»Das tut sie absichtlich«, sagte Madame Caravan ärgerlich zu ihrem Gatten, »und Du hältst ihr immer noch die Stange.«
Er fühlte sich sehr unbehaglich so zwischen zwei Lagern, und schickte Marie-Louise, um die Großmutter zu holen; dann blieb er still mit gesenkten Augen sitzen, während seine Frau mit der Messerspitze nervös an den Fuss ihres Glases klopfte.
Plötzlich öffnete sich die Türe, das Kind kam allein, schreckensbleich zurück und sagte schnell:
»Großmama liegt auf dem Fussboden!«
Mit einem Sprung stand Caravan auf, warf seine Serviette auf den Tisch und stürzte die Treppe herauf, auf der sein hastiger Schritt dröhnend widerhallte, während seine Frau, die irgend eine Bosheit ihrer Schwiegermutter vermutete, langsam und achselzuckend folgte.
Die alte Frau lag mitten im Zimmer der Länge nach auf der Erde, und als ihr Sohn sie aufrichtete, erschien sie steif und unbeweglich, ihr runzliches gelbes Gesicht war fahl, die Augen waren geschlossen, die Zähne aufeinander gepresst und alles an ihr blieb leblos.
»Meine arme Mutter, meine arme Mutter!« seufzte Caravan, der bei ihr niedergekniet war. Aber seine Frau, welche sie einen Augenblick betrachtet hatte, sagte:
»Bah! sie hat nur einen Ohnmachtsanfall; das ist alles. Sie möchte uns nur am Essen hindern, glaube mir.«
Man trug den Körper aufs Bett, entkleidete ihn und alle, Caravan, seine Frau und das Dienstmädchen begannen ihn zu reiben. Trotz aller Anstrengungen kehrte das Bewusstsein nicht zurück. Da sandte man Rosalie zum Doktor Chenet. Er wohnte am Quai nach Suresnes zu. Es war weit und man musste lange warten, bis er kam. Nachdem er sie angeschaut, beklopft und behorcht hatte, sagte er:
»Das ist der Tod.«
Von heftigem Schluchzen erschüttert warf sich Caravan auf den leblosen Körper und bedeckte krampfhaft das starre Antlitz seiner Mutter mit Küssen; dabei weinte er so heftig, dass seine Tränen wie große Wassertropfen über das Gesicht der Toten rollten.
Madame Caravan jr. fand es schicklich, auch ihrerseits Trauer zu bezeigen, und hinter ihrem Manne stehend, stiess sie verschiedene Seufzer aus, während sie sich in auffallender Weise die Augen wischte.
Caravan, dessen Antlitz noch röter war wie sonst, und dessen dünne Haare in Unordnung um seine Stirn herumhingen, war in der Tat von aufrichtigem Schmerz aufs Tiefste ergriffen.
»Aber sind Sie auch sicher, Doktor … sind Sie ganz sicher? …« wandte er sich plötzlich um. Der ehemalige Krankenpfleger trat schnell wieder heran, und indem er den Körper mit geschäftsmässiger Sicherheit betastete, wie ein Kaufmann, der eine Ware prüfen will, sagte er:
»Hier, bester Freund, betrachten Sie das Auge.«
Er schob die Augenlider zurück und unter seinen Fingern schien der Blick der alten Frau fast unverändert, vielleicht mit etwas grösserer Pupille. Caravan gab es einen Stich ins Herz und ein Zittern überfiel seinen ganzen Körper. Herr Chenet ergriff den runzeligen Arm, öffnete mit Gewalt die Finger und fuhr mit eifriger Miene, als sei er auf Widerspruch gestossen, fort:
»Aber sehen Sie sich doch nur ’mal diese Hand an; seien Sie ruhig, ich täusche mich niemals.«
Caravan stürzte sich von Neuem ganz aufgelöst auf das Bett. Er brüllte fast vor Schmerz, während seine Frau, immer leise schluchzend, die notwendigen Vorkehrungen traf. Sie schob das Nachttischchen heran, auf dem sie eine Serviette ausbreitete, stellte vier Lichter darauf, die sie anzündete, nahm einen geweihten Buchsbaumzweig hinter dem Spiegel über dem Kamin hervor und steckte ihn zwischen zwei Kerzen in ein Glas, das sie mit Weihwasser anfüllte.
Als sie so die äusseren Zurichtungen getroffen hatte, um der Toten alle Ehre zu erweisen, blieb sie gedankenvoll stehen. Der Doktor, welcher ihr bei ihren Anstalten geholfen hatte, flüsterte ihr zu:
»Es wäre besser, Caravan herauszuführen.«
Sie machte ein Zeichen des Einverständnisses, und indem sie sich ihrem Manne näherte, der auf den Knien liegend immer noch schluchzte, griff sie ihm unter einen Arm, während Herr Chenet ihn unter den anderen nahm.
Man setzte ihn zuerst auf einen Stuhl, und seine Frau suchte ihm zuzureden, während sie ihn wiederholt küsste. Der Doktor unterstützte ihre Bemühungen. Er sprach von Ergebung, Willenskraft, Mannesmut und allem, was man bei solchen Gelegenheiten an Zuspruch verwendet. Dann griffen ihn beide von Neuem unter den Arm und führten ihn heraus.
Er weinte wie ein großes Kind, mit krampfhaftem Schluchzen, völlig hilflos, die Arme schlaff herunterhängend, während seine Knie schlotterten. Ohne zu wissen, was er tat, und maschinenmässig einen Fuss vor den anderen setzend, stieg er die Treppe herunter.
Man setzte ihn in den Sessel, der noch immer am Tische stand, vor seinen halbleeren Teller, in dem sich noch der Rest der Suppe befand. Da sass er nun, regungslos, das Auge auf sein Glas geheftet, so aufgelöst, dass er nicht ’mal mehr einen klaren Gedanken zu fassen vermochte.
Madame Caravan sprach in einer Ecke mit dem Doktor, erkundigte sich nach den notwendigen Formalitäten, und ließ sich allerlei praktische Ratschläge geben. Schliesslich nahm Herr Chenet, der auf irgendetwas gewartet zu haben schien, seinen Hut und wollte sich verabschieden, indem er erklärte, er habe noch nicht zu Abend gegessen.
»Wie?« rief sie, »Sie haben noch nicht zu Abend gegessen? Aber bleiben Sie doch bei uns, Herr Doktor, bleiben Sie doch! Sie müssen mit dem vorlieb nehmen, was wir haben; Sie wissen ja, ein großes Diner gibt es nicht bei uns.«
Er lehnte ab und bat, ihn zu entschuldigen. Aber sie bestand darauf:
»Warum wollen Sie nicht bleiben? Man ist in solchen Augenblicken glücklich, einen Freund bei sich zu haben. Und vielleicht können Sie meinem Manne zureden, sich etwas zu stärken. Er hat seine Kräfte jetzt doppelt notwendig.«
»Wenn es denn sein muss, Madame, so nehme ich dankend an«, sagte der Doktor, indem er unter einer Verbeugung seinen Hut wieder ablegte.
Sie gab Rosalie, die ganz aus dem Häuschen war, allerhand Befehle und setzte sich dann selbst mit an den Tisch, »um wenigstens so zu tun, als ob sie ässe, und um dem ›Herrn Doktor‹ Gesellschaft zu leisten.«
Man nahm zunächst die aufgewärmte Suppe, von der Herr Chenet sich noch einen zweiten Teller erbat. Dann erschien eine Platte Lyoner Salami welche einen starken Knoblauch-Geruch verbreitete, und von der auch Madame Caravan kostete.
»Ausgezeichnet!« sagte der Doktor.
»Nicht wahr«, lächelte sie. »Nimm doch auch etwas, mein armer Alfred«, wandte sie sich an ihren Mann, »nur um etwas im Magen zu haben. Denke, dass Du noch die Nacht vor Dir hast.«
Er reichte mechanisch seinen Teller hin, wie er sich zu Bett gelegt haben würde, wenn man es ihn geheissen hätte; denn er folgte in allem ganz gedankenlos, zu keinem Widerstande fähig. So ass er auch.
Der Doktor, der sich selbst half, griff dreimal zu der Schüssel, während Madame Caravan von Zeit zu Zeit mit der Gabel ein großes Stück herausfischte und es sich gedankenlos in den Mund schob.
Als hierauf eine Salatschüssel voll Maccaroni erschien, murmelte der Doktor:
»Tausend, da kommt ’was Leckeres.«
Und Madame Caravan legte dieses Mal aller Welt vor; sie füllte sogar die Näpfe der Kinder damit, welche bei der mangelnden Aufsicht den Wein unvermischt tranken und sich bereits unter dem Tische wieder mit Fusstritten bearbeiteten.
Herr Chenet erinnerte sich an Rossini’s Vorliebe für diese italienischen Gerichte.
»Halt!« sagte er plötzlich, »habe ich da einen schönen Reim! man könnte ein ganzes Gedicht daraus machen:
Der Maëstro Rossini
Liebte die Maccaroni.«
Man hörte nicht mehr auf ihn. Madame Caravan war plötzlich nachdenklich geworden und überlegte alle wahrscheinlichen Folgen dieses Ereignisses, während ihr Gatte Brotkügelchen drehte, die er dann auf den Teller legte und starr, mit der Miene eines Idioten, anschaute. Da ein brennender Durst seine Kehle verzehrte, so brachte er alle Augenblicke das frischgefüllte Glas zum Munde. Sein Verstand, der bereits durch Erschütterung und Trauer hart mitgenommen war, wurde jetzt angeregt und schien ihm während seiner Verdauung über Schmerz und Kummer hinwegzutanzen.
Der Doktor trank übrigens wie ein Loch und wurde sichtlich angeheitert; auch Madame Caravan unterlag der Reaktion, die jeder nervösen Anspannung folgt. Sie war, obschon sie nur Wasser trank, gleichfalls aufgeregt und fühlte sich etwas verwirrt im Kopfe.
Herr Chenet begann verschiedene Toten-Geschichten zu erzählen, die ihm sehr scherzhaft erschienen. Denn in diesen Pariser Vorstädten, deren Bewohner in der Hauptsache ehemalige Provinzler sind, findet man noch diese Gleichgültigkeit des Landmannes gegen den Toten, mag es nun der Vater oder die Mutter sein, diese mangelnde Achtung, diese unbewusste Rohheit, die auf dem Lande so vielfach herrscht und in Paris selbst so selten ist.
»Denken Sie«, sagte er, »letzte Woche ruft man mich Rue de Puteaux; ich eile dahin, finde die Kranke verschieden und in der Nähe des Totenbettes die Familie damit beschäftigt, ruhig eine Flasche Anisette zu leeren, die man tags zuvor gekauft hatte, um eine letzte Laune der Sterbenden zu befriedigen.«
Aber Madame Caravan hörte nicht zu, da sie immerfort an die Erbschaft denken musste; und Caravan mit seinem umnebelten Gehirn verstand erst recht nichts davon.
Man brachte den Kaffee, der extra stark gemacht war, um die gute Stimmung zu erhalten. Jede Tasse, mit Cognak gewürzt, ließ auf den Wangen eine plötzliche Röte entstehen und vermehrte nur noch die Verwirrung, die der Alkohol und die seelische Erschütterung schon in diesen Gehirnen angerichtet hatten.
Dann bemächtigte sich der »Doktor« plötzlich der Flasche und schenkte jedem noch einen Abschiedstrunk ein. Und ohne ein Wort zu sprechen, in der angenehmen Wärme der Verdauung, ergriffen von jener tierischen Behaglichkeit, welche der Alkohol nach dem Essen verleiht, spülten sie sich langsam die Kehlen mit dem gezuckerten Cognak aus, der auf dem Boden der Kaffeetassen einen gelblichen Sirup bildete.
Die Kinder fingen an einzuschlafen und Rosalie brachte sie zu Bette.
Caravan, der wie jeder Unglückliche, das Bedürfnis fühlte, sich zu betäuben, nahm noch mehrere Gläschen Cognak zu sich, sodass seine bisher blöden Augen zu glänzen anfingen.
Endlich erhob sich der Doktor zum Fortgehen, und seinen Freund unterm Arm nehmend, sagte er:
»Komm, geh mit mir, die frische Luft wird Dir gut tun; wenn man sich durch etwas bedrückt fühlt, muss man sich Bewegung schaffen.«
Der andere gehorchte ohne Widerstand, nahm Hut und Stock und ging mit. Alle beide wandelten Arm in Arm bei dem hellen Sternenhimmel nach der Seine zu.
Ein balsamischer Hauch zog durch die laue Nacht, denn alle Gärten ringsumher standen zu dieser Jahreszeit in voller Blütenpracht, deren Duft, tagsüber weniger bemerkbar, sich beim Einbruch der Nacht zu verdoppeln schien und von dem leichten Abendlüftchen weit hinaus getragen wurde.
Die breite Strasse mit ihren beiden Reihen Gaslaternen lag bis zum Arc de Triomphe stumm und einsam vor ihnen. Aber da unten brodelte Paris wie ein siedender Topf. Ein unaufhörliches dumpfes Rollen schallte zu den einsamen Spaziergängern herüber, dem von Weiten her auf der Ebene zuweilen der grelle Pfiff eines mit voller Dampfkraft herankommenden oder abfahrenden Zuges antwortete.
Die frische Luft, welche den beiden Männern entgegenwehte, machte sie anfangs etwas betäubt, und erschütterte das Gleichgewicht des Doktors, während sie bei Caravan den Schwindel vermehrte, den er nach dem Diner verspürte. Er ging wie träumend einher; sein Geist war eingeschlafen und unfähig, einen ruhigen Gedanken zu fassen, ohne dass andrerseits sein Schmerz ein sehr heftiger gewesen wäre. Auch hier hinderte ihn die allgemeine geistige Erschlaffung, wirklich zu leiden; er fühlte vielmehr eine Art Erleichterung, wenn er den frischen balsamischen Duft der Frühlingsnacht einsog.
Bei der Brücke wandten sie sich rechts und empfanden mit Behagen den frischen Lufthauch, den ihnen der Fluss zusandte. Dieser floss hinter einem Vorhang von hohen Pappeln ruhig, fast melancholisch dahin; die Sterne schienen auf dem Wasser zu schwimmen und langsam von demselben fortgetragen zu werden. Ein feiner weißlicher Nebel, der auf dem jenseitigen Ufer lag, ließ eine Empfindung von Feuchtigkeit in die Lungen dringen und Caravan, bei dem dieser Dunst des Wassers alte Erinnerungen wach rief, blieb plötzlich stehen.
Er sah seine Mutter wieder vor sich wie damals in seiner Kindheit, dort unten in der Picardie, auf den Knien an dem kleinen Wasser, das durch den Garten floss und die Wäsche, die in einem Haufen neben ihr lag, eifrig waschend. Er hörte ihren Schlägel in dem ruhigen Schweigen der ländlichen Umgebung, er hörte ihre Stimme, wie sie rief: »Alfred, bringe mir Seife.« Und er spürte diesen selben Hauch von fliessendem Wasser, diesen selben Nebel, der aus der feuchten Erde aufsteigt, diese Waschhausluft, von der der Seifengeruch ihm unvergesslich geblieben war und den er gerade an diesem Abend, wo seine Mutter gestorben war, deutlich wieder zu riechen glaubte.
So stand er da, von einem neuen Anfall seiner trostlosen Verzweiflung erfasst. Es war, als habe plötzlich ein Lichtstrahl ihm die ganze Ausdehnung seines Unglücks beleuchtet; und bei dem Wiederempfinden dieses flüchtigen Hauches fühlte er sich in den tiefsten Abgrund des bittersten Schmerzes geschleudert. Der Gedanke an die Trennung für immer zerriss ihm das Herz. Er sah sein Leben in zwei Abschnitte geteilt, von denen der eine jetzt mit allen Erinnerungen seiner Jugendzeit durch diesen Todesfall für immer vor seinen Augen verschwand. Das ganze »Einstmals« war für ihn zu Ende. Niemand würde mehr mit ihm von vergangenen Zeiten reden können, von Leuten, die er früher gekannt hatte, von seiner Heimat, von ihm selbst, von allen Einzelheiten seines verflossenen Lebens. Ein Teil seines eigenen »Ich« hatte aufgehört zu existieren; jetzt brach die Zeit des Sterbens für den anderen heran.
Und nun zogen langsam die Erinnerungen an ihm vorüber. Er sah »die Mama« wieder vor sich, als sie noch viel jünger war, mit Kleidern, die sie so lange trug, bis sie gänzlich aufgebraucht waren, sodass sie mit der Vorstellung von ihrer Person unzertrennlich verbunden waren. Er fand sie unter tausenderlei längst vergessenen Verhältnissen wieder; ihre längstverschwundenen Gesichtszüge, ihre Gebärden, ihre Gewohnheiten, ihre besonderen Neigungen, die Falten auf ihrer Stirn, die Haltung ihrer mageren Finger, alle diese vertrauten Einzelheiten traten ihm jetzt wieder vor die Seele.
Und indem er sich fest an den Doktor klammerte, stiess er einen Seufzer nach dem andren aus. Seine schlotternden Knie wankten, seine ganze umfangreiche Figur wurde von heftigem Schluchzen erschüttert.
»Meine Mutter, meine arme liebe Mutter« stammelte er ein über das andere Mal.
Sein Begleiter, der immer noch angeheitert war und sich mit der Absicht trug, den Abend an irgend einem jener Orte zu verbringen, die er im geheimen zu besuchen pflegte, wurde über diesen heftigen Traueranfall sehr ungeduldig. Er redete ihm zu, sich etwas am Ufer ins Gras zu setzen und verliess ihn nach einer Weile unter dem Vorwande eines dringenden Krankenbesuches.
Caravan sass hier lange und weinte sich aus. Endlich, nachdem seine Tränen versiecht waren und all sein Leid an seinem geistigen Auge sozusagen vorübergezogen war, fand er wieder etwas Trost, eine Art Ruhe, wie einen plötzlichen Stillstand seiner Gefühle.
Der Mond war aufgegangen und sein mildes Licht erleuchtete den Horizont. Silberne Reflexe brachen sich an den säuselnden Blättern der Pappeln, und das ferne Geräusch auf der Ebene klang nur noch wie das Fallen des Schnees; der Fluss trug keine Sterne mehr, dafür glänzte er aber wie eine Perlmutterschale, auf der einzelne goldglänzende Furchen gezogen schienen. Die Luft war milde und noch immer spürte man den würzigen Blütenduft. Es lag etwas Weichliches in diesem Schlummer der Erde, aber es passte zu Caravan’s Stimmung, und mit Behagen genoss er die liebliche Ruhe der Nacht. Er atmete langsam und glaubte zu fühlen, dass seinen ganzen Körper eine angenehme Frische, eine sanfte Ruhe und seine Seele ein überirdischer Trost durchdringe. Er kämpfte absichtlich gegen dieses behagliche Gefühl, indem er immer »meine Mutter, meine arme Mutter!« wiederholte, und sich in einer Regung natürlichen Anstandsgefühles zum Weinen zu zwingen suchte; aber er konnte nicht mehr weinen, er konnte selbst seinen Gedanken nicht mehr jene traurige Richtung geben, die ihn vorhin hatte so heftig schluchzen lassen.
Endlich erhob er sich, um nach Hause zu gehen; er machte kurze Schritte, wie wenn er sich von der Heiterkeit der ihn umgebenden Natur nicht trennen könnte, und sein Herz blieb wider Willen friedlich bewegt.
Als er an die Brücke kam, bemerkte er das Licht der letzten schon zur Abfahrt bereiten Tramway und weiter hinten die erleuchteten Fenster des Café du Globe.
Da überkam ihn das Bedürfnis, irgendjemanden sein Unglück zu erzählen, sein Mitleid zu erwecken, sich gewissermassen interessant zu machen. Er verfiel wieder in seine traurige Haltung, öffnete die Türe und ging auf das Buffet zu, wo der Chef allzeit thronte. Er hatte auf einen effektvollen Augenblick gerechnet, wie alle Welt auf ihn zukommen, ihm die Hand reichen und ihn fragen würde: »Nun, was haben Sie?« Aber niemand bemerkte sein verstörtes Wesen. Er stützte sich mit dem Ellnbogen auf das Buffet, begrub das Gesicht in den Händen und murmelte: »Mein Gott, mein Gott!«
Der Chef sah ihn an.
»Sie sind krank, Herr Caravan?«
»Nein, mein armer Freund!« antwortete er, »aber meine Mutter ist heute gestorben.«
Der andere machte ein zerstreutes »Ach!« und als ein Gast aus dem Hintergrunde des Zimmers »Bitte, ein Glas Bier« rief, antwortete er sofort überlaut: »Hier, sogleich! … es kommt schon« und stürzte fort, den verwunderten Caravan allein stehen lassend.
An demselben Tische, wo er sie vor dem Essen gesehen hatte, sassen noch die drei Dominoliebhaber bei ihrem Spiele. Caravan näherte sich ihnen mit einer Miene zum Erbarmen. Als ihn keiner zu bemerken schien, entschloss er sich, zuerst zu sprechen.
»Mir ist soeben ein großes Leid geschehen«, sagte er.
Sie hoben alle drei gleichzeitig den Kopf ein wenig, aber ihre Augen blieben auf die Steine geheftet, die sie in den Händen hatten. »Nun, was denn?« -- »Meine Mutter ist gestorben«. -- »Ach Teufel!« murmelte einer von ihnen mit jenem halbbetrübten Gesicht, wie es die Gleichgültigen zu machen pflegen. Ein zweiter, der nichts Rechtes zu sagen wusste, ließ eine Art mitleidigen Seufzer hören, indem er die Stirn in Falten zog, während der dritte sich dem Spiele wieder zuwandte, als dächte er: »Das ist auch weiter nichts.«
Caravan hatte ein oder andres jener Worte erwartet, die »von Herzen« zu kommen pflegen; als er sich aber so empfangen sah, ging er wieder fort. Ihre Gleichgültigkeit bei dem Kummer eines Freundes empörte ihn, wenngleich er selbst für den Augenblick ja keinen so tiefen Schmerz empfand.
Er trat wieder auf die Strasse hinaus.
Seine Frau erwartete ihn schon im Schlafgewande; sie sass auf einem kleinen Sessel nahe des offenen Fensters und dachte immerfort an die Erbschaft.
»Zieh Dich aus«, sagte sie, »wir können im Bett noch plaudern.«
Er schaute auf, und mit dem Auge nach der Zimmerdecke weisend, sagte er:
»Aber … da oben … es ist niemand da.«
»Verzeih, Rosalie ist bei ihr, Du kannst sie um drei Uhr morgens ablösen, wenn Du erst mal ein Weilchen geschlafen hast.«
Er zog sich trotzdem nur teilweise aus, um für alle Fälle bereit zu sein, knüpfte sich ein Halstuch um, und begab sich dann zu seiner Frau, welche schon zu Bett gegangen war.
Eine Zeit lang sassen sie aufrecht nebeneinander. Sie dachte für sich hin.
Ihre Frisur war auch zu dieser Zeit durch ein Rosaband zusammengerafft und dieses Band hing gleichfalls auf dem einen Ohr herunter, als müsse das nun einmal so bei allen Bändern sein, die sie trug.
»Weißt Du, ob Deine Mutter ein Testament gemacht hat?« fragte sie plötzlich, sich zu ihm umwendend.
»Ich … ich … weiß nicht … ich glaube nicht …« sagte er zögernd. »Nein, sie hat ohne Zweifel keins gemacht.«
Madame Caravan sah ihrem Mann voll ins Gesicht.
»Das ist schmachvoll, weißt Du!« sagte sie mit tiefer zorniger Stimme. »Denn, sieh mal, seit zehn Jahren plagen wir uns damit, sie zu pflegen, sie bei uns wohnen zu lassen und sie zu ernähren. Deine Schwester hätte nicht so viel für sie getan und ich wahrhaftig auch nicht, wenn ich gewusst hätte, wie sie uns das lohnen würde! Das wirft einen trüben Schatten auf ihr Andenken. Du könntest mir freilich einwenden, dass sie uns ihre Pension bezahlte; aber die Pflege seiner Kinder kann man doch nicht mit Geld bezahlen, man kann sie nur nach seinem Tode durch ein Testament vergelten. So werden es alle anständigen Leute halten. Das habe ich nun von allen Mühen und Scherereien gehabt. Wahrhaftig, das ist eigentümlich, muss man sagen; wirklich eigentümlich!«
»Mein Schatz! ich bitte Dich«, rief Caravan ein über das andere Mal bestürzt aus, »ich bitte Dich, ich flehe Dich an, höre auf.«
Auf die Dauer beruhigte sie sich und sagte schliesslich in ihrem alltäglichen Tone:
»Morgen früh müssen wir Deine Schwester benachrichtigen.«
»Das ist wahr«; sagte er, wenig erbaut, »daran hatte ich nicht gedacht. Ich werde ihr gleich früh eine Depesche senden.«
Aber als eine Frau, die an alles denkt, hielt sie ihn zurück.
»Nein, schicke die Depesche erst gegen zehn oder elf Uhr ab, damit wir Zeit haben, uns umzusehen, ehe sie ankommt. Von Charenton bis hierher braucht sie höchstens zwei Stunden. Wir werden ihr sagen, Du hättest vollständig den Kopf verloren gehabt. Wenn wir sie so zeitig benachrichtigen, werden wir nicht mit allem fertig werden.«
Aber Caravan schlug sich vor die Stirne und mit dem furchtsamen Tone, in den er stets verfiel, wenn er von seinem Chef sprach, bei dessen Namensnennung er schon zitterte, sagte er:
»Man muss auch im Ministerium Nachricht geben.«
»Warum Nachricht geben!« antwortete sie. »Bei solchen Gelegenheiten ist man stets entschuldigt, wenn man etwas vergisst. Gib lieber keine Nachricht, glaube mir. Dein Chef kann gar nichts sagen und Du wirst ihn in eine grausame Verlegenheit bringen.«
»Ach ja!« sagte er, »was das anbetrifft, entschieden, und in einen riesigen Zorn dazu, wenn er sieht, dass ich nicht komme. Ja! Du hast recht, das ist eine herrliche Idee. Er muss sich beruhigen und schweigen, wenn ich ihm später den Tod der Mutter anzeigen werde.«
Und ganz entzückt von dem Scherz rieb sich der Beamte die Hände, wenn er an den Zorn seines Chefs dachte, während oben über ihm, neben dem Leichnam seiner Mutter, das eingeschlafene Dienstmädchen heftig schnarchte.
Madame Caravan wurde wieder nachdenklich, als sei sie mit etwas beschäftigt, was sich nicht gut sagen lässt.
»Deine Mutter«, entschloss sie sich endlich, »hat Dir doch ganz sicher ihre Uhr vermacht, nicht wahr, das junge Mädchen mit dem Ballspiel?«
»Ja, ja«, sagte er nach einigem Nachdenken, »sie hat es mir gesagt, aber es ist schon so lange her, damals als sie zu uns kam; ja sie sagte: ›Die Pendule da wird für Dich sein, wenn Du gut für mich sorgst.‹
Das beruhigte Madame Caravan und sie wurde wieder etwas heiterer.
»Dann müssen wir sie aber herunterholen, weißt Du, weil, wenn wir Deine Schwester kommen lassen, sie uns daran hindern wird.«
»Glaubst Du?« … sagte er zögernd.
»Gewiss«, sagte sie heftig, »glaube ich das; einmal hier, ist alles zu spät. Das ist gerade wie mit der Kommode in ihrem Zimmer, die die Marmorplatte hat; sie hat sie mir gegeben, mir, als sie einmal sehr gut gelaunt war. Wir wollen sie auch gleich mit herunterholen.«
Caravan machte ein etwas ungläubiges Gesicht.
»Aber, meine Liebe!« sagte er, »das ist doch eine große Verantwortung!«
»Ach wirklich!« wandte sie sich heftig zu ihm, »Du wirst stets derselbe bleiben. Deine Kinder könnten vor Hunger sterben, ehe Du Dich rühren würdest. Von dem Augenblick an, wo sie mir die Kommode gegeben hat, ist diese unser Eigentum; oder nicht? Und wenn Deiner Schwester das nicht passt, so mag sie’s nur sagen, mir nämlich, verstehst Du? Ich mache mir den Kuckuck aus Deiner Schwester. Vorwärts, steh auf! Wir wollen das, was Deine Mutter uns gegeben hat, gleich herunter holen.«
Zitternd und ohne weiteren Widerspruch verliess Caravan das Bett; als er aber seine Beinkleider anziehen wollte, hinderte sie ihn daran:
»Warum Dich lange anziehen? Du hast ja die Unterhosen an, das genügt. Ich gehe auch, wie ich bin.«
Und alle beide gingen im Nachtkostüm heraus, stiegen geräuschlos die Treppe hinauf, öffneten vorsichtig die Türe und traten in das Zimmer, wo die vier Kerzen und der Palmwedel im Weihwasser allein bei der starren Toten Wache zu halten schienen. Denn Rosalie lag in ihrem Sessel, die Beine von sich gestreckt, die Hände gefaltet, den Kopf zur Seite hängend, und schnarchte aus Leibeskräften mit offenstehendem Munde.
Caravan nahm die Uhr. Es war dies einer jener grotesken Kunstwerke, wie man sie zurzeit des ersten Kaisers so vielfach darstellte: Ein junges Mädchen in Goldbronze, das Haupt mit allerlei Blumen geschmückt, trug in der Hand einen Kugelfänger, während die Schnur mit der Kugel daran als Perpendikel diente.
»Gib mir das«, sagte ihm seine Frau, »und nimm Du die Marmorplatte von der Kommode.«
Er gehorchte keuchend, denn es kostete ihm keine kleine Mühe, die schwere Platte auf die Schultern zu heben.
Dann gingen beide fort. Caravan schritt gebückt durch die Tür und stieg zitternd die Treppe hinunter; seine Frau blieb hin und wieder stehen und leuchtete ihm mit dem Licht in der einen Hand, während sie die Uhr unter dem linken Arme trug.
Als sie wieder in ihren Räumen waren, sagte sie mit einem tiefen Seufzer:
»So, das Schwerste wäre getan; nun wollen wir das Übrige holen.«
Aber die Schubladen des Möbels waren bis oben an mit den Sachen der alten Frau vollgepfropft. Man musste diese erst irgendwo unterbringen. Madame Caravan kam ein Gedanke.
»Geh, hole doch den Holzkasten, der im Flur unten steht; er ist keine vierzig Sous wert und man kann ihn ganz gut hierher stellen.«
Und als der Kasten oben war, begannen sie umzuräumen.
Sie holten nach einander die Manchetten, die Krägelchen, die Mützen und alle die verschiedenen Kleinigkeiten der alten Frau aus den Behältnissen, legten sie hinter sich und ordneten sie später sorgfältig in dem Holzkasten, um dadurch Madame Braux, das andere Kind der Verstorbenen, zu täuschen, wenn sie am nächsten Tage kommen würde.
Hiermit fertig, trugen sie zuerst die Schubladen heraus, dann das Möbelstück selbst, indem jedes an einem Ende anfasste; und nun suchten beide längere Zeit, wo es sich am Besten hinstellen ließ. Endlich entschied man sich für das Schlafzimmer, wo es dem Bett gegenüber zwischen den beiden Fenstern zu stehen kam.
Nachdem die Kommode einmal an ihrem Platze war, tat Madame Caravan ihre eigene Wäsche hinein. Die Uhr wurde auf dem Kamin im Speisezimmer aufgestellt, und das Ehepaar betrachtete sich nun, welchen Eindruck sie machte.