Sie war nun verheiratet. Es war ihr zu Mute, als befände sie sich in einer tiefen Grube, aus der keine Flucht möglich war, und als schwebten über ihrem Kopf alle Arten von Unglück wie riesige Felsen, jeden Augenblick bereit, auf sie nieder zu stürzen. Ihr Gatte kam ihr vor wie jemand, den sie bestohlen hatte und der dies eines Tages merken würde. Und dann dachte sie an ihr Kind, von dem all’ ihr Unglück kam, das aber auch zugleich ihr einziges Glück auf Erden ausmachte.
Zweimal im Jahre besuchte sie es und kam jedes Mal trauriger nach Hause.
Allein mit der Zeit gewöhnt man sich an alles. Ihr Herz wurde ruhiger, und sie sah mit mehr Vertrauen auf ihre jetzige Lage, die nur hin und wieder noch durch eine flüchtige Regung der Furcht beeinträchtigt wurde.
Die Zeit verging. Das Kind war nun schon sechs Jahre alt. Sie war jetzt sogar fast glücklich, als plötzlich bei dem Pächter eine finstere Stimmung sichtlich immer mehr Platz griff.
Schon seit zwei oder drei Jahren schien er an einer inneren Unruhe zu leiden, irgend eine Sorge mit sich herumzutragen, irgend einen bösen Gedanken, der von Tag zu Tag wuchs. Wenn das Essen schon vorüber war, blieb er noch lange am Tische sitzen, den Kopf in den Händen vergraben, traurig, so traurig, als würde er von einem tiefen Kummer verzehrt. Er sprach lauter, ja barsch zuweilen, und es schien unwillkürlich, als habe er einen Hintergedanken gegen seine Frau, denn er begegnete ihr öfters mit Rauheit, ja mit Zorn sogar.
Eines Tages kam ein Nachbarsjunge in den Hof, um Eier zu holen. Da sie gerade sehr beschäftigt war, ließ sie ihn etwas barsch an, als plötzlich hinter ihr ihr Mann mit boshaftem Tone sagte:
»Wenn das Dein Kind wäre, würdest Du es nicht so anfahren.«
Sie stand einen Augenblick sprachlos da; dann ging sie müden Schrittes ins Haus zurück. Alle ihre Qualen waren aufs Neue erwacht.
Bei Tisch sprach der Pächter nicht mit ihr und sah sie kaum an; er schien sie zu verabscheuen und zu verachten. Er musste etwas wissen.
Sie verlor den Kopf und wagte nicht, nach dem Essen mit ihm allein zu bleiben. Sie ging hinaus und lief zur Kirche.
Der Abend brach herein. Das schmale Schiff der Kirche war schon ganz dunkel, aber sie hörte Schritte da unten am Chor; es war der Sakristan, der die ewige Lampe vor dem Altare für die Nacht zurecht machte. Dieser Lichtschimmer, der aus dem Dunkel des Gewölbes auftauchte, erschien Rose wie der Verkünder einer letzten Hoffnung; sie warf sich auf die Knie und betete, die Augen auf den Altar geheftet.
Knisternd brannte die kleine Flamme neu empor. Bald schlürften wieder Tritte durch den Gang, denen das gleichmässige Geräusch eines an der Mauer sich reibenden Strickes folgte: Die kleine Glocke der Kirche rief zum »Angelus.« Als der Mann heraus ging, schloss sich Rose ihm an.
»Ob der Herr Pfarrer wohl zu Hause ist?« fragte sie.
»Ich glaube wohl;« antwortete er, »er speist immer nach dem Angelus.«
Mit zitternder Hand öffnete sie die Türe des Pfarrhauses.
Der Pfarrer war gerade beim Essen und hiess sie sich setzen.
»Ja, ja«, sagte er, »Euer Mann hat mir schon von dem gesprochen, was Euch zu mir führt.«
Die arme Frau knickte zusammen.
»Was gibt es also, mein Kind?« fuhr der Priester fort, und ass schnell einige Löffel Suppe, wobei ihm verschiedene Tropfen auf seine etwas fleckige, abgenutzte Soutane fielen.
Rose wagte nicht zu sprechen; sie vermochte es nicht, ihr Leid zu klagen und ihn um Hilfe zu bitten. Stumm erhob sie sich.
»Mut! meine Tochter …« wollte der Pfarrer fortfahren, aber schon wankte sie hinaus.
Sie kam zum Hof zurück, ohne recht zu wissen, wie sie dahin gelangte. Ihr Mann wartete auf sie; die Arbeitsleute waren schon fortgegangen. Da sank sie von Schmerz überwältigt vor ihm auf die Knie und fragte mit tränenerstickter Stimme:
»Was hast Du doch nur gegen mich?«
»Was ich habe?« schrie er tobend auf, »dass ich keine Kinder habe, bei Gott! Wenn man heiratet, so will man doch das ganze Leben hindurch nicht zu Zweien bleiben. Das ist’s, was ich habe. Wenn eine Kuh keine Kälber hat, so taugt sie nichts. Hat eine Frau keine Kinder, so ist sie gleichfalls nichts wert.«
»Es ist doch nicht meine Schuld«, stammelte sie weinend. »Was kann ich denn dafür?«
»Das sage ich auch nicht«, entgegnete er etwas milder gestimmt. »Aber es ist doch gar zu ärgerlich.«
Von diesem Tage an hatte sie nur noch den einen Wunsch, ein Kind zu haben, ein zweites Kind; und sie vertraute aller Welt ihren Wunsch an.
Eine Nachbarin gab ihr ein Mittel an: Sie sollte ihrem Manne jeden Abend ein Glas Wasser mit einer Messerspitze voll Asche zu trinken geben. Der Pächter erklärte sich dazu bereit, aber das Mittel half nichts.
»Vielleicht gibt es dafür irgend ein Geheimmittel«, sagten sie sich und zogen Erkundigungen ein. Man bezeichnete ihnen einen Schäfer, welcher sechs Meilen von dort wohnte; und eines Tages spannte Meister Vallin sein Tilbury ein und fuhr dorthin. Der Schäfer stellte ihm ein Brot zu, auf welchem er gewisse Zeichen gemacht hatte, ein mit besonderen Kräutern durchknetetes Brot, von dem sie beide, so oft sie zusammen schliefen, vorher und nachher essen sollten.
Bald war das ganze Brot aufgezehrt, ohne das ein Erfolg eingetreten wäre.
Der Pfarrer riet zu einer Wallfahrt zum heil. Blut von Fecamp. Rose beeilte sich, diesem Rate zu folgen, und pilgerte mit einer großen Schar von Gläubigen zur Wallfahrtskirche; inständig flehte sie den Himmel an, sie noch einmal zu segnen. Es war umsonst.
Da war sie überzeugt, dass der Himmel sie für ihren ersten Fehltritt bestrafen wolle, und ein ungeheurer Schmerz bemächtigte sich ihrer.
Sie verging vor Kummer; auch ihr Mann alterte sichtlich; er »verzehrte sich selbst« vor innerem Gram, wie man so zu sagen pflegte, hatte aber dabei fast jeden Monat einmal wieder eine neue Hoffnung.
Das Verhältnis zwischen beiden wurde immer unerträglicher; er beleidigte sie auf alle mögliche Weise und schlug sie schliesslich sogar. Er quälte sie den ganzen Tag und die ganze Nacht mit seinen Vorwürfen und rücksichtslosen Grobheiten.
Eines Nachts, als er schon nicht mehr wusste, welche neue Qual er für sie ersinnen sollte, befahl er ihr aufzustehen und bei dem heftigsten Regen draussen im Hofe auf den Anbruch des Tages zu warten. Als sie nicht folgen wollte, ergriff er sie am Halse und traktierte sie mit Faustschlägen ins Gesicht. Sie sagte nichts und rührte sich nicht. Ausser sich vor Wut kniete er auf ihr; er knirschte mit den Zähnen und hätte sie am liebsten ums Leben gebracht. Da bäumte sich ihr ganzes Innere auf, und mit einer heftigen Bewegung schleuderte sie ihn gegen die Wand, setzte sich auf und rief ihm mit völlig veränderter gellender Stimme zu:
»Ich habe ein Kind, ja, ich habe eins; ich habe es von Jacques, Du weißt schon, von Jacques. Er hätte mich heiraten sollen; aber er hat sich davon gemacht.«
Wie versteinert blieb der Mann an der Wand liegen, er war ebenso ausser sich, wie sie selbst.
»Was sagst Du«, stotterte er; »was sagst Du da?«
Sie konnte nun endlich wieder weinen und stammelte unter heftigem Schluchzen:
»Deshalb wollte ich Dich ja nicht heiraten, bloß deshalb. Ich konnte es Dir ja nicht sagen; Du hättest mich mit samt meinem Kinde brotlos gemacht. Du hast ja von so etwas keine Ahnung; Du weißt es nicht, Du fühlst das nicht.«
»Du hast ein Kind? Wirklich, Du hast ein Kind?« wiederholte er immer wieder maschinenmässig, mit stets wachsendem Erstaunen.
»Du hast mich mit Gewalt zur Deinen gemacht«, sagte sie unter heftigem Schluchzen. »Du weißt es doch noch? Ich wollte Dich ja gar nicht heiraten.«
Da stand er auf, zündete Licht an und begann, die Hände auf dem Rücken, im Zimmer auf und ab zu gehen. Sie weinte fortwährend, sich in die Kissen vergrabend. Plötzlich blieb er vor ihr stehen:
»Also an mir liegt der Fehler?« sagte er. Sie antwortete nicht. Er ging wieder weiter, dann blieb er wieder stehen und fragte:
»Wie alt ist denn Dein Kleines?«
»Sechs Jahre ist es geworden«, murmelte sie.
»Aber warum hast Du es mir denn nicht gesagt?« fragte er wieder.
»Konnte ich das denn?« seufzte sie.
»Vorwärts!« sagte er, immer noch auf seinem Platze bleibend, »steh auf!«
Mit Mühe erhob sie sich. Dann als sie auf ihren Füssen stand, an die Mauer gelehnt, begann er plötzlich laut zu lachen; es war das gutmütige, herzliche Lachen früherer Tage. Und als sie noch fassungslos blieb, sagte er:
»Nun gut, wir wollen das Kind abholen, da wir doch kein andres haben.«
Sie war so verblüfft, dass sie im ersten Augenblick dachte, er sei närrisch geworden; und sie wäre davon gelaufen, wenn ihr die Kraft nicht gefehlt hätte. Aber der Pächter rieb sich die Hände und sagte halblaut vor sich hin:
»Ich wollte eins adoptieren, jetzt ist eins gefunden; wir haben schon eins. Ich hatte den Pfarrer um ein Waisenkind gebeten.«
Dann küsste er, immerfort lachend, seine ganz erstaunte sprachlose Frau auf beide Wangen und rief, als ob sie nicht gut hören könnte:
»Vorwärts, Mutter, lass sehen, ob es noch etwas Suppe gibt; ich ässe gern einen Teller voll.«
Sie zog ihren Rock an und beide gingen zusammen herunter. Während sie niederkniete und das Feuer unter dem Kessel wieder anzündete, ging er mit großen Schritten in der Küche auf und ab und wiederholte fortwährend ganz vergnügt:
»Ach, das macht mir wahrhaftig Spaß; es ist nicht zu glauben. Aber ich bin vergnügt, sehr vergnügt.«
*
Die Tramway von Neuilly hatte soeben die »Porte Maillot« passiert und fuhr nun die große Avenue entlang, welche auf die Seine zu führt. Die kleine Dampfmaschine, welche den Wagen zog, keuchte mächtig bei der starken Steigung der Strasse, und stiess ruckweise ihre Rauchwolken aus; es klang wie das Schnauben eines Laufenden, dem der Atem ausgeht, und die Eisenglieder ihrer Kolben brachten ein lebhaftes Geräusch hervor. Die erschlaffende Schwüle eines zur Neige gehenden Sommertages lag auf der Strasse, auf welcher sich trotz der Windstille eine dichte, weiße, erstickende und glühende Staubwolke erhob, die die feuchte Haut bedeckte und in Nase und Ohren drang.
Einzelne Leute traten unter die Türen, um etwas frische Luft zu schöpfen.
Die Scheiben des Wagens waren heruntergelassen, und bei der schnellen Fahrt flatterten die Vorhänge im Luftzuge. Nur wenige Personen befanden sich im Innern; denn bei diesen heissen Tagen zog man das Verdeck der Omnibusse vor. Es waren dies korpulente Damen mit auffallenden Toiletten, jene Sorte von Bewohnerinnen der Vorstädte, die das, was ihnen an Vornehmheit fehlt, durch eine gewisse unangemessene Steifheit zu ersetzen suchen; ferner abgearbeitete Büromenschen mit aufgeschwemmten Gesichtern und kurzer Taille, deren eine Schulter in Folge der ewigen vorgebeugten Haltung bei ihren Arbeiten etwas in die Höhe gezogen war. Ihre unruhigen und bekümmerten Mienen sprachen ausserdem noch von häuslichen Nöten, drohenden Geldsorgen und von der gänzlichen Vernichtung einstmals vielleicht glänzender Hoffnungen. Sie schienen alle zu jener Klasse armer Teufel zu gehören, die in einem jener kleiner weißgestrichenen Häuschen mit einem Stückchen Garten, wie man sie auf dem Lande in der Umgegend von Paris zu Tausenden findet, nur mit grösster Sparsamkeit ihr Dasein fristen.
Ganz nahe an der Türe sass ein kleiner untersetzter Herr mit aufgedunsenem Gesicht, dessen Bauch sozusagen zwischen seinen geöffneten Schenkeln ruhte. Er war ganz schwarz gekleidet und trug ein Ordensband im Knopfloch. Sein Gegenüber, mit dem er sich eifrig unterhielt, war ein großer, magerer Mann von nachlässigem Äusseren. Sein weißer Drillich-Anzug war sehr schmutzig, und auf dem Kopfe trug er einen alten ebenfalls stark mitgenommenen Panama-Hut. Der erste Herr sprach langsam, sodass er zuweilen den Eindruck eines Stotterers machte; es war Herr Caravan, Bürobeamter im Marineministerium. Der andere war früher Krankenwärter an Bord eines Handelsschiffes gewesen und hatte sich schliesslich in Courbevoie niedergelassen, wo er bei der ärmeren Bevölkerungsklasse den Rest von medizinischen Kenntnissen verwertete, den er sich aus seinem dunklen abenteuerlichen Leben bewahrt hatte. Er hiess Chenet und hörte sich gerne »Doktor« nennen; über seinen Charakter gingen allerlei Gerüchte herum.
Herr Caravan hatte von jeher das gleichmässige Leben eines Büromenschen geführt. Seit dreissig Jahren ging er unveränderlich jeden Morgen auf demselben Wege in sein Büro, begegnete zu derselben Stunde und an denselben Stellen denselben Leuten, die ihren Geschäften nachgingen; und ebenso kehrte er abends auf demselben Wege zurück, wo er noch dieselben Gesichter sah, die er schon vor dreissig Jahren gesehen hatte.
Jeden Tag, nachdem er sich an einer Ecke des Faubourg Saint-Honoré sein Sou-Blättchen gekauft, holte er sich seine zwei Brödchen und ging dann ins Ministerium, wie ein Verurteilter, der seine Haft antreten will; schnell trat er in sein Büro ein, denn er wurde die stete innere Unruhe nicht los, ob er nicht bei seiner Ankunft irgend einen Tadel wegen eines Versehens zu erwarten hätte.
Nichts hatte bisher die einförmige Ordnung seines Daseins geändert, denn ausser seinen Bürogeschäften, Avancements und Gratifikationen berührten ihn die sonstigen Ereignisse nicht. Mochte er nun im Ministerium oder in seiner Familie sein (er hatte nämlich die Tochter eines Kollegen, ohne jede Mitgift, geheiratet), niemals sprach er von etwas anderem als vom Dienst. Sein durch die geisttötende tägliche Arbeit verknöcherter Sinn hatte keine anderen Gedanken, keine anderen Träume und Hoffnungen mehr, als die, welche sich auf sein Ministerium bezogen. Aber eins verbitterte ihm stets die Selbstzufriedenheit seines Beamtendaseins: die Zulassung der Marine-Kommissare, der Klempner, wie man sie ihrer silbernen Litzen wegen nannte, zu den Stellen der Sous-Chefs und sogar der Chefs; und jeden Abend beim Essen demonstrierte er seiner Frau, die übrigens ganz seinen Groll teilte, unter lebhaften Gebärden vor, wie ungerecht es auf alle Fälle sei, die Stellen in Paris mit Leuten zu besetzen, die naturgemäss für das Seeleben bestimmt wären.
Er war jetzt alt geworden, ohne zu bemerken, wie das Leben verflog; denn das Gymnasium hatte ohne eigentliche Unterbrechung seine Fortsetzung im Büro gefunden und die Lehrer, vor denen er früher gezittert hatte, waren jetzt durch die Chefs ersetzt, vor denen er beinahe noch eine grössere Angst hatte. An der Schwelle dieser Büro-Despoten überlief ihn stets ein heiliger Schauer, und von dieser fortgesetzten Ängstlichkeit hatte er sich allmählich eine linkische Art des Auftretens, diese demütige Haltung, dieses gewisse nervöse Stottern angewöhnt.
Er kannte von Paris eigentlich nicht viel mehr, als ein Blinder, der von seinem Hunde täglich an denselben Standplatz geführt wird, und wenn er in seinem Sou-Blättchen die täglichen Neuigkeiten und Skandal-Geschichten las, so durchflog er sie wie hübsche Märchen, die eigens erfunden waren, um den kleinen Beamten etwas Unterhaltungsstoff zu bieten. Ein Mann der Ordnung, ein Reaktionär ohne bestimmte Parteirichtung, aber ein abgesagter Feind aller Neuerungen, überschlug er die politischen Nachrichten, welche sein Blatt übrigens, je nachdem es bezahlt wurde, entsprechend entstellte. Und wenn er abends die Avenue des Champs-Elysées wieder heraufging, so betrachtete er die hin- und herwogende Menge der Spaziergänger und das Getriebe der Wagen, wie ein heimatloser Wanderer, der fremde Gegenden durchquert.
Da er zu eben dieser Zeit seine dreissig Dienstjahre hinter sich hatte, so hatte man ihm zum 1. Januar das Kreuz der Ehrenlegion überreicht, womit man bei den Militär-Verwaltungen die lange und elende Sklaverei -- man nennt sie: »Redliche Dienste« -- belohnt, in der diese armen Sträflinge am grünen Tische schmachten. Diese unerwartete Auszeichnung, welche ihm von seinen Befähigungen einen ganz neuen und hohen Begriff beibrachte, hatte in seinem Wesen eine vollständige Umwälzung hervorgerufen. Von nun an verbannte er seine farbigen Hosen und Fantasie-Westen; er trug nur noch schwarze Beinkleider und lange Überröcke, auf denen sein sehr breites Band sich besser ausnahm. Jeden Morgen war er glatt rasiert, seine Nägel pflegte er mit Sorgfalt, und alle zwei Tage wechselte er die Wäsche in einem ganz richtigen Gefühl der Hochachtung und Ehrfurcht vor dem nationalen Orden, den er trug. So war er über Nacht ein anderer, ein selbstbewusster, zugeknöpfter und herablassender Caravan geworden.
Zu Hause sprach er bei jeder Gelegenheit von »seinem Kreuze.« Er war darin so eifersüchtig, dass er nicht einmal im Knopfloch eines anderen irgend ein buntes Band sehen konnte. Vor allem ereiferte er sich beim Anblick fremder Orden, »die man in Frankreich gar nicht zu tragen erlauben sollte.« Er betonte dies besonders mit Bezug auf den »Doktor« Chenet, den er jeden Abend auf der Tramway mit irgend einer weiß-blauen, orangefarbenen oder grünen Dekoration im Knopfloch antraf.
Die Unterhaltung dieser beiden vom Arc de Triomphe bis Neuilly war übrigens täglich die gleiche; und auch heute beschäftigten sie sich, wie immer, mit lokalen Übelständen, über die sie sich beide ärgerten, während der Maire von Neuilly sie viel zu leicht nehme. Dann brachte Caravan, wie das in Gegenwart eines Arztes ja stets geschieht, das Gespräch auf das Kapitel der Krankheiten, indem er hoffte, auf diese Weise einige ärztliche Ratschläge gratis zu erhalten. Seine Mutter machte ihm übrigens seit einigen Tagen wirklich Sorgen. Sie hatte öfters längere Ohnmachtsanfälle und wollte sich dabei trotz ihrer neunzig Jahre noch keine Schonung auferlegen.
Ihr hohes Alter machte Caravan immer ganz weichmütig, und unaufhörlich fragte er den »Doktor« Chenet: »Haben Sie das schon oft erreichen sehen?« Und dabei rieb er sich immer ganz glücklich die Hände, nicht so sehr weil er glaubte, dass das Leben seiner Mutter auf Erden ewig dauern würde, sondern weil die lange Dauer des mütterlichen Lebens ihm selbst ein hohes Alter zu versprechen schien.
»Ja!« fuhr er fort, »in meiner Familie lebt man sehr lange; ich bin sicher, dass ich gleichfalls sehr alt werde, wenn nichts Besonderes eintritt.«
Der ehemalige Krankenpfleger warf einen mitleidigen Blick auf ihn. Er betrachtete einen Augenblick das rötliche Gesicht seines Nachbarn, seinen fleischigen Hals, seinen aufgetriebenen Leib, der sich zwischen zwei schwammigen fetten Schenkeln verlor, die ganze apoplektische Erscheinung des verweichlichten alten Beamten; und indem er mit einem Händedruck sich den grauen Strohhut zurechtrückte, antwortete er halb ernst, halb lachend:
»Nicht so sicher als Sie denken; Ihre Mutter ist die personifizierte Magerkeit und Sie sind die reine Poularde.«
Caravan wurde verlegen und schwieg.
Inzwischen hatte die Tramway ihren Haltepunkt erreicht und die beiden Herren stiegen aus. Herr Chenet schlug vor, einen Wermut im Café du Globe zu trinken, wo sie beide ihren Stammtisch hatten. Der Chef, ein alter Freund von ihnen, reichte ihnen zwei Finger, die sie über Flaschen und Gläsern hinweg schüttelten; dann begaben sie sich an einen Tisch, wo drei Liebhaber des Dominos schon seit Mittag beim Spielchen sassen. Freundschaftliche Redensarten, darunter das unvermeidliche »Was gibt’s Neues« wurden ausgetauscht. Hierauf setzten sich die Spieler wieder zu ihrer Partie und sie wünschten denselben einen guten Abend. Jene reichten ihnen die Hände, ohne von ihren Steinen aufzusehen, und die beiden Herren gingen zum Essen nach Hause.
Caravan bewohnte nahe beim Rondel von Courbevoie ein kleines zweistöckiges Haus, dessen Erdgeschoss ein Friseur innehatte.
Zwei Zimmer, ein Speisezimmer und eine Küche, in denen Rollsessel je nach Bedarf hin- und hergeschoben wurden, bildeten die beiden einzigen Räume, in denen Madame Caravan ihre Arbeitszeit zubrachte, während ihre zwölfjährige Tochter Maria-Louise und der neunjährige Sohn Philipp-August sich mit der ganzen Strassenjugend des Viertels in der Gosse herumbalgten.
Über sich hatte Caravan seine Mutter einlogiert, deren Geiz in der ganzen Umgegend berühmt war und von deren Magerkeit man sich sagte, dass der Herrgott bei ihr seine eigenen Sparsamkeits-Grundsätze angewandt habe. Stets schlechter Laune ließ sie keinen Tag ohne ihre besonderen Klagen und Heftigkeits-Ausbrüche vergehen. Sie zankte sich vom Fenster aus mit den Nachbarinnen vor der Türe, mit den Krämerfrauen, den Gassenkehrern und den Strassenjungen, die sie aus Rache beim Ausgehen von Weitem mit dem Rufe »Seht die Bettnässerin« verfolgten.
Ein kleines unglaublich dummes Dienstmädchen aus der Normandie besorgte den Haushalt und schlief des Nachts im zweiten Stock bei der Alten, für den Fall, dass dieser etwas zustossen sollte.
Als Caravan nach Hause kam, fand er seine Frau damit beschäftigt, mittels eines Flanelllappens die vereinzelt im Zimmer stehenden Mahagonistühle wieder aufzupolieren; sie litt nämlich an chronischer Putzsucht. Ihre Hände waren stets von Zwirnhandschuhen bedeckt, ihr Haupt war mit einer Mütze geschmückt, von welcher bunte Bänder herabflatterten und die stets schief auf einem Ohre sass. Jedes Mal wenn sie bohnend, bürstend, firnissend oder seifend angetroffen wurde, pflegte sie zu sagen: »Ich bin nicht reich, bei mir ist alles einfach; aber die Reinlichkeit ist mein Luxus und darin bin ich mancher andren über.«
Mit praktischem Verstande begabt, beherrschte sie ihren Mann in allem. Jeden Abend bei Tisch und später noch im Bett sprachen sie lange noch von Büro-Angelegenheiten, und obschon sie zwanzig Jahr jünger war wie er, so vertraute er sich ihr wie einem Beichtvater an und folgte in allem ihren Ratschlägen.
Sie war niemals hübsch gewesen; jetzt war sie sogar hässlich, von kleiner schmächtiger Figur. Ihre unscheinbare Kleidung ließ bei ihr jene äusseren weiblichen Formen völlig verschwinden, welche ein gut sitzender Anzug künstlich hervorheben kann. Ihre Kleiderröcke waren stets an irgend einer Stelle in die Höhe geschlagen und sie pflegte sich häufig, ganz gleichgültig wo, zu kratzen, ohne jede Rücksicht auf etwaige Anwesende und mit einer Intensivität, die geradezu etwas krankhaftes hatte. Der einzige Schmuck, den sie sich leistete, war jener Aufputz von seidenen Bändern verschiedenartigster Farben auf den stolzen Häubchen, die sie zu Hause zu tragen pflegte.
Sobald sie ihren Mann bemerkte, erhob sie sich, küsste ihn auf beide Wangen und fragte ihn dann: »Hast Du an Potin gedacht, lieber Freund?« (Es handelte sich um eine Bestellung, die er auszurichten versprochen hatte.) Er ließ sich erschreckt auf einen Stuhl fallen, denn er hatte es jetzt gerade zum vierten Male vergessen. -- »Es ist ein Elend« sagte er, »ein wahres Elend! Ich kann den ganzen Tag mich dran erinnern, und abends vergesse ich es doch jedes Mal.« Aber als sie sah, dass es ihn alterierte, suchte sie ihn schnell zu trösten: »Lass doch nur! Morgen besorgst Du’s mir schon. Nichts Neues im Ministerium?«
»Allerdings, eine große Neuigkeit sogar; noch ein Klempner ist Sous-Chef geworden.«
Sie wurde sehr erregt.
»In welcher Abteilung?«
»In der Abteilung für auswärtige Erwerbungen.«
»An Stelle Ramon’s also«, sagte sie ärgerlich, »gerade die ich mir für Dich ausgedacht hatte. Und Ramon? Pensioniert?«
»Pensioniert«, stammelte er.
»Damit ist’s nun aus, mit dieser schönen Gelegenheit;« sagte sie heftig, während ihr Häubchen auf die Schulter rutschte. »Es lässt sich im Augenblick nichts machen. Und wie heisst er denn, Dein Kommissair?«
»Bonassot«.
Sie nahm die Marine-Rangliste, die sie stets zur Hand hatte, und schlug nach:
»Bonassot. -- Toulon. -- Geb. 1851. -- Kommissariats-Eleve 1871, Unter-Kommissar 1875. -- Hat er zur See gedient, der da?«
Bei dieser Frage heiterte sich Caravan’s Antlitz wieder auf. Er lachte, dass ihm der Bauch wackelte.
»Wie Balin, genau wie sein Chef Balin.«
Und mit noch stärkerem Lachen fügte er einen alten Witz hinzu, der im ganzen Ministerium kursierte:
»Man dürfte sie ja nicht einmal ausschicken, um die Marinestation Point-Du-Jour zu inspizieren; sie würden unterwegs an der Seekrankheit sterben.«
Aber sie blieb ernst, als hätte sie nichts gehört; dann murmelte sie, sich langsam am Kinn kratzend:
»Wenn man nur einen Deputierten an der Hand hätte! Wüsste die Kammer alles, was da drinnen vorgeht, so müsste das Ministerium auf der Stelle springen …«
Lautes Schreien auf der Treppe schnitt ihr die weiteren Worte ab. Marie-Louise und Philipp-August, welche von der Gasse heraufkamen, bearbeiteten sich gegenseitig auf jeder Treppenstufe mit Püffen und Fusstritten. Ihre Mutter rannte zornig heraus, nahm Jedes am Arme und stiess sie beide ins Zimmer, wobei sie sie kräftig schüttelte.
Sobald sie ihren Vater sahen, stürzten sie auf ihn los und er küsste sie lange zärtlich; dann nahm er beide auf seine Knie und plauderte mit ihnen.
Philipp-August war ein garstiger blasser Bursche, schmutzig von oben bis unten und hatte ein Gesicht wie ein Kretin. Marie-Louise glich jetzt schon sehr ihrer Mutter; sie sprach wie diese, indem sie deren Worte wiederholte und sogar ihre Gebärden nachahmte: »Was gibt’s Neues im Ministerium?«
»Dein Freund Ramon«, sagte er scherzend, »der jeden Monat bei uns isst, wird uns verlassen, Töchterchen! Ein anderer Souschef tritt an seine Stelle.«
Sie hob die Augen zu ihrem Vater empor und sagte mit einem für ihr Alter frühreifen Mitleid:
»Noch einer also, der Dir über den Kopf geklettert ist!«
Er hörte auf zu lachen und antwortete nicht; dann brachte er das Gespräch auf ein andres Thema, indem er sich zu seiner Frau wandte, die jetzt Fensterscheiben putzte:
»Der Mutter geht’s gut oben?« fragte er.
Madame Caravan hörte auf zu reiben, wandte sich um und brachte mit einem Ruck das Häubchen, welches ihr jetzt vollständig auf dem Rücken hing, wieder in Ordnung.
»Ach ja,« sagte sie mit zuckenden Lippen, »lass uns von Deiner Mutter sprechen. Sie hat mir einen netten Ärger bereitet. Denke Dir, als heute Madame Lebaudin, die Frau des Friseurs, während ich ausgegangen war, heraufkommt, um von mir ein Packet Stärke zu leihen, hat Deine Mutter sie fortgejagt und sie eine ›Bettlerin‹ geschimpft. Aber ich habe ihr meine Meinung gesagt, der Alten. Sie tat natürlich wieder, als höre sie nichts, wie immer, wenn man ihr mal die Wahrheit sagt, aber sie ist nicht tauber, weißt Du, wie ich; es ist Verstellung und weiter nichts. Der Beweis dafür ist der, dass sie sofort nach oben in ihr Zimmer gegangen ist, ohne weiter ein Wort zu reden.«
Caravan, dem diese Wendung des Gespräches peinlich war, schwieg klüglich still, zumal jetzt das Dienstmädchen meldete, es sei angerichtet. Dann nahm er, um seine Mutter hiervon zu benachrichtigen, einen Kehrbesen aus der Ecke, wo er immer ruhte, und klopfte damit dreimal an die Zimmerdecke. Hierauf ging man ins Speisezimmer und Madame Caravan jr. teilte die Suppe aus, während man auf die Mutter wartete. Diese kam jedoch nicht und die Suppe fing schon an kalt zu werden. Man begann langsam zu essen; aber als die Teller leer waren, wartete man immer noch vergebens.
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