Marivan unter den Kastanienbäumen

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„Ach, bist du denn blind?“, konterte meine Mutter. „Die machen, was sie wollen, auch für das Ausland. Denkst du, die könnten nichts von dem vertuschen, was hier in den Gefängnissen täglich passiert? Was glaubst du, warum der Schah und seine Frau dauernd im Fernsehen zu sehen sind. Man sieht von ihnen nur gute Taten, die lassen Kurzberichte filmen, zeigen sich von der besten Seite, gehen ins Kinderhospital und putzen den Kindern die Nase, nur um von der Realität abzulenken. Wenn die Menschenrechtler aus dem Ausland kommen, gibt es doch nur offizielle Termine. Sie werden alles so vorbereiten, als wäre nichts Unrechtes in unserem Land geschehen. Die sind mit allen Wassern gewaschen und verschleiern, wo sie nur können. Ich sage dir, die werden einfach Savakleute und Beamte im Gefängnis vorführen. Die sehen schließlich gut genährt aus. Die wirklichen Insassen bekommt niemand nicht zu Gesicht. Die vom Ausland machen ein paar Fotos und gehen wieder nach Hause. So wird es sein. Es ist alles nur eine Verschleierungstaktik und die Ausländer schreiben dann in ihrem Bericht, dass der Iran die humansten Gefängnisse der Welt hat.“

Ich konnte der Diskussion meiner Eltern nicht länger zuhören, doch es war die Wahrheit. Ich wollte morgen nicht verschlafen sein und ging ins Bett. Und selbst da hörte ich noch die laute Diskussion meiner Eltern, bis ich endlich einschlief.

In den frühen Morgenstunden wachte ich mit verschlafenen Augen auf. Mein Hirn hatte noch Sequenzen des Traumes in der Erinnerung, wie es oft bei Träumen war. Das Unterbewusstsein arbeitete wohl die ganze Nacht. In meinem Traum hatte ich alle unschuldigen Gefangenen, die nur wegen ihrer politischen Meinung im Gefängnis waren, befreit. Alle meine Kameraden aus meiner Klasse hatten mir geholfen, indem wir Seile, an denen kleine Sägen befestigt waren, in die Fenster der Gefangenen warfen. Wir hatten Lastwagen organisiert, die vor den Gefängnismauern warteten, bis die Gefangenen in dem Moment über die Mauern kletterten, als das Licht des Turmes sie in der Dunkelheit nicht bemerkte. Ich hatte Kak Foad befreit, jedoch hatte er fast keine Kraft mehr gehabt, um über die Mauer zu klettern. Ich war eine Leiter hochgestiegen, um ihm zu helfen – und es klappte. Wir waren davongefahren und alle hatten mir applaudiert: „Hussein, du bist ein Held!“ Das war mein wunderbarer Traum der Befreiung gewesen, leider nur ein Traum!

Am nächsten Tag war mein Kopf voller Gedanken und ich wollte nun endlich wissen, was gerade in Sene passierte. Was war aus dem Hungerstreik der Gefangenen geworden und was war mit Kak Foad?

Nach der Schule lief ich direkt ins Kaffeehaus. Hier saßen Rentner, die Backgammon spielten, und ich konnte kein bekanntes Gesicht entdecken. Stinklangweilig kam es mir vor. Von meinem Taschengeld bestellte ich mir eine kleine Tasse Tee und wartete ab, ob jemand Bekanntes vorbeikam. Nach einer kleinen Weile trat ein schwitzender Junge durch die Tür und ging direkt zu Abe Balkis, der den Jungen fragte: „Was ist mit dir passiert, Junge, du bist ja ganz außer Atem.“

„Nein, ja, ja“, sprudelte er heraus. „Ich bin gerannt, ich hatte Glück. Ich komme gerade von Sene zurück, vielleicht haben sie mich wegen meiner Hose in Ruhe gelassen. Ich trage doch nur ganz normale Jeans. Jedenfalls haben sie am Bus-Terminal in Sene auf den Weg nach Marivan alle festgenommen. Jeder, der kurdische Kleidung trug, wurde einfach abgeführt und mit Polizeiautos weggebracht. Ich hatte verdammt großes Glück wegen der Jeans. Na ja, ich habe gelogen und denen gesagt, ich komme nicht aus Marivan. Und sie haben mir geglaubt.“

„Aha“, lachte Abe. „Dann haben deine Klamotten deinen Arsch vor der Savak gerettet. Aber erzähl: Warum ist jemand verdächtig, der aus Marivan kommt, und wird festgenommen?“

Ich gesellte mich zu Abe Balkis und dem Jungen, um ihnen zuzuhören.

Noch aufgeregt, trank der Junge zwei Schlucke von seinem Tee, den Abe Balkis im inzwischen serviert hatte, und begann zu erzählen: „Weißt du, Abe, ich kam aus dem Haus unserer Verwandten in der Agball Straße. Plötzlich sah ich viele Jugendliche aus Marivan und Sene, die dort demonstrierten.“ Manche von ihnen kannte ich. Sie waren laut und hatten Plakate. Sie warfen Steine, als die Polizei sie angriff. Sie schlugen auch Scheiben der Bank Milli und der Bank Sepah kaputt. Ein alter Lebensmittelladen-Besitzer schimpfte: ‚Die Marivaner sind unmöglich, sie können doch in ihrer eigenen Stadt demonstrieren, statt es hier zu tun!‘ Aber der alte Mann irrte. Die auffälligen jungen Leute waren aus Sene, nicht aus unserer Stadt. Diese Demonstranten trugen kurdische Kleidung, daher lag der Verdacht nahe, dass sie alle aus Marivan waren. Sene ist doch heute schon viel moderner. Dort tragen sie eher Jeans und westlich angehauchte Kleidung, ja eben moderner.“

„Wir verstehen“, sagte Abe Balkis, „aber sag doch mal: Aus welchem Grund wurde denn demonstriert?“

Der Junge in den Jeans schaute auch zu mir, weil er bemerkte, dass ich ihm mit offenem Mund zuhörte. „Es ging um den Hungerstreik der Gefangenen. Der Anführer des Hungerstreiks ist Foad Soltani. Ich weiß nicht, seit wann Foad inhaftiert ist. Er war doch vor Jahren der Leiter der Energiegesellschaft in Marivan – und dann kam der Stromausfall. So reden die Leute jedenfalls. Die Familienangehörigen und Freunde versammelten sich vor dem Gefängnis und wollten ihre inhaftierten Verwandten sehen. Jedoch erteilten die Savak und die Behörden den Angehörigen keine Erlaubnis. Deswegen fand diese Demonstration statt. Die Demonstranten wollten sich so lange vor den Gerichtshof setzen, bis man ihnen die Erlaubnis erteilte, ihre Verwandten zu besuchen. Sie würden dort nicht eher weggehen.“

„Ja“, folgerte der Kaffeehausbesitzer, „man sollte zurzeit nicht nach Sene fahren. Das ist viel zu gefährlich.“

Nachdem ich all diese Neuigkeiten gehört hatte, machte ich mir Sorgen um Jewad und Foads Bruder. Ich wollte den Jungen fragen, ob er die beiden dort gesehen hatte. Aber ich blieb still und beschloss, auf morgen zu warten. Da wollten sie ja zurück sein, zumindest hatte Jewad mir das versprochen.

Am nächsten Morgen war ich auf dem Weg zur Schule so in Gedanken versunken, dass ich auf einmal vor dem Kaffeehaus stand und nicht vor der Schule. Wahrscheinlich hatte mich meine Sorge um Jewad und Abe Kaweh zu sehr beschäftigt. Ich hatte nur einen Gedanken im Kopf: dass den beiden nichts passiert war.

Ich beschloss, gleich im Kaffeehaus zu bleiben. In der Schule gab es an diesem Tag sowieso nichts großartig Wichtiges. Für meine Abwesenheit würde ich einfach eine Ausrede erfinden. Also betrat ich das Kaffeehaus und sah einen Bekannten, von dem ich wusste, dass er nie Geld bei sich hatte. Ich hatte keine Lust, ihm seinen Tee zu bezahlen, denn das bisschen Geld, das ich mithatte, reichte gerade mal für mich. Dann ging ich doch hinein und verdrückte mich in die hinterste Ecke des Kaffeehauses. Dort saß bereits jemand, der seinen Kopf über seinen Frühstücksteller neigte und offenbar müde war. Gott sei Dank, es war Jewad! Ich begrüßte ihn: „Hallo Jewad, wann bist du zurückgekommen?“

Er hob seinen Kopf und fragte: „Was machst du denn hier? Wieso bist du nicht in der Schule?“

„Ist ja gut! Ich weiß, es ist nicht in Ordnung“, gab ich zu, „aber gestern war hier ein Junge, der schreckliche Sachen von Sene erzählt hat. Es seien viele aus Marivan verhaftet worden. Ich habe mir Sorgen um dich und Abe Kaweh gemacht und wollte wissen, was wirklich passiert ist. Deswegen bin ich hier und nicht in der Schule. Ich könnte mich auch nicht auf den Unterricht konzentrieren. Wann bist du zurückgekommen? Und wo steckt Abe Kaweh?“

Jewad antwortete: „Abe Kaweh ist in Teheran.“

„Oh, was, in Teheran?“

„Jetzt setz dich erst mal hin, Hussein, und lass uns etwas essen. Ich habe gestern Morgen zuletzt gegessen.“

„Nein danke“, sagte ich. „Ich habe doch schon zu Hause gefrühstückt.“ Ich setzte mich zu Jewad. „Bist du gerade von Sene gekommen?“

„Nein, ich bin mit meinem Motorrad schon seit Mitternacht zurück. Aber erzähl mir, was der Junge gestern hier berichtet hat.“

„Der erzählte von der Demonstration in Sene, dass Demonstranten die Fensterscheiben von zwei Banken eingeschlagen haben und dass Steine auf Polizeiautos geworfen wurden. Am Busterminal wurden alle Marivaner festgenommen.“

„Ja, das stimmt, aber nur zum Teil. Nicht nur am Busterminal, sondern an der gesamten Strecke zwischen Sene und Marivan waren Kontrollen mit Blockaden aufgestellt. Die haben alle Autos kontrolliert und dann haben sie drei Busreisende festgenommen. Insgesamt sind fünfunddreißig Personen festgenommen worden, unter anderem auch die Mutter von Kak Foad und seine Schwester Maleke.“

Ich war nun erst recht begierig, alles zu hören, was passiert war. „Wenn du nicht mehr so müde bist, Jewad, musst du mir alles erzählen, ja?!“

„Ich erzähle dir das gern jetzt, Hussein“, lächelte Jewad höflich. „Wie du weißt, fuhren wir gestern mit den Familien Rawschan, Tude und Soltani und anderen Freunden nach Sene. Dort vor dem Gefängnis war es gefährlich für uns. Man hätte uns nicht erlaubt, die Gefangenen im Hungerstreik zu sehen. Viele andere Familien aus Sene waren auch dorthin gekommen. Wir alle wollten zum Gerichtshof gehen und unsere Forderungen stellen. Aber auch dort wurden wir abgewiesen. Wir ließen uns aber nicht wegschicken. Alle riefen: „Wir bleiben hier aus Solidarität, lesen Sie unsere Forderungen für die Gefangenen im Hungerstreik, deren Forderungen sind auch unsere, und zwar so lange, bis Sie die Forderungen erfüllen und der Hungerstreik beendet werden kann.“ Wir alle saßen im Gerichtshof. Die Polizei umringte uns, aber das war noch harmlos. Zwei Stunden später waren die Straßen leer, die Beamten und andere Geschäftsleute machten Feierabend. Erst dann griff uns die Polizei mit Wasserwerfern an. Sie kamen mit Schlagstöcken und griffen uns an, um uns zu vertreiben. Viele mutige Jugendliche wehrten sich und warfen mit Steinen auf die Polizisten. Schließlich schlugen sie einige Fensterscheiben von zwei Banken ein. Dabei gab es Verletzte. Auch Maleke, die Schwester von Foad, wurde verletzt. Die Polizei dachte, diese Jugendlichen seien aus Marivan gekommen, dabei waren die meisten aus Sene.“ Jewad trank einen Schluck Tee und fuhr dann fort: „Noch interessanter ist Sadigh Kamanger. Hussein, hast du von ihm gehört?“

 

„Nein, wer ist er?“ Ich kannte seinen Namen nicht.

„Sadigh Kamanger“, erklärte Jewad, „ist ein bekannter Anwalt aus Sene, der uns bislang sehr geholfen und uns Ratschläge gegeben hat, wie vorzugehen ist. Er pflegt auch Kontakt mit Kak Foad. Außerdem ist er Mitglied der Menschenrechtler seitens der Justiz. Ah, was wollte ich noch sagen, ja, also Kak Sadigh Kamanger hat uns auch erklärt, wie wir unsere Forderungen für die politisch Inhaftierten formulieren sollen. Einige von uns sind nach Teheran gefahren und haben versucht, dort mit Jabhe Melle und Christian Michel, dem Vorsitzenden des Roten Kreuzes in Iran, Kontakt aufzunehmen. Diese Kontaktpersonen für Menschenrechte im Iran nehmen unsere Forderungen auf und sorgen dafür, dass die Weltmedien über uns berichten. Abe Kaweh ist nach Teheran gefahren, um diese Vermittler zu treffen. Sie werden dort unsere Forderungen mit Hilfe von Sadigh Kamanger, Abdullah Baban und Abe Soltani vortragen.“

Ich sah Jewad an und sprach: „Ich bin sehr froh, dich zu kennen, sonst würde ich all diese Neuigkeiten niemals erfahren. Denkst du wirklich, dass ihre Reise nach Teheran Erfolg haben wird?“

Jewad nickte. „Ja, natürlich. Bedenke, dass wir verloren wären, wenn wir diese klugen Köpfe nicht auf unserer Seite hätten, auf der Seite der Gerechtigkeit. Einer wie Sadigh Kamanger kennt alle Gesetze, alle Paragraphen, er weiß, was er tut. Aber wir müssen die notwendige Geduld aufbringen. Wir hoffen alle auf gute Nachrichten und warten, bis sie zurück sind. Jetzt ist es schon so, dass die Savak und Behörden bereits zittern, weil sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen. Das sind aber erst die ersten Schritte. Der Kampf geht weiter in alle Richtungen. Die gestrige Demonstration hat dieses Tabu an der Wurzel gepackt und wird in die Geschichte eingehen, weil sich bisher niemand getraut hat. Ein erster Ansatz. Die Menschen werden nicht mehr so viel Angst vor der Savak und der Behörde haben müssen.“ Jewad rieb sich die Augen. „Aber ich habe viel zu tun. Ich bin nur hier, um einige Arbeiten zu erledigen; dann muss ich zurück nach Sene. Du könntest übrigens hier für mich beziehungsweise für uns einiges erledigen, bis ich aus Sene zurück bin, wenn du magst. Ich werde nämlich wieder hinfahren.“

„Was kann ich tun?“, fragte ich. Es machte mich in meinem Herzen froh, dass ich behilflich sein konnte. „Jewad, ich bin überzeugt davon. Ich mache mit. Sag mir, was ich tun soll.“ Ich konnte es kaum noch abwarten.

„Nun mal langsam, Hussein! Also, in meiner Tasche habe ich Handzettel mit den Forderungen der Demonstranten und Gefangenen, die sich im Hungerstreik befinden. Diese Handzettel wirfst du hinter die Eingangstüren der Häuser in unserer Stadt. Jedoch nicht tagsüber! Geh nur in der Dunkelheit auf die Straße und achte immer darauf, dass dich niemand sieht und dich vor allem nicht mit den Handzetteln erwischt. Hefte die Zettel im Dunkeln an die Bäume in den Parks, also überall dort, wo sich tagsüber viele Menschen aufhalten. Am besten ziehst du dich dunkel an und trägst eine Mütze. Du gerätst in Gefahr, wenn dich jemand sieht.“

Ich nickte zu allem und war stolz, dabei sein zu dürfen.

Jewad war noch nicht fertig mit seinen Hinweisen. Er lächelte mich an und sagte: „Es ist eine große Verantwortung, die du übernimmst. Es ist für unsere gute Sache und für den Kampf um Gerechtigkeit. Sei immer auf der Hut, weil du dich auch selbst schützen musst. Wenn du mir versprichst, auf dich aufzupassen, darfst du diese Aufgabe übernehmen.“

Ich nahm all die Handzettel entgegen und verkündete: „Ja mein Freund, ich mache das. Ich mache das so gut ich kann.“

Ich verabschiedete mich, denn Jewad hielt es für besser, wenn ich vor ihm das Kaffeehaus verließ. Vermutlich aus Sicherheitsgründen. Jewad wollte hier nur seine Arbeit erledigen und dann schnell nach Sene zurückfahren.

Ich klemmte die Plastiktasche mit den Handzetteln fest unter meinen Arm und fragte mich, was passieren würde, wenn mich die Savak oder die Polizei erwischte. Ach, dachte ich, dann komme ich eben ins Gefängnis und trete in den Hungerstreik – wie die anderen auch! Aber wenn sie mich foltern, mir die Fingernägel herausreißen, was sollen dann meine Eltern machen? Meine Mutter würde bitterlich weinen. Mein Vater hingegen würde stolz durch die Stadt laufen und verkünden, dass sein Sohn als politisch Gefangener im Gefängnis saß. Er zeigt sich gern etwas traurig, wäre aber im Herzen stolz.

Ich wollte unterwegs in die Tasche schauen, dachte aber, dass das auf offener Straße zu gefährlich sei. Doch wenn ich jetzt nach Hause gehen würde, wüsste meine Mutter, dass ich nicht in der Schule gewesen war. Was sollte ich also den ganzen Vormittag tun? Ich beschloss, in den Park zu gehen. Um diese Uhrzeit waren dort kaum Menschen. Unterwegs machte ich mir bereits Gedanken, wie ich die Zettel verteilen würde. Ich nahm mir vor, nach dem Abendessen heimlich oder mit einer Ausrede rauszugehen. In der Dunkelheit würde ich dann die Zettel hinter die Eingangstüren der Häuser werfen.

Unter einem Baum im Park schaute ich mir vorsichtig die Zettel an. Sie beinhalteten die Forderung der Gefangenen und die Erklärungen und Forderungen der Demonstranten. Ich begann zu lesen.

FORDERUNGEN

Keine Folter

Verbesserungen der Sauberkeit und Gesundheit im Gefängnis

Mehr Zeit zum Duschen und für Hygiene

Verbesserung der Mahlzeiten (Menge und Qualität)

Mehr Zeit für frische Luft – Spazieren gehen im Hof

Erlaubnis für das Betreiben von Weltempfängern, um in der Zelle Radio zu hören

Erlaubnis für das Aufstellen einer Kochplatte, um Essen warm zu machen

Besuchserlaubnis für unsere Verwandten

Arztbesuche

Keine Beleidigungen durch Beamte gegen Gefangene

Erklärung

Wir, die Bevölkerung von Sanandaj aus allen Schichten der Bevölkerung – Intellektuelle, Lehrerinnen und Lehrer, Studenten, Schüler, Beamtinnen und Beamte und viele mehr –, sind in großer Sorge und traurig über das in Sanandaj am vergangen Samstag Geschehene. Wir alle wollen, dass wir, ebenso wie die iranische Bevölkerung nach den Tagen ihres Widerstands, unsere Freiheit und Rechte zurückbekommen. Die Anhänger des Regimes verhalten sich wie wilde Tiere gegenüber unserer Bevölkerung. Mit ihrem Verhalten will man das Volk ruhigstellen, Wir wählen für Demokratie und Freiheit. Es ist der falsche Weg, den das jetzige Regime einschlägt. Wir sind dagegen, wenn die Polizisten mit Gewalt und Schlagstöcken kommen und unsere friedlichen Demonstrationen mit Gewalt verhindern. Die jungen Menschen kann man nicht kontrollieren. Unsere Jugend kann sich gegen die Gewalt des Regimes nur mit Gewalt wehren. Menschenrechte müssen gesetzlich verankert und praktiziert werden. Wir alle wissen, dass politisch Gefangene in Sene seit zwei Wochen im Hungerstreik sind. Wir demonstrieren wegen der Missstände im Gefängnis – mangelnde Sauberkeit, schlechtes Essen, unmenschliches Verhalten vonseiten der Gefängnisbehörde. Alle Familien der Gefangenen machen sich große Sorgen um das Leben ihrer Lieben. Die Familien sind am Samstag zum Gerichtshof gegangen, um angehört zu werden. Man wies sie ab und droht ihnen, die Polizei zu rufen und sie festnehmen zu lassen. Ja, das war die Reaktion der Staatsanwaltschaft, die eigentlich alles Unrecht bekämpfen sollte. Aber die sind auch nur Trittbrettfahrer des Regimes.

Bewaffnete Beamte wollten mit alten Männern, Frauen und Kindern kämpfen, die keine Waffen trugen und nichts weiter tun konnten, als ihre Meinung zu sagen. Sie riefen: „Wir sind keine Feinde und zeigen lediglich die Solidarität mit den Gefangenen.“ Wir haben friedlich demonstriert, bis uns die Polizei mit aller Gewalt angegriffen hat. Mit Schlagstöcken und Schüssen wurden wir vertrieben. Mehrere von uns wurden festgenommen. Die Gefangenen befinden sich in Lebensgefahr. Manche ihrer Familienmitglieder nahm man fest und steckte sie ebenfalls ins Gefängnis. Aus Protest verweilen wir an diesem Ort, bis unsere Forderungen akzeptiert werden:

Das Ende des Hungerstreiks

Alle Forderungen der Gefangenen werden akzeptiert

Alle Menschenrechte sind auf die Gefangenen anzuwenden

Sofortige medizinische Versorgung aller Gefangenen

Sofortige Freilassung der Demonstranten vom vergangenen Samstag

Bestrafung der Beamten und Polizisten, die am Samstag die Menschen auf der Straße geschlagen und verletzt haben

Wir betonen noch einmal: Wir bleiben so lange hier, bis all unsere Forderungen erfüllt sind. Wir fordern demokratische Rechte für alle Menschen im Iran und auch derer im Ausland, die uns helfen. Wenn unsere Forderungen nicht erfüllt werden, werden wir weitere Maßnahmen im Sinne unseres „freiheitsdenkenden Volkes“ ergreifen. Kommt man unseren Forderungen nicht nach, wird es zu weiteren Eskalationen in unserer Stadt kommen, die das Regime zu verantworten hat.

Nachdem ich den Text gelesen hatte, packte ich die Flugblätter wieder in die Plastiktasche und lief nach Hause. Unterwegs überlegte ich mir, wo ich die Flugblätter am besten platzieren würde. Die Fensterscheibe an der Bäckerei wäre ein sehr guter Platz. Bevor die Savak-Leute dazu kämen, das Flugblatt abzureißen, hätten es früh morgens schon viele Menschen gelesen. Wenn jedoch der Bäcker aus Angst es selbst abnahm, bevor seine Kunden kamen, würde es nichts nützen. Und wie wäre es gegenüber der Bäckerei an der dunkel gestrichenen Wand? Da käme das helle Blatt gut zu Geltung. Ja, das war besser, dort wollte ich es ankleben. Das nächste Flugblatt sah ich im Geiste schon vor dem Hamam am Zoneneingang hängen, da es dort morgens zahlreiche Besucher sehen würden. Bevor sie zum Morgengebet gingen, besuchten viele das Hamam. Auch der Eingang der Moschee schien mir geeignet für all diejenigen, die nicht das Hamam besuchten. Weitere Flugblätter würde ich an geeigneten Plätzen in der Stadt aufhängen. Den Rest wollte ich für die Schule aufbewahren. Etwas an die Eingangstür der Schule zu kleben lohnte sich nicht, denn der Hausmeister würde es sicher sofort vernichten. Auf jeden Fall wollte ich vor Schulbeginn die Flugblätter vor die einzelnen Klassenzimmer legen. Die Mitschüler würden sie unter sich verteilen. Das ersparte mir, zu der einzigen Rolle Klebeband, die wir zu Hause liegen hatten, weitere Rollen zu kaufen. Taschengeld hatte ich sowieso keines mehr.

Als ich zu Hause war, suchte ich überall nach dem Klebeband, fand es aber nicht. Ich wollte meine Mutter fragen, blieb dann aber still, weil ich nicht wollte, dass sie sich erkundigte, wozu ich es brauchte. Ich wollte sie ja nicht unnötig belügen.

Da erinnerte ich mich plötzlich an meinen wunderschönen, selbst gebastelten Papierdrachen. Er war aus rotem und blauem Papier und hatte Augen und einen Mund. An seine Arme und den Schwanz hatte ich bunte Papierbänder geklebt und ihn in dem Himmel aufsteigen lassen. Ja, das war eine Idee, wie bei meinem Drachen einen Klebstoff aus Mehl und Wasser herzustellen. Das funktionierte auch. Ich besorgte mir aus der Küche einige Löffel Mehl und eine kleine Plastiktüte, dazu einen Löffel, den ich später wieder zurücklegen musste. Nach dem Abendessen, schlich ich mich in mein Zimmer und erklärte, ich müsse für die Schule etwas lesen. Durch das Fenster stieg ich in den Hof, mischte dem Mehl etwas Wasser hinzu und fertig war mein Klebematerial. Ich kletterte wieder in mein Zimmer und wartete auf die Dunkelheit. Mit meiner dunklen Mütze schlich ich mich aus dem Haus, als alle schliefen. Ich war aufgeregt. Die Straßen waren ruhig. Die Stadt schlief. Ich lief viele Straßen auf und ab, immer an den Hauswänden entlang, und warf die Flugblätter über die Eingangstüren der Höfe. Wenn ein Auto zu sehen war, kauerte ich mich in eine Ecke und versteckte mein Gesicht in der Dunkelheit, ging dann weiter und mied dabei Laternen. Niemand durfte mich erwischen. Ich wollte meine Aufgabe gut erfüllen. Kritisch erschien es mir gegenüber der Bäckerei, aber ich schaffte es. Innerhalb von Sekunden hing das Plakat und auch vor dem Hamam und der Moschee wurde ich nicht behelligt. Ich wusste, das war nicht ungefährlich, und ich war außer Atem vor lauter Aufregung. Nachdem ich alles erledigt hatte, blieben mir noch genügend Flugblätter für die Schule. Es war sehr spät in der Nacht und ich musste morgen sehr früh in der Schule sein, und zwar vor allen anderen Schülern. Das Fenster hatte ich nur angelehnt und so kletterte in unbemerkt wieder in mein Zimmer. Ich war total erschöpft und legte die Utensilien für die Handzettelaktion unter mein Kopfkissen. Mit unruhigen Gedanken an die Gefangenen schlief ich kurz darauf ein.

 

Es war still in unserem Haus und niemand hatte bemerkt, dass ich unterwegs gewesen war. Es war früh morgens und meine Mutter stand gerade auf. Schnell stürzte ich eine Tasse Tee hinunter und verschlang mein Brot mit Joghurt in Windeseile. Ich griff nach meinen Schulsachen und der Tüte mit den Handzetteln und wollte das Haus verlassen. Meine Mutter musste bemerkt haben, wie hektisch ich war. „Mein Junge, was ist heute mit dir los? Warum bist du so unruhig? Du hast doch noch Zeit, warum willst du jetzt schon zur Schule?“

„Ach, Mama“, erklärte ich, „unser Lehrer, Herr Kursch, fängt heute ein neues Thema an. Ich will mit Amin vor dem Unterricht noch darüber sprechen. Du weißt doch, Amin ist einer der Schlauesten in unserer Klasse, er hat immer die beste Note 20.“

Der Gesichtsausdruck meiner Mutter sagte mir, dass sie mir nicht glaubte. „Mein Junge, warte noch einen Moment, du nimmst am besten Nasser gleich mit.“

„Nein, ich muss sofort weg!“ Ich unterdrückte die aufkommende Panik.

Zum Glück erlaubte sie mir zu gehen: „Dann lauf, wenn es dir so wichtig ist.“

Ich rannte aus dem Haus und auf dem Weg schaute ich nach meinen aufgeklebten Plakaten. Gegenüber unserem Haus bei Dade Fathe hing das Plakat noch. Da war ich stolz und überflog es noch einmal. Bestimmt hat es Dade Fathe noch nicht entdeckt. Schnell lief ich weiter. Auch das Plakat an der dunklen Wand gegenüber der Bäckerei hing noch. Einige ältere Männer standen davor und lasen es.

Ich war stolz auf mich. Die Nachtaktion hatte sich gelohnt.

Als ich an der Schule ankam, war die Eingangstür bereits geöffnet. Ich sah den Hausmeister, der bei den Mülltonnen beschäftigt war. Er durfte mich um diese Uhrzeit nicht sehen. Heimlich und leise betrat ich das Schulgebäude. Ich musste verdammt gut aufpassen, sonst würde mich jemand erwischen und den Schuldirektor benachrichtigen. Dann hätte ich ein großes Problem. Ich verbarg mich hinter der Schuleingangstür und beobachte den Hausmeister, bis er in seinem Hausmeisterraum verschwand. Unbemerkt rannte ich die Treppen hoch und legte vor jedes Klassenzimmer zwei Flugblätter. Dann versteckte ich mich unter einem Tisch im Flur, bis ich vom Hof her laute Stimmen hörte. Die ersten Schüler waren angekommen und ich war beruhigt. Ich schlich leise zurück in den Hof und mischte mich unter meine Mitschüler, sodass es so aussah, als sei auch ich gerade erst angekommen. Aus Verlegenheit sprach ich mit manchen über belanglose Dinge, aber mein Herz klopfte wie verrückt. Ich fragte mich, was passieren würde, wenn sie alle die Flugblätter sahen. Was würden sie sagen? Wie würden die Lehrer reagieren? Vielleicht brachten sie uns dann alle zurück auf den Schulhof, um herauszufinden, wer verdächtig war.

Ich ging als Letzter in unseren Klassenraum und sah, wie sich meine Schulkameraden über einen Tisch beugten und das Flugblatt lasen. Ich gab mich interessiert und fragte: „Hallo, was lest ihr da? Ist das die neue Hausordnung der Schule?“

Amin, der neben mir stand, antwortete: „Nein, das sind Flugblätter. Jemand hat sie vor den Klassenraum gelegt.“

„Zeig mal her!“ Als auch ich beim Lesen war, kam Herr Kursch in den Klassenraum. Er schien verwundert. „Setzt euch. Was lest ihr da? Gebt mir das Blatt.“ Nachdem er es überflogen hatte, sagte er: „Gut, Kinder, ich lese es euch vor.“ Sein Gesicht zeigte ein bitteres Lächeln. Er war doch als mutiger Lehrer bekannt und galt als Regime-Gegner.

Ungeduldig fragte ich: „Herr Kursch, was denken Sie?“

Er lief im Klassenraum hin und her, an der Wandtafel vorbei, schloss seine Augen und öffnete sie wieder. Das ging eine ganze Weile so und wir alle schauten ihn mit großen Augen an. Plötzlich sagte er: „Wisst ihr, liebe Kinder, das Flugblatt ist gut geschrieben. Wir werden es vervielfältigen und weiter verteilen. Ich bin nicht gegen den Inhalt der Flugblätter, aber ich frage mich: Warum erst jetzt? Das hätte man vor vielen Jahren schon tun müssen. Aber man wäre vor Jahren auch sehr schnell im Gefängnis gelandet. Ich habe hohe Achtung vor den Gefangen, die für Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen. In allen großen Städten wird öffentlich demonstriert, während bei uns in Marivan diese Flugblätter heimlich verteilt werden. Diejenigen, die das tun, nenne ich Feiglinge. Sie wollen Vorbilder des hohen Gedankenguts sein, verstecken aber ihr Gesicht. Die Zeit ist vorbei, wo man wie ein Strauß den Kopf in den Sand steckte. Die Freiheit und der Kampf für Gerechtigkeit müssen, wie auch in anderen Städten, öffentlich gezeigt werden, indem wir auf die Straße gehen und demonstrieren. Sonst wird nichts passieren.“

Für mich war es wie ein Schlag ins Gesicht, was unser Lehrer da von sich gab. Mein Herz krampfte sich zusammen, und obwohl ich doch heute Nacht der mutigste Mensch in Marivan gewesen war, sollte ich nun ein Feigling sein?! Ich saß auf meinem Stuhl wie ein Häufchen Elend und fühlte mich schuldig. Ich wollte und würde kein Feigling sein. Das waren meine Gedanken, bevor ich dem Lehrer weiter folgen konnte. Ich fand es gemein, gemein für meine Aktion in dieser Nacht. Aber es wusste ja niemand, dass ich es war, der die Flugblätter verteilt hatte. Also atmete ich tief durch und nach einigen Minuten fühlte sich mein hitziger Kopf wieder halbwegs normal an. Ich musste mich sehr beherrschen, um nicht zu explodieren, war ich doch so stolz auf mein Mitwirken an der Aktion.

Herr Kursch setzte sich wieder an sein Lehrerpult und begann mit seinem Tagesgeschäft. „Also, liebe Kinder, wenn keiner mehr Fragen hat, fangen wir heute ein neues Thema an. Es lautet: ‚Wie bereitet man ein Referat, eine Reportage vor?‘ Geht nacheinander an die Tafel und schreibt dort eure Gedanken auf.“

Als ich an der Reihe war, ging ich nach vorn, konnte mich jedoch nicht konzentrieren. Ich war bestimmt sehr blass, weil mich das schlechte Gewissen plagte. Aber dann war ich an der Tafel doch souverän. Meine Gedanken waren zwar bei der Reaktion unseres Lehrers auf die Flugblätter, aber ich ließ es mir nicht anmerken. In diesem Moment dachte ich: Herr Kursch, warum sind Sie nur so ungerecht? Ich war es doch, der heute Nacht Mut aufgebracht hat! Na ja, er konnte es nicht besser wissen. In meinem Kopf schrie es: „Feigling, Feigling, Feigling!“ Das würde ja bedeuten, dass alle in der Untergrundorganisation Feiglinge waren. Alle! Kak Kawe, Kak Shwane, Jewad und all die anderen, die im Gefängnis waren, sollten Feiglinge sein? Nein, dachte ich, als ich vor der Tafel stand. Herr Kursch, Sie haben unrecht! All diese mutigen Freunde waren in meinem Augen Helden, und der Held der letzten Nacht war ich in Marivan. Es blieb mein Geheimnis. Was nützte es, in der Öffentlichkeit auch noch seinen Mund aufzumachen? Dann kämen noch mehr Menschen durch die Savak in Gefängnis. Was sollte das bringen? Unser Lehrer machte sich das zu leicht. Vielleicht war er auch ein Feigling, sonst hätte er schon viel früher etwas tun können.