext des christlichen Erwählungsanspruches zunehmend eine Herausforderung an die eigene religiöse Standfestigkeit dar. Und je mehr man sich auch der literarischen Qualität der biblischen Schriften bewusst wurde, desto mehr klafften religiöser Anspruch und lebensweltliche Realität auseinander. So manche Auslegung R. Eli‘ezers wirkt daher schon fast wie die Beschwörung des Unmöglichen. Zu Jes 24,23 schreibt er:

|98|Da wird der Mond beschämt werden und die Sonne sich schämen: (…) Dies ist ein Bildwort (maschal), mit anderen Worten: (der Vers meint), dass (die Kinder) Israels durch ihren Wohlstand und ihre Erlösung mehr Licht und Freude erlangen werden, als das Licht von Sonne und Mond. In jedem Fall werde ich mein Herz nicht (soweit) zur Verzweiflung kommen lassen, dass es den (eigentlichen) Sinn dieses Verses (maschma‘ut ha-miqra) (aufgibt), wonach es (dereinst) wirklich (mammasch) so eintreffe, denn unser Gott ist zu noch viel mehr als diesem hier imstande (…).

 

Diese Auslegung wider den realgeschichtlichen Augenschein spricht einmal mehr dafür, dass R. Eli‘ezer biographisch wohl eher in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts zu verorten ist. Der zweite und dritte Kreuzzug (1146; 1189) und die Vertreibung durch Philipp II. August 1181 (Greive 1992, 82–90) hinterließ bei den Juden Mittel- und Westeuropas eine bis dahin nicht gekannte Verzweiflung, die offenbar nicht mehr mit den bisherigen religiösen Deutemustern aufzufangen war. Hier suchte der neue Umgang mit den biblischen und rabbinischen Quellen, der deutlich rationalistischer orientiert war und die literarische Qualität der Bibeltexte in den Vordergrund stellte, neue Wege, um die biblischen Schriften für den damaligen Menschen aktuell bleiben zu lassen.

3.4. Zusammenfassung

Bereits an der Enkel-Generation von Raschi zeigt sich, dass die Juden in Nordfrankreich zu französischen Juden geworden waren. Sie sprachen besser Französisch als Hebräisch, und ihre Bibelkommentare zeigen, dass sie auch die nordfranzösische profane Literaturentwicklung aufnahmen. Die umfangreichen hebräisch-französischen Glossarien (sifre pitronot*) sind ein eindrucksvolles Zeugnis für das Bemühen, die Bibel unter den Juden (noch oder wieder) verständlich sein zu lassen. Diese Glossen der Bibelübersetzungen bilden gleichzeitig eine entscheidende Hinführung zur radikalen Peschat-Auslegung*, da im Übersetzungsprozess jedem Lemma* nur eine entsprechende Übersetzung an die Seite gestellt wird. Die Rezeption der französischen Kultur und Sprache schloss dabei die beginnende Literatur nicht aus, und gerade die Kommentare Raschbams zeigen eine intensive Aufnahme der zeitgenössischen höfischen Literatur und Literaturtheorie. Mit dem ausgehenden 12. Jahrhundert wird dies auch für die Juden Frankreichs in einem zunehmend judenfeindlichen Umfeld immer schwieriger, und dies spiegelt sich auch in den Kommentaren: Die anti-christliche Polemik wird heftiger, und die Bibelkommentatoren lassen immer häufiger eine apologetische Haltung erkennen.

[Zum Inhalt]

|99|4. Kapitel: Bibelauslegung und universale Gelehrsamkeit

Battenberg, Friedrich, Das Europäische Zeitalter der Juden: Zur Entwicklung einer Minderheit in der nichtjüdischen Umwelt Europas, Bd. I: Von den Anfängen bis 1650. Darmstadt 2000 (2., um ein Nachwort des Autors erw. Aufl.).

Charlap, Luba, Rabbi Abraham Ibn-Ezra’s Linguistic System. Tradition and Innovation (hebr.). Beer Scheva 1999.

Cohen, Mordechai, The Qimhi Family. In: Magne Sæbø (Hg.), Hebrew Bible / Old Testament: The History of Its Interpretation, Bd. 1,2: The Middle Ages. Göttingen 2000b, S. 388–415.

Golb, Norman, The Jews in Medieval Normandy: A Social and Intellectual History. Cambridge/New York/Melbourne 1998.

Greive, Hermann, Studien zum jüdischen Neuplatonismus: Die Religionsphilosophie des Abraham Ibn Ezra (Studia Judaica, Bd. 7). Berlin/New York 1973.

–, Die Juden: Grundzüge ihrer Geschichte im mittelalterlichen und neuzeitlichen Europa. Darmstadt 41992.

Lancaster, Irene, Deconstructing the Bibel. Abraham ibn Ezra’s Introduction to the Torah (Curzon Jewish Philosophy Series). London 2003.

Maier, Johann, Geschichte der jüdischen Religion: Von der Zeit Alexanders des Großen bis zur Aufklärung. Mit einem Ausblick auf das 19./20. Jahrhundert (Spektrum, Bd. 4116). Freiburg/Basel/Wien 1992 (2., vollst. neu bearb. Aufl.).

Prijs, Leo, Die grammatikalische Terminologie des Abraham Ibn Esra. Basel 1950 (ND Hildesheim 1987).

Sæbø, Magne (Hg.), Hebrew Bible / Old Testament: The History of Its Interpretation, Bd. 1,2: The Middle Ages. Göttingen 2000.

Sáenz-Badillos, Angel, Abraham ibn Ezra and the Twelfth-Century European Renaissance. In: Martin H.J. Baasten/Reinier Munk (Hgg.), Studies in Hebrew Literature and Jewish Culture. Presented to Albert van der Heide on the Occasion of His Sixty-Fifth Birthday (Amsterdam Studies in Jewish Thought, Bd. 12). Dordrecht 2007, S. 1–20.

Sela, Shlomo, Abraham Ibn Ezra and the Rise of Medieval Hebrew Science (Brill’s Series in Jewish Studies, Bd. 32). Leiden/Boston 2003.

Sela, Shlomo/Freudenthal, Gad, „Avraham Ibn Ezra’s Scholarly Writings: A Chronological Listing.“ Aleph: Historical Studies in Science and Judaism 6 (2006), S. 13–55.

Simon, Uriel, Jewish Exegesis in Spain and Provence, and in the East, in the Twelfth and Thirteenth Centuries. Abraham ibn Ezra. In: Magne Sæbø (Hg.), Hebrew Bible / Old Testament: The History of Its Interpretation, Bd. 1,2: The Middle Ages. Göttingen 2000, S. 377–387.

Talmage, Frank, David Kimhi. The Man and the Commentaries (Harvard Judaic Monographs, Bd. 1). Cambridge 1975.

|100|4.1. Voraussetzungen und Hintergründe

Mit R. Avraham ibn Ezra und der über mehrere Generationen aktiven Familie Qimchi betreten wir ein neues Feld der jüdischen Bibelauslegung, das sich trotz Überschneidungen und gemeinsamer Quellen grundlegend von der Bibelauslegung in Nordfrankreich unterscheidet. Dies beginnt mit der Sammlung und Sortierung verschiedener Wissensformen und geht dabei in eine wissenschaftlich orientierte Bibelauslegung über. Hatte noch Raschbam, in dessen Umfeld ausschließlich rabbinisches Lernen vorherrschte, ausführlich begründen müssen, dass es zwei Wege der Bibelauslegung gibt, den rabbinischen und den literaturtheoretisch orientierten (vgl. oben Kap. 3.3.b.–3.3.d.), so findet sich eine solche Begründung bei ibn Ezra gar nicht mehr: Er weist vier Arten der Bibelauslegung zugunsten einer fünften zurück, weil sein Umfeld zwar auch rabbinisches Lernen betrieb, dieses jedoch in einem Wissenschaftskontext neben der Sprachwissenschaft, Philosophie, Astronomie, Mathematik, Medizin und Psychologie als lediglich einer von vielen Wissenszweigen firmierte, die nicht nur ein enormes Entwicklungspotential in sich bargen, sondern sich durchgehend vor dem Forum der Vernunft zu rechtfertigen hatten.

a. Der Beginn der christlichen Reconquista

Mit der Eroberung Cordobas durch die Berber 1013 und nach dem Niedergang der Herrschaft der Umayyaden 1031 (vgl. auch oben Kap. 1.2.c.) entstand eine Reihe kleiner Reiche auf spanischem Boden, zu deren politischer, finanzieller und wissenschaftlicher Elite sich auch die Juden zählen durften. In Sevilla, Granada oder Málaga bekleideten sie einflussreiche Positionen im Finanz- und Verwaltungswesen, suchten jedoch gleichzeitig, ihre eigene Literatur- und Kulturtradition zu festigen und auszubauen. Auf der anderen Seite begann die christliche Reconquista (1031–1260): 1095 markiert mit der christlichen Eroberung Toledos ein wichtiges Datum; 1115 fällt Tudela. Das aufsteigende christliche Spanien bot den Juden, anders als unter den Muslimen, anfangs ein günstiges Klima und eine Privilegierung durch die herrschende Schicht (Kirche und Adel). Insbesondere Lucena zeigt, wie sehr hier verschiedene Kultur- und Religionskreise aufeinander prallten: zum einen war die Stadt, wie auch Toledo, seit 1085 unter christlicher Herrschaft, von einer regen Übersetzertätigkeit vom Arabischen ins Lateinische geprägt; auf der anderen Seite war Lucena auch ein Zentrum der judäo-arabischen Hebraistik, bis dies durch die Almohaden-Kriege jäh zerstört wurde: 1146 wurden die Juden verfolgt |101|und zur Konversion gezwungen. Viele suchten den Verfolgungen zu entgehen, indem sie entweder nach Eretz Israel einwanderten oder, wie Mosche ben Maimon (Rambam/Maimonides; 1135–1204) nach Ägypten emigrierten. Mit dem Ende des Almohaden-Reiches 1212 und der Eroberung des Südens (Fall Cordobas 1236) durch Ferdinand III. von Kastilien und Léon (1199–1252) kommt die Reconquista zu ihrem ersten Abschluss. Unter Ferdinands Sohn Alfons X. (1221–84; ‚El Sabio/der Weise‘) gelangte die jüdisch-arabische Bildungskultur zur Blüte (Greive 1992, 31–43). Hermann Greive sieht hier den „Kulminationspunkt des gesamten Vermittlungsprozesses des wissenschaftlichen Kulturgutes der arabischen Welt an den Okzident“ (Greive 1992, 41).

b. Jüdische Bildungskultur in Spanien und der Provence

TalmudstudiumDie spanischen Juden zeigten ein intensives Bemühen, sich von den letzten Geonim in Babylonien zu emanzipieren. Zentren der Gelehrsamkeit waren Cordoba und Lucena, aber im Gegensatz zum talmudischen* Studium bei den aschkenasischen* Juden, unter denen das Studium von Tora und Talmud um seiner selbst willen (tora lischma*) betrieben wurde, waren die spanischen Talmudisten vor allem um die Explikation und Anwendung für die rituelle Praxis bemüht (Reichman 2007). Jitzchaq Alfasis (1013–1103) Hilkhot Rabbati seien hierfür exemplarisch genannt. Aber während man in Deutschland und Frankreich praktisch ausschließlich den Talmud und die Bibel studierte, verzweigt sich das jüdische Wissen in Spanien im 10. und 11. Jahrhundert in mehrere und für die weitere Entwicklung des Judentums grundlegende Wissensgebiete. Dazu gehörte vor allem anderen die Entwicklung der hebräischen Sprachwissenschaft (vgl. oben Kap. 1.2.c.). Die hier verfassten arabischen Grundlagenwerke wurden bald sukzessive ins Hebräische übertragen und setzten sich dann langsam auch in Westeuropa durch.

Arabisch-hebräische ÜbersetzertätigkeitEs war zuerst R. Avraham ibn Ezra, der die grammatischen Werke von R. Jehuda Chajjūğ für die Juden Norditaliens ins Hebräische übersetzte: den Sefer Otijjot ha-Noach (‚Buch über die sog. litterae quiescens [א, ה, י, ו]‘; Prijs 1950, 80–83) sowie den Sefer ha-Niqqud (‚Buch über die Punktation‘; vgl. auch Charlap 1999, 6). Der Sefer ha-Kefel (‚Buch über die Verdoppelung‘) wurde zunächst von Mosche ibn Gikatilla übersetzt (Rottzoll 2000, CXXIII), alsdann aber auch von ibn Ezra.

Die Werke von R. Jona ibn Ğanaḥ, insbesondere sein Wurzelwörterbuch (arab. Kitāb al-Uzūl, hebr. Sefer ha-Schoraschim) und seine Grammatik (arab. Kitāb al-Luma, hebr. Sefer ha-Riqma) wurden erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts von Jehuda ibn Tibbon ins |102|Hebräische übersetzt und gelangten so in die Bibliotheken auch der französischen und aschkenasischen Juden. Der Übersetzer Jehuda ben Scha’ul ibn Tibbon (1120–nach 1190) schreibt hermeneutisch ausgefeilt in seiner Einleitung zum Sefer ha-Riqma, dass eine Übersetzung stets unzureichend und der Inhalt des Werkes aufgrund der formalen Änderung (vom Arabischen ins Hebräische) auch inhaltlich nur unzulänglich zu übertragen sei, da jedem Wort auch eine spezifische Bedeutung (injan) zu eigen sei. Hierin steht ibn Tibbon in guter Tradition aller mittelalterlichen Grammatiker: Diese standen auf dem Standpunkt, dass jedes hebräische Wort aus zwei Komponenten bestehe, dem mar’e, d.h. der äußerlichen/schriftlichen Erscheinung, und (als semantischer Kategorie) dem injan, der Bedeutung eines Wortes. Gerade im lexikographischen Zusammenhang wurde daher nur zu oft davor gewarnt, mar’e und injan fälschlich zusammenzubringen, indem man (dies ist die dritte Dimension) ein falsches dome, d.h. eine falsche Analogie, ins Spiel brachte.

Philosophie und PoetikIn der Zeit der Almoravidenherrschaft ab 1086 beginnt so etwas wie eine zweite kulturelle Blütezeit für die Juden (Greive 1992, 27–30), in der die islamisch-arabische Wissenstradition auf fruchtbaren jüdischen Boden fällt. Vermittelt und angeregt durch arabische Dichtkunst erwuchs auch im jüdischen Spanien eine eigene profane wie religiöse Poesie, als deren wichtigste Vertreter Schelomo ibn Gabirol (1020–ca. 1058), Mosche ibn Ezra (ca. 1055–ca. 1140) sowie Jehuda ha-Levi (1075–1141) zu nennen sind. An ibn Gabirol zeigt sich exemplarisch, wie die Juden Spaniens die Anregungen ihrer Umweltkultur aufnahmen. Sein philosophisches Hauptwerk Meqor Chajjim (‚Quelle des Lebens‘; lateinisch bekannt als fons vitae), das ursprünglich auf Arabisch verfasst wurde und heute nur in der lateinischen Version vollständig erhalten ist, zeigt ein neuplatonisches Gottes- und Weltbild und wurde nicht nur von ibn Ezra, sondern im 12. und 13. Jahrhundert vor allem von den sog. Chaside Aschkenaz* (vgl. nachfolgend Kap. 5) rezipiert.

 

NaturwissenschaftenNeben Philosophie und Dichtkunst spielten auch die durch die Araber vermittelten Wissenschaften eine entscheidende Rolle: Astronomie, Mathematik, Psychologie, Kosmogonie und Logik sind Felder, die in die Kommentare der von diesem Kulturraum beeinflussten jüdischen Bibelausleger eingeflossen sind. Ganz ähnlich der Philologie, die die ‚heilige Sprache‘ in eine ‚wissenschaftliche Sprache‘ zu bringen suchte, wurden gerade Kosmogonie und Astronomie als ‚theologische Wissenschaften‘ adaptiert und prägten das Denken der Juden aus Spanien und der Provence. Insbesondere in der von der arabischen Gelehrsamkeit geprägten Gesellschaft lässt sich keine geradlinige Unterscheidung zwischen ‚heiligen‘ und |103|‚profanen‘ Wissenschaften ausmachen, im Gegenteil: Das Studium der Natur-Wissenschaften war ein Teil auch der ‚Theo-Logie‘. In dieser Zeit entsteht das Ideal des Universalgelehrten, das auch für die Juden prägend wurde. Das Talmudstudium allein reichte nicht mehr, und dies hing sicher damit zusammen, dass die Juden auch in wirtschaftlich-politischer Hinsicht mit den Nicht-Juden einen gemeinsamen öffentlichen Raum teilten. Die hiesigen Gelehrten verfassten weniger Bibelkommentare oder Talmudkommentierungen, sondern Schriften ganz verschiedener Genres. Neben grammatischen und philosophischen Traktaten und poetischen Werken finden wir Polemiken ebenso wie astronomische und medizinische Abhandlungen. Letztere wurden vor allem von Gerrit Bos ediert (Bos 2002ff.). Der wissenschaftliche Gewinn für alle Disziplinen, die sich mit der Wissenschaftsgeschichte des mittelalterlichen Judentums, Christentums und dem Islam beschäftigen, kann nicht hoch genug veranschlagt werden. Das profane Wissen fand seinen Niederschlag auch immer wieder in den Bibelkommentaren. Die jüdische Teilhabe an der allgemeinen Wissenskultur wurde intensiv gesucht und sollte spätestens von der Mitte des 12. Jahrhunderts an zu enormen innerjüdischen Konflikten führen (vgl. im Folgenden Kap. 6.1.a.).

Midrasch-Sammelwerke des HochmittelaltersDas 11. und 12. Jahrhundert war gleichzeitig aber auch die Periode der späteren Midraschim*, z.B. Ester Rabba II (Langer 2016, 290; Börner-Klein/Hollender 2000) oder Midrasch Tehillim II (Langer 2016, 291). In Narbonne waren es neben dem Midrasch Rabba vor allem Texte aus der Schule des R. Mosche ha-Darschan (‚der Ausleger/Prediger‘; 11. Jahrhundert) aus Narbonne und des Tuvja ben Eli‘ezer (Kastoria/Mainz; 11. Jahrhundert), die intensiv rezipiert wurden. Mosche ha-Darschan war neben Tuvja ben Eli‘ezer der wichtigste Exponent für aggadische Auslegungen und Midrasch-Exzerpte im Hochmittelalter. Auf Mosche ha-Darschan, den Lehrer von Natan ben Jechi’el aus Rom (Verfasser des Sefer Arukh), geht das Werk Bereschit Rabbati zurück; der Kommentar des Tuvja ben Eli‘ezer ist unter dem Namen Leqach Tov (‚gute Lehre‘), einem Kommentar zur Tora und den fünf Megillot*, überliefert (verfasst 1107) und wurde wohl von ihm selbst mehrfach überarbeitet (zum Ganzen Stemberger 2011, 389–397; Langer 2016, bes. 241–248).