Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Briefwechsel

Étre­tat, Frei­tag.

Mei­ne lie­be Tan­te!

Ich kom­me Dir all­mäh­lich ent­ge­gen. Ich wer­de am 2. Sep­tem­ber in Les Fres­nes sein, den Tag vor Be­ginn der Jagd, den ich nicht ver­feh­len möch­te, um die­se Her­ren zu är­gern. Du bist zu gut, lie­be Tan­te, und wenn du mit ih­nen al­lein bist, er­laubst du ih­nen ohne Frack und un­ra­siert zum Es­sen zu kom­men, weil sie an­geb­lich er­mü­det sind.

Da­rum sind sie auch ent­zückt, wenn ich nicht da bin. Aber ich wer­de da sein und Be­sich­ti­gung ab­hal­ten, wie ein Ge­ne­ral, wenn es Es­sens­zeit ist. Und wenn ich einen fin­de, der sich ver­nach­läs­sigt, wer­de ich ihn zu den Mäg­den in die Kü­che schi­cken.

Die Her­ren von heu­te sind so we­nig rück­sichts­voll und ha­ben so we­nig Le­bens­art, dass man nie streng ge­nug sein kann. Es ist wirk­lich die Zeit der Kut­scher­ma­nie­ren. Wenn sie mit­ein­an­der in Streit ge­ra­ten, ge­brau­chen sie Schimpf­wor­te wie Fuhr­knech­te, und vor uns be­neh­men sie sich weit schlech­ter, als uns­re Dienst­bo­ten. In den See­bä­dern muss man sie se­hen! Da sind sie in hel­len Hau­fen und man kann sie in Mas­se be­ur­tei­len, wie un­ge­ho­belt sie sind!

Stel­le dir vor: in der Ei­sen­bahn sitzt mir ein Herr ge­gen­über, der es sei­nem Schnei­der zu dan­ken hat­te, dass er auf den ers­ten Blick an­stän­dig aus­sah. Plötz­lich zieht er in al­ler Ruhe sei­ne Stie­fel aus und legt Schlap­pen an. Ein an­de­rer, ein äl­te­rer Mann, schein­bar ein rei­cher Em­por­kömm­ling – die sind im­mer am schlech­tes­ten er­zo­gen – sitzt mir ge­gen­über und legt ge­müt­lich sei­ne bei­den Füße auf den Sitz ne­ben mir. So et­was ist er­laubt.

In den See­bä­dern herrscht ein ge­ra­de­zu zü­gel­lo­ses Fle­gel­tum. Frei­lich stammt mei­ne Em­pö­rung, wie ich hin­zu­fü­gen muss, viel­leicht da­her, dass ich gar nicht ge­wöhnt bin, mit die­sen Leu­ten, die man hier mit dem El­len­bo­gen streift, zu ver­keh­ren; ihr Be­neh­men wür­de mich viel­leicht we­ni­ger ver­let­zen, wenn ich es nicht an­ders kenn­te.

Im Ho­tel­bü­ro wur­de ich neu­lich von ei­nem jun­gen Men­schen fast um­ge­sto­ßen: er nahm über mei­nen Kopf weg sei­nen Schlüs­sel vom Bret­te. Ein an­de­rer rem­pel­te mich beim Ver­las­sen des Ka­si­no­balls mit al­ler Ge­walt an, ohne mich um Ent­schul­di­gung zu bit­ten oder auch nur den Hut ab­zu­neh­men; ich habe noch heu­te Brust­schmer­zen da­von. Und so sind sie alle. Sieh sie dir an, wenn sie Da­men auf der Ter­ras­se an­re­den: sie grü­ßen kaum. Sie le­gen höchs­tens die Hand an die Kopf­be­de­ckung. Da sie in­des zu­meist Kahl­köp­fe ha­ben, ist dies viel­leicht das bes­te.

Aber et­was em­pört und ver­letzt mich vor al­lem: das ist die Art, wie sie sich ganz öf­fent­lich und ohne die ge­rings­te Vor­sicht von den em­pö­rends­ten Din­gen un­ter­hal­ten. Wenn zwei Män­ner zu­sam­men sind, er­zäh­len sie sich in den rohs­ten Aus­drücken und ge­meins­ten Ge­dan­ken­gän­gen wahr­haft un­er­hör­te Ge­schich­ten, ohne sich im Ge­rings­ten zu ge­nie­ren, wenn ein Frau­enohr in ih­rer Nähe ist. Ges­tern am Stran­de muss­te ich mei­nen Platz wech­seln, um nicht län­ger die un­frei­wil­li­ge Zu­hö­re­rin ei­ner skan­da­lö­sen Ge­schich­te zu sein, die sie sich in so bru­ta­len Aus­drücken er­zähl­ten, dass ich nicht wuss­te, ob ich mich mehr schä­men oder mehr em­pört sein soll­te, dass ich so et­was hat­te mit­an­hö­ren müs­sen. Das ge­rings­te An­stands­ge­fühl hät­te ih­nen sa­gen kön­nen, dass man in uns­rer Nähe von sol­chen Sa­chen lei­se zu spre­chen hat.

Étre­tat ist üb­ri­gens das Land, wo von al­lem Auf­he­bens ge­macht wird, und folg­lich die Hei­mat der Klatsch­ba­sen. Nach­mit­tags von fünf bis sie­ben Uhr sieht man sie auf der Jagd nach Ver­läum­dun­gen, die sie von Haus zu Haus tra­gen. Du sag­test mir ein­mal, lie­be Tan­te, die Klatsch­sucht wäre ein Zei­chen von klei­nem Geis­te und schlech­ter Her­kunft. Sie ist auch der Trost der Frau­en, de­nen kei­ne Lie­be mehr blüht und der Hof nicht mehr ge­macht wird. Man braucht sich die nur an­zu­se­hen, die als die Klatsch­süch­tigs­ten be­zeich­net wer­den, und man ist si­cher, dass du dich nicht täusch­test.

Neu­lich wur­de eine mu­si­ka­li­sche Soirée im Ka­si­no von ei­ner nam­haf­ten Künst­le­rin, Frau Mas­son, ver­an­stal­tet. Sie sang wirk­lich zum Ent­zücken. Ich hat­te auch Ge­le­gen­heit, den pracht­vol­len Co­que­lin zu be­klat­schen, eben­so zwei rei­zen­de frü­he­re Mit­glie­der vom Bau­de­ville-Thea­ter, M… und Meil­let. Ich konn­te bei die­ser Ge­le­gen­heit al­les, was die­sen Som­mer am Stran­de war, zu­sam­men se­hen. Viel Gu­tes war nicht dar­un­ter.

Am nächs­ten Tage ging ich zum Früh­stück nach Yport. Ich sah einen bär­ti­gen Men­schen aus ei­nem großen fes­tungs­ar­ti­gen Hau­se kom­men; es war der Ma­ler Jean Paul Lo­rens. Es ge­nüg­te ihm an­schei­nend nicht, sei­ne Per­so­nen mit Mau­ern zu um­ge­ben; er möch­te sich auch noch selbst ein­mau­ern.

Am Stran­de saß ich ne­ben ei­nem noch jun­gen Man­ne von zar­tem und fei­nem Aus­se­hen und stil­lem We­sen, der Ver­se las. Aber er las sie mit sol­cher Auf­merk­sam­keit, dass er nicht ein ein­zi­ges Mal nach mir auf­sah. Ich war et­was ver­wun­dert und frag­te den Ba­de­meis­ter schein­bar un­ab­sicht­lich, wer die­ser Herr wäre. Im Grun­de lach­te ich ein we­nig über die­sen Vers­le­ser; er schi­en mir für einen Mann et­was zu­rück­ge­blie­ben. Das ist ein Sim­pel, sag­te ich mir. Nun wohl, lie­be Tan­te, jetzt bin ich ganz ent­zückt von mei­nem Un­be­kann­ten. Den­ke dir, er hieß Sul­ly Prud­hom­me. Ich kehr­te um und setz­te mich ne­ben ihn, um ihn in al­ler Ge­müts­ru­he be­trach­ten zu kön­nen. Sein Ge­sicht hat vor al­lem einen star­ken Aus­druck von Ruhe und Fein­heit. Da ihn je­mand ab­hol­te, hör­te ich auch sei­ne Stim­me; sie ist sanft und fast furcht­sam. Der wird ge­wiss kei­ne Ro­hei­ten aus­po­sau­nen, dach­te ich, noch Frau­en an­rem­peln, ohne sich zu ent­schul­di­gen. Er muss an­ders sein, als die Üb­ri­gen, aber kränk­lich und ner­vös. Die­sen Win­ter wer­de ich se­hen, dass er mir vor­ge­stellt wird.

Ich weiß nichts mehr zu schrei­ben, lie­be Tan­te, und schlie­ße die­sen Brief in Eile, da die Post bald ab­ge­ht. Ich küs­se dir Hän­de und Wan­gen.

Dei­ne treue Nich­te

Ber­t­ha von X…

P. S. Zur Recht­fer­ti­gung der fran­zö­si­schen Höf­lich­keit muss ich hin­zu­set­zen, dass un­se­re Lands­leu­te auf Rei­sen im Ver­gleich zu den schau­der­haf­ten Eng­län­dern wah­re Mus­ter von Höf­lich­keit sind. Denn Die schei­nen in der Kut­scher­stu­be er­zo­gen zu sein und ge­ben sich alle Mühe, sich selbst nie und ih­ren Nach­barn stets zur Last zu fal­len.

*

Les Fres­nes, Sonn­abend.

Mei­ne lie­be Klei­ne!

Vie­les, was du mir da schriebst, hat Hand und Fuß, was frei­lich nicht ver­hin­dert, dass du un­recht hast. Frü­her war ich ganz wie du voll In­grimm über die Un­höf­lich­keit der Män­ner ge­gen mich; spä­ter, als ich äl­ter wur­de, und mei­nen ko­ket­ten Sinn ver­lor, und die Din­ge be­trach­ten lern­te, wie sie sind, wur­de mir klar, dass die Män­ner viel­leicht nicht höf­lich, die Frau­en da­ge­gen im­mer von aus­ge­such­ter Rück­sichts­lo­sig­keit sind.

Wir glau­ben, uns sei al­les er­laubt, mei­ne Lie­be, und wir glau­ben zu­gleich, dass man uns al­les schul­dig sei, und wir be­ge­hen am hel­len lich­ten Tage tau­send Un­ar­ten, die je­nes An­stands­ge­füh­les, von dem du sprichst, völ­lig baar sind.

Jetzt fin­de ich im Ge­gen­teil, dass die Män­ner ge­gen uns – im Ver­gleich zu un­se­rem Be­neh­men ge­gen sie – noch sehr rück­sichts­voll sind. Zu­letzt, mein Täub­chen, sind die Män­ner im­mer das, und müs­sen es sein, was wir aus ih­nen ma­chen. In ei­ner Ge­sell­schaft, in der die Frau­en alle vor­neh­me Da­men wä­ren, müss­ten die Män­ner alle zu Edel­leu­ten wer­den. Mach nur die Au­gen auf und den­ke nach.

Sieh dir zwei Da­men an, die sich auf der Stra­ße be­geg­nen. Wel­ches Be­neh­men! Wel­che ab­schät­zi­gen Bli­cke, wel­che Ver­ach­tung in den Au­gen! Wel­ches Sich-Ab­mes­sen von Oben bis Un­ten, um zu ver­ur­tei­len. Und wenn der Bür­ger­steig zu schmal ist, glaubst du, eine von ih­nen wi­che aus und bäte um Ent­schul­di­gung? Nie­mals! Wenn aber zwei Män­ner sich in ei­nem zu en­gen Gäss­chen an­rem­peln, lüf­ten bei­de den Hut und ma­chen sich Platz. Wir aber drän­gen uns Leib an Leib, Nase an Nase an ein­an­der vor­über und bli­cken uns un­ver­schämt an.

Sieh dir zwei Da­men an, die sich ken­nen und sich auf der Trep­pe vor der Tür ei­ner Freun­din be­geg­nen, die die eine be­su­chen will und die an­de­re ver­lässt. Sie fan­gen an zu schwat­zen und ver­sper­ren die gan­ze Brei­te der Trep­pe. Wenn nun je­mand, Mann oder Frau, hin­ter ih­nen her­kommt, glaubst du, sie mach­ten nur einen hal­b­en Fuß breit Platz? Nie­mals, nie­mals!

Letz­ten Win­ter war­te­te ich zwei­und­zwan­zig Mi­nu­ten, die Uhr in der Hand, an der Tür ei­nes Sa­lons. Und hin­ter mir war­te­ten zwei Her­ren, und kei­ner von bei­den mach­te Mie­ne, wü­tend zu wer­den, wie ich. Sie wa­ren eben seit lan­ge an uns­re un­be­wuss­ten Rück­sichts­lo­sig­kei­ten ge­wöhnt.

Neu­lich, ehe ich Pa­ris ver­ließ, ging ich – ge­ra­de mit dei­nem Gat­ten – in ein Re­stau­rant der Champs Élysées, um mich zu er­fri­schen. Alle Ti­sche wa­ren voll. Der Kell­ner bat uns zu war­ten.

Ich sah eine äl­te­re Dame von vor­neh­mem Aus­se­hen, die ihre Rech­nung be­reits be­gli­chen hat­te und zum Auf­bruch be­reit schi­en. Als sie mich sah, blick­te sie mich von Oben bis Un­ten an und rühr­te sich nicht vom Fleck. Sie blieb län­ger als eine Vier­tel­stun­de un­be­weg­lich sit­zen, zog ihre Hand­schu­he an, mus­ter­te alle Ti­sche und sah sich die Leu­te, die wie ich war­te­ten, mit Ge­müts­ru­he an. Zwei jun­ge Her­ren, die ihre Mahl­zeit eben be­en­de­ten, er­blick­ten mich und rie­fen schleu­nigst den Kell­ner, um ihre Rech­nung zu be­glei­chen. Sie bo­ten mir so­fort ih­ren Platz an und woll­ten nicht ein­mal so lan­ge sit­zen blei­ben, bis die Rech­nung be­zahlt war. Und da­bei, mei­ne Lie­be, bin ich nicht mehr jung und hübsch, wie du, son­dern alt und grau.

 

Uns, siehst du, soll­te die Höf­lich­keit bei­ge­bracht wer­den, und die­se Ar­beit wäre so schwer, dass Her­ku­les sie nicht voll­bräch­te. –

Du sprichst von Étre­tat und den Leu­ten, die an die­sem schö­nen Stran­de klat­schen. Für mich ist die Ge­gend längst tot, aber frü­her habe ich mich dort präch­tig amü­siert. Wir wa­ren da­mals nur we­ni­ge, Leu­te aus der Ge­sell­schaft, aus der wirk­li­chen Ge­sell­schaft, und Künst­ler in brü­der­li­cher Ei­nig­keit. Da­mals wur­de nicht ge­klatscht.

Wir hat­ten zu un­se­rer Zeit frei­lich noch nicht das ab­ge­schmack­te Ka­si­no, wo man sich auf­spielt, tu­schelt, stumpf­sin­nig tanzt und sich über­mä­ßig lang­weilt. Wir hat­ten eine an­de­re Wei­se, uns­re Aben­de fröh­lich zu ver­brin­gen. Rate mal, was uns­re Her­ren sich aus­dach­ten: wir tanz­ten je­den Abend in ei­nem Bau­ern­ho­fe der Ge­gend.

Wir bra­chen im Trupp auf und nah­men einen Lei­er­kas­ten mit; ge­wöhn­lich dreh­te ihn der Ma­ler Le Poit­te­vin, eine Baum­woll­müt­ze auf dem Kop­fe. Zwei Her­ren gin­gen mit La­ter­nen vor­aus. Wir folg­ten hin­ter­drein und lach­ten und schwatz­ten wie toll.

Der Päch­ter wur­de ge­weckt, Knech­te und Mäg­de her­aus­ge­trom­melt. Oft wur­de so­gar – o Schau­der! – Zwie­bel­sup­pe ge­kocht, und nach­her tanz­ten wir un­ter dem Birn­baum nach den Klän­gen der Dreh­or­gel. Die Häh­ne kräh­ten auf­ge­stört in der Tie­fe der Ge­bäu­de und die Pfer­de wie­her­ten un­ru­hig auf der Streu. Der fri­sche Nacht­wind strei­chel­te uns die Wan­gen und weh­te uns feuch­ten Laub­ge­ruch und Heu­duft ent­ge­gen.

O wie weit, wie weit liegt das jetzt hin­ter mir! Drei­ßig Jah­re sind es jetzt! –

Ich möch­te nicht, mei­ne Liebs­te, dass du zur Er­öff­nung der Jagd her­kommst. Wa­rum un­sern Freun­den den Spaß ver­der­ben und ih­nen den Zwang auf­er­le­gen, sich an die­sen Ta­gen des der­ben, länd­li­chen Ver­gnü­gens ele­gant an­zu­zie­hen? So verdirbt man die Män­ner, Klei­ne!

Herz­li­chen Gruß und Kuss. Dei­ne alte Tan­te

Ge­ne­viè­ve von Z…

*

Angeführt

Ja, die Wei­ber!

– Nun, was ist denn mit den Wei­bern?

– Je nun, es gibt kei­ne ge­schick­teren Tau­send­künst­ler, als sie. Sie le­gen uns bei al­lem und je­dem her­ein, mit und ohne Grund, oft aus blo­ßer Freu­de am Rän­ke­spin­nen. Sie über­lis­ten uns mit un­glaub­li­cher Nai­ve­tät, mit er­staun­li­cher Keck­heit und un­nach­ahm­li­cher Fein­heit. Sie be­trü­gen uns vom Mor­gen bis in die Nacht, alle ohne Aus­nah­me; die an­stän­digs­ten, die recht­schaf­fens­ten, die sinn­be­gab­tes­ten – alle sind Rän­ke­schmie­de.

Frei­lich, das muss man sich sa­gen, nicht sel­ten wer­den sie dazu ge­zwun­gen. Der Mann hat ohne Zwei­fel oft ei­gen­sin­ni­ge Lau­nen, Lau­nen wie ein Blö­der, und ty­ran­ni­sche Ge­lüs­te. Ein Mann trifft in sei­nem Hau­se je­den Au­gen­blick die lä­cher­lichs­ten An­ord­nun­gen. Er ist vol­ler Narr­hei­ten, de­nen sei­ne Frau schmei­chelt, um sie zu hin­ter­trei­ben. Sie macht ihm weis, dass et­was so und so viel kos­te­te, denn wenn es mehr kos­te­te, gäbe es Spek­ta­kel. Und sie weiß sich im­mer ge­schickt aus der Klem­me zu zie­hen, und dies durch so ein­fa­che und nie­der­träch­ti­ge Mit­tel, dass wir die Arme sin­ken las­sen, wenn wir zu­fäl­lig da­hin­ter kom­men. Dann sa­gen wir ver­blüfft: »Wie habe ich das nur nicht mer­ken kön­nen!?«

*

Der Mann, der so sprach, war ein al­ter Mi­nis­ter des Kai­ser­rei­ches, Graf von L…, ein sehr ver­schla­ge­ner Mann, wie es hieß, und von über­le­ge­nem Geis­te.

Eine Grup­pe von jun­gen Leu­ten um­stand ihn und hör­te auf­merk­sam zu.

Mich, be­gann er von Neu­em, hat ein­mal eine klei­ne Bür­gers­frau in eben­so drol­li­ger wie meis­ter­haf­ter Wei­se an­ge­führt. Ih­nen zur Leh­re will ich die Ge­schich­te er­zäh­len.

Ich war da­mals Mi­nis­ter des Aus­wär­ti­gen und hat­te die Ge­wohn­heit, je­den Mor­gen einen lan­gen Spa­zier­gang nach den Champs Élysées zu ma­chen. Es war im Mo­nat Mai; ich ging und sog in vol­len Zü­gen den an­ge­neh­men Duft des ers­ten Grüns ein.

Bald wur­de ich ge­wahr, dass mir Tag für Tag eine al­ler­liebs­te klei­ne Per­son be­geg­ne­te, ei­nes je­ner rei­zen­den, gra­zi­ösen Ge­schöp­fe, die den Stem­pel von Pa­ris tra­gen. Ob sie hübsch war? Ja und nein. Schön ge­wach­sen? Nein, bes­ser als das. Die Tail­le war zu schlank, die Schul­tern zu gra­de, die Brust zu ge­wölbt. Aber wenn auch, ich zie­he die­se köst­li­chen le­ben­den Pup­pen mit ih­rer rund­li­chen Form dem großen Kno­chen­ge­rüst der Ve­nus von Milo vor…

Und dann trip­pel­te sie auf eine un­nach­ahm­li­che Wei­se, und das blo­ße Rau­schen ih­rer Rö­cke lässt es uns heiß und kalt durch die Glie­der rie­seln… Es sah aus, als blick­te sie mich im Vor­über­ge­hen an. Aber die­se Krea­tu­ren se­hen im­mer nach al­lem Mög­li­chen aus, und man weiß doch nie…

Ei­nes Mor­gens er­blick­te ich sie auf ei­ner Bank sit­zend; sie hat­te ein auf­ge­schla­ge­nes Buch in der Hand. Schnell setz­te ich mich ne­ben sie und in fünf Mi­nu­ten wa­ren wir die bes­ten Freun­de. Dann be­grüß­ten wir uns je­den Mor­gen lä­chelnd: »Gu­ten Tag, mei­ne Dame!« – »Gu­ten Tag, mein Herr!« und dar­auf wur­de ge­plau­dert. Sie ver­riet mir, dass sie die Frau ei­nes Be­am­ten sei, dass das Le­ben trau­rig, die Ver­gnü­gun­gen sel­ten und die Sor­gen häu­fig wä­ren, und tau­send an­de­re Din­ge mehr.

Ich sag­te ihr zu­fäl­lig und viel­leicht auch aus Ei­tel­keit, wer ich wäre, und sie spiel­te die Er­staun­te sehr gut.

Tags dar­auf be­such­te sie mich im Mi­nis­te­ri­um und kam da­nach so oft wie­der, dass die Die­ner im Mi­nis­te­ri­um sie bald kann­ten und sich, wenn sie er­schi­en, ih­ren Na­men, den sie ihr ge­ge­ben, ge­gen­sei­tig zu­tu­schel­ten. Sie hat­ten sie »Frau Léon« ge­tauft; Léon ist näm­lich mein Vor­na­me.

So sah ich sie drei Mo­na­te lang je­den Mor­gen, ohne ih­rer je über­drüs­sig zu wer­den: so schön ver­stand sie ihre Zärt­lich­kei­ten zu va­ri­ie­ren und zu tö­nen. Aber ei­nes Ta­ges merk­te ich, dass ihre Au­gen rot wa­ren und von zu­rück­ge­hal­te­nen Trä­nen schim­mer­ten; sie sprach auch nur wi­der­wil­lig und schi­en in ge­hei­me Ge­dan­ken ver­sun­ken.

Ich bat und be­schwor sie, mir den Kum­mer ih­res Her­zens an­zu­ver­trau­en, und sie stam­mel­te schließ­lich zu­sam­men­schau­dernd: »Ich… ich bin gu­ter Hoff­nung.« Dann fing sie an zu schluch­zen. Ich schnitt ein grim­mes Ge­sicht und wur­de blass, wie man es bei der­glei­chen An­läs­sen tun soll. Sie ma­chen sich gar kei­nen Be­griff da­von, wel­chen un­an­ge­neh­men Schreck­schuss ei­nem die An­kün­di­gung ei­ner sol­chen un­er­war­te­ten Va­ter­schaft ein­jagt. Aber frü­her oder spä­ter wer­den Sie’s ja auch zu er­fah­ren ha­ben… Ich stot­ter­te also ver­le­gen: »Aber… aber du bist doch ver­hei­ra­tet.«

»Ja«, ant­wor­te­te sie, »aber mein Mann ist seit zwei Mo­na­ten in Ita­li­en und wird noch lan­ge nicht zu­rück­kom­men.«

Ich woll­te die Verant­wort­lich­keit um je­den Preis von mir ab­wäl­zen und sag­te: »Du musst so­gleich zu ihm hin.« Sie er­rö­te­te bis in die Schlä­fen und senk­te die Li­der. »Ja… aber…« Sie wag­te nicht wei­ter zu spre­chen oder woll­te auch nicht.

Ich ver­stand je­doch und übergab ihr in scho­nends­ter Form ein Cou­vert mit dem nö­ti­gen Rei­se­geld.

*

Acht Tage spä­ter er­hielt ich einen Brief aus Ge­nua, die Wo­che dar­auf einen aus Flo­renz, dann aus Li­vor­no, Rom und Nea­pel. Sie schrieb mir: »Es geht mir gut, Ge­lieb­ter, nur sehe ich schau­der­haft aus. Ich möch­te nicht, dass du mich siehst, eh’ al­les vor­über ist; du wür­dest mich sonst nicht mehr mö­gen. Mein Mann ahnt nichts. Da sein Auf­trag ihn noch lan­ge hier im Lan­de hält, wer­de ich erst nach dem Er­eig­nis nach Frank­reich zu­rück kön­nen.«

Und nach acht Mo­na­ten etwa er­hielt ich aus Ve­ne­dig nur die­se Wor­te: »Es ist ein Jun­ge.«

Ei­ni­ge Zeit dar­auf er­schi­en sie plötz­lich des Mor­gens in mei­nem Ar­beits­zim­mer. Sie war fri­scher und hüb­scher denn je und warf sich mir an die Brust. Und uns­re alte Zärt­lich­keit wur­de fort­ge­setzt.

Als ich das Mi­nis­te­ri­um ver­ließ, kam sie in mein Ho­tel in der Rue Gre­nel­le. Sie sprach mir oft von ih­rem Kin­de, aber ich hör­te gar­nicht hin; denn das ging mich nichts an. Ich übergab ihr hin und wie­der nur ein recht hüb­sches Sümm­chen und sag­te ein­fach: »Lege das für ihn an.«

So ver­gin­gen zwei Jah­re, wäh­rend sie mir im­mer ein­dring­li­cher von dem klei­nen Léon er­zähl­te. Zu­wei­len wein­te sie auch und sag­te: »Du liebst ihn nicht, du willst ihn nicht ein­mal se­hen. Wenn du wüss­test, wel­chen Kum­mer du mir da­mit be­rei­test!«

Schließ­lich setz­te sie mir so stark zu, dass ich ihr ei­nes Ta­ges zu­sag­te, am nächs­ten Mor­gen nach den Champs Élysées zu kom­men, wenn sie mit dem Kin­de dort spa­zie­ren gin­ge.

Aber in dem Au­gen­blick, wo ich ge­hen woll­te, be­fiel mich eine selt­sa­me Un­schlüs­sig­keit. Der Mann ist schwach und dumm; was wuss­te ich, was in mei­nem Her­zen vor­ge­hen wür­de, wenn ich die­ses klei­ne We­sen – mei­nen Sohn! er­blick­te. Vi­el­leicht wür­de mein Herz sich re­gen.

Ich hat­te be­reits den Hut auf dem Kop­fe und die Hand­schu­he an­ge­streift; ich warf die Halb­schu­he wie­der auf mein Schreib­pult und mei­nen Hut auf einen Stuhl. »Nein«, sag­te ich zu mir, »ich gehe ganz be­stimmt nicht. Das ist ver­stän­di­ger!«

Plötz­lich öff­ne­te sich die Tür und mein Bru­der trat ein. Er übergab mir einen an­ony­men Brief, den er die­sen Mor­gen er­hal­ten hat­te und der fol­gen­der­ma­ßen lau­te­te: »Set­zen Sie Ihren Bru­der, den Gra­fen L…, da­von in Kennt­nis, dass die klei­ne Frau aus der Rue Cas­set­te sich in un­ver­schäm­tes­ter Wei­se über ihn lus­tig macht. Er­kun­di­gun­gen über sie ein­zu­zie­hen, wäre an­ge­zeigt.«

Ich hat­te nie und mit kei­nem Men­schen von die­ser Ge­schich­te ge­spro­chen. Ich war höchst ver­blüfft und er­zähl­te mei­nem Bru­der den Her­gang der Sa­che von An­fang bis zu Ende. »Was mich be­trifft«, setz­te ich hin­zu, »so will ich nichts mehr da­mit zu tun ha­ben. Du wür­dest mich aber sehr ver­bin­den, wenn du Nach­for­schun­gen dar­über an­stel­len woll­test.« Als mein Bru­der ge­gan­gen war, sag­te ich mir: »Wo­rin kann sie mich be­trü­gen? Sie hat viel­leicht noch an­de­re Lieb­ha­ber. Aber was geht das mich an? Sie ist jung, frisch und hübsch, mehr ver­lan­ge ich nicht von ihr. Sie scheint mich zu lie­ben und kos­tet im Gan­zen nicht viel. Ich ver­ste­he es wirk­lich nicht.«

Mein Bru­der kam bald zu­rück. Auf der Po­li­zei hat­te man ihm über ih­ren Gat­ten die bes­ten Aus­künf­te ge­ge­ben. »Be­am­ter im Mi­nis­te­ri­um des In­nern, kor­rekt, wohl ack­re­di­tiert, wohl­ge­sinnt, hat aber eine Frau, die weit über ihre be­schei­de­nen Ver­hält­nis­se zu le­ben scheint.« Das war al­les.

Hier­auf war mein Bru­der in ihre Woh­nung ge­gan­gen, und da er hör­te, dass sie aus wäre, hat­te er sich an den Por­tier ge­wandt und die­sen durch Gold zum Re­den ge­bracht. »Frau D… eine sehr bra­ve Frau und Herr D… ein sehr bra­ver Mann, nicht stolz, nicht reich, aber frei­ge­big.«

Um doch et­was zu sa­gen, frag­te mein Bru­der:

– Wie alt ist ihr Klei­ner jetzt?

– Aber sie hat ja gar kei­ne Kin­der, Herr.

– Wie? Sie hat doch den klei­nen Léon?

– Nein, mein Herr, Sie täu­schen sich.

– Aber der, den sie auf ih­rer ita­lie­ni­schen Rei­se be­kam, es ist jetzt zwei Jah­re her.

– Sie ist nie in Ita­li­en ge­we­sen, mein Herr. Seit fünf Jah­ren, wo sie hier wohnt, hat sie das Haus nicht ver­las­sen.

Mein Bru­der war be­trof­fen, frag­te von Neu­em und son­dier­te so tief wie mög­lich. Aber es blieb da­bei: Kein Kind, kei­ne Rei­se.

Ich war höchst er­staunt, ohne doch den Sinn die­ser Ko­mö­die recht zu ver­ste­hen.

– Ich will Klar­heit in der Sa­che ha­ben, sag­te ich, und dies so­gleich. Ich wer­de sie bit­ten, mor­gen hier­her zu kom­men und du wirst sie an mei­ner Statt emp­fan­gen. Wenn sie mich an­ge­führt hat, wirst du ihr die­se zehn­tau­send Franks über­ge­ben und ich will sie nicht mehr se­hen. Ich fan­ge wahr­haf­tig an, ein Haar dar­in zu fin­den.

 

*

Was glau­ben Sie wohl? Vor­her hat­te es mich ver­stimmt, dass ich von die­ser Frau ein Kind hat­te, und jetzt war ich är­ger­lich, be­schämt und ge­kränkt, dass ich keins hat­te. Ich war je­der Ver­pflich­tung und Sor­ge le­dig und doch wü­tend.

Mein Bru­der emp­fing sie am nächs­ten Tage in mei­nem Ar­beits­zim­mer. Sie trat leb­haft ein, wie ge­wöhn­lich, lief ihm mit of­fe­nen Ar­men ent­ge­gen und stutz­te erst, als sie ihn er­kann­te.

Er grüß­te und ent­schul­dig­te sich.

– Ich bit­te um Ent­schul­di­gung, sag­te er, wenn ich Ih­nen an Stel­le mei­nes Bru­ders ent­ge­gen­tre­te. Aber er hat mich be­auf­tragt, Sie um eine Aus­kunft zu bit­ten, die er nicht ger­ne selbst er­hal­ten möch­te.

Dann blick­te er ihr scharf ins Auge und sag­te plötz­lich:

– Wir wis­sen, dass Sie kein Kind von ihm ha­ben.

Sie war einen Au­gen­blick stut­zig, ge­wann aber so­gleich die Fas­sung wie­der, setz­te sich und blick­te die­sen Rich­ter lä­chelnd an.

– Nein, ich habe kein Kind, ant­wor­te­te sie ein­fach.

– Wir wis­sen auch, dass Sie nie in Ita­li­en ge­we­sen sind.

Dies­mal be­gann sie laut auf­zu­la­chen.

– Nein, ich bin nicht in Ita­li­en ge­we­sen.

Mein Bru­der war be­trof­fen und sag­te:

– Der Graf hat mich be­auf­tragt, Ih­nen die­ses Geld zu ge­ben und Ih­nen zu er­klä­ren, dass er sei­ne Be­zie­hun­gen zu Ih­nen ab­brä­che.

Sie wur­de wie­der ernst, steck­te das Geld ru­hig in die Ta­sche und sag­te naiv:

– Al­so… soll ich den Gra­fen nicht wie­der­se­hen?

– Nein, mei­ne Dame.

Sie schi­en das nicht zu er­war­ten und setz­te ru­hi­gen Tons hin­zu:

– Scha­de. Ich lieb­te ihn sehr.

Als mein Bru­der sah, dass sie so ent­schlos­sen war, frag­te er sie, gleich­falls lä­chelnd: »Sa­gen Sie mir bit­te nur, warum Sie die­se lan­ge und kom­pli­zier­te Ge­schich­te von der Rei­se und dem Kin­de er­fun­den ha­ben?«

Sie blick­te mei­nen Bru­der ganz er­staunt an, als ob er et­was sehr Dum­mes ge­fragt hat­te, und ant­wor­te­te:

– Das ist doch aber arg! Glau­ben Sie denn, eine arme klei­ne Bür­gers­frau wie ich, an der gar­nichts dran ist, hät­te einen Mann wie den Gra­fen von L…, einen Mi­nis­ter, einen Grands­eigneur, einen rei­chen und ver­füh­re­ri­schen Gent­le­man, drei Jah­re lang fest­hal­ten kön­nen, wenn ich nicht et­was hat­te, wo­mit ich ihn hielt? Nun, es ist jetzt zu Ende; scha­de drum! Aber es konn­te ja nicht ewig so blei­ben. Drei Jah­re lang ist mir’s we­nigs­tens ge­lun­gen. Bit­te sa­gen Sie dem Gra­fen vie­le Grü­ße von mir.

Sie stand auf.

– Aber… das Kind, fing mein Bru­der wie­der an. Sie hat­ten doch ein Kind, das Sie ihm zei­gen woll­ten.

– Ge­wiss, es ist das Kind mei­ner Schwes­ter. Sie hat es mir ge­lie­hen. Wahr­schein­lich stammt der Brief von ihr.

– Schön, aber alle die­se Brie­fe aus Ita­li­en?

Sie setz­te sich wie­der und schüt­tel­te sich vor La­chen.

– Oh, die­se Brie­fe! sag­te sie. Ein gan­zes Ge­dicht. Der Graf war nicht um­sonst Mi­nis­ter des Aus­wär­ti­gen.

– Aber… wie denn…

– Das ist mein Ge­heim­nis. Ich will nie­mand blos­stel­len.

Sie grüß­te mit leicht spöt­ti­schem Lä­cheln und ging ohne jede Ge­müts­be­we­gung, wie eine Schau­spie­le­rin, de­ren Rol­le zu Ende ist. –

»Und die Moral«, setz­te Graf L… hin­zu: »Traue kei­ner die­sen lock­ren Vö­geln!«

*