Jüdische Bibelauslegung

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b. Die Emanzipation von Raschi

Bedingt wohl auch durch die relativ schnell sich verbreitende Popularität Raschis, zeigen insbesondere seine (geistigen) Enkel ein intensives Bemühen, sich von ihm unabhängig zu machen. Dabei erweisen sich sowohl Raschbam als auch R. Eli‘ezer aus Beaugency als ausgesprochen selbstbewusst. Vor allem ging es darum, sich von der traditionellen Auslegung und ihren Auslegungszielen zu emanzipieren. Die Gegenüberstellung von Peschat* und Derasch*, so zentral sie ist, bringt dies jedoch nur unvollständig zum Ausdruck. Immer wieder insistiert vor allem Raschbam darauf, dass es zwei Lesarten der Bibel gebe, eine ‚klassische‘, den rabbinischen Traditionen verpflichtete Lesart, und eine ‚neue‘, zeitgemäße Betrachtung, eine, die einen weltlichen Zugriff und weltliche Studien impliziert. |86|Dies gilt dabei nicht nur für die narrativen Teile der Tora, sondern auch für die halachischen Abschnitte. Die Grenzen der bisherigen Auslegungen zeigt Raschbam vor allem im locus classicus seiner bibelexegetischen Hermeneutik, der Auslegung zu Gen 37,2, auf:

Raschbam zu Gen 37,2Die Verständigen [ohave sekhel] unter uns haben Einsicht gewonnen in das, was (schon) unsere Rabbinen gelehrt haben, wonach kein Bibelvers seinen einfachen Schriftsinn einfach hinter sich lässt (…). Die Früheren, aus der ihnen eigenen Frömmigkeit [chasidut] heraus, haben stets dazu geneigt, den Derasch-Erklärungen zu folgen, die (nach ihnen) das Wesentliche sind. Daher waren sie auch an die Tiefe des einfachen Schriftsinnes [omeq peschuto schel miqra] nicht gewöhnt (…). Aber selbst Rabbenu Schelomo, mein Großvater, die Leuchte der Augen des Exils, der die Tora, die Propheten und die Schriften ausgelegt hat, hat sich der Peschat-Auslegung der Schrift verschrieben, und ich (…) diskutierte sogar mit ihm und vor ihm, und er gestand mir ein, dass er, wenn er nochmals (so) frei wäre (wie ich heute), so würde er andere Auslegungen verfassen, gemäß den Peschat-Erklärungen, wie sie (jetzt) täglich neu aufkommen.

Nach Raschbam haben also seine Vorgänger, vor allem Raschi, die Tiefe des einfachen Schriftsinnes [omeq peschuto schel miqra] immer wieder verfehlt. Ihre ‚Frömmigkeit‘, d.h. ihr Anspruch, Texte im jüdischen Auslegungskontext zu verstehen, habe ihnen dabei im Wege gestanden. Die hier genannten ohave sekhel, also jene, ‚die den Verstand lieben‘, bilden jedoch nicht etwa einen Gegenpol zu den ‚Dummen‘, sondern zu den ‚Frommen‘ und sind, wie schon der Ausdruck sekhel ‚Verstand‘ zeigt, sicher mit den sog. maskilim identisch. Pietät gegenüber der Tradition kollidiert also offenbar mit der neuen Auslegungsweise. Jene Hörer, die auch sonst auf der (profanen) Bildungshöhe ihrer Zeit sind, bekommen von Raschbam einen Zugang zur Bibel gelehrt, der denjenigen Raschis nicht ersetzen, aber ergänzen möchte:

Raschbam zu Ex 40,35Wer seine Aufmerksamkeit (auf diesen Text) als ein (für die religiöse Kultur bindendes) Wort unseres Schöpfers richten will, der möge nicht abweichen (vom Weg) der Kommentierungen meines Großvaters, R. Schelomo, und von ihm nicht ablassen. Die meisten Halakhot und Midrasch-Auslegungen in ihnen kommen ja dem Peschat der Verse recht nahe, und werden alle (aus [scheinbar] überzähligen Vers[-wendung]en oder Modifikationen des sprachlichen Ausdruckes) abgeleitet: Gut ist, wenn du an dem einen festhältst – wie ich ja (bereits) erklärt habe – aber auch das andere nicht beiseite legst (Koh 7,18).

Raschbam insistiert darauf, dass dem jüdisch-traditionellen Deutemuster für die ‚jüdische‘ Bibelauslegung – im Gegensatz zu einer Bibelauslegung gemäß den Maßstäben der nichtjüdischen Umwelt – das Hauptgewicht zukäme, und dass hierin der Kommentar des Raschi nahezu unübertroffen sei, weil er für die jüdisch-traditionelle Rezeption des Bibeltextes die geeignete Auslegung bereit halte. Die |87|grundsätzliche Unterscheidung in diese zwei Lesarten sowie das Bewusstsein für die Genese von Halakhot, die oftmals erst nachträglich an den Bibelvers angebunden wurden, ließ Raschbam so weit gehen, dass er den Bibeltext auch gegen die halachische Praxis auslegen konnte, wie in seiner Kommentierung von Ex 13,9 (Es sei Dir zum Zeichen …), ein Vers, den er gegen Raschi, der hier auf die Praxis des Tefillin*-Legens verweist, unter Verweis auf Hld 8,6 als figurative Rede auszeichnet, ohne gleichzeitig zum Verzicht auf die rituelle Performanz (Tragen von Tefillin) aufzurufen.

c. Auslegung als Rekomposition

Ein wichtiges Kennzeichen des neuen literarischen Zugangs zur Bibel ist der vor allem bei Raschbam ausgeprägte Versuch, den Gedanken- und Erzählgang des biblischen ‚Autors‘ (Mose) nicht nur nachzuverfolgen, sondern die biblischen Geschichten – Väterüberlieferungen, Mose-Erzählung – neu zu erzählen. Raschbam profiliert Charaktere und gestaltet vermittels rhetorischer und narrativer Interjektionen, die er teilweise dem Bibeltext selbst entnimmt, den Gang biblischer Erzählungen überraschend um. Dabei schlüpft er bisweilen sogar in die Rolle des Erzählers. Dies zeigt deutlich seine Auslegung zu Gen 32,23–33, der Schilderung des Kampfes am Jabboq.

Raschbam zu Gen 32,23–33Jakob wollte in der Nacht in eine andere Richtung fliehen, hätte ihn nicht der Engel aufgehalten [*עכב!]. Daher ist (der Satz ‚Siehe, er selbst ist auch schon nach uns‘ so zu verstehen), dass (Jakob) beabsichtigte, den Esau zu täuschen, ihn aber (zumindest) nicht treffen zu müssen. (23) Und er stand in jener Nacht auf, weil er (ja) vorhatte, in eine andere Richtung zu fliehen. Deshalb durchquerte er nachts den Fluss (…) die Furt des Jabboq – die Furt durch das Wasser, um zu fliehen. (25) Und Jakob blieb allein übrig, d.h. nachdem er alle(s), was (zu) ihm gehörte, hinübergebracht hatte, damit niemand mehr da war, der noch hinüber (gebracht werden) musste, außer ihm, und er wollte nach ihnen hinübergehen. Allerdings: Er hatte (gleichzeitig) vor, in eine andere Richtung zu fliehen, damit er nicht etwa auf Esau treffe. Aber ein Engel rang mit ihm, damit er nicht fliehen könne und sehen würde, dass das Versprechen Gottes, dass Esau ihm nicht schaden werde, auch wirklich eintreffe.

Der Kommentar konzentriert sich auf den emotionalen Zustand Jakobs (Angst) und führt diesen erzählerisch durch das mehrfach angeführte Fluchtmotiv aus. Alle im Bibeltext geschilderten Aktivitäten Jakobs werden in diesem Sinne gedeutet. Mit dieser Erzähltechnik befindet sich Raschbam in eigentümlicher erzählerischer Verwandtschaft mit Chrétien aus Troyes und seiner Erzähltechnik, der es vor allem um das Aufspüren des ‚homo interior‘ zu tun ist. Auch bei Raschbam geht Bibelauslegung nahtlos in eigenes Erzäh|88|len über, und es ist deutlich zu erkennen, dass es nicht einfach um die Erklärung des Bibeltextes geht, sondern beinahe um dessen ‚literarische Rehabilitierung‘. Der Kommentar scheint darin ganz auf den Leser/Hörer ausgerichtet. Nicht umsonst bezieht Raschbam in seinen Ausführungen immer wieder den Leser ein. So nimmt Raschbam in einem fast schon rezeptionsästhetischen Zugang die Rolle eines aufmerksamen und kritischen Lesers ein, der die Tora als ein Stück Literatur ansieht und seine Lese-Erwartung entsprechend ausrichtet.

d. Die Entstehung einer biblischen Literaturtheorie

Raschbams Bibelauslegung wird konsequent literaturtheoretisch von der Relation zwischen dem Erzählschema und der Lese-Erwartung her entwickelt. Ein wichtiges Moment ist dabei die Aufdeckung literarischer Antizipation: Ein Motiv, das in dem Kontext, in dem es auftritt, für das Erzählschema keinen unmittelbar einsichtigen Wert hat, wird erzählerisch vorweggenommen und verweist so indirekt auf einen Kontext, der auf diese erste Erwähnung sachlich zurückgreifen kann. Die Vorausdeutungen sollen den Leser auf zukünftige Geschehnisse oder Gefahren für die Protagonisten aufmerksam machen, (spätere) Wissenslücken proleptisch füllen oder entscheidende Wendungen der Handlung vorbereiten (kompletive Prolepse). Ein prägnantes Beispiel dafür ist Raschbams Kommentierung von Gen 1,1 (nachfolgend ein Ausschnitt), wo auch er die Frage Raschis aufnimmt, warum der Schöpfungsbericht verfasst wurde:

Raschbam zu Gen 1,1Dies ist das Prinzip seiner [des Textes] Erzählstruktur (iqqar peschuto) – ganz nach dem Muster des biblischen Ausdrucks, der für gewöhnlich Dinge vorwegnimmt und eine Sache erklärt, die für den unmittelbaren Sinnzusammenhang nicht relevant ist, aber an anderer Stelle (relevant wird). Wenn (z.B.) geschrieben steht: „(Die Söhne Noahs) (…) sind Sem, Ham und Jafet. Und Ham ist der Vater Kanaans“ (Gen 9,18), (so wird dieser letzte Halbsatz deshalb schon vorgezogen), weil es später (im Text) heißt: „Verflucht sei Kanaan“ (Gen 9,25). Und hätte er nicht schon vorher ausgeführt, wer Kanaan ist, so wüssten wir gar nicht, warum Noah (einen) Kanaan verflucht. (Oder) Da ging Ruben hin und schlief mit Bilha, der Nebenfrau seines Vaters. Israel hörte davon (Gen 35,22). Warum ist hier (schon der Satz) ‚Israel hörte davon‘ ausgeführt, wenn (gleichzeitig) aber an dieser Stelle nichts davon steht, dass Jakob irgendetwas zu Ruben gesagt hat? Vielmehr (muss dies an dieser Stelle erwähnt werden), weil er in der Sterbestunde zu ihm sagte: (…) brodelnd wie Wasser, der Bevorzugte sollst du nicht bleiben, denn du hast das Bett deines Vaters bestiegen, geschändet hast du damals mein Lager (Gen 49,4). Daher hat (der biblische Autor den Satz) ‚Israel hörte davon‘ vorgezogen, damit du [als Leser] dich nicht wunderst, wenn du siehst, dass er ihn am Ende seines Lebens (derart) tadelte. Und so ist es |89|an vielen Stellen (in der Schrift). Daher (verhält es sich auch an dieser Stelle so): Der ganze Abschnitt des sechstägigen Schöpfungswerkes ist von Mose, unserem Lehrer, vorangestellt worden, um dir [als Leser] zu verdeutlichen, was (gemeint ist, wenn) der Heilige, er sei gepriesen, sagte, als er die Tora gab: Gedenke des Schabbat, ihn zu heiligen (…) denn in sechs Tagen hat der Ewige Himmel, Erde und Meer gemacht und alles, was dazugehört; am siebten Tag ruhte er (…) (Ex 20,8–11) (…). Daher erwähnte Mose (das Schöpfungswerk) vor Israel, um ihnen kundzutun, dass das Wort Gottes die Wahrheit sei.

 

Nach Raschbam verfasste Mose den gesamten Abschnitt und gestaltete ihn unter rhetorisch-stilistischen Aspekten. Der Peschat* ist hier nicht einfach der Literalsinn, sondern das Prinzip des Aufbaus der Erzählung und des hier formulierten sprachlichen Ausdrucks. Inhaltlich war Mose als dem biblischen Autor hinsichtlich der Schöpfung allein die Gottesrede aus Ex 20,8–11 vorgegeben, die das sechstägige Schöpfungswerk erwähnt.

Gen 1 als literarische AntizipationDer erste Schöpfungsbericht ist also nicht deshalb im Sechs-Tage-Schema strukturiert, weil sich der Schöpfungsprozess so und nicht anders vollzogen habe, sondern allein aufgrund der (literarischen) Vorlage der Gottesrede in Ex 20, für die es nachträglich einen Schöpfungsbericht literarisch auszugestalten und der ‚eigentlichen‘ Geschichte Israels voranzustellen galt. Raschbam bietet für diesen Abschnitt wie auch für die anderen hier genannten Beispiele (ausnahmslos aus den narrativen Abschnitten der Genesis) den Terminus haqdama (*קדם hi.), das ‚Voranstellen‘, die literarische Antizipation. Dieser Bibelkommentar erhebt damit den Anspruch, dass sich die Tora mit Blick auf die Struktur der linearen Abfolge der erzählerischen Elemente (sequenzielle Struktur) auf der Ebene der Ereignisse und Handlungen (histoire) mit literaturtheoretischen Maßstäben messen lassen muss.

Auch Raschbams jüngerer Zeitgenosse R. Eli‘ezer aus Beaugency verfügt bereits über ein ausgearbeitetes literaturtheoretisches Vokabular, das er in der Vorrede zu seinem Kommentar zu Ezechiel einführt:

R. Eli‘ezer aus Beaugency zu Ez 1Menschensohn! Mit deinen Augen sieh’ und mit deinen Ohren höre! Achte (gut) auf (Ez 40,4) die Sprache dieses Propheten, denn sie ist rätselhaft, unklar und in (sehr) verkürztem (Stil). Sogar unseren Rabbinen, Friede über ihnen, erschienen seine Worte aufgrund ihrer Verschlossenheit und ihrer Kürze als (Worte), die zu den Worten der Tora im Widerspruch stehen. Heute nun (will) ich (es) dir kundtun, um dir (anhand) der Eröffnung seines (Buches) seine Gedankenführung und seinen Sprachduktus [schitato we-sichato] zu erschließen.

Bei näherem Hinsehen zeigt R. Eli‘ezers Argumentation das gleiche Selbstbewusstsein wie Raschbam: Die Rabbinen hätten der Tatsache, dass die Sprache Ezechiels oftmals kryptisch und sehr verkürzt |90|sei, zu wenig Beachtung beigemessen und seien von daher zu einer dem Buch nicht entsprechenden Lesart gekommen, die sogar zu der Ansicht geführt habe, dass das Buch in bestimmten Teilen der Tora widerspreche (vgl. bHag 13a; bShab 13b; bMen 45a; bMak 24a). Ähnlich den von Raschbam propagierten „Peschat-Erklärungen, wie sie (jetzt) täglich neu aufkommen“, stellt sich auch R. Eli‘ezer als derjenige vor, der als erster in der Lage ist, das Buch Ezechiel exegetisch hinreichend zu erschließen. Ausschlaggebend für seinen Ansatz und Schlüsselbegriffe nicht nur in diesem ersten Absatz sind die Termini schita (Gedankenführung; System), sicha (Sprachduktus) und injan (literarischer Kontext). Die Erklärung dunkler Textpassagen und damit das rechte Verständnis des Buches beruhe also vor allem auf der Klärung der Sprachwelt Ezechiels.

e. Wissenschaftsdiskurse und polemische Attacken

Die Frage, in welchem Maße die Kommentare der ersten Peschat-Exegeten Nordfrankreichs in Auseinandersetzung mit der lateinischen Exegese standen und inwieweit sie tatsächlich polemisch im Sinne einer vor allem anti-christlichen Polemik waren, ist nicht leicht zu beantworten und wird in der Forschung entsprechend kontrovers diskutiert. Insbesondere die judaistische Forschung in Israel (Elazar Touitou; Sarah Kamin; Sara Japhet) vermutet an vielen Punkten antichristliche Polemik, ohne dies jedoch näherhin zu spezifizieren. So wird beispielsweise nicht präzise zwischen Polemik, Eristik und Apologetik unterschieden; ebensowenig wird dieses Thema konsequent anhand der Frage nach den jeweiligen Genres diskutiert: Ein Bibelkommentar ist keine Streitschrift. Christlich-jüdische (Zwangs-)Disputationen, wie wir sie zwischen R. Jechi’el und Nicholas Donin (Paris 1240) oder zwischen Nachmanides und Pablo Christiani kennen (Barcelona 1263; vgl. unten Kap. 6.1.c.) sind aber für das ausgehende 11. und frühe 12. Jahrhundert noch gar nicht an der Tagesordnung. Ebensowenig gehören die ersten explizit polemischen hebräischsprachigen Werke wie der Sefer ha-Berit des R. Josef Qimchi (Narbonne; ca. 1105–ca. 1170) und die Streitschrift Milchamot ha-Schem des Ja‘aqov ben Re’uven (Spanien; um 1200), die wir in Südfrankreich und Spanien verorten müssen, im engeren Sinne zum Genre der Bibelkommentare.

Teschuvat ha-MinimAllerdings enthalten die Bibelkommentare von Raschbam, Josef Bekhor Schor und R. Eli‘ezer aus Beaugency den Ausdruck teschuva la-minin[m] / teschuvat ha-minin[m] (bei ibn Ezra: teschuvat ha-min), den man wohl mit der Phrase ‚Erwiderung an die Andersgläubigen/Christen‘ zu übersetzen hat. Dieser Ausdruck geht zurück auf mAv II,14, wo R. Eli‘ezer neben dem Lernen der Tora empfiehlt, |91|sich Antworten auf die Herausforderungen durch den Häretiker (appiqoros) zu überlegen. Wo teschuva la-minin in den nordfranzösischen Kommentaren verwendet wird, setzen sich die Bibelausleger mit christlichen Auslegungen auseinander, die sie wahrscheinlich im Gespräch aufgeschnappt haben. Überdies lässt die Tatsache, dass die jüdischen Gelehrten aus Auxerre, wo es ja die berühmte Abtei Saint-Germain d’Auxerre gab, eine Anfrage an Raschi hinsichtlich der Tempelvision des Ezechiel stellten, vermuten, dass Raschi über den Kontakt zu seinen Glaubensbrüdern aus Auxerre wie auch an anderen Orten, wo es lateinische Gelehrsamkeit gab, über die christlichen Auslegungen im Bilde war. Wirklich bissig gegen die christliche Lehre bzw. gegen das, was über mündliche Kanäle davon auch bei den Juden angekommen sein mag, schreibt eigentlich nur R. Josef Bekhor Schor: Er höhnt gegen das Abendmahl ebenso wie gegen die Trinität, aber gerade seine Ausführungen zeigen, wie wenig seinen Vorgängern daran gelegen war, gegen die christliche Lehre anzuwettern.

Ein klassisches und für jede weitere polemische Auseinandersetzung grundlegendes Beispiel ist natürlich Gen 1,26, wo die Selbstaufforderung Gottes im Hebräischen im sog. pluralis deliberationis (na‘ase adam …) formuliert ist. Diese Stelle galt bereits den Kirchenvätern als eines der sog. vestigia trinitatis* der Hebräischen Bibel und wichtige Belegstelle für den Hinweis auf die göttliche Trinität. Raschis Kommentar lässt erkennen, dass er um diese Ausdeutung wusste:

Raschi zu Gen 1,26Lasst uns einen Menschen machen: Obwohl die (Engel) ihn in seinem (schöpferischen) Gestalten [jetzira] nicht unterstützten, und es hier eine Möglichkeit für die Christen gibt, (eine falsche Auslegung) herauszuziehen, hat der Vers es (dennoch) nicht unterlassen, (an dieser Stelle) die üblichen Umgangsformen und (hier vor allem) die Tugend der Bescheidenheit zu lehren, wonach der Mächtige sich mit dem Unbedeutenden berät und von ihm die Zustimmung einholt. Stünde (nämlich) dort ‚Ich will einen Menschen machen‘, so hätten wir nicht gelernt, dass er mit seinem Gerichtshof gesprochen hat, sondern mit sich selbst. Und die Erwiderung an die Christen (teschuvat ha-minim) ist (dem ersten Vers direkt) zur Seite gestellt: Und (Gott) schuf den Menschen (Gen 1,27), und es heißt nicht: ‚Und sie schufen‘.

Raschi muss an dieser Stelle zugeben, dass die Stelle sprachlich leicht von der christlichen Theologie vereinnahmt werden konnte, und erklärt daher die Motivation des biblischen Schriftstellers, die Sache trotz aller möglichen Missdeutungen so und nicht anders zu formulieren. Die Erwiderung an die Christen (teschuvat ha-minim) findet sich dabei mit Verweis auf Gen 1,27, wo die Verbalform ganz eindeutig in der 3. Pers. Sg. formuliert ist. R. Josef Bekhor Schor verweist an dieser Stelle auf Gen 1,26aα, wo es (im Sg.) heißt ‚Und |92|Gott sprach …‘. Die Erwiderung an die Christen, die wahrscheinlich kein Lateiner zu jener Zeit je gelesen hat, bewegt sich mithin im Rahmen eines sich entwickelnden philologisch-grammatischen Wissenschaftsdiskurses. Auch Raschbam kommt an dieser Stelle zum selben Ergebnis, führt allerdings ausschließlich innerbiblische Belege an (1Kön 22,19–2; Jes 6,8).

R. Josef Bekhor Schor zu Ex 32,20Wirklich polemisch formuliert R. Josef Bekhor Schor in seinem Kommentar zu Ex 32,20, wo ausführlich erläutert wird, was Mose nach dem Zerschmettern der Tafeln mit dem Kalb veranstaltete, das das Volk während seiner Abwesenheit anfertigen ließ. Nachdem er es verbrannt, zermalmt und in Wasser aufgelöst hatte,

gab er den Söhnen Israels zu trinken: (so ist der Vers) entsprechend dem einfachen Wortsinn (zu verstehen), weil Mose sie nicht etwa (das Kalb) trinken, sondern es auflösen und verschwinden (lassen) wollte, aber weil er es ins Wasser gegeben hatte, so tranken sie es wider Willen mit (…). Und als Antwort an die Christen, die (uns) über dieses Trinken (des Kalbes) verspotten, (sei hier gesagt): Er [Mose] gab ihnen damit (auch) einen Wink, dass es Götter, die man essen und trinken kann, gar nicht in Wirklichkeit gibt. Sie aber essen das Fleisch ihres Götzendienstes (terefot) und trinken ständig sein Blut.

Bekhor Schors Polemik zielt wohl darauf ab, zu betonen, dass die Christen im Abendmahl mit ihrem Gott genau das tun, was die Israeliten nur mit einem Götzen und auch nur einmal und dies auch noch widerwillig getan haben. Hinter der Bemerkung, wonach Götter, die man essen und trinken könne, keine richtigen Götter seien, steht unter Umständen sogar das Wissen um die theologische Formulierung, dass es wirklich der Leib Christi sei, der im Abendmahl verzehrt werde, wie dies beispielsweise von Paschasius Radbertus (Benediktiner in der Abtei Corbie, Frankreich; 9. Jahrhundert) vertreten wurde (vgl. Madey 1999).

Deutlicher noch als bei Raschi sehen wir im Kommentar des Raschbam, dass sich die sog. Polemik sowohl gegen die eigenen Reihen als auch gegen christliche Gesprächspartner richten kann. In seinem Kommentar zu Ex 20,12 bemüht Raschbam die Philologie, um die hebraica veritas der Juden gegen die mangelnde Sprachfähigkeit der Lateiner auszuspielen und damit ihre exegetische Kompetenz herabzusetzen:

Raschbam zu Ex 20,12Du sollst nicht morden: Jedes ‚Morden‘ [*רצח] (meint) ein Töten ohne Anlass – an jeder (Beleg-)Stelle (der Schrift): Ein Mörder muss ganz sicher sterben (Num 35,16–17). Du hast gemordet und (nun) auch (noch) geerbt (1Kön 21,19). Gerechtigkeit sollte in ihr eine Bleibe finden – nun (aber): Mörder (Jes 1,21). Aber ‚Töten‘ und ‚Tötung‘ gibt es entweder als (Tötung) ohne Anlass, wie (in): Da tötete er ihn (Gen 4,8), von Kain berichtet; oder es gibt (den Ausdruck ‚Töten‘) nach Richtspruch, wie (in): Dann sollst du die Frau (…) töten (Lev 20,16). Und dort, wo geschrieben steht … der sei|93|nen Mitmenschen ohne Vorsatz gemordet hat (Dtn 4,42) (steht ‚morden‘), da der (Vers) über einen Mörder spricht, (der) in böser Absicht (gemordet hat) (…) Erwiderung an die Andersgläubigen [teschuva la-minim], und die haben es mir eingestanden: Obwohl in ihren Büchern auf Lateinisch ‚Ich töte und mache wieder lebendig‘ [ego occidam] (Dtn 32,39) (im Wortlaut) von ‚Du sollst nicht morden‘ [non occides] (übersetzt ist), so muss man (doch) feststellen, dass sie es (in ihrer Übersetzung) nicht genau (genug) genommen haben.

Raschbams Kommentar ist lexikographisch ausgerichtet: Er unterscheidet zwischen retzicha ‚Morden‘, hariga ‚Töten‘ und mita ‚Totschlag‘. Seine Kritik richtet sich gegen die christlichen Exegeten, die aufgrund mangelnder Sprachkompetenz zu einer falschen Erklärung des Textes gelangen. Möglicherweise steckt hinter dieser Erklärung der implizite Vorwurf an die christlichen Exegeten, dass, wenn schon ihre buchstäblichen Deutungen oftmals falsch seien, weil ihre Hebräischkenntnisse nicht ausreichten, die Auslegungen ad allegoriam einmal mehr angreifbar werden. Andererseits zeigt die offenbar erfolgte Zustimmung seitens christlicher Gelehrter, dass hier weniger polemisch disputiert als gemeinsam gelernt wurde. Wahrscheinlich hat die christliche Seite nachgefragt, denn Raschbams Lateinkenntnisse waren wohl mehr indirekter Natur, und lateinische Auslegungen dürften ihm daher auch nur durch mündliche Vermittlung bekannt gewesen sein.

 

Manchmal greift der Begriff der Polemik aber auch zu kurz, wenn es darum ging, ein richtiges Textverständnis zu vermitteln (und dies durchaus in Überwindung des klassischen religiösen Lesekontextes). Exemplarisch lässt sich dies an der Auslegung zu Gen 49,10 zeigen, wo sowohl gegen die Christen (notzrim) als auch gegen die Juden (ivrim) polemisiert wird:

Raschbam zu Gen 49,10: Die Frage des Messias(Nicht soll das Zepter von Juda weichen …) bis der König von Juda kommt, das ist Rehabeam, der Sohn Salomos, der kam, um das Königtum zu erneuern, (und zwar) in Schilo (vgl. 1Kön 12,1), das in der Nähe von Sichem ist. Damals aber fielen die zehn Stämme von ihm ab und machten Jerobeam zum König, und Rehabeam, dem Sohn Salomos, blieben nur Juda und Benjamin (…) Und in Sichem gab es ein ebenes Flurstück um die Eiche herum (vgl. Gen 35,4; Jos 24,26), wo sich Menschen versammeln konnten. Und dieser einfache Wortsinn (Peschat) ist (gleichzeitig) eine Antwort an die Andersgläubigen, denn das hier notierte Schilo meint nichts anderes als den Namen einer Stadt, denn es gibt keine altfranzösischen Wörter in der Bibel [möglicherweise auf das altfranzösische salut bezogen (vgl. Ed. Rosin 1881, 72)]; auch steht hier weder ‚schello‘ [hebr. für aram. dedileh; vgl. Onqelos, ad loc.], entsprechend der Deutungen (mancher) Juden (ivrim), noch schaliach ‚Gesandter‘, wie es die Christen (ha-notzrim) meinen.

Diese Erklärung weist alle jüdischen und christlichen Erklärungen zurück, die ‚Schilo‘ auf den messianischen Herrscher beziehen. Auch Raschi auf der Basis des Targum* hatte noch selbstverständ|94|lich Schilo als den messianischen König (melekh ha-maschiach) erklärt. Raschbam muss an dieser Stelle auch Kenntnis von der in der Vulgata* gegebenen Lesart erhalten haben, die Schilo als qui mittendus est (‚der gesendet werden muss‘) übersetzt und den Ausdruck damit ebenfalls auf den messianischen Gesandten bezieht. Sein Kommentar deutet Schilo als Ortsnamen und bezieht die Prophezeiung Jakobs auf Rehabeam, der sich in Sichem (in der Nähe von Schilo) zum König erheben ließ. Die meisten modernen Interpreten (Sh. Cohen 2004; Touitou 1990) sehen in dieser Auslegung, die den sensus historicus favorisiert, eine antichristliche Polemik, aber die Gegenüberstellung von notzrim ‚Christen‘ und ivrim ‚Juden‘ (wörtlich: ‚Hebräer‘) scheint eher als Zurückweisung der religiösen Lesart jener beider Gruppen gemeint zu sein, deren erste die Bibel auf Latein und deren zweite die Bibel auf Hebräisch liest und dabei in jedem Fall pro domo ausdeutet. Der Ausdruck notzrim ‚Christen‘ (nicht wie erwartet: minim), so er an dieser Stelle überhaupt auf Raschbam zurückgeht (dieser Ausdruck kommt sonst in Raschbams Kommentar nicht mehr vor), entbehrt vielmehr jeder pejorativen Konnotation. Raschbam sucht hier wahrscheinlich den einfachen Wortsinn zu verteidigen, seine Argumentation ist jedenfalls durchgehend philologisch.

Die hier besprochenen Beispiele zeigen, dass die sog. Polemik eher als ein erster Versuch zu werten ist, den religiösen Binnendiskurs zu verlassen und in einen Wissenschaftsdiskurs mit anderen Meinungen einzutreten (so auch Touitou 1990). Dabei trifft es, wie das Beispiel aus Gen 49,10 zeigt, beide religiösen Lesarten, die christliche wie auch die jüdische. In erster Linie sollte also hier der Text möglichst vorbehaltlos interpretiert und diese Deutung auf der Basis philologischer Argumente durchgesetzt werden.