Jüdische Bibelauslegung

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

|77|b. Höfische Literatur und jüdische Exegese

Die altfranzösischen Glossarien und Synonymenlisten geben also einen ersten wichtigen Hinweis darauf, dass sich die Juden Nordfrankreichs intensiv mit der französischen Vernakularsprache auseinandergesetzt haben. Allein, dass sie es lesen und schreiben konnten, zeigt bereits ihren gehobenen Bildungsstand. Das Glossieren der Bibel führt dabei zu einer ersten wichtigen Erkenntnis, nämlich derjenigen der Literarizität der biblischen Texte. Schon Raschi diskutiert indirekt, ob eine ihm bekannte Glosse den Sachverhalt ad loc. trifft oder nicht. Und hier stellt sich nun die Frage, aus welchen französischen Texten das Vokabular für die Bibelübersetzungen stammte. Dieser Frage ist bislang nur in ersten Ansätzen nachgegangen worden, aber sie ist essentiell für die Erschließung des (profanen) Bildungsumfanges der Juden (und Jüdinnen) im beginnenden 12. Jahrhundert: So kann man sich vorstellen, dass sich die Vätergeschichten noch irgendwie in ein Französisch bringen lassen, das der einfache Mann auf der Straße sprach; spätestens jedoch bei den poetischen Stücken der Hebräischen Bibel, d.h. bei Texten aus den Hinteren Propheten und den Psalmen, reicht ein Alltagsvokabular nicht mehr aus. So lässt sich von hier aus postulieren, dass die jüdischen Gelehrten in der einen oder anderen Form Zugang auch zur beginnenden altfranzösischen Literatur gehabt haben müssen.

Heldenlieder und RitterromaneDass der Blick auf die Entwicklung der profanen Literaturen bislang nicht in Anschlag gebracht wurde, mag daran liegen, dass jüdische Bibelkommentare aufs Erste nicht zur weltlichen Dichtung des beginnenden 12. Jahrhunderts zu passen scheinen. Die chansons de geste (‚Heldenlieder‘; ‚Heldentatenlieder‘) oder die auf der Grundlage der matière de Bretagne (britannischer Sagenkreis um König Artus, keltische Stoffe) gestalteten und zeitlich etwas später einzuordnenden Romane eines Chrétien de Troyes (ca. 1140–90) sind profane Literaturen, und ihre Entwicklung vollzog sich nahezu zeitgleich mit dem Aufstieg der (radikalen) Peschat-Auslegung* von Raschi und vor allem von seinen (geistigen) Enkeln.

Chrétien de Troyes und Marie de FranceDie Wiege von Chrétien stand im selben geographischen (Groß-)Raum, der für die Entwicklung der nordfranzösischen Bibelauslegung so zentral war: in Troyes (Region Champagne-Ardenne). Dass Marie de Champagne (1145–98), die wir heute vor allem als Gönnerin von Chrétien de Troyes kennen, der für sie (u.a.) den Chevalier de la Charrette („Le Roman de Lancelot“) verfasste, auch diejenige war, die zuerst altfranzösische Bibelübersetzungen anfertigen ließ, lässt überdies vermuten, dass sich der christliche Zugang zur Bibel sprachenabhängig ausdifferenzierte: Es ist eben ein Unterschied, ob man die Bibel als lateinische, und damit zur geistlichen Seite gehörende Schrift, oder als französischen und darin |78|den weltlichen Literaturen verwandten Text wahrnimmt. So entsteht mit Hilfe der sprachlichen Ausdifferenzierung in Latein und Französisch ein Bewusstsein für die Unterscheidung von geistlich und profan, die auf christlicher Seite durch den Investiturstreit zwischen Gregor VII. (1073–85) und Heinrich IV. (1056–1106) schon vorbereitet war. Mit dem beginnenden 12. Jahrhundert begann die nicht-jüdische französische Kultur sich auch literarisch zu manifestieren und trat darin der geistlichen Literatur als ebenbürtige Partnerin zur Seite. Diese innerhalb der höfischen Gesellschaft sich vollziehende Veränderung lässt sich schon wegen des fehlenden feudalen Hintergrundes nicht unmittelbar auf die jüdische Gesellschaft übertragen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass nicht auch den Juden eine Differenzierung in rabbinisch-theologische (und für die halachische Praxis relevante) Lesart von Bibel und Talmud einerseits und literarisch-literaturtheoretisches und darin nicht unbedingt ‚orthopraxes‘ Verständnis gerade der Bibel andererseits zu eigen war: Wenn (Ps.-)Raschbam in seinem Kommentar zum Hohenlied explizit auf die Vergleichbarkeit dieses biblischen Buches mit den Liedern der trouvères verweist und auch ihre Art der Performanz reflektiert, dann ist dies bereits ein herausragendes Beispiel für die Integration weltlicher Motive in die exegetische Literatur und lässt einmal mehr vermuten, dass die Bibel nicht nur auf christlicher, sondern auch auf jüdischer Seite als Literatur und damit nicht ausschließlich als Quelle geistlicher Erbauung wahrgenommen wurde (oder: werden sollte). Der mit Blick auf die Bibelkommentare bis heute vielfach und oftmals ausschließlich angeführten theologischen Konkurrenz zwischen den jüdischen und christlichen Auslegern mag also gerade in der Champagne und in der Normandie eine Art Wettbewerb um die ‚schönen‘ Literaturen an die Seite gestellt worden sein.

Profane jüdische GelehrsamkeitAus der Tatsache, dass Raschbam das Hohelied als hebräisches Pendant zu den chansons de femme präsentiert, schließen wir auf ein umfassend gebildetes erwachsenes Publikum, wahrscheinlich auch Frauen. Peter Dronke sieht im 12. Jahrhundert auch auf christlicher Seite in der aufkommenden höfischen Literatur einen Protest gegen bestimmte Aspekte der religiösen Weltanschauung (Dronke 1982). Das ist ein Aspekt, der für einen solchen Kommentar zum Hohenlied sicher in Anschlag gebracht werden kann. Mit dem expliziten Rekurs auf die zeitgenössischen literarischen Traditionen ihrer Umweltkultur sollte hier einmal mehr ein Beitrag zu einer ausgesprochen ‚diesseitigen‘ Auslegung geleistet werden. Und weil die mündliche Performanz im 11. und 12. Jahrhundert durch die Balladensänger auf der Gasse wie auch durch die höfische Rezitations- und Gesangskultur zu einer ersten Blütezeit gelangte, |79|ist kaum anzunehmen, dass diese ‚art of narration‘ als Lehr- und Lernform an den Juden einfach vorbeiging.

3.2. Persönlichkeiten
a. R. Schemu’el ben Meïr (Raschbam; ca. 1088–ca. 1158)

BiographieÄhnlich wie bei Raschi liegt auch bei Raschbam vieles von seiner Biographie im Dunkeln. Seine Lebensdaten werden zumeist nur relativ in Bezug auf Raschi ermittelt und scheinen, bei aller Einvernehmlichkeit unter den Forschern, noch immer zu großzügig hinsichtlich seiner Lebenserwartung zu sein: Nach eigener Aussage studierte er bei Raschi und „diskutierte auch mit ihm“ (Kommentar zu Gen 37,2), sodass er zumindest zwischen ca. 1085 und 88 geboren sein muss. Er starb wohl nicht vor 1158, aber auch dies würde bedeuten, dass er für einen Mann aus dem Mittelalter mit ca. 70 Jahren sehr alt geworden ist. Wie sein Großvater Raschi, stammte auch Raschbam aus Troyes und hat sich nach eigener Aussage um 1130 wohl eine Zeitlang in Reims aufgehalten. Nach Norman Golb hatte er in gesetztem Alter in Rouen die Leitung (s)einer Jeschiva* inne (Golb 1998, bes. 217–252). Möglicherweise war er auch einige Jahre in Caen. Nach 1153 ist er aber wohl in die Champagne zurückgekehrt. Frühe Reisen führten ihn nach Loudun (in der Gegend von Anjou) und nach Paris. Der Anlass dieser Reisen ist nicht mehr geklärt; dass er aber dort in seiner halachischen Kompetenz gefragt war und Predigten hielt, ist schriftlich bezeugt.

Seinen Lebensunterhalt bestritt Raschbam durch die Schafzucht. Wer sich dabei jedoch einen kleinen Wander-Schäfer vorstellt, liegt sicher falsch. Raschbam verfügte offenbar nicht nur über eigenen Grund und Boden; die Schafzucht ließ ihn, der ohnehin schon zur intellektuellen Elite gehörte, auch finanziell zu den Begüterten unter seinen jüdischen Zeitgenossen werden. Mit den Schafen hatte er nicht nur Fleisch, Wolle und Milch vor der Haustür stehen, sondern auch Pergament. Er hätte also seine Kommentare nicht nur auf einer Wachstafel-Kladde, sondern auch auf Pergament unter seine Schüler bringen können. Er hätte aber darüber hinaus auch Texte für sich abschreiben lassen können, und zwar nicht nur hebräische, sondern à la mode möglicherweise auch die damals aufkommenden anglo-normannischen und champagnischen Genres der Ritterromane, Historiographien und chansons de trouvères. Raschbams Tora-Kommentar zeigt nahezu auf jeder Seite, dass er die Themen und Texte seiner nicht-jüdischen Umwelt aufsog und in seinen Kommentaren verarbeitete.

|80|Der Pentateuch-Kommentar des RaschbamDie verlorene HandschriftRaschbam wird ein Pentateuch-Kommentar zugeschrieben (ediert und ausführlich beschrieben in Rosin 1881; vgl. auch Rosin 1880, 22–57; Perusch ha-Tora le-Rabbenu Schemu’el ben Meïr, ed. Lockshin, 34), dessen einziger handschriftlicher Zeuge sich einstmals im Besitz der Familien Walch und Oppenheim befunden hatte und von dort zu Moses Mendelssohn und später der Fraenckel-Familie kam (Berliner 1864), von wo aus das Manuskript 1863 in die Bibliothek des Jüdisch-Theologischen Seminars in Breslau gelangte. Rosin hatte das Manuskript noch zur Hand, und es ging während der Verfolgungen des Dritten Reiches verloren. Diese Handschrift war ein Raschi-Kommentar, der nach den einzelnen Wochenabschnitten arrangiert war, wobei am Ende einer jeden Parascha* die Kommentierungen des Raschbam folgten.

GlossenkommentarDie Handschrift Wien Cod. hebr. 220 (13./14. Jahrhundert) enthält eine Rezension eines fast vollständigen Raschi-Kommentares zur Bibel, der neben späteren handschriftlichen Notizen auch zeitgenössische Kommentar-Glossen zum Pentateuch aufweist, die verschiedenen Tosafisten* zugeschrieben werden (neben einem R. Josef auch ein R. Schemu’el bar Yitzḥaq, R. Schemu’el, R. Schimschon u.a.). Neuere Forschungen (Liss 2018b; 2016a; Touitou 2003) konnten zeigen, dass einige der Glossen mit dem gedruckten Pentateuch-Kommentar Raschbams eng übereinstimmen, gleichzeitig aber erkennen lassen, dass beide Texte nicht einfachhin identisch sind: Einige der Glossen sind umfangreicher als im gedruckten Kommentar; andere lassen sich eher als Vorform zu den Formulierungen im heute erhaltenen Kommentar ausmachen. Dies bedeutet, dass die Verfasserschaft des Raschbam zugeschriebenen Pentateuch-Kommentars, der seit Rosin unhinterfragt als „Pentateuch-Commentar des Samuel ben Meir“ firmiert, neu bedacht werden muss. Umgekehrt spricht die durchgehende Polemik gegen Raschi, die dieser Kommentar zeigt, für eine Autorschaft Raschbams, da dieser, als Enkel des großen Weisen aus Troyes, sich eine solche Kritik wahrscheinlich am ehesten erlauben durfte. Solange also nicht weitere Handschriftenfunde und Forschungen einen anderen Sachverhalt nahelegen, wird daher auch hier weiterhin von der Verfasserschaft Raschbams ausgegangen.

 

Weitere BibelkommentareKommentare zu den Büchern Richter, Könige, Jesaja, Jeremia, Ezechiel sowie zu einzelnen Büchern aus dem Zwölfprophetenbuch (Hosea, Joel, Amos, Micha und Sacharja), die der Pijjut-Kommentar* Arugat ha-Bosem des Avraham ben Azri’el (13. Jahrhundert) Raschbam zuschreibt, sind nur sehr bruchstückhaft überliefert und lassen zumeist ein eindeutiges exegetisches Profil vermissen. Arugat ha-Bosem überliefert auch Teile eines Psalmen-Kommentars. Von den biblischen Ketuvim (Schriften) hat Raschbam neben den Psalmen auch das Buch Hiob, die Bücher Ester, das Hohelied so|81|wie das Buch Qohelet kommentiert (eine Hiob-Kommentierung des Raschbam findet sich auch bei R. Josef ben Schim‎‘‎on Qara in dessen Kommentar zu Hi 11,17). Textbestand und -umfang sind allerdings gerade bei den Kommentaren zu Ester, Qohelet und dem Hohenlied mehr als umstritten: Es gibt nur mehr wenige vollständige Handschriften, und manche Kommentare sind lediglich im Kontext von Kompilationskommentaren überliefert, die eine eindeutige Zuschreibung zu einem Autor nicht ohne weiteres zulassen. Last, but not least, ist zu erwähnen, dass Material zu Raschbams Kommentaren in jüngster Zeit in Einbandfragmenten aus der sog. Europäischen Geniza* aufgefunden wurde, die uns erstmals Kommentarhandschriften bzw. einzelne Blätter daraus aus dem 11. und 12. Jahrhundert zugänglich machen. Eine endgültige Entscheidung darüber, welche biblischen Bücher Raschbam in welchem Umfang kommentiert hat, steht daher noch aus.

Tosafist und GrammatikerNeben seinen Schriften zur Bibel sind von ihm ein Kommentar zu Teilen der Talmudtraktate* Pesachim, Avoda Zara und Nidda, eine Fortsetzung des Raschi-Kommentares zu Bava Batra, Zusätze zu den Halakhot des Alfasi sowie einige eigene halachische Antwortschreiben (teschuvot) und eine kleine Grammatik (Sefer ha-Dajjaqut [ed. Merdler]) überliefert.

Raschbam und RaschiRaschbam hat seinen Pentateuch-Kommentar stets in enger Relation zu dem Raschis gesehen. Er legt seinem Leser nahe, möglichst beide Kommentare gleichzeitig zu konsultieren, entweder, weil er selbst an einer Stelle nichts kommentiert, weil ihm die Erklärung des Raschi ausreichend scheint, oder weil der Leser den Fortschritt in der Peschat-Exegese* anhand konkreter Beispiele nachvollziehen können sollte. Im selben Maße allerdings, in dem Raschbam positiv auf Raschi verweist, weist er ihn auch in seine exegetischen Schranken. Er macht deutlich, dass die jüdisch-traditionelle Lesart, d.h. die Auslegung innerhalb des jüdisch-traditionellen Deutemusters, das Proprium und das Verdienst Raschis ist und bleibt (vgl. seinen Kommentar zu Ex 40,35). Vielleicht ist auch aus diesem Grund sein Kommentar nicht weit über Nordfrankreich hinaus gekommen: Schon Ramban (vgl. unten Kap. 6.2.a.) kannte Raschbams Kommentar nicht mehr (so bereits Rosin 1880, 25).

b. R. Eli‘ezer aus Beaugency (Mitte/Ende 12. Jahrhundert)

BiographieAnders als Raschi oder sein Enkel Raschbam war R. Eli‘ezer aus Beaugency (Mitte bis Ende 12. Jahrhundert) mehr als 600 Jahre praktisch vergessen und wurde erst im 19. Jahrhundert seinem ‚Dornröschenschlaf‘ ansatzweise entrissen. Der protestantische Theologe Franz Delitzsch erwähnt ihn zuerst 1838. Das Le|82|ben R. Eli‘ezers liegt weitgehend im Dunkeln. Nirgends erwähnt er seinen Vater als seinen (ersten) Lehrer. Ob er gereist ist, und wovon er gelebt hat, wissen wir auch nicht. Zeitgenössische Schriften verorten ihn in ‚Balgentzi‘ (Beaugency; heutiges Département Loiret). Beaugency, etwa 200 km südwestlich von Troyes und auf der Höhe von Auxerre an der Loire gelegen, gehörte im 12. Jahrhundert zu den Besitztümern der Grafen von Blois und war mithin noch im Einflussgebiet der nordfranzösischen jüdischen Kultur.

R. Eli‘ezer aus Beaugency und RaschbamRobert Harris (R. Harris 1997) sieht in R. Eli‘ezer Raschbams wichtigsten Schüler, aber ein solches Schüler-Verhältnis lässt sich nicht zweifelsfrei belegen. Die Verbindung zu Raschbam ergibt sich indirekt aus einer Glosse, die der Kopist von Raschbams Tora-Kommentar den Raschbam-Erklärungen zu Dtn 1,2 voranstellt und in der er sich als Schüler R. Eli‘ezers bezeichnet. Dass Raschbam und R. Eli‘ezer ihre Werke gegenseitig gekannt haben, ist schon eher möglich, aber ebenfalls nur indirekt nachzuweisen, denn von Raschbam existiert heute kein Propheten- und von R. Eli‘ezer kein Pentateuch-Kommentar (mehr?). Im Kommentar zu Jes 33,24 findet sich eine Auslegung ‚aus dem Mund (mippi) des R. Schemu’el‘, womit möglicherweise Raschbam gemeint ist. Es finden sich auch immer wieder reziproke Bibelverweise: In seinem Kommentar zu Hos 4,8 zitiert R. Eli‘ezer Dtn 24,15, wohingegen Raschbam an letzterer Stelle auf Hos 4,8 verweist; ebenso finden sich Querverweise bei beiden zwischen Jes 66,20 und Num 7,3 bzw. Hab 3,6 und Ex 25,4. Auch die Art der Kommentierung ist jeweils strukturell ähnlich.

Die Bibelkommentare R. Eli‘ezersUnklar ist auch der Umfang des exegetischen Schaffens R. Eli‘ezers. Auf uns gekommen ist lediglich eine Sammelhandschrift (MS Oxford Opp. 625), die neben Werken von Josef Qimchi und Avraham ibn Ezra (u.a.) R. Eli‘ezers Kommentare zu den Büchern Jesaja, Ezechiel (vgl. auch Liss 2000) und dem Zwölfprophetenbuch enthält (ed. Poznański 1913). Verschiedentlich geben diese Hinweise auf weitere Kommentare. Wahrscheinlich hat daher auch R. Eli‘ezer einen Kommentar zur Tora verfasst. Jedenfalls verweist er im Kommentar zu Jes 14,3 auf seine exegetische Beweisführung im Kommentar zu Paraschat* Bereschit (Gen 1,1–6,8) und in Hab 3,7 auf eine Erklärung in Paraschat Beschallach (Ex 13,17–17,16). Der Sefer ha-Schoham (‚Onyx-Buch‘) erwähnt Auslegungen des ‚(Rabbi aus) Balgentzi‘ zu Deuteronomium und Jeremia. R. Eli‘ezer selbst verweist zudem auf Auslegungen zu den Psalmen, Qohelet und Daniel. Bis heute stehen detaillierte Einzelanalysen der Kommentare R. Eli‘ezers noch aus.

|83|c. R. Josef ben Jitzchaq (‚Bekhor Schor‘; 1130–1200)

Biographie und WerkR. Josef ben Jitzchaq stammte aus Orléans (Kanarfogel 2013a, 126–162). Sein Name Bekhor Schor geht auf Dtn 33,17 (‚erstgeborener Stier‘) zurück, und er stellt sich auch selbst so vor (Kommentar zu Dtn 10,10). Nach Urbach (Urbach 1986, 134) wurde dieser Beiname allerdings auch anderen Gelehrten namens Josef beigelegt (zum Ganzen Kanarfogel 2013a, 162–179). Bekhor Schor war ein Schüler des R. Ja‘aqov ben Meïr (Rabbenu Tam; ca. 1100–71), des Bruders Raschbams, und ist außer durch seine Bibelkommentare, von denen nur der Pentateuch-Kommentar überliefert ist, vor allem als Tosafist* bekannt. Es haben sich Tosafot zu bShab, bYev, bBB, bZev und bHul erhalten. Im Sefer ha-Jaschar des Rabbenu Tam sind vier Responsen von ihm und Rabbenu Tam tradiert (Urbach 1986, 132–140). Ein Psalmen-Kommentar liegt nur noch fragmentarisch vor. Daneben hat Bekhor Schor auch pijjutim* verfasst.

Bekhor Schors Kommentierungen sind an vielen Punkten rational (z.B. in seinem Verständnis der Wunder als Naturereignisse) oder historisierend (z.B. in seinem Kommentar zu Ex 7,15, wo er den Pharao mit seinen Greifvögeln ans Wasser gehen lässt). An philologisch-grammatisch korrekter Auslegung war er weniger interessiert. Raschbams Auslegungen waren ihm oftmals zu radikal, und er kanzelte sie als reine Erfindung (badda’ut) ab (Kanarfogel 2013a, bes. 139–140). Ob er wirklich Latein beherrschte, und ein Hieronymus-Zitat in seinem Kommentar zu Ps 2 wirklich auf ihn zurückgeht (Urbach 1986, 135), muss offen bleiben. Hinweise auf direkte Konfrontationen oder Religionsdisputationen mit Christen finden sich nicht.

3.3. Neue Zugänge
a. Vom Übersetzen zum Erzählen

Die Entwicklung hin zu einer zunehmend narrativen Exegese vollzog sich vor allem durch die Integration französischer Übersetzungen in die Bibelkommentare, die in Ansätzen bereits bei Raschi und R. Josef ben Schim‘on Qara, aber vollends ausgeprägt dann bei Raschbam zum Tragen kam und zeigt, wie weit auch das französische Denken bereits in die Köpfe der Ausleger Eingang gefunden haben mag.

Die Auseinandersetzung mit der französischen Sprache führte zunächst einmal dazu, dass Übersetzungen tatsächlich glossenartig |84|an den Bibeltext notiert wurden, um damit den einfachen Wortsinn (Peschat*) zu erklären:

R. Josef Qara zu Joel 1,17Es faulen die Tonnen, wie: Sie sind verschimmelt (…) perudot (bedeutet) ‚Fässer‘ (דוגש duges) auf Altfranzösisch. Unter ihren Pfropfen: megrafa (bedeutet) ‚Pfropfen‘ (צרקלש cercles ) auf Altfranzösisch.

Bis in die heutigen Bibelübersetzungen hinein lässt dieser erste Halbsatz (Joel 1,17aα) erkennen, dass er es in sich hat: Man findet eine Vielzahl verschiedener Übersetzungen: diejenige von Naftali Herz Tur-Sinai (ND 1995; vgl. auch unten Kap. 9.2.o.) übersetzt mit ‚Es fault Verstreutes‘, die Elberfelder (rev. Fassung 1993) mit ‚Verdorrt sind die Samenkörner‘, aber Buber-Rosenzweig (1976) mit ‚Unter ihren Deckeln faulen die Tonnen‘. Qaras Kommentar lässt damit auch indirekt erkennen, dass das Bibelstudium wohl vor allem auf die Lektüre und das Verstehen (Vers-für-Vers) hin ausgerichtet war. Die handschriftliche Überlieferung des Qara-Kommentares zum Zwölfprophetenbuch zeigt überdies, dass nicht nur genau notiert wurde, welche Texte als Haftara* gelesen wurden, sondern auch, dass diese Texte ausführlicher kommentiert wurden als andere. Die durchgehende übersetzende Glossierung ins Altfranzösische zeigt, dass die nordfranzösischen Juden, anders als die spanischen Zeitgenossen, offenbar nicht mehr über ausreichende Hebräisch- und Aramäischkenntnisse verfügten.

R. Josef ben Schim‘on Qara verband allerdings bereits lexikologische Diskurse mit Kontextanalyse. In seinem Kommentar zu Hosea 4,14 finden sich die ‚Fässer‘ (duges) wieder, die wir schon in Joel 1,17 gesehen haben, aber hier werden sie über eine reine Worterklärung hinaus auch kontextuell in die Auslegung eingebunden:

R. Josef Qara zu Hos 4,14Weil sie – die Väter und die Schwiegersöhne – sich mit Huren absondern (jefaredu): Menachem (ibn Saruq [Machberet Menachem S. 145]) verband (das Verb *פרד) mit Es faulen die Tonnen (perudot)‘ – דּוֹגֵשׁ duges auf Altfranzösisch: So, wie eure Töchter und eure Schwiegertöchter zuhause Ehebruch treiben, so treiben die Männer Ehebruch mit Huren. Die Erklärung für ‚sie sondern sich ab‘ (lautet): Sie sitzen bei dem Fass, um mit den Huren Wein zu trinken. Dieses Verhalten veranlasst sie (dann), dass sie mit ihnen schlafen.

Ausgehend von der hebräischen Wurzel *פרד hatte bereits Menachem ben Ja‘aqov ibn Saruq eine Wurzelverwandtschaft zwischen jefaredu und perudot konstruiert. R. Josef Qara hat diese semantisch bis ins Altfranzösische ausgezogen, um dann vom Kontext her die Glosse zu rechtfertigen. Hier wurde also schon eine erste Narrative konstruiert, die gleichzeitig den hebräischen Text mit der französischen Übersetzung in Übereinstimmung brachte. Wie weit Menachem ibn Saruq hier die (nicht-jüdische) Wirtshaus-Kultur vor Augen hatte, lässt sich nur noch vermuten.

|85|Wie weit französische kulturelle Ideale bereits in das Denken der jüdischen Bibelausleger Eingang gefunden hatten, zeigt Raschbams Kommentar zu Gen 29,17. Es geht um Leas Schönheit, und hier insbesondere: um ihre Augen. Die meisten antiken (LXX*; Vulgata*) und modernen Bibelübersetzungen übersetzen den hebräischen Ausdruck rakkot pejorativ und verpassen Lea ‚schwache‘ [JPS]/‚matte‘ [ELB], wenn nicht gar ‚blöde‘/‚blödgesichtige‘/‚grindige‘ (Thomas Mann) Augen. In Raschis Kommentar (vgl. BerR 70,16; bBB 123a) lesen wir ‚zarte/weiche‘ Augen, im Sinne von ‚tränenverhangen‘ vom vielen Weinen. Das Leipziger und das Pariser Glossar (ad loc.) übersetzen mit tandrës’ (tendres) bzw. tonres. Raschbam erklärt den Text vollkommen anders:

 

Raschbam zu Gen 29,17Rakkot (bedeutet) ‚lieblich‘ [hebr. na’ot]: vairs [verts] ‚strahlend, hell‘ auf Altfranzösisch. Wenn die Augen einer Braut lieblich sind, bedarf der Rest des Körpers keiner (eingehenden) Prüfung mehr (vgl. bTaan 24a). Dunkle Augen sind (ohnehin) nicht so schön wie helle.

Was uns hier interessiert, ist Raschbams Übersetzung von rakkot mit ‚verts‘, das auf Altfranzösisch nicht ‚grün‘, sondern ‚hell/strahlend‘ bedeutet, ein Adjektiv, wie es beispielsweise im anglo-normannischen Alexanderroman (‚Le Roman de Toute Chevalerie‘) des Thomas von Kent oder im Chanson de Roland für die Beschreibung der Augen des ritterlichen Helden Anwendung findet (Liss 2011a, 260). Raschbams Kommentierung favorisiert darin nicht nur die hellen Augen Nordeuropas gegenüber den biblisch-orientalischen ‚Taubenaugen‘, sondern zeichnet die Schönheit der Lea als mit dem ritterlichen Schönheitsideal übereinstimmend aus. Ausgehend von diesem Beispiel kann einmal mehr vermutet werden, dass Raschbam auch einen unmittelbaren Zugang zu den altfranzösischen Literaturen hatte.