Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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»Das tut sie ab­sicht­lich«, sag­te Ma­da­me Ca­ra­van är­ger­lich zu ih­rem Gat­ten, »und Du hältst ihr im­mer noch die Stan­ge.«

Er fühl­te sich sehr un­be­hag­lich so zwi­schen zwei La­gern, und schick­te Ma­rie-Loui­se, um die Groß­mut­ter zu ho­len; dann blieb er still mit ge­senk­ten Au­gen sit­zen, wäh­rend sei­ne Frau mit der Mes­ser­spit­ze ner­vös an den Fuss ih­res Gla­ses klopf­te.

Plötz­lich öff­ne­te sich die Türe, das Kind kam al­lein, schre­ckens­bleich zu­rück und sag­te schnell:

»Groß­ma­ma liegt auf dem Fuss­bo­den!«

Mit ei­nem Sprung stand Ca­ra­van auf, warf sei­ne Ser­vi­et­te auf den Tisch und stürz­te die Trep­pe her­auf, auf der sein has­ti­ger Schritt dröh­nend wi­der­hall­te, wäh­rend sei­ne Frau, die ir­gend eine Bos­heit ih­rer Schwie­ger­mut­ter ver­mu­te­te, lang­sam und ach­sel­zu­ckend folg­te.

Die alte Frau lag mit­ten im Zim­mer der Län­ge nach auf der Erde, und als ihr Sohn sie auf­rich­te­te, er­schi­en sie steif und un­be­weg­lich, ihr runz­li­ches gel­bes Ge­sicht war fahl, die Au­gen wa­ren ge­schlos­sen, die Zäh­ne auf­ein­an­der ge­presst und al­les an ihr blieb leb­los.

»Mei­ne arme Mut­ter, mei­ne arme Mut­ter!« seufz­te Ca­ra­van, der bei ihr nie­der­ge­kniet war. Aber sei­ne Frau, wel­che sie einen Au­gen­blick be­trach­tet hat­te, sag­te:

»Bah! sie hat nur einen Ohn­machts­an­fall; das ist al­les. Sie möch­te uns nur am Es­sen hin­dern, glau­be mir.«

Man trug den Kör­per aufs Bett, ent­klei­de­te ihn und alle, Ca­ra­van, sei­ne Frau und das Dienst­mäd­chen be­gan­nen ihn zu rei­ben. Trotz al­ler An­stren­gun­gen kehr­te das Be­wusst­sein nicht zu­rück. Da sand­te man Ro­sa­lie zum Dok­tor Che­net. Er wohn­te am Quai nach Su­res­nes zu. Es war weit und man muss­te lan­ge war­ten, bis er kam. Nach­dem er sie an­ge­schaut, be­klopft und be­horcht hat­te, sag­te er:

»Das ist der Tod.«

Von hef­ti­gem Schluch­zen er­schüt­tert warf sich Ca­ra­van auf den leb­lo­sen Kör­per und be­deck­te krampf­haft das star­re Ant­litz sei­ner Mut­ter mit Küs­sen; da­bei wein­te er so hef­tig, dass sei­ne Trä­nen wie große Was­ser­trop­fen über das Ge­sicht der To­ten roll­ten.

Ma­da­me Ca­ra­van jr. fand es schick­lich, auch ih­rer­seits Trau­er zu be­zei­gen, und hin­ter ih­rem Man­ne ste­hend, stiess sie ver­schie­de­ne Seuf­zer aus, wäh­rend sie sich in auf­fal­len­der Wei­se die Au­gen wisch­te.

Ca­ra­van, des­sen Ant­litz noch rö­ter war wie sonst, und des­sen dün­ne Haa­re in Un­ord­nung um sei­ne Stirn her­um­hin­gen, war in der Tat von auf­rich­ti­gem Schmerz aufs Tiefs­te er­grif­fen.

»Aber sind Sie auch si­cher, Dok­tor … sind Sie ganz si­cher? …« wand­te er sich plötz­lich um. Der ehe­ma­li­ge Kran­ken­pfle­ger trat schnell wie­der her­an, und in­dem er den Kör­per mit ge­schäfts­mäs­si­ger Si­cher­heit be­tas­te­te, wie ein Kauf­mann, der eine Ware prü­fen will, sag­te er:

»Hier, bes­ter Freund, be­trach­ten Sie das Auge.«

Er schob die Au­gen­li­der zu­rück und un­ter sei­nen Fin­gern schi­en der Blick der al­ten Frau fast un­ver­än­dert, viel­leicht mit et­was grös­se­rer Pu­pil­le. Ca­ra­van gab es einen Stich ins Herz und ein Zit­tern über­fiel sei­nen gan­zen Kör­per. Herr Che­net er­griff den run­ze­li­gen Arm, öff­ne­te mit Ge­walt die Fin­ger und fuhr mit eif­ri­ger Mie­ne, als sei er auf Wi­der­spruch ge­stos­sen, fort:

»Aber se­hen Sie sich doch nur ’mal die­se Hand an; sei­en Sie ru­hig, ich täu­sche mich nie­mals.«

Ca­ra­van stürz­te sich von Neu­em ganz auf­ge­löst auf das Bett. Er brüll­te fast vor Schmerz, wäh­rend sei­ne Frau, im­mer lei­se schluch­zend, die not­wen­di­gen Vor­keh­run­gen traf. Sie schob das Nacht­tisch­chen her­an, auf dem sie eine Ser­vi­et­te aus­brei­te­te, stell­te vier Lich­ter dar­auf, die sie an­zün­de­te, nahm einen ge­weih­ten Buchs­baum­zweig hin­ter dem Spie­gel über dem Ka­min her­vor und steck­te ihn zwi­schen zwei Ker­zen in ein Glas, das sie mit Weih­was­ser an­füll­te.

Als sie so die äus­se­ren Zu­rich­tun­gen ge­trof­fen hat­te, um der To­ten alle Ehre zu er­wei­sen, blieb sie ge­dan­ken­voll ste­hen. Der Dok­tor, wel­cher ihr bei ih­ren An­stal­ten ge­hol­fen hat­te, flüs­ter­te ihr zu:

»Es wäre bes­ser, Ca­ra­van her­aus­zu­füh­ren.«

Sie mach­te ein Zei­chen des Ein­ver­ständ­nis­ses, und in­dem sie sich ih­rem Man­ne nä­her­te, der auf den Kni­en lie­gend im­mer noch schluchz­te, griff sie ihm un­ter einen Arm, wäh­rend Herr Che­net ihn un­ter den an­de­ren nahm.


Man setz­te ihn zu­erst auf einen Stuhl, und sei­ne Frau such­te ihm zu­zu­re­den, wäh­rend sie ihn wie­der­holt küss­te. Der Dok­tor un­ter­stütz­te ihre Be­mü­hun­gen. Er sprach von Er­ge­bung, Wil­lens­kraft, Man­nes­mut und al­lem, was man bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten an Zu­spruch ver­wen­det. Dann grif­fen ihn bei­de von Neu­em un­ter den Arm und führ­ten ihn her­aus.

Er wein­te wie ein großes Kind, mit krampf­haf­tem Schluch­zen, völ­lig hilf­los, die Arme schlaff her­un­ter­hän­gend, wäh­rend sei­ne Knie schlot­ter­ten. Ohne zu wis­sen, was er tat, und ma­schi­nen­mäs­sig einen Fuss vor den an­de­ren set­zend, stieg er die Trep­pe her­un­ter.

Man setz­te ihn in den Ses­sel, der noch im­mer am Ti­sche stand, vor sei­nen halb­lee­ren Tel­ler, in dem sich noch der Rest der Sup­pe be­fand. Da sass er nun, re­gungs­los, das Auge auf sein Glas ge­hef­tet, so auf­ge­löst, dass er nicht ’mal mehr einen kla­ren Ge­dan­ken zu fas­sen ver­moch­te.

Ma­da­me Ca­ra­van sprach in ei­ner Ecke mit dem Dok­tor, er­kun­dig­te sich nach den not­wen­di­gen For­ma­li­tä­ten, und ließ sich al­ler­lei prak­ti­sche Ratschlä­ge ge­ben. Sch­liess­lich nahm Herr Che­net, der auf ir­gen­det­was ge­war­tet zu ha­ben schi­en, sei­nen Hut und woll­te sich ver­ab­schie­den, in­dem er er­klär­te, er habe noch nicht zu Abend ge­ges­sen.

»Wie?« rief sie, »Sie ha­ben noch nicht zu Abend ge­ges­sen? Aber blei­ben Sie doch bei uns, Herr Dok­tor, blei­ben Sie doch! Sie müs­sen mit dem vor­lieb neh­men, was wir ha­ben; Sie wis­sen ja, ein großes Di­ner gibt es nicht bei uns.«

Er lehn­te ab und bat, ihn zu ent­schul­di­gen. Aber sie be­stand dar­auf:

»Wa­rum wol­len Sie nicht blei­ben? Man ist in sol­chen Au­gen­bli­cken glück­lich, einen Freund bei sich zu ha­ben. Und viel­leicht kön­nen Sie mei­nem Man­ne zu­re­den, sich et­was zu stär­ken. Er hat sei­ne Kräf­te jetzt dop­pelt not­wen­dig.«

»Wenn es denn sein muss, Ma­da­me, so neh­me ich dan­kend an«, sag­te der Dok­tor, in­dem er un­ter ei­ner Ver­beu­gung sei­nen Hut wie­der ab­leg­te.

Sie gab Ro­sa­lie, die ganz aus dem Häu­schen war, al­ler­hand Be­feh­le und setz­te sich dann selbst mit an den Tisch, »um we­nigs­tens so zu tun, als ob sie ässe, und um dem ›Herrn Dok­tor‹ Ge­sell­schaft zu leis­ten.«

Man nahm zu­nächst die auf­ge­wärm­te Sup­pe, von der Herr Che­net sich noch einen zwei­ten Tel­ler er­bat. Dann er­schi­en eine Plat­te Lyo­ner Sala­mi wel­che einen star­ken Knob­lauch-Ge­ruch ver­brei­te­te, und von der auch Ma­da­me Ca­ra­van kos­te­te.

»Aus­ge­zeich­net!« sag­te der Dok­tor.

»Nicht wahr«, lä­chel­te sie. »Nimm doch auch et­was, mein ar­mer Al­fred«, wand­te sie sich an ih­ren Mann, »nur um et­was im Ma­gen zu ha­ben. Den­ke, dass Du noch die Nacht vor Dir hast.«

Er reich­te me­cha­nisch sei­nen Tel­ler hin, wie er sich zu Bett ge­legt ha­ben wür­de, wenn man es ihn ge­heis­sen hät­te; denn er folg­te in al­lem ganz ge­dan­ken­los, zu kei­nem Wi­der­stan­de fä­hig. So ass er auch.

Der Dok­tor, der sich selbst half, griff drei­mal zu der Schüs­sel, wäh­rend Ma­da­me Ca­ra­van von Zeit zu Zeit mit der Ga­bel ein großes Stück her­aus­fisch­te und es sich ge­dan­ken­los in den Mund schob.

Als hier­auf eine Salat­schüs­sel voll Mac­caro­ni er­schi­en, mur­mel­te der Dok­tor:

»Tau­send, da kommt ’was Le­cke­res.«

Und Ma­da­me Ca­ra­van leg­te die­ses Mal al­ler Welt vor; sie füll­te so­gar die Näp­fe der Kin­der da­mit, wel­che bei der man­geln­den Auf­sicht den Wein un­ver­mischt tran­ken und sich be­reits un­ter dem Ti­sche wie­der mit Fuss­trit­ten be­ar­bei­te­ten.

Herr Che­net er­in­ner­te sich an Ros­si­ni’s Vor­lie­be für die­se ita­lie­ni­schen Ge­rich­te.

»Halt!« sag­te er plötz­lich, »habe ich da einen schö­nen Reim! man könn­te ein gan­zes Ge­dicht dar­aus ma­chen:

Der Maëstro Ros­si­ni

Lieb­te die Mac­caro­ni.«

Man hör­te nicht mehr auf ihn. Ma­da­me Ca­ra­van war plötz­lich nach­denk­lich ge­wor­den und über­leg­te alle wahr­schein­li­chen Fol­gen die­ses Er­eig­nis­ses, wäh­rend ihr Gat­te Brot­kü­gel­chen dreh­te, die er dann auf den Tel­ler leg­te und starr, mit der Mie­ne ei­nes Idio­ten, an­schau­te. Da ein bren­nen­der Durst sei­ne Keh­le ver­zehr­te, so brach­te er alle Au­gen­bli­cke das frisch­ge­füll­te Glas zum Mun­de. Sein Ver­stand, der be­reits durch Er­schüt­te­rung und Trau­er hart mit­ge­nom­men war, wur­de jetzt an­ge­regt und schi­en ihm wäh­rend sei­ner Ver­dau­ung über Schmerz und Kum­mer hin­weg­zu­tan­zen.

Der Dok­tor trank üb­ri­gens wie ein Loch und wur­de sicht­lich an­ge­hei­tert; auch Ma­da­me Ca­ra­van un­ter­lag der Re­ak­ti­on, die je­der ner­vö­sen An­span­nung folgt. Sie war, ob­schon sie nur Was­ser trank, gleich­falls auf­ge­regt und fühl­te sich et­was ver­wirrt im Kop­fe.

Herr Che­net be­gann ver­schie­de­ne To­ten-Ge­schich­ten zu er­zäh­len, die ihm sehr scherz­haft er­schie­nen. Denn in die­sen Pa­ri­ser Vor­städ­ten, de­ren Be­woh­ner in der Haupt­sa­che ehe­ma­li­ge Pro­vinz­ler sind, fin­det man noch die­se Gleich­gül­tig­keit des Land­man­nes ge­gen den To­ten, mag es nun der Va­ter oder die Mut­ter sein, die­se man­geln­de Ach­tung, die­se un­be­wuss­te Roh­heit, die auf dem Lan­de so viel­fach herrscht und in Pa­ris selbst so sel­ten ist.

 

»Den­ken Sie«, sag­te er, »letz­te Wo­che ruft man mich Rue de Pu­teaux; ich eile da­hin, fin­de die Kran­ke ver­schie­den und in der Nähe des To­ten­bet­tes die Fa­mi­lie da­mit be­schäf­tigt, ru­hig eine Fla­sche Ani­set­te zu lee­ren, die man tags zu­vor ge­kauft hat­te, um eine letz­te Lau­ne der Ster­ben­den zu be­frie­di­gen.«

Aber Ma­da­me Ca­ra­van hör­te nicht zu, da sie im­mer­fort an die Erb­schaft den­ken muss­te; und Ca­ra­van mit sei­nem um­ne­bel­ten Ge­hirn ver­stand erst recht nichts da­von.

Man brach­te den Kaf­fee, der ex­tra stark ge­macht war, um die gute Stim­mung zu er­hal­ten. Jede Tas­se, mit Co­gnak ge­würzt, ließ auf den Wan­gen eine plötz­li­che Röte ent­ste­hen und ver­mehr­te nur noch die Ver­wir­rung, die der Al­ko­hol und die see­li­sche Er­schüt­te­rung schon in die­sen Ge­hir­n­en an­ge­rich­tet hat­ten.

Dann be­mäch­tig­te sich der »Dok­tor« plötz­lich der Fla­sche und schenk­te je­dem noch einen Ab­schied­strunk ein. Und ohne ein Wort zu spre­chen, in der an­ge­neh­men Wär­me der Ver­dau­ung, er­grif­fen von je­ner tie­ri­schen Be­hag­lich­keit, wel­che der Al­ko­hol nach dem Es­sen ver­leiht, spül­ten sie sich lang­sam die Keh­len mit dem ge­zu­cker­ten Co­gnak aus, der auf dem Bo­den der Kaf­fee­tas­sen einen gelb­li­chen Sirup bil­de­te.

Die Kin­der fin­gen an ein­zu­schla­fen und Ro­sa­lie brach­te sie zu Bet­te.

Ca­ra­van, der wie je­der Un­glück­li­che, das Be­dürf­nis fühl­te, sich zu be­täu­ben, nahm noch meh­re­re Gläs­chen Co­gnak zu sich, so­dass sei­ne bis­her blö­den Au­gen zu glän­zen an­fin­gen.

End­lich er­hob sich der Dok­tor zum Fort­ge­hen, und sei­nen Freund un­term Arm neh­mend, sag­te er:

»Komm, geh mit mir, die fri­sche Luft wird Dir gut tun; wenn man sich durch et­was be­drückt fühlt, muss man sich Be­we­gung schaf­fen.«

Der an­de­re ge­horch­te ohne Wi­der­stand, nahm Hut und Stock und ging mit. Alle bei­de wan­del­ten Arm in Arm bei dem hel­len Ster­nen­him­mel nach der Sei­ne zu.

Ein bal­sa­mi­scher Hauch zog durch die laue Nacht, denn alle Gär­ten rings­um­her stan­den zu die­ser Jah­res­zeit in vol­ler Blü­ten­pracht, de­ren Duft, tags­über we­ni­ger be­merk­bar, sich beim Ein­bruch der Nacht zu ver­dop­peln schi­en und von dem leich­ten Abend­lüft­chen weit hin­aus ge­tra­gen wur­de.

Die brei­te Stras­se mit ih­ren bei­den Rei­hen Gas­la­ter­nen lag bis zum Arc de Triom­phe stumm und ein­sam vor ih­nen. Aber da un­ten bro­del­te Pa­ris wie ein sie­den­der Topf. Ein un­auf­hör­li­ches dump­fes Rol­len schall­te zu den ein­sa­men Spa­zier­gän­gern her­über, dem von Wei­ten her auf der Ebe­ne zu­wei­len der grel­le Pfiff ei­nes mit vol­ler Dampf­kraft her­an­kom­men­den oder ab­fah­ren­den Zu­ges ant­wor­te­te.

Die fri­sche Luft, wel­che den bei­den Män­nern ent­ge­gen­weh­te, mach­te sie an­fangs et­was be­täubt, und er­schüt­ter­te das Gleich­ge­wicht des Dok­tors, wäh­rend sie bei Ca­ra­van den Schwin­del ver­mehr­te, den er nach dem Di­ner ver­spür­te. Er ging wie träu­mend ein­her; sein Geist war ein­ge­schla­fen und un­fä­hig, einen ru­hi­gen Ge­dan­ken zu fas­sen, ohne dass and­rer­seits sein Schmerz ein sehr hef­ti­ger ge­we­sen wäre. Auch hier hin­der­te ihn die all­ge­mei­ne geis­ti­ge Er­schlaf­fung, wirk­lich zu lei­den; er fühl­te viel­mehr eine Art Er­leich­te­rung, wenn er den fri­schen bal­sa­mi­schen Duft der Früh­lings­nacht ein­sog.

Bei der Brücke wand­ten sie sich rechts und emp­fan­den mit Be­ha­gen den fri­schen Luft­hauch, den ih­nen der Fluss zu­sand­te. Die­ser floss hin­ter ei­nem Vor­hang von ho­hen Pap­peln ru­hig, fast me­lan­cho­lisch da­hin; die Ster­ne schie­nen auf dem Was­ser zu schwim­men und lang­sam von dem­sel­ben fort­ge­tra­gen zu wer­den. Ein fei­ner weiß­li­cher Ne­bel, der auf dem jen­sei­ti­gen Ufer lag, ließ eine Emp­fin­dung von Feuch­tig­keit in die Lun­gen drin­gen und Ca­ra­van, bei dem die­ser Dunst des Was­sers alte Erin­ne­run­gen wach rief, blieb plötz­lich ste­hen.

Er sah sei­ne Mut­ter wie­der vor sich wie da­mals in sei­ner Kind­heit, dort un­ten in der Pi­car­die, auf den Kni­en an dem klei­nen Was­ser, das durch den Gar­ten floss und die Wä­sche, die in ei­nem Hau­fen ne­ben ihr lag, eif­rig wa­schend. Er hör­te ih­ren Schlä­gel in dem ru­hi­gen Schwei­gen der länd­li­chen Um­ge­bung, er hör­te ihre Stim­me, wie sie rief: »Al­fred, brin­ge mir Sei­fe.« Und er spür­te die­sen sel­ben Hauch von flies­sen­dem Was­ser, die­sen sel­ben Ne­bel, der aus der feuch­ten Erde auf­steigt, die­se Wasch­haus­luft, von der der Sei­fen­ge­ruch ihm un­ver­ge­ss­lich ge­blie­ben war und den er ge­ra­de an die­sem Abend, wo sei­ne Mut­ter ge­stor­ben war, deut­lich wie­der zu rie­chen glaub­te.

So stand er da, von ei­nem neu­en An­fall sei­ner trost­lo­sen Verzweif­lung er­fasst. Es war, als habe plötz­lich ein Licht­strahl ihm die gan­ze Aus­deh­nung sei­nes Un­glücks be­leuch­tet; und bei dem Wie­der­emp­fin­den die­ses flüch­ti­gen Hau­ches fühl­te er sich in den tiefs­ten Ab­grund des bit­ters­ten Schmer­zes ge­schleu­dert. Der Ge­dan­ke an die Tren­nung für im­mer zer­riss ihm das Herz. Er sah sein Le­ben in zwei Ab­schnit­te ge­teilt, von de­nen der eine jetzt mit al­len Erin­ne­run­gen sei­ner Ju­gend­zeit durch die­sen To­des­fall für im­mer vor sei­nen Au­gen ver­schwand. Das gan­ze »Einst­mals« war für ihn zu Ende. Nie­mand wür­de mehr mit ihm von ver­gan­ge­nen Zei­ten re­den kön­nen, von Leu­ten, die er frü­her ge­kannt hat­te, von sei­ner Hei­mat, von ihm selbst, von al­len Ein­zel­hei­ten sei­nes ver­flos­se­nen Le­bens. Ein Teil sei­nes ei­ge­nen »Ich« hat­te auf­ge­hört zu exis­tie­ren; jetzt brach die Zeit des Ster­bens für den an­de­ren her­an.

Und nun zo­gen lang­sam die Erin­ne­run­gen an ihm vor­über. Er sah »die Mama« wie­der vor sich, als sie noch viel jün­ger war, mit Klei­dern, die sie so lan­ge trug, bis sie gänz­lich auf­ge­braucht wa­ren, so­dass sie mit der Vor­stel­lung von ih­rer Per­son un­zer­trenn­lich ver­bun­den wa­ren. Er fand sie un­ter tau­sen­der­lei längst ver­ges­se­nen Ver­hält­nis­sen wie­der; ihre längst­ver­schwun­de­nen Ge­sichts­zü­ge, ihre Ge­bär­den, ihre Ge­wohn­hei­ten, ihre be­son­de­ren Nei­gun­gen, die Fal­ten auf ih­rer Stirn, die Hal­tung ih­rer ma­ge­ren Fin­ger, alle die­se ver­trau­ten Ein­zel­hei­ten tra­ten ihm jetzt wie­der vor die See­le.

Und in­dem er sich fest an den Dok­tor klam­mer­te, stiess er einen Seuf­zer nach dem and­ren aus. Sei­ne schlot­tern­den Knie wank­ten, sei­ne gan­ze um­fang­rei­che Fi­gur wur­de von hef­ti­gem Schluch­zen er­schüt­tert.

»Mei­ne Mut­ter, mei­ne arme lie­be Mut­ter« stam­mel­te er ein über das an­de­re Mal.

Sein Beglei­ter, der im­mer noch an­ge­hei­tert war und sich mit der Ab­sicht trug, den Abend an ir­gend ei­nem je­ner Orte zu ver­brin­gen, die er im ge­hei­men zu be­su­chen pfleg­te, wur­de über die­sen hef­ti­gen Trau­er­an­fall sehr un­ge­dul­dig. Er re­de­te ihm zu, sich et­was am Ufer ins Gras zu set­zen und ver­liess ihn nach ei­ner Wei­le un­ter dem Vor­wan­de ei­nes drin­gen­den Kran­ken­be­su­ches.

Ca­ra­van sass hier lan­ge und wein­te sich aus. End­lich, nach­dem sei­ne Trä­nen ver­siecht wa­ren und all sein Leid an sei­nem geis­ti­gen Auge so­zu­sa­gen vor­über­ge­zo­gen war, fand er wie­der et­was Trost, eine Art Ruhe, wie einen plötz­li­chen Still­stand sei­ner Ge­füh­le.

Der Mond war auf­ge­gan­gen und sein mil­des Licht er­leuch­te­te den Ho­ri­zont. Sil­ber­ne Re­fle­xe bra­chen sich an den säu­seln­den Blät­tern der Pap­peln, und das fer­ne Geräusch auf der Ebe­ne klang nur noch wie das Fal­len des Schnees; der Fluss trug kei­ne Ster­ne mehr, da­für glänz­te er aber wie eine Perl­mut­ter­scha­le, auf der ein­zel­ne gold­glän­zen­de Fur­chen ge­zo­gen schie­nen. Die Luft war mil­de und noch im­mer spür­te man den wür­zi­gen Blü­ten­duft. Es lag et­was Weich­li­ches in die­sem Schlum­mer der Erde, aber es pass­te zu Ca­ra­van’s Stim­mung, und mit Be­ha­gen ge­noss er die lieb­li­che Ruhe der Nacht. Er at­me­te lang­sam und glaub­te zu füh­len, dass sei­nen gan­zen Kör­per eine an­ge­neh­me Fri­sche, eine sanf­te Ruhe und sei­ne See­le ein über­ir­di­scher Trost durch­drin­ge. Er kämpf­te ab­sicht­lich ge­gen die­ses be­hag­li­che Ge­fühl, in­dem er im­mer »mei­ne Mut­ter, mei­ne arme Mut­ter!« wie­der­hol­te, und sich in ei­ner Re­gung na­tür­li­chen An­stands­ge­füh­les zum Wei­nen zu zwin­gen such­te; aber er konn­te nicht mehr wei­nen, er konn­te selbst sei­nen Ge­dan­ken nicht mehr jene trau­ri­ge Rich­tung ge­ben, die ihn vor­hin hat­te so hef­tig schluch­zen las­sen.

End­lich er­hob er sich, um nach Hau­se zu ge­hen; er mach­te kur­ze Schrit­te, wie wenn er sich von der Hei­ter­keit der ihn um­ge­ben­den Na­tur nicht tren­nen könn­te, und sein Herz blieb wi­der Wil­len fried­lich be­wegt.

Als er an die Brücke kam, be­merk­te er das Licht der letz­ten schon zur Ab­fahrt be­rei­ten Tram­way und wei­ter hin­ten die er­leuch­te­ten Fens­ter des Café du Glo­be.

Da über­kam ihn das Be­dürf­nis, ir­gend­je­man­den sein Un­glück zu er­zäh­len, sein Mit­leid zu er­we­cken, sich ge­wis­ser­mas­sen in­ter­essant zu ma­chen. Er ver­fiel wie­der in sei­ne trau­ri­ge Hal­tung, öff­ne­te die Türe und ging auf das Buf­fet zu, wo der Chef all­zeit thron­te. Er hat­te auf einen ef­fekt­vol­len Au­gen­blick ge­rech­net, wie alle Welt auf ihn zu­kom­men, ihm die Hand rei­chen und ihn fra­gen wür­de: »Nun, was ha­ben Sie?« Aber nie­mand be­merk­te sein ver­stör­tes We­sen. Er stütz­te sich mit dem Elln­bo­gen auf das Buf­fet, be­grub das Ge­sicht in den Hän­den und mur­mel­te: »Mein Gott, mein Gott!«

Der Chef sah ihn an.

»Sie sind krank, Herr Ca­ra­van?«

»Nein, mein ar­mer Freund!« ant­wor­te­te er, »aber mei­ne Mut­ter ist heu­te ge­stor­ben.«

Der an­de­re mach­te ein zer­streu­tes »Ach!« und als ein Gast aus dem Hin­ter­grun­de des Zim­mers »Bit­te, ein Glas Bier« rief, ant­wor­te­te er so­fort über­laut: »Hier, so­gleich! … es kommt schon« und stürz­te fort, den ver­wun­der­ten Ca­ra­van al­lein ste­hen las­send.

An dem­sel­ben Ti­sche, wo er sie vor dem Es­sen ge­se­hen hat­te, sas­sen noch die drei Do­mi­no­lieb­ha­ber bei ih­rem Spie­le. Ca­ra­van nä­her­te sich ih­nen mit ei­ner Mie­ne zum Er­bar­men. Als ihn kei­ner zu be­mer­ken schi­en, ent­schloss er sich, zu­erst zu spre­chen.

»Mir ist so­eben ein großes Leid ge­sche­hen«, sag­te er.

Sie ho­ben alle drei gleich­zei­tig den Kopf ein we­nig, aber ihre Au­gen blie­ben auf die Stei­ne ge­hef­tet, die sie in den Hän­den hat­ten. »Nun, was denn?« -- »Mei­ne Mut­ter ist ge­stor­ben«. -- »Ach Teu­fel!« mur­mel­te ei­ner von ih­nen mit je­nem halb­be­trüb­ten Ge­sicht, wie es die Gleich­gül­ti­gen zu ma­chen pfle­gen. Ein zwei­ter, der nichts Rech­tes zu sa­gen wuss­te, ließ eine Art mit­lei­di­gen Seuf­zer hö­ren, in­dem er die Stirn in Fal­ten zog, wäh­rend der drit­te sich dem Spie­le wie­der zu­wand­te, als däch­te er: »Das ist auch wei­ter nichts.«

Ca­ra­van hat­te ein oder andres je­ner Wor­te er­war­tet, die »von Her­zen« zu kom­men pfle­gen; als er sich aber so emp­fan­gen sah, ging er wie­der fort. Ihre Gleich­gül­tig­keit bei dem Kum­mer ei­nes Freun­des em­pör­te ihn, wenn­gleich er selbst für den Au­gen­blick ja kei­nen so tie­fen Schmerz emp­fand.

Er trat wie­der auf die Stras­se hin­aus.


Sei­ne Frau er­war­te­te ihn schon im Schlaf­ge­wan­de; sie sass auf ei­nem klei­nen Ses­sel nahe des of­fe­nen Fens­ters und dach­te im­mer­fort an die Erb­schaft.

»Zieh Dich aus«, sag­te sie, »wir kön­nen im Bett noch plau­dern.«

Er schau­te auf, und mit dem Auge nach der Zim­mer­de­cke wei­send, sag­te er:

»Aber … da oben … es ist nie­mand da.«

»Ver­zeih, Ro­sa­lie ist bei ihr, Du kannst sie um drei Uhr mor­gens ab­lö­sen, wenn Du erst mal ein Weil­chen ge­schla­fen hast.«

Er zog sich trotz­dem nur teil­wei­se aus, um für alle Fäl­le be­reit zu sein, knüpf­te sich ein Hals­tuch um, und be­gab sich dann zu sei­ner Frau, wel­che schon zu Bett ge­gan­gen war.

Eine Zeit lang sas­sen sie auf­recht ne­ben­ein­an­der. Sie dach­te für sich hin.

Ihre Fri­sur war auch zu die­ser Zeit durch ein Ro­sa­band zu­sam­men­ge­rafft und die­ses Band hing gleich­falls auf dem einen Ohr her­un­ter, als müs­se das nun ein­mal so bei al­len Bän­dern sein, die sie trug.

 

»Weißt Du, ob Dei­ne Mut­ter ein Te­sta­ment ge­macht hat?« frag­te sie plötz­lich, sich zu ihm um­wen­dend.

»Ich … ich … weiß nicht … ich glau­be nicht …« sag­te er zö­gernd. »Nein, sie hat ohne Zwei­fel keins ge­macht.«

Ma­da­me Ca­ra­van sah ih­rem Mann voll ins Ge­sicht.

»Das ist schmach­voll, weißt Du!« sag­te sie mit tiefer zor­ni­ger Stim­me. »Denn, sieh mal, seit zehn Jah­ren pla­gen wir uns da­mit, sie zu pfle­gen, sie bei uns woh­nen zu las­sen und sie zu er­näh­ren. Dei­ne Schwes­ter hät­te nicht so viel für sie ge­tan und ich wahr­haf­tig auch nicht, wenn ich ge­wusst hät­te, wie sie uns das loh­nen wür­de! Das wirft einen trü­ben Schat­ten auf ihr An­den­ken. Du könn­test mir frei­lich ein­wen­den, dass sie uns ihre Pen­si­on be­zahl­te; aber die Pfle­ge sei­ner Kin­der kann man doch nicht mit Geld be­zah­len, man kann sie nur nach sei­nem Tode durch ein Te­sta­ment ver­gel­ten. So wer­den es alle an­stän­di­gen Leu­te hal­ten. Das habe ich nun von al­len Mü­hen und Sche­re­rei­en ge­habt. Wahr­haf­tig, das ist ei­gen­tüm­lich, muss man sa­gen; wirk­lich ei­gen­tüm­lich!«

»Mein Schatz! ich bit­te Dich«, rief Ca­ra­van ein über das an­de­re Mal be­stürzt aus, »ich bit­te Dich, ich fle­he Dich an, höre auf.«

Auf die Dau­er be­ru­hig­te sie sich und sag­te schliess­lich in ih­rem all­täg­li­chen Tone:

»Mor­gen früh müs­sen wir Dei­ne Schwes­ter be­nach­rich­ti­gen.«

»Das ist wahr«; sag­te er, we­nig er­baut, »dar­an hat­te ich nicht ge­dacht. Ich wer­de ihr gleich früh eine De­pe­sche sen­den.«

Aber als eine Frau, die an al­les denkt, hielt sie ihn zu­rück.

»Nein, schi­cke die De­pe­sche erst ge­gen zehn oder elf Uhr ab, da­mit wir Zeit ha­ben, uns um­zu­se­hen, ehe sie an­kommt. Von Cha­ren­ton bis hier­her braucht sie höchs­tens zwei Stun­den. Wir wer­den ihr sa­gen, Du hät­test voll­stän­dig den Kopf ver­lo­ren ge­habt. Wenn wir sie so zei­tig be­nach­rich­ti­gen, wer­den wir nicht mit al­lem fer­tig wer­den.«

Aber Ca­ra­van schlug sich vor die Stir­ne und mit dem furcht­sa­men Tone, in den er stets ver­fiel, wenn er von sei­nem Chef sprach, bei des­sen Na­mens­nen­nung er schon zit­ter­te, sag­te er:

»Man muss auch im Mi­nis­te­ri­um Nach­richt ge­ben.«

»Wa­rum Nach­richt ge­ben!« ant­wor­te­te sie. »Bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten ist man stets ent­schul­digt, wenn man et­was ver­gisst. Gib lie­ber kei­ne Nach­richt, glau­be mir. Dein Chef kann gar nichts sa­gen und Du wirst ihn in eine grau­sa­me Ver­le­gen­heit brin­gen.«

»Ach ja!« sag­te er, »was das an­be­trifft, ent­schie­den, und in einen rie­si­gen Zorn dazu, wenn er sieht, dass ich nicht kom­me. Ja! Du hast recht, das ist eine herr­li­che Idee. Er muss sich be­ru­hi­gen und schwei­gen, wenn ich ihm spä­ter den Tod der Mut­ter an­zei­gen wer­de.«

Und ganz ent­zückt von dem Scherz rieb sich der Be­am­te die Hän­de, wenn er an den Zorn sei­nes Chefs dach­te, wäh­rend oben über ihm, ne­ben dem Leich­nam sei­ner Mut­ter, das ein­ge­schla­fe­ne Dienst­mäd­chen hef­tig schnarch­te.

Ma­da­me Ca­ra­van wur­de wie­der nach­denk­lich, als sei sie mit et­was be­schäf­tigt, was sich nicht gut sa­gen lässt.

»Dei­ne Mut­ter«, ent­schloss sie sich end­lich, »hat Dir doch ganz si­cher ihre Uhr ver­macht, nicht wahr, das jun­ge Mäd­chen mit dem Ball­spiel?«

»Ja, ja«, sag­te er nach ei­ni­gem Nach­den­ken, »sie hat es mir ge­sagt, aber es ist schon so lan­ge her, da­mals als sie zu uns kam; ja sie sag­te: ›Die Pen­du­le da wird für Dich sein, wenn Du gut für mich sorgst.‹

Das be­ru­hig­te Ma­da­me Ca­ra­van und sie wur­de wie­der et­was hei­te­rer.

»Dann müs­sen wir sie aber her­un­ter­ho­len, weißt Du, weil, wenn wir Dei­ne Schwes­ter kom­men las­sen, sie uns dar­an hin­dern wird.«

»Glaubst Du?« … sag­te er zö­gernd.

»Ge­wiss«, sag­te sie hef­tig, »glau­be ich das; ein­mal hier, ist al­les zu spät. Das ist ge­ra­de wie mit der Kom­mo­de in ih­rem Zim­mer, die die Mar­mor­plat­te hat; sie hat sie mir ge­ge­ben, mir, als sie ein­mal sehr gut ge­launt war. Wir wol­len sie auch gleich mit her­un­ter­ho­len.«

Ca­ra­van mach­te ein et­was un­gläu­bi­ges Ge­sicht.

»Aber, mei­ne Lie­be!« sag­te er, »das ist doch eine große Verant­wor­tung!«

»Ach wirk­lich!« wand­te sie sich hef­tig zu ihm, »Du wirst stets der­sel­be blei­ben. Dei­ne Kin­der könn­ten vor Hun­ger ster­ben, ehe Du Dich rüh­ren wür­dest. Von dem Au­gen­blick an, wo sie mir die Kom­mo­de ge­ge­ben hat, ist die­se un­ser Ei­gen­tum; oder nicht? Und wenn Dei­ner Schwes­ter das nicht passt, so mag sie’s nur sa­gen, mir näm­lich, ver­stehst Du? Ich ma­che mir den Kuckuck aus Dei­ner Schwes­ter. Vor­wärts, steh auf! Wir wol­len das, was Dei­ne Mut­ter uns ge­ge­ben hat, gleich her­un­ter ho­len.«

Zit­ternd und ohne wei­te­ren Wi­der­spruch ver­liess Ca­ra­van das Bett; als er aber sei­ne Bein­klei­der an­zie­hen woll­te, hin­der­te sie ihn dar­an:

»Wa­rum Dich lan­ge an­zie­hen? Du hast ja die Un­ter­ho­sen an, das ge­nügt. Ich gehe auch, wie ich bin.«

Und alle bei­de gin­gen im Nacht­ko­stüm her­aus, stie­gen ge­räusch­los die Trep­pe hin­auf, öff­ne­ten vor­sich­tig die Türe und tra­ten in das Zim­mer, wo die vier Ker­zen und der Palm­we­del im Weih­was­ser al­lein bei der star­ren To­ten Wa­che zu hal­ten schie­nen. Denn Ro­sa­lie lag in ih­rem Ses­sel, die Bei­ne von sich ge­streckt, die Hän­de ge­fal­tet, den Kopf zur Sei­te hän­gend, und schnarch­te aus Lei­bes­kräf­ten mit of­fen­ste­hen­dem Mun­de.

Ca­ra­van nahm die Uhr. Es war dies ei­ner je­ner gro­tes­ken Kunst­wer­ke, wie man sie zur­zeit des ers­ten Kai­sers so viel­fach dar­stell­te: Ein jun­ges Mäd­chen in Gold­bron­ze, das Haupt mit al­ler­lei Blu­men ge­schmückt, trug in der Hand einen Ku­gel­fän­ger, wäh­rend die Schnur mit der Ku­gel dar­an als Per­pen­di­kel diente.

»Gib mir das«, sag­te ihm sei­ne Frau, »und nimm Du die Mar­mor­plat­te von der Kom­mo­de.«

Er ge­horch­te keu­chend, denn es kos­te­te ihm kei­ne klei­ne Mühe, die schwe­re Plat­te auf die Schul­tern zu he­ben.

Dann gin­gen bei­de fort. Ca­ra­van schritt ge­bückt durch die Tür und stieg zit­ternd die Trep­pe hin­un­ter; sei­ne Frau blieb hin und wie­der ste­hen und leuch­te­te ihm mit dem Licht in der einen Hand, wäh­rend sie die Uhr un­ter dem lin­ken Arme trug.

Als sie wie­der in ih­ren Räu­men wa­ren, sag­te sie mit ei­nem tie­fen Seuf­zer:

»So, das Schwers­te wäre ge­tan; nun wol­len wir das Üb­ri­ge ho­len.«

Aber die Schub­la­den des Mö­bels wa­ren bis oben an mit den Sa­chen der al­ten Frau voll­ge­pfropft. Man muss­te die­se erst ir­gend­wo un­ter­brin­gen. Ma­da­me Ca­ra­van kam ein Ge­dan­ke.

»Geh, hole doch den Holz­kas­ten, der im Flur un­ten steht; er ist kei­ne vier­zig Sous wert und man kann ihn ganz gut hier­her stel­len.«

Und als der Kas­ten oben war, be­gan­nen sie um­zuräu­men.

Sie hol­ten nach ein­an­der die Man­chet­ten, die Krä­gel­chen, die Müt­zen und alle die ver­schie­de­nen Klei­nig­kei­ten der al­ten Frau aus den Be­hält­nis­sen, leg­ten sie hin­ter sich und ord­ne­ten sie spä­ter sorg­fäl­tig in dem Holz­kas­ten, um da­durch Ma­da­me Braux, das an­de­re Kind der Ver­stor­be­nen, zu täu­schen, wenn sie am nächs­ten Tage kom­men wür­de.

Hier­mit fer­tig, tru­gen sie zu­erst die Schub­la­den her­aus, dann das Mö­bel­stück selbst, in­dem je­des an ei­nem Ende an­fass­te; und nun such­ten bei­de län­ge­re Zeit, wo es sich am Bes­ten hin­stel­len ließ. End­lich ent­schied man sich für das Schlaf­zim­mer, wo es dem Bett ge­gen­über zwi­schen den bei­den Fens­tern zu ste­hen kam.

Nach­dem die Kom­mo­de ein­mal an ih­rem Plat­ze war, tat Ma­da­me Ca­ra­van ihre ei­ge­ne Wä­sche hin­ein. Die Uhr wur­de auf dem Ka­min im Spei­se­zim­mer auf­ge­stellt, und das Ehe­paar be­trach­te­te sich nun, wel­chen Ein­druck sie mach­te.