Der Traum: mehrbuch-Weltliteratur

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Drittes Kapitel
Die Familie Smith gerät ins Unglück
1

»Und nun«, sagte Sarnac, »muß ich euch von einem Wirbelsturm unheilvoller Ereignisse erzählen, der über unser unsicheres kleines Heim in Cherry Gardens hereinbrach und es vernichtete. In jener Welt des Zufalls, der Planlosigkeit und der Übervölkerung gab es weder Sicherheit noch soziale Gerechtigkeit in dem Sinne, wie wir heute diese Begriffe verstehen. Wir können uns die Unsicherheit und Verworrenheit des damaligen Lebens kaum vorstellen. Bedenkt nur: Die Wirtschaft der ganzen Welt ruhte auf einem Geld- und Kreditsystem, das lediglich aus Fiktionen und Übereinkommen bestand; es gab keine hinreichenden Schutzmaßregeln gegen den wucherischen Mißbrauch der das Geldwesen betreffenden Konventionen; Weltproduktion und Weltverbrauch wurden in keinerlei Weise überwacht; man wußte so gut wie nichts über die alljährlich fortschreitenden Veränderungen des Klimas; und so schwankte nicht nur das Schicksal der Individuen, sondern auch das der Staaten und Nationen unberechenbar und unbeeinflußbar hin und her. In jener Welt war das Leben der Menschen, Männer wie Frauen, fast ebenso unsicher wie heute das einer Feldmaus oder einer Mücke, die von einem Augenblick zum anderen das Opfer einer Katze, Eule oder Schwalbe werden können. Durch Zufall in die Welt gesetzt, erfuhren die damaligen Menschen zufällig Leid und Freud, Ruhm und Schmach und schließlich ein unvorhergesehenes Ende; und ihre Umgebung war weder auf ihre Geburt noch auf ihren Tod vorbereitet. Ein plötzlicher Tod kann uns auch heute ereilen, es gibt immer noch gefahrvolle Abenteuer – ein Blitzstrahl hätte gestern uns alle oder einen von uns hinstrecken können; doch ein solches Ende ist etwas Seltenes und etwas Reinliches. Das allgemeine Schicksal der Vergangenheit war ein fürchterliches, verzweiflungsvolles Hinsterben durch Entbehrungen und Sorgen oder infolge einer Krankheit, deren Ursachen man nicht kannte und die man schlecht behandelte; dergleichen gibt es heute nicht mehr. Und heute wird durch einen Todesfall nicht die Existenz einer ganzen Anzahl von Menschen zerstört, wie das in den alten Tagen oft geschah. Eine Witwe der damaligen Zeit hatte nicht nur den geliebten Gefährten, sondern auch ihren Lebensunterhalt verloren. Das Leben schafft jedoch die wunderbarsten Ausgleiche. Die Menschen damals fühlten die Gefahren nicht, die sie bedrohten. Es war ihnen eine erstaunliche Gleichgültigkeit eigen, bis das Unglück über sie hereinbrach.«

»Alle Kinder«, fuhr Sarnac fort, »beginnen ihre Laufbahn mit einem unbedingten Vertrauen in die Dauerhaftigkeit der Dinge, die sie umgeben. Das Erwachen aus dem Wahn der Sicherheit setzt klare Erkenntnis voraus. Wir können uns die Gefahren, die uns bedrohen, nur vorstellen, wenn wir klar denken; und sobald wir klar denken, haben wir auch die Kraft, der Gefahr zu begegnen. Die Menschen der alten Zeit dachten verworren und irrig wie Kinder, sie waren blind gegen den fortschreitenden Verfall der schwankenden Zivilisation, in der sie lebten. Trotz der allgemeinen Unsicherheit schien ihnen das Dasein im Grunde ganz sicher. Ein Unglücksfall setzte jedermann in Erstaunen, obwohl jedermann dauernd auf Unheil aller Art hätte gefaßt sein müssen.

Der erste Schlag traf meine Familie ganz unvorbereitet, etwa sechs Wochen, nachdem ich aus Chessing Hanger zurückgekehrt war, um mein letztes Schulsemester zu absolvieren, ehe ich Gärtner wurde. Es war am späten Nachmittag. Ich war aus der Schule heimgekommen und saß lesend in unserem unterirdischen Zimmer. Die Mutter räumte eben den Teetisch ab und zankte mit Fanny, die ausgehen wollte. Die Lampe war angezündet, und ich sowie Vater, der, wie er sagte, die Zeitung überflog, waren so nah als möglich an sie herangerückt, denn das Licht, das sie gab, war völlig ungenügend. Da hörten wir oben die Türglocke des Ladens kreischen.

›Zum Kuckuck,‹ sagte Vater, ›wer kommt denn da noch so spät am Abend?‹

Er schob seine Brille in die Höhe. Er hatte sich aufs Geratewohl bei einem Trödler eine Brille gekauft und setzte sie auf, wenn er las. Sie machte seine ohnehin schon großen, milden Augen noch größer. Er schaute uns fragend an. Wer konnte um diese Zeit noch etwas wollen? Gleich darauf hörten wir Onkel John Julip die Treppe herunterrufen:

›Mortimer‹, sagte er, und seine Stimme kam mir dabei ganz ungewöhnlich vor. Niemals hatte ich ihn meinen Vater anders als Smith nennen hören.

›Bist du es, John?‹ sagte Vater, indem er sich erhob.

›Ja, ich bin es. Ich möchte mit dir sprechen.‹

›Komm doch herunter und trink eine Tasse Tee mit uns‹, rief Vater, unten an der Treppe stehend.

›Nein, ich muß dir etwas erzählen, es ist besser, du kommst herauf. Etwas Ernstes.‹

Ich überlegte, ob ich vielleicht irgendetwas angestellt hätte und Onkel deshalb herübergekommen sei. Mein Gewissen war aber ziemlich rein.

›Was kann denn nur los sein?‹ fragte Vater.

›So geh doch und laß es dir erzählen‹, meinte Mutter.

Vater ging.

Ich hörte meinen Onkel etwas sagen wie: ›Wir sind erledigt. Man hat uns verraten, und wir sind erledigt.‹ Dann schloß sich die Tür zum Laden. Wir horchten nach oben. Es klang, als ob Onkel Julip im Sprechen auf und ab gehe. Meine Schwester Fanny nahm Hut und Jacke und huschte unauffällig die Stiege hinauf und zum Hause hinaus. Nach einer Weile erschien Prue; sie sagte, sie habe der Lehrerin aufräumen geholfen, ich aber wußte, daß sie log. Dann verging eine lange Zeit. Schließlich kam Vater allein die Treppe herunter.

Er ging zum Kamin, als ob er im Traum wandle, blieb auf dem Kaminteppich stehen und starrte mit unheilvollem Ausdruck vor sich hin, offenbar wartend, daß Mutter ihn frage, was denn geschehen sei. ›Warum ist John nicht heruntergekommen, um eine Tasse Tee zu trinken und einen Bissen zu essen? Wo ist er hingegangen, Morty?‹

›Er ist fortgegangen, um einen Möbelwagen zu bestellen‹, erwiderte Vater.

›Einen Möbelwagen? Ja, wozu denn?‹ fragte Mutter.

›Er muß ausziehen – wenn du es wissen willst.‹

›Er muß ausziehen?‹

›Wir werden sie für ein paar Tage hier bei uns unterbringen müssen‹, fuhr Vater fort.

›Wen werden wir hier unterbringen müssen?‹

›Ihn und Adelaide. Sie kommen nach Cherry Gardens.‹

›Du willst doch nicht etwa sagen, daß John seine Stellung verloren hat?‹

›Doch! Seine Lordschaft ist ihm mit einem Male feindlich gesinnt. Es ist Unheil angestiftet worden. Irgendwer hat spioniert, und seinen Feinden ist es gelungen, ihn um seine Stellung zu bringen. Er ist hinausgeworfen worden. Er kann gehen – hat man ihm gesagt.‹

›Ja, aber man wird ihm doch gekündigt haben!‹

›Nein, nicht im geringsten. Seine Lordschaft ist ganz rot vor Zorn in den Garten gekommen. »Hinaus mit dir!« So hat er gesprochen. Mit diesen Worten. »Und danke deinem Schöpfer, daß ich dir nicht die Polizei auf den Hals jage, dir und deinem scheinheiligen Schwager.« Ja, das hat Seine Lordschaft gesagt.‹

›Ja, aber was meint er denn damit, Morty?‹

›Was er damit meint? Er meint, daß gewisse Personen, die er nicht nennt, John verdächtigen, Lügen über ihn erzählt und ihn beobachtet haben, ihn und mich. Sie haben mich auch mit hineingezogen, Martha, und unseren Harry auch. Sie haben eine Geschichte über uns zusammengedichtet ... Ich hab' ja immer gesagt, daß wir es nicht so regelmäßig machen sollten ... Nun haben wir's! Nun ist John kein herrschaftlicher Gärtner mehr! Und nicht einmal ein Zeugnis wird man ihm geben. Er wird nie mehr eine ordentliche Stellung bekommen, er ist ruiniert. Das haben wir nun davon!‹

›Ja, wird denn behauptet, daß er etwas genommen hat? Mein Bruder John soll etwas genommen haben?‹

›Produktionsüberschuß. Den für sich zu nehmen, ist das Recht jedes Gärtners, seit die Welt besteht.‹

Ich saß mit glühenden Backen da und tat so, als ob ich nichts von diesem furchtbaren Gespräch hörte. Niemand wußte, welchen Anteil ich am Sturz meines Onkels hatte. Und bald begann sich, dem Gesang einer Lerche nach einem Gewitter vergleichbar, in meinem Herzen die Hoffnung zu regen, daß ich nun vielleicht kein Gärtner werden würde. Meine Mutter gab ihrer Bestürzung in abgerissenen Sätzen Ausdruck. Immer wieder stellte sie ungläubige Fragen, und Vater antwortete in orakelhaftem Ton. Plötzlich wandte sich Mutter in wildem Zorn an Prue und warf ihr vor, daß sie, anstatt Geschirr abzuwaschen, einem Gespräche zuhöre, das sie nichts angehe.«

»Du schilderst uns diese Szene sehr eingehend«, meinte Beryll.

»Es war das die erste große Krise meines Traumlebens«, erwiderte Sarnac. »Sie ist mir sehr lebhaft in Erinnerung. Ich kann die alte Küche, in der wir lebten, noch ganz deutlich vor mir sehen, die verblichene Decke auf dem Tisch und die Petroleumlampe mit ihrer Glaskugel. Ich glaube, bei einigem Nachdenken könnte ich alles aufzählen, was sich in jenem Raume befand.«

»Was ist ein Kaminteppich?« fragte Iris plötzlich.

»Was für ein Ding war der Kaminteppich, von dem du sprachst?«

»Ich wüßte nicht, womit ich so einen Kaminteppich vergleichen sollte. Es war eine Art derbe Decke, die man vor das Kamingitter legte; vor dem Kohlenfeuer, das im Kamin brannte, war nämlich ein kleines Gitter angebracht, damit die Asche nicht auf den Fußboden des Zimmers falle. Unseren Kaminteppich hatte mein Vater selbst hergestellt, und zwar aus alten Lappen, alten Kleidern, Flanellresten und Stückchen Sackleinen; die Stoffe wurden in schmale Streifen geschnitten und diese dann auf einem Stück Sackleinen befestigt. An Winterabenden hatte Vater am Feuer gesessen und emsig genäht.«

»Hatte dieser Kaminteppich irgend ein Muster?«

 

»Nein. Aber ich werde mit meiner Geschichte niemals zu Ende kommen, wenn ihr fortwährend Fragen an mich stellt. Ich erinnere mich, daß Onkel, nachdem er einen Möbelwagen bestellt hatte, wieder zu uns kam und ein Käsebrot als Abendimbiß bei uns verzehrte, bevor er nach Chessing Hanger zurückmarschierte. Er war blaß und sah verstört drein. Sein Gehaben hatte keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem des Sir John; er sah aus wie einer, den man gewaltsam aus irgendeinem Versteck hervorgezogen hat, ein elender und bedauernswerter Mensch, der plötzlich dem Licht ausgesetzt wird. Ich erinnere mich, daß meine Mutter ihn fragte: ›Und wie nimmt es Adelaide?‹

Onkel setzte eine resignierte Miene auf. ›Sie hat schon wieder einen neuen Schmerz‹, sagte er bitter. ›In einem solchen Augenblick!‹

Mein Vater und meine Mutter wechselten einen verständnisvollen Blick.

›Ich sage euch –‹, hob Onkel wieder an, brachte aber nicht heraus, was er uns sagen wollte.

Ohnmächtige Wut schüttelte ihn. ›Wenn ich bloß wüßte, wer mir das angetan hat‹, stieß er endlich hervor. ›Diese – diese Schlange von einer Haushälterin – ja, eine Schlange nenne ich sie – sie hat einen, den sie an meine Stelle setzen will. Und sie und Petterton haben die Geschichte angezettelt –.‹

Er schlug auf den Tisch, aber es war ihm nicht ganz ernst damit.

Vater schenkte ihm etwas Bier ein.

›Uff!‹ sagte Onkel und leerte das Glas.

›Na, es läßt sich eben nicht ändern‹, fuhr er, sich ermannend, fort. ›Irgendwie werd' ich schon durchkommen. Hier in den Zwei-Pfennig-Villen wird wohl Gartenarbeit zu kriegen sein, denke ich. Ich werd' mir schon einen Verdienst schaffen ... Aber stellt euch einmal vor! Ich ein Gärtner, der für Taglohn arbeitet! Die kleinen Beamten da in all den Villen werden nicht übel stolz sein, wenn Lord Brambles Gärtner ihnen das Gras abmäht. Ich seh' sie schon, wie sie mich ihren Bekannten durchs Fenster zeigen werden. Der war Obergärtner bei einem Lord, werden sie sagen. Hm hm –.‹

›Es ist ein Sturz‹, meinte Vater, als Onkel gegangen war. ›Man kann sagen, was man will, es ist ein Sturz ...‹

Mutter war mit der Frage der Einquartierung beschäftigt. ›Sie wird auf dem Sofa im Wohnzimmer schlafen müssen, und ihm werden wir einen Strohsack auf dem Fußboden herrichten. Ich glaub' ja nicht, daß sie sehr zufrieden sein wird. Sie werden zwar ihr eigenes Bettzeug mitbringen, aber Adelaide ist nicht danach angetan, sich auf einem Sofa wohlzufühlen.‹

Die arme Frau fühlte sich überhaupt nicht wohl. Obgleich Onkel und auch mein Vater und meine Mutter ihr Vorstellungen machten, daß sie jetzt nicht krank sein dürfe und daß ihr Betragen unverantwortlich sei, beharrte sie bei der Behauptung, ihre Schmerzen seien so schlimm, daß ein Arzt gerufen werden müsse. Dieser befahl eine sofortige Überführung in ein Hospital zum Zwecke einer dringenden Operation.«

»In jenen Tagen«, fuhr Sarnac fort, »herrschte völlige Unwissenheit in Bezug auf den menschlichen Körper. Die alten Griechen und die Araber hatten während der kurzen Phasen ihrer geistigen Regsamkeit immerhin einiges auf dem Gebiete der Anatomie geleistet; die anderen Völker aber hatten vorwiegend nur theoretische Studien in der Physiologie getrieben, und das auch erst während der letzten drei Jahrhunderte vor der Zeit, die ich euch schildere. Die Menschen im allgemeinen wußten so gut wie nichts vom Lebensprozeß des Körpers. Wie ich euch schon gesagt habe, gebaren sie sogar ungewollte Kinder. Und da sie auf eine ganz absurde Art lebten, abnormale und schlecht zubereitete Nahrung zu sich nahmen und Infektionen aller Art unbehindert um sich greifen ließen, entartete bei vielen das Gewebe des Körpers und brachte absonderliche Auswüchse hervor. Manche Körperteile hörten auf, irgend eine nützliche Funktion auszuüben, und verwandelten sich in etwas wie eine schwammige Wucherung –«

»Der menschliche Körper glich also in gewissem Sinne den damaligen Gemeinwesen«, meinte Beryll.

»Sehr richtig. Der menschliche Körper hatte Gewächse und Krebsgeschwüre aufzuweisen, und Gottes schöner Erdboden so sinnlose Gebilde wie Cherry Gardens. Oh, alle jene Krankheiten! – Die bloße Erinnerung daran ist schrecklich.«

»Aber war man angesichts der fürchterlichen Gefahren, die jedermann bedrohten, nicht mit aller Kraft daran, physiologische Forschungen zu fördern?« fragte Salaha.

»Wußte man nicht,« fügte Heliane hinzu, »daß alle die Entartungen, von denen du sprichst, vermieden werden können und heilbar sind?«

»Durchaus nicht«, erwiderte Sarnac. »Man kann ja nicht gerade behaupten, daß die damaligen Menschen ihre scheußlichen Gewächse und Krebsgeschwüre gerne ertragen hätten, aber sie waren in ihrer Gesamtheit zu wenig lebenskräftig, um ernstlich gegen ihr Elend anzukämpfen. Und schließlich hoffte jeder, er würde für seine Person der Gefahr entgehen – bis er ihr erlag. Es herrschte eine allgemeine Apathie. Und die Priester, Journalisten und so weiter, die Schöpfer der öffentlichen Meinung mit einem Wort, waren eifersüchtig auf die Männer der Wissenschaft, sie redeten dem Volke ein, daß die wissenschaftliche Forschung im Grunde zwecklos sei, sie taten, was sie konnten, um alle Neu-Entdeckungen in Mißkredit zu setzen, die Diener der Wissenschaft lächerlich zu machen und das Volk gegen sie aufzuhetzen.«

»Darüber muß ich mich nun am allermeisten wundern«, sagte Heliane.

»Ihre Denkungsart war eben eine ganz andere; sie wurden nicht wie wir zu einer umfassenden Betrachtungsweise herangebildet. Ihr Denken war zerfahren und zerstückt. Die Gebreste ihres Körpers waren nichts im Vergleich zu den krankhaften Auswüchsen ihres Geistes.«

2

»Meine arme Tante konnte im Spital, mit dem ihr seit jeher eigenen Mangel an Rücksicht auf den Onkel, weder gesund werden noch sterben. Sie kostete ihn viel Geld und war ihm keinerlei Hilfe; sie machte sein Unglück noch größer. Nach einigen Tagen zog er, auf die dringenden Vorstellungen meiner Mutter hin, aus unserem Wohnzimmer in eine Zwei-Zimmer-Wohnung bei einem Maurer, der in einer benachbarten Straße ein Häuschen besaß. Er stopfte die beiden Räume mit seinen Möbeln aus Chessing Hanger voll, verbrachte aber den größten Teil seiner Zeit in unserem Laden und legte überhaupt eine zunehmende Vorliebe für meines Vaters Gesellschaft an den Tag.

Seine Bemühungen um Arbeit waren weniger erfolgreich, als er erwartet hatte. Seine kurzangebundene und herablassende Art gegen seine neuen Kunden, die Villenbesitzer von Cliffstone, übte keineswegs die erwünschte Wirkung aus. Er nannte ihre Blumenbeete ›für zwei Pfennig buntes Allerlei‹ und verglich ihre Gärten mit einem bunten Tischtuch oder einem Fensterblumenkasten; und anstatt diese derbe Offenheit zu schätzen, nahmen sie sie krumm. Es paßte ihnen auch nicht, sich zu wehren und in einer ehrlichen Auseinandersetzung ihre und seine soziale Stellung gegeneinander abzugrenzen; sie zogen es vor, ihre Illusionen zu behalten und ihn nicht mehr zu beschäftigen. Überdies erweckte die Enttäuschung, die er mit Tante erlebte, eine gewisse Weiberfeindschaft in ihm, die sich darin äußerte, daß er von den Frauen seiner Arbeitgeber, wenn sie gelegentlich allein daheim waren, keinerlei Befehle annehmen wollte. Auch dieser Umstand schädigte seine Aussichten, da viele der betreffenden Frauen bedeutenden Einfluß auf ihre Gatten ausübten. Infolgedessen hatte der gute Onkel tagelang nichts anderes zu tun, als in unserem Laden herumzustehen und meinem Vater Vorträge über die Minderwertigkeit der Cliffstoner Villenbesitzer zu halten, oder auch über die Gemeinheit des Mr. Petterton und jener ›Schlange‹, und über die wahrscheinlichen Mängel der spärlichen Kunden, die im Laden erschienen.

Trotz alledem war Onkel entschlossen, sich nicht ohne Kampf vom Schicksal besiegen zu lassen. Er dürfe nur ja den Mut nicht verlieren, sagte er, und sah sich deshalb, wie ich bald bemerkte, zu regelmäßigen Besuchen im Gasthof Wellington in der Nähe des Bahnhofes gezwungen. Von diesen Ausflügen kam er stets äußerst gesprächig zurück, er ähnelte dann Sir John Cuthbertson wieder weit mehr als vorher und verbreitete einen sehr ›herzhaften‹ Duft, sobald er hustete oder tief atmete. Als im Laufe der folgenden Wochen Vaters geschäftliche Schwierigkeiten immer drückender wurden, nahm auch er an diesen herzstärkenden Wirtshausbesuchen teil. Sie erweiterten seine philosophischen Ausblicke, ließen sie aber, wie mir vorkam, gleichzeitig immer verschwommener werden.

Onkel hatte eine Summe Geldes in der Postsparkasse liegen, und nach wie vor entschlossen, sich nicht ohne Kampf in sein Schicksal zu ergeben, setzte er bei den Pferderennen von Byford Downs recht ansehnliche Beträge auf sogenannte ›Tips.«‹

»›Tip‹ ist mir völlig unverständlich«, sagte Beryll.

»Ein ›Tip‹ war ein Pferd, von dem man sicher annahm, daß es gewinnen würde; in Wirklichkeit gewann es dann meist doch nicht. Man sprach auch von ›todsicheren Tips‹. Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie viel im ganzen Lande von den Aussichten und der Qualität der Rennpferde geredet wurde. Dabei waren die Engländer nicht etwa ein nomadisches Volk, nur eine kleine Minorität konnte wirklich reiten, aber bei den Rennen auf die Pferde setzen, das konnte jeder. Der König war die leitende Person dieses Pferderennspieles, ebenso wie er der oberste Herr der Armee war. Er erschien bei allen großen Rennen, gewissermaßen um das Wettspiel seiner Untertanen zu fördern. Infolgedessen kam sich Onkel John Julip äußerst loyal und patriotisch vor, wenn er auf den Byford Downs seine Zeit und seine Ersparnisse vergeudete. Mein Vater ging gelegentlich auch mit, um seinerseits sein Glück zu versuchen. In der Regel verloren beide, ja sie verloren schließlich fast alles, was sie besaßen, aber das eine oder das andere Mal gelang es ihnen, ihre Verluste wieder wettzumachen, wie Onkel behauptete. Eines Tages setzten sie auf ein Pferd, namens Rococo, obwohl dieses durchaus nicht als ›Tip‹ galt und sein Sieg unwahrscheinlich war; ein inneres Licht schien Onkel in diesem Falle geleitet zu haben, das Pferd kam als erstes an, und die beiden gewannen fünfunddreißig Pfund, eine für sie recht ansehnliche Summe. In gehobener Stimmung kehrten sie heim, ihre Freude wurde nur dadurch etwas beeinträchtigt, daß es ihnen sehr schwer fiel, den Namen des siegreichen Pferdes auszusprechen. Sie fingen das Wort ganz richtig an, nach der ersten Silbe aber glich ihre Rede nicht so sehr vernünftiger Menschensprache, als vielmehr dem Gegacker einer Henne, die ein Ei gelegt hat. ›Ro-cococo‹ oder ›Ro-cocococo‹ stießen sie hervor, um mit einem Rülpsen zu enden. Einer versuchte dem anderen zu helfen, aber es kam nicht viel dabei heraus. Sie verbreiteten nur einen ungewöhnlich starken Geruch von Zigarren und Alkohol. So ›herzhaft‹ hatten sie noch niemals gerochen. Mutter kochte ihnen Tee.

›Tee!‹ sagte Onkel bedeutungsvoll. Er lehnte die Tasse, die sie vor ihn hinstellte, zwar nicht geradezu ab, schob sie aber ein wenig beiseite.

Einige Augenblicke schien es zweifelhaft, ob er nun etwas ganz Tiefsinniges sagen oder ob ihm ernstlich schlecht werden würde. Doch der Geist triumphierte über die Materie. ›Ich wußte, daß es gewinnen würde, Martha,‹ sagte er, ›wußte es genau, so wie ich den Namen hörte. Roc –‹ Er stockte.

›Cococo‹, gluckste Vater.

›Cocococo – huk‹, fiel Onkel wieder ein. ›Ich wußte, daß wir Glück haben würden. Manche Menschen, Smith, manche Menschen ha– haben dafür einen Instinkt. Mein Hemd hätte ich auf dieses Pferd gesetzt, Martha – aber ... Mein Hemd hätte man nicht genommen.‹

Plötzlich blickte er mich ganz starr an. ›Man hätte es nicht genommen, Harry‹, sagte er. ›Man nimmt keine Hemden! Nein, das tut man nicht‹, schloß er und wurde tief nachdenklich.

Dann schaute er wieder auf. ›Der sechsunddreißigfache Gewinn‹, überlegte er. ›Da hätten wir Hemden genug für unser ganzes Leben gehabt.‹

Vater betrachtete die Sache philosophisch. ›Vielleicht hätten wir gar nicht lang genug gelebt, um sie alle auszutragen‹, meinte er. ›Besser so, wie es ist, John.‹

›Und paßt einmal auf,‹ fuhr Onkel fort, ›jetzt ist der Anfang gemacht. Wenn ich einmal anfange, Glück zu haben, dann habe ich auch weiter Glück. Paßt nur auf. Dieser Roc –‹

›Cococo.‹

›Cocococo – oder wie immer er heißt, ist nur ein Anfang. Er ist wie der erste Sonnenstrahl eines ruhmreichen Tages.‹

›Wenn dem so ist,‹ meinte Mutter, ›dann sollten wir alle etwas abbekommen, nicht?‹

›Aber gewiß doch,‹ sagte Onkel, ›gewiß doch, Martha.‹ Und zu meinem Erstaunen reichte er mir ein Zehnshillingstück – man hatte damals Goldmünzen, und dies war eine solche. Dann gab er Prue ebenfalls ein Zehnshillingstück. Fanny bekam ein ganzes Pfund in Gold und Mutter eine Fünfpfund-Banknote.

 

›Halt ein!‹ sagte Vater warnend.

›Laß mich doch, Smith‹, rief Onkel mit einer Gebärde fürstlicher Großzügigkeit. ›Dein Anteil ist siebzehn Pfund zehn, weniger sechs Pfund zehn macht elf. Laß sehen. Eins und fünf macht sechs – sieben – acht – neun – zehn – elf – hier!‹

Vater nahm den Rest des Geldes mit verblüfftem Gesicht. Die Rechnung stimmte ihm nicht ganz. ›Ja, ja,‹ sagte er, ›aber –‹

Seine milden Augen hafteten an dem Zehnshillingstück, das ich noch immer in der Hand hielt. Ich steckte es ein, und sein Blick folgte meiner Hand, bis er die Tischkante erreichte und dort hängen blieb.

›Ohne den Turfplatz, Smith, würde es kein solches Land auf der Welt geben wie England‹, sagte Onkel John und fügte bekräftigend hinzu: ›Merkt euch das.‹

Vater nickte zustimmend.«

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