Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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Ei­ni­ge Mi­nu­ten spä­ter hör­te man schon, wie er sich am Brun­nen im Hofe den Kopf wusch; und als er bald dar­auf mit dem Wa­gen er­schi­en, war er wie­der ganz nüch­tern.

Man fuhr in der­sel­ben Wei­se fort wie tags zu­vor, und der klei­ne Schim­mel be­weg­te sich in dem­sel­ben leb­haf­ten und schau­keln­den Tem­po.

Trotz der war­men Son­ne er­wach­te jetzt die wäh­rend des Mah­les ge­dämpft ge­we­se­ne Mun­ter­keit. Den Mäd­chen mach­ten jetzt die Sprün­ge des Wa­gens Freu­de, sie sties­sen selbst an die Stüh­le ih­rer Nach­ba­rin­nen, und bra­chen bei der Erin­ne­rung an Ri­vet’s ver­geb­li­che An­stren­gun­gen je­des Mal wie­der in ein lau­tes Ge­läch­ter aus.

Auf den Flu­ren lag eine Luft, die zur Aus­ge­las­sen­heit reiz­te, eine Luft, die ei­nem vor den Au­gen tanz­te; un­ter den Rä­dern stie­gen zwei mäch­ti­ge Staub­wol­ken her­vor, die lan­ge Zeit hin­ter dem Wa­gen her­lie­fen, wie zwei über­mü­ti­ge Clowns.

Fer­n­an­de, eine große Mu­sik­freun­din, bat plötz­lich Rosa, et­was zu sin­gen; die­se ließ sich das nicht zwei­mal sa­gen und woll­te eben das Lied: »Der di­cke Pfar­rer von Meu­don« an­stim­men, als Ma­da­me ihr so­fort Schwei­gen ge­bot. Sie hielt den Text des Lie­des für den heu­ti­gen Tag nicht pas­send und sag­te: »Sing uns lie­ber et­was von Beran­ger.« -- Rosa sann einen Au­gen­blick nach und hob dann mit ih­rer et­was ver­ros­te­ten Stim­me die »Groß­mut­ter« an:

Groß­müt­ter­chen hat­te am Na­mens­fest kaum

Zwei Schlück­chen vom Wein nur ge­nippt;

Da sprach sie und nickt mit dem Kopf wie im Traum:

»Wie hab’ ich doch einst viel ge­liebt!

Doch ver­dorrt ist der Arm,

So ro­sig und warm:

Und ver­welkt ist das Herz,

Nur ge­blie­ben der Schmerz.«

Und von Ma­da­me selbst ge­lei­tet, fiel der Cho­rus der Mäd­chen ein:

»Doch ver­dorrt ist der Arm,

So ro­sig und warm;

Und ver­welkt ist das Herz,

Nur ge­blie­ben der Schmerz.«

»Herr­lich! präch­tig!« rief Ri­vet, den der Schluss­vers hin­ge­ris­sen hat­te; Rosa fuhr in­des­sen fort:

Wie? Müt­ter­chen! also auch Du warst nicht brav?

»Nein, Kind­chen, nicht ein­mal im Schlaf.

Wie konnt’ es auch sein, denn mit fünf­zehn Jah­ren,

Da hat­t’ ich ge­nug von der Lie­b’ schon er­fah­ren.«

Alle zu­sam­men gröhlten den Re­frain, und Ri­vet trat mit dem Fus­se auf der Deich­sel den Takt und schlug ihn gleich­zei­tig mit den Zü­geln auf dem Rücken des Schim­mels. Die­ser war selbst gleich­sam von der Me­lo­die des Lie­des an­ge­feu­ert und setz­te sich in flot­ten Ga­lopp, in Fol­ge des­sen die Da­men von ih­ren Sit­zen flo­gen und sich in ei­nem bun­ten Hau­fen auf dem Bo­den des Wa­gens wälz­ten.


Sie er­ho­ben sich un­ter aus­ge­las­se­nem Ge­läch­ter und brüll­ten von Neu­em aus vol­lem Hal­se ihr Lied übers Feld, auf des­sen rei­fen­de Früch­te die Son­ne ihre sen­gen­den Strah­len sand­te. Der Schim­mel nahm bei je­der Wie­der­ho­lung einen neu­en Ga­lopp-An­lauf, was den In­sas­sen des Ge­fähr­tes eine un­bän­di­ge Freu­de mach­te.

Hin und wie­der wand­te sich ein Stein­klop­fer nach ih­nen um und be­trach­te­te durch das Draht­netz sei­ner Schutz­bril­le die­ses heu­len­de Fahr­zeug, das durch den wir­beln­den Staub da­hin­ras­te.

Der Tisch­ler war sehr un­zu­frie­den, als man in die Nähe des Bahn­ho­fes kam.

»Scha­de, dass Ihr fort­müsst« sag­te er, »wir hät­ten uns herr­lich amü­siert.«

»Je­des Ding zu sei­ner Zeit,« ant­wor­te­te Ma­da­me über­le­gen »man kann sich nicht im­mer nur amü­sie­ren.«

Da kam Ri­vet auf eine gute Idee: »Höre, ich wer­de Euch nächs­ten Mo­nat in Fe­camp be­su­chen« sag­te er, Rosa mit ei­nem ver­zeh­ren­den Blick und lis­ti­gem Blin­zeln an­schau­end.

»Gut« sag­te Ma­da­me, »man muss ver­nünf­tig sein. Du kannst kom­men, wenn Du willst, aber Du darfst kei­ne Dumm­hei­ten ma­chen.«

Er ant­wor­te­te nicht und be­gann jede Ein­zel­ne aus der Ge­sell­schaft zu um­ar­men, als man von Wei­tem den Zug her­an­na­hen hör­te. Bei Rosa an­ge­kom­men, such­te er de­ren Mund zu er­wi­schen, den die­se ihm je­des Mal, hin­ter ih­ren ge­schlos­se­nen Zäh­nen la­chend, durch eine schnel­le Wen­dung ent­zog. Er hielt sie zwar in sei­nen Ar­men, aber er kam nicht zum Ziel, weil ihn sei­ne große Peit­sche hin­der­te, die er in der Hand hielt, und mit der er hin­ter ih­rem Rücken bei sei­nen ver­geb­li­chen Ver­su­chen die son­der­bars­ten Fi­gu­ren be­schrieb.

»Nach Rou­en ein­stei­gen!« rief der Por­tier; so muss­ten sie sich tren­nen.

Die klei­ne Pfei­fe des Zug­füh­rers schrill­te vom Per­ron und gleich dar­auf er­tön­te der lau­te Pfiff der Lo­ko­mo­ti­ve, die dann so­fort ihre ers­te Dampf­wol­ke in die Luft stiess, wäh­rend die Rä­der un­ter krei­schen­dem Geräusch ein we­nig an­zo­gen.

Ri­vet ver­liess das In­ne­re des Bahn­ho­fes und lief an die Schran­ke, um Rosa noch ein­mal zu se­hen, und als der Wa­gen mit sei­ner mensch­li­chen Last an ihm vor­bei­fuhr, knall­te er mit der Peit­sche und hüpf­te um­her, da­bei aus Lei­bes­kräf­ten sin­gend:

»Doch ver­dorrt ist der Arm

So ro­sig und warm,

Und ver­welkt ist das Herz,

Nur ge­blie­ben der Schmerz.«

Dann sah er eine wei­ße Rauch­wol­ke in der Fer­ne lang­sam ver­schwin­den.

III.

Sie schlie­fen bis zur An­kunft in Fe­camps den sanf­ten Schlaf ei­nes be­frie­dig­ten Ge­mü­tes, und als sie in die Woh­nung tra­ten, er­frischt und aus­ge­ruht für ihr täg­li­ches Abend­ge­schäft, konn­te Ma­da­me sich nicht ent­hal­ten zu sa­gen:

»Ei­ner­lei; ich sehn­te mich doch schon nach Hau­se.«

Schnell wur­de zu Abend ge­ges­sen, das ge­wöhn­li­che Ar­beits­ko­stüm an­ge­legt und dann auf die ge­wohn­ten Stamm­gäs­te ge­war­tet; die klei­ne La­ter­ne brann­te wie­der hin­ter ih­rem Git­ter und ver­kün­de­te den Passan­ten, dass die Ge­sell­schaft im Hau­se ihre Tä­tig­keit wie­der auf­ge­nom­men habe.

Wie der Blitz hat­te sich die Nach­richt von ih­rer Rück­kehr ver­brei­tet; kein Mensch wuss­te wie und durch wen. Herr Phil­ip­pe, der Ban­kiers­sohn, hat­te so­gar die Lie­bens­wür­dig­keit, durch ein be­son­de­res Bil­let den an sei­ne Fa­mi­lie ge­fes­sel­ten Herrn Tour­ne­vau da­von zu ver­stän­di­gen.

Der Fisch­händ­ler hat­te ge­ra­de, wie je­den Sonn­tag, meh­re­re Vet­tern zum Es­sen bei sich, und man nahm eben den Kaf­fee, als ein Mann mit ei­nem Brief in der Hand her­ein­ge­führt wur­de. Has­tig er­brach Herr Tour­ne­vau den Um­schlag und er­bleich­te, als er die nur mit Blei­stift ge­krit­zel­ten Wor­te las: »Ka­bel­jau-La­dung wie­der­ge­fun­den; Schiff im Ha­fen ein­ge­lau­fen; gu­tes Ge­schäft für Sie. Kom­men Sie schnell.«

Er griff in die Ta­sche, reich­te dem Bo­ten zwan­zig Cen­ti­mes und sag­te hef­tig er­rö­tend: »Es hilft nichts, ich muss ge­hen.« Wäh­rend sei­ne Gat­tin das ge­heim­nis­vol­le la­ko­ni­sche Bil­let las, schell­te er und rief der ein­tre­ten­den Die­ne­rin zu: »Mei­nen Über­zie­her und Hut, aber schnell!« Kaum auf der Stras­se, rann­te er im Sturm­schritt da­von, und der Weg kam ihm in sei­ner Un­ge­duld noch zwei­mal so lang vor.

Das Haus Tel­lier trug ein fest­li­ches Ge­prä­ge. Im Erd­ge­schoss wi­der­hall­ten die lär­men­den Stim­men der Ha­fen­leu­te, die einen wüs­ten Spek­ta­kel auf­führ­ten. Loui­se und Flo­ra wuss­ten nicht wem sie zu­erst ant­wor­ten soll­ten, tran­ken mit je­der­mann, und ver­dien­ten mehr, als bis­her je­mals die »zwei Feu­er­sprit­zen« er­wor­ben hat­ten. Man rief von al­len Sei­ten zu­gleich nach ih­nen; sie hät­ten zwan­zig Hän­de zu­gleich ha­ben mö­gen und sa­hen vor­aus, dass es für sie eine böse Nacht ge­ben wür­de.

Im Sa­lon des ers­ten Stockes war es seit neun Uhr sehr still ge­wor­den. Herr Vas­se, der Han­dels­rich­ter, Ma­da­mes pla­to­ni­scher Lieb­ha­ber, plau­der­te mit die­ser ganz lei­se in ei­nem Win­kel. Herr Pou­lin, der ehe­ma­li­ge Maire, hat­te Rosa auf dem Schos­se die, dicht an ihn ge­schmiegt, mit ih­ren kur­z­en fet­ten Händ­chen die wei­ßen Ko­te­let­ten des wa­cke­ren Man­nes strei­chel­te. Zwi­schen ih­ren St­rümp­fen, wel­che durch die blau­en Bän­der, das Ge­schenk des Hand­lungs­rei­sen­den, be­fes­tigt wa­ren, und dem schwar­zen Spit­zen­be­satz ih­rer Pan­ta­lons, die un­ter dem et­was ver­scho­be­nen Klei­der­ro­cke her­vor­sa­hen, zeig­te sich ein Strei­fen ih­rer blos­sen Haut.

Die große Fer­n­an­de lag auf dem So­pha und ließ ihre Füs­se auf dem Schos­se des Ein­neh­mers, Herrn Pim­pes­se, ru­hen, wäh­rend sie sich mit dem Rücken an die Brust des jun­gen Herrn Phil­ip­pe lehn­te, dem sie mit der Rech­ten den Kopf krau­te; in­dess die Lin­ke eine Zi­ga­ret­te hielt.

Ra­phaële schi­en eif­ri­ge Ver­hand­lun­gen mit Herrn Du­puis, dem Ver­si­che­rungs-Agen­ten, zu füh­ren, die sie mit den Wor­ten be­en­de­te: »Ja­wohl, mein Schatz; heu­te Abend bin ich gern be­reit.« Dann mach­te sie al­lein eine ra­sen­de Wal­zer­tour durch den Sa­lon und rief: »Heu­te Abend al­les, was man will!«

Plötz­lich wur­de has­tig die Tür auf­ge­ris­sen und Herr Tour­ne­vau trat ein.

»Hoch Tour­ne­vau!« rief al­les be­geis­tert. Ra­phaële, die sich noch im Wal­zer wieg­te, sank an sei­ne Brust und er riss sie stür­misch an sich. Dann hob er sie, ohne ein Wort zu sa­gen, wie eine Fe­der vom Bo­den auf, trug sie quer durch den Sa­lon, öff­ne­te die Türe im Hin­ter­grund und be­trat mit sei­ner le­ben­di­gen Last die Trep­pe, die zu den Zim­mern führ­te, ge­folgt von ei­nem ra­sen­den Bei­falls­ju­bel.


Rosa, die den ehe­ma­li­gen Maire in Flam­men setz­te, in­dem sie ihn alle Au­gen­bli­cke küss­te und zu­gleich sei­ne bei­den Ko­te­let­ten strei­chel­te, nahm sich ein Bei­spiel hieran. »Komm, mach es eben­so« sag­te sie. Sch­liess­lich er­hob sich der Bra­ve und, in­dem er sei­ne Klei­der ord­ne­te, folg­te er dem Mäd­chen, da­bei mit der Rech­ten in die Ta­sche fah­rend, wo er sein Geld ver­wahr­te.

 

Fer­n­an­de und Ma­da­me blie­ben mit den vier an­de­ren Her­ren al­lein, und Herr Phil­ip­pe rief:

»Ich gebe Sekt; las­sen Sie drei Fla­schen ho­len, Ma­da­me Tel­lier!«

Fer­n­an­de nahm ihn bei Sei­te und flüs­ter­te ihm ins Ohr: »Spiel’ uns einen Tanz, willst Du?«

Er er­hob sich und setz­te sich an das alte Spi­nett, das in ei­nem Win­kel ruh­te und ent­lock­te dem­sel­ben einen hei­ser klin­gen­den, kla­gen­den Wal­zer. Das große Mäd­chen en­ga­gier­te den Ein­neh­mer, Ma­da­me er­griff den Arm des Herrn Vas­se, und die bei­den Paa­re walz­ten her­um un­ter leb­haf­tem Küs­sen. Herr Vas­se, der vor Zei­ten mal in der Welt ge­tanzt hat­te, mach­te sei­ne Sa­che vor­treff­lich und Ma­da­me sah ihn mit trun­ke­nem Bli­cke an, je­nem Bli­cke, der »ja« sagt; ein »ja«, das viel dis­kre­ter und köst­li­cher ist als ein Wort!

Fried­rich brach­te den Sekt und nach dem ers­ten Gla­se schlug Herr Phil­ip­pe eine Qua­dril­le vor.

Die zwei Paa­re führ­ten die­sel­be ganz in der üb­li­chen Wei­se aus, steif und fei­er­lich, mit al­len Be­we­gun­gen, Nei­gun­gen und Kom­pli­men­ten; wor­auf man sich wie­der zur Fla­sche setz­te.

Da er­schi­en plötz­lich Herr Tour­ne­vau wie­der, strah­lend in an­ge­neh­mer Er­schlaf­fung. »Weiß der Teu­fel, was das Mäd­chen, die Ra­phaële, hat, aber sie ist heu­te ent­zückend!« Er trank ein dar­ge­bo­te­nes Glas Sekt auf einen Zug aus, in­dem er mur­mel­te: »Kuckuck auch! So ein Lu­xus!«

Herr Phil­ip­pe be­gann auf der Stel­le eine Pol­ka und Herr Tour­ne­vau schwenk­te die schö­ne Jü­din her­um, wel­che er hoch in der Luft hielt, so­dass ihre Füs­se im­mer über dem Bo­den schweb­ten. Auch Herr Pim­pes­se und Herr Vas­se wa­ren mit neu­em Ei­fer los­ge­stürzt. Von Zeit zu Zeit mach­te ein Paar am Ka­mi­ne Halt und pfiff schnell ein Glas Sekt.

Der Tanz schi­en kein Ende neh­men zu wol­len, als Rosa mit ei­nem Leuch­ter in der Hand die Tür öff­ne­te. Sie trug das Haar lose, und war nur in Hemd und Haus­schu­hen; da­bei mach­te sie einen sehr zu­frie­de­nen, wenn auch et­was mit­ge­nom­me­nen Ein­druck.

»Ich will tan­zen!« rief sie.

»Und Dein Al­ter?« frag­te Ra­phaële.

Rosa lach­te: »Der? Der schläft schon; er schläft im­mer gleich ein.«

Sie hol­te sich Herrn Du­puis, der al­lein auf dem So­pha ge­blie­ben war und die Pol­ka be­gann von Neu­em.

Als die Fla­schen leer wa­ren, sag­te Herr Tour­ne­vau: »Ich zah­le noch eine!«

»Und ich auch!« rie­fen Herr Vas­se und Herr Du­puis wie aus ei­nem Mun­de. Al­les klatsch­te Bei­fall.

Es ent­wi­ckel­te sich nun ein re­gel­rech­ter Ball. Von Zeit zu Zeit ka­men auch Loui­se und Flo­ra schnell her­auf, tanz­ten in Eile ein­mal her­um und schlürf­ten ein Glas Sekt, wäh­rend un­ten die Gäs­te vor Un­ge­duld ver­gin­gen. Dann stürz­ten sie wie­der ins Café her­un­ter, nicht ohne einen trau­ri­gen Seuf­zer aus­zu­stos­sen.

Um Mit­ter­nacht tanz­te man im­mer noch. Zu­wei­len ver­schwand ei­nes der Mäd­chen, und wenn man sie such­te, um ein Ge­gen­über zu ha­ben, be­merk­te man plötz­lich, dass auch ei­ner der Her­ren fehl­te.

»Wo kom­men Sie nur her?« frag­te scher­zend Herr Phil­ip­pe, als Herr Pim­pes­se und Fer­n­an­de ge­ra­de wie­der ein­tra­ten.

»Wir be­sa­hen uns den schla­fen­den Herrn Pou­lin«, ant­wor­te­te der Ein­neh­mer.

Das Wort hat­te eine ko­los­sa­le Wir­kung: Alle gin­gen hin­ter­ein­an­der mit ei­nem der Mäd­chen, die heu­te aus­ser­ge­wöhn­lich lus­tig wa­ren, her­auf, »um den schla­fen­den Herrn Pou­lin zu se­hen.« Ma­da­me drück­te heu­te ein Auge zu; sie hat­te in der Ecke wie­der ein lan­ges Ge­spräch mit Herrn Vas­se, um die letz­ten Punk­te ei­ner An­ge­le­gen­heit zu ord­nen, die schon so gut wie ab­ge­macht war.

End­lich um ein Uhr er­klär­ten die bei­den Ehe­män­ner, Herr Tour­ne­vau und Herr Pim­pes­se, dass sie fort müss­ten und zah­len woll­ten. Ma­da­me nahm nur Geld für den Cham­pa­gner an und rech­ne­te noch dazu die Fla­sche nur mit sechs Franks, statt der ge­wöhn­li­chen zehn Franks. Und als man all­sei­tig die­se Groß­mut be­wun­der­te, sag­te sie mit lus­ti­gem La­chen:

»Es ist nicht alle Tage Kirch­weih!«

*

Der Kirchhof Montmartre

Die fünf Freun­de wa­ren mit ih­rem Di­ner zu Ende. Es wa­ren fünf in den bes­ten Jah­ren ste­hen­de Män­ner aus der gu­ten Ge­sell­schaft. Drei von ih­nen wa­ren ver­hei­ra­tet, wäh­rend die zwei üb­ri­gen dem Jung­ge­sel­len­stan­de an­ge­hör­ten. Je­den Mo­nat ka­men sie ein­mal in die­ser Wei­se zu­sam­men, um die Erin­ne­rung an ihre Ju­gend­zeit zu fei­ern und nach dem hei­te­ren Mah­le noch un­ter freund­schaft­li­chem Ge­plau­der bis in die Mor­gen­stun­de hin­ein zu ver­wei­len. Man sprach über dies und Je­nes, über al­les, was Pa­ris be­schäf­tigt und amü­siert; man trieb es hier nicht an­ders, wie in den meis­ten Pa­ri­ser Sa­lons, wo die Un­ter­hal­tung wei­ter Nichts ist, wie eine münd­li­che Wie­der­ga­be des­sen, was man in den Mor­gen­blät­tern ge­le­sen hat.

Ei­ner die­ser Lus­tigs­ten un­ter ih­nen war Jo­seph de Bar­don, ein Jung­ge­sel­le, der das Pa­ri­ser Le­ben so voll­stän­dig und viel­sei­tig wie mög­lich aus­kos­te­te. Er war we­der ein Schwel­ger, noch ein Wüst­ling, aber er hat­te den Wunsch, al­les zu ken­nen, was das Le­ben bot; und die­se Art von Ge­nuss be­rei­te­te ihm eine wirk­li­che Freu­de. Sei­ne vier­zig Jah­re er­laub­ten ihm das üb­ri­gens auch. Ein Welt­mann im wei­tes­ten und bes­ten Sin­ne des Wor­tes, be­sass er viel Witz ohne be­son­de­re Geis­tes­tie­fe, vie­le Kennt­nis­se ohne gründ­li­che Bil­dung, eine schnel­le Auf­fas­sungs­ga­be ohne be­son­de­ren Hang zum Stu­di­um; er wuss­te das, was er bei al­len sei­nen Aben­teu­ern und Er­leb­nis­sen sah und be­ob­ach­te­te, so hübsch zu scherz­haf­ten und gleich­zei­tig tief­sin­ni­gen An­ek­do­ten zu ver­wer­ten und sei­ne Be­trach­tun­gen dar­an zu knüp­fen, dass ihm in der gan­zen Stadt der Ruf ei­nes geist­rei­chen Men­schen ge­zollt wur­de.

Bei ih­ren ge­mein­schaft­li­chen Di­ners war er stets der Fe­st­red­ner. Er hat­te im­mer et­was in Be­reit­schaft und auf ir­gend eine neue Ge­schich­te konn­te man stets bei ihm zäh­len. Er gab sie zum Bes­ten, ohne sich lan­ge bit­ten zu las­sen.

Eine Zi­gar­ret­te rau­chend, die Ell­bo­gen auf den Tisch ge­stützt, auf dem vor ihm ein halb­vol­les Glas »fine Cham­pa­gne« stand, und mit Be­ha­gen den Duft ein­zie­hend, wel­cher sich aus dem aro­ma­ti­schen Ta­bak im Ve­rein mit dem damp­fen­den Kaf­fee ent­wi­ckel­te, schi­en er ganz in sich ge­kehrt, wie es ein­zel­ne Per­so­nen an ge­wis­sen Or­ten und zu ge­wis­sen Zei­ten zu sein pfle­gen.

Zwei Rauch­wol­ken von sich bla­send, sag­te er dann nach ei­ni­gen Mi­nu­ten die­ses brü­ten­den Schwei­gens:

»Mir ist vor ei­ni­ger Zeit eine selt­sa­me Ge­schich­te pas­siert.«

»Er­zäh­le!« tön­te es gleich­zei­tig aus al­ler Mun­de.

»Sehr gern«, ent­geg­ne­te er. »Ihr wisst, dass ich sehr viel in Pa­ris her­umspa­zie­re, wie die Ra­ri­tä­ten­samm­ler, wel­che alle Schau­fens­ter und Lä­den durch­stö­bern. Mich in­ter­es­siert al­les, die Leu­te, das Ge­drän­ge, kurz al­les, was an mir vor­über­geht und al­les, was um mich her­um vor­geht.

Schön! Ei­nes Ta­ges, Mit­te Sep­tem­ber, ver­liess ich, an­ge­lockt durch das herr­li­che Wet­ter, mei­ne Woh­nung, und schlen­der­te zu­nächst plan­los durch die Stras­sen. Man hat stets das un­be­stimm­te Be­dürf­nis, ir­gend ei­ner hüb­schen Dame sei­nen Be­such zu ma­chen. Man durch­stö­bert im Geis­te die gan­ze Rei­he sei­ner Be­kann­ten, ver­gleicht den Reiz der einen und das In­ter­es­se, wel­ches sie uns ein­flösst, mit den Ei­gen­schaf­ten der And­ren, und ent­schei­det sich schliess­lich je nach der Lau­ne, die man an die­sem Tage ge­ra­de hat. Aber wenn die Son­ne so herr­lich scheint und die Luft so mil­de ist, ver­geht ei­nem manch­mal die Lust zu je­dem Be­su­che.

So ging es auch mir da­mals, und ich zün­de­te mir eine Zi­gar­re an, um stumpf­sin­nig dem äus­se­ren Bou­le­vard zu­zu­stre­ben. Dann kam mir, als ich dort spa­zie­ren ging, plötz­lich der Ge­dan­ke, den Kirch­hof auf dem Mont­mar­tre zu be­su­chen.

Ich gehe gern auf einen Kirch­hof; es bringt mir das eine ge­wis­se me­lan­cho­li­sche Ruhe, der ich zu­wei­len be­darf. Und dann hat man ja auch so man­chen gu­ten Freund da, den man im Le­ben nicht wie­der­sieht. Wa­rum soll­te ich also nicht zu­wei­len da­hin ge­hen?

Und ge­ra­de auf den Kirch­hof Mont­mar­tre zieht mich im­mer eine alte Her­zens­ge­schich­te. Dort ruht eine Freun­din von mir, die mich viel ge­quält und viel ge­liebt hat, ein rei­zen­des klei­nes Frau­chen, an die ich oft mit Ver­druss, oft aber auch mit Be­dau­ern … ja mit großem Be­dau­ern … zu­rück­den­ke … Da gehe ich dann, um an ih­rem Gra­be zu träu­men … Sie hat nun aus­ge­lit­ten!

Ich lie­be auch die Kirch­hö­fe, weil sie mir im­mer wie große dicht­be­völ­ker­te Städ­te vor­kom­men. Den­ken Sie nur, wie viel Tote auf die­sem en­gen Rau­me bei ein­an­der lie­gen, den­ken Sie nur an all’ die Ge­ne­ra­tio­nen von Pa­ri­sern, die dort woh­nen, für im­mer woh­nen, rich­ti­ge Höh­len­be­woh­ner, die in ih­ren klei­nen Höh­len da ein­ge­schlos­sen sind, in ih­ren klei­nen durch einen Stein oder ein Kreuz be­zeich­ne­ten Lö­chern hau­sen, wäh­rend die Le­ben­den, die­se To­ren, so viel Raum ein­neh­men und so viel Geräusch von sich ma­chen.

Aus­ser­dem gibt es noch auf den Kirch­hö­fen eben­so in­ter­essan­te Denk­mä­ler wie in den bes­ten Mu­seen. Das Grab­mal Ca­vai­gnac’s gibt mir schon Stoff zum Nach­den­ken, ohne es mit dem Meis­ter­wer­ke Jean Gou­jon’s ver­glei­chen zu wol­len: Dem Bil­de Lud­wigs de Bre­zé, der in der un­ter­ir­di­schen Ka­pel­le der Ka­the­dra­le von Rou­en be­gra­ben liegt. All’ un­se­re so­ge­nann­te mo­der­ne und rea­lis­ti­sche Kun­strich­tung, mei­ne Her­ren, stammt von da­her. Die­ser tote Lud­wig de Bre­zé ist wahr­heits­ge­treu­er, grau­sen­er­re­gen­der, in sei­ner Leb­lo­sig­keit ver­kör­per­ter, durch den Tod ver­zerr­ter, als alle die er­küns­tel­ten Leich­na­me, die man jetzt auf die Grab­denk­mä­ler mei­selt.

Aber auf dem Kirch­hof Mont­mar­tre kann man auch noch das groß­ar­ti­ge Denk­mal Bau­din’s be­wun­dern, fer­ner das­je­ni­ge Gau­thier’s und das­je­ni­ge Mür­ger’s; auf letz­te­rem be­merk­te ich ei­nes Ta­ges einen arm­se­li­gen Kranz aus ver­bli­che­nen Im­mor­tel­len. Wer moch­te ihn ge­bracht ha­ben? Vi­el­leicht die letz­te Gri­set­te, die jetzt, alt und run­ze­lig, ir­gend­wo in der Nähe als Tür­sch­lies­se­rin ihr Le­ben fris­te­te. Das Gan­ze ist eine Sta­tu­et­te, das Werk Mil­let’s, an dem aber Schmutz und Ver­nach­läs­si­gung ihr Zer­stö­rungs­werk ver­rich­ten. O Ju­gend­lied, o Mür­ger!

Hier war ich nun, auf dem Kirch­hof Mont­mar­tre, und plötz­lich um­fing mich Trau­rig­keit, jene Art von Trau­rig­keit, die ei­nem nicht ge­ra­de wehe tut, son­dern die uns mehr zum Nach­den­ken stimmt und bei der wir uns sa­gen, wenn es uns noch wohl geht: »Das ist kein hei­te­rer Ort hier, aber der Au­gen­blick für mich ist noch nicht ge­kom­men …«

Die herbst­li­che Stim­mung, jene laue Feuch­tig­keit, wel­che das Abster­ben der Blät­ter an­kün­digt, und die ab­neh­men­de Kraft der Son­nen­strah­len, die an zu­neh­men­de Schwä­che und schwin­den­des Le­ben er­in­nert, ver­mehr­ten in mir das Ge­fühl der Ein­sam­keit und die Vorah­nung vom Ende al­ler Din­ge, wel­che die­sen Ort um­schwe­ben. Es war, als hör­te man von Wei­tem die Schwin­gen des To­des rau­schen.

Lang­sam schritt ich durch die­se Grä­ber­stras­sen, wo der Nach­bar die Nach­ba­rin nicht kennt, wo je­der für sich schläft und nie­mand mehr eine Zei­tung liest. Ich be­gann die Gra­bin­schrif­ten zu stu­die­ren. Das ist, ne­ben­bei be­merkt, eine der un­ter­hal­tends­ten Be­schäf­ti­gun­gen. Nie­mals habe ich über La­bi­che oder über Meil­hac so herz­lich la­chen müs­sen, wie über die pro­sa­i­sche Ko­mik so man­cher Gra­bin­schrif­ten. Wahr­lich, ihr In­halt ist zwerch­fel­ler­schüt­tern­der, als die Bü­cher Pauls de Kock, wenn er auch nur auf Mar­mor oder Sand­stein ge­schrie­ben ist.

 

Vor al­lem aber zieht es mich auf die­sem Kirch­hof im­mer nach dem ein­sam lie­gen­den lee­ren Teil, der mit Cy­pres­sen und Ta­xus be­wach­sen ist; dem al­ten Quar­tier der To­ten, das nun bald wie­der neu­be­setzt sein wird, nach­dem man die mit mensch­li­chen Kör­pern ge­nähr­ten Bäu­me nie­der­ge­hau­en hat, um fri­sche Lei­chen un­ter klei­nen Mar­mor­stei­nen der Rei­he nach hier zu bet­ten.

Als ich hier eine Zeit lang ge­weilt und mei­nen Geist wie­der er­frischt hat­te, fühl­te ich das Be­dürf­nis nach et­was An­de­rem und dach­te mir, es sei Zeit, die letz­te Stät­te mei­ner klei­nen Freun­din auf­zu­su­chen. Als ich nahe bei dem Gra­be war, fühl­te ich doch einen Stich im Her­zen. Arme Klei­ne! Sie war so lieb und gut, so duf­tig und frisch … und jetzt! … wenn man das da öff­nen wür­de! …

An das Git­ter ge­lehnt klag­te ich ihr ganz lei­se mein Leid, moch­te sie es ver­ste­hen oder nicht. Schon woll­te ich hier­auf wie­der ge­hen, als ich eine schwarz­ge­klei­de­te Dame be­merk­te, die in tiefer Trau­er an dem nächs­ten Gra­be knie­te. Ihr zu­rück­ge­schla­ge­ner Crê­pe­schlei­er ließ mich einen hüb­schen Blond­kopf ent­de­cken, des­sen Haa­re sich dem nächt­li­chen Schwarz ih­rer Toi­let­te ge­gen­über wie ein Schim­mer des Mor­gen­rots aus­nah­men. Ich blieb noch.

Sie war sicht­lich von tie­fem Kum­mer be­drückt. Das Ge­sicht in den Hän­den be­gra­ben, starr wie eine Bild­säu­le, ganz ver­sun­ken in ih­rem Schmerz, schi­en sie an ih­ren ge­schlos­se­nen und mit den Hän­den be­deck­ten Au­gen eine gan­ze Rei­he qual­vol­ler Erin­ne­run­gen vor­über­zie­hen zu las­sen. Sie selbst glich ei­ner To­ten, die an einen To­ten denkt. Dann er­riet ich plötz­lich, dass sie zu wei­nen be­gann, und zwar er­riet ich es an ei­ner klei­nen Be­we­gung ih­res Rückens, die dem Säu­seln des Win­des in ei­ner Trau­er­wei­de glich. Zu­erst wein­te sie lei­se, dann stär­ker, mit hef­ti­ger Er­schüt­te­rung von Hals und Schul­tern. Sch­liess­lich nahm sie die Hän­de vom Ge­sicht; ihre glän­zen­den Au­gen, wel­che voll Trä­nen wa­ren, ließ sie ei­ner Ir­ren gleich um­her­schwei­fen, wie wenn sie aus ei­nem tie­fen Trau­me er­wach­te. Sie sah, dass ich sie be­ob­ach­te­te und schi­en sich zu schä­men, denn sie ver­barg aufs neue ihr Ge­sicht in den Hän­den. Ihr Schluch­zen wur­de jetzt krampf­haft, und sie neig­te das Haupt auf den kal­ten Mar­mor. Wie sie so ihre Stir­ne dar­an lehn­te und der zu­rück­ge­schla­ge­ne um ih­ren Ober­kör­per wal­len­de Schlei­er die wei­ßen Kan­ten des Grab­mals be­deck­te, sah die­ses aus, als wäre es mit ei­nem neu­en Trau­er­flor um­wun­den. Ich hör­te sie plötz­lich seuf­zen; dann sank sie zu­sam­men und blieb mit dem Ge­sicht auf dem Stein re­gungs­los und ohne Be­wusst­sein lie­gen.


Ich stürz­te zu ihr hin, rieb ihr die Hän­de, hauch­te ihr ins Ge­sicht und las zu­gleich die ein­fa­che Grab­schrift: »Hier ruht Lud­wig Theo­dor Car­rel, Ka­pi­tän der Ma­ri­ne-In­fan­te­rie; er fiel vor dem Fein­de in Ton­kin. Be­tet für ihn.«

Die­ser To­des­fall hat­te sich ei­ni­ge Mo­na­te vor­her zu­ge­tra­gen, wie mir jetzt wie­der ein­fiel. Ich war zu Trä­nen ge­rührt und ver­dop­pel­te mei­ne Be­mü­hun­gen, die schliess­lich auch von Er­folg be­glei­tet wa­ren; sie kam wie­der zu sich. Ich war sehr be­wegt -- bei mei­nen vier­zig Jah­ren habe ich noch ein wei­ches Herz. -- Bei ih­rem ers­ten Au­gen­auf­schlag be­merk­te ich, dass sie mir dank­bar sein wür­de. Sie äus­ser­te denn auch ihre Er­kennt­lich­keit un­ter neu­en Trä­nen­strö­men und er­zähl­te mir stück­wei­se, von häu­fi­gem Schluch­zen un­ter­bro­chen, ihre Ge­schich­te. Der Ka­pi­tän war nach dem ers­ten Jah­re ih­rer Ehe in Ton­kin ge­fal­len; er hat­te sie, die el­tern­lo­se Wai­se, aus Lie­be ge­hei­ra­tet, denn sie be­sass kaum ge­nug, um die vor­ge­schrie­be­ne Kau­ti­on stel­len zu kön­nen.

Ich trös­te­te und be­ru­hig­te sie, ich stütz­te sie und hob sie schliess­lich vom Bo­den auf.

»Blei­ben Sie nicht län­ger hier; kom­men Sie!« sag­te ich dann.

»Ich kann kaum einen Schritt ge­hen«, mur­mel­te sie.

»Ich wer­de Sie stüt­zen.«

»Dan­ke, mein Herr! Sie sind sehr gü­tig. Auch Sie woll­ten ge­wiss einen To­ten hier be­wei­nen?«

»Ja­wohl, Ma­da­me!«

»Eine Tote?«

»Ja, Ma­da­me!«

»Ihre Gat­tin?«

»Nein, eine Freun­din.«

»Man kann eine Freun­din eben­so sehr lie­ben, wie eine Frau; die Nei­gung kennt kein Ge­bot.«

»Das ist wahr, Ma­da­me!«

So gin­gen wir zu­sam­men fort, wo­bei sie sich auf mich stütz­te; in­des­sen trug ich sie mehr über die Wege des Fried­ho­fes, als dass ich sie führ­te. Als wir draus­sen wa­ren, über­fiel sie die Schwä­che von Neu­em.

»Ich fürch­te, mir wird ganz schlecht«, mur­mel­te sie.

»Wol­len Sie ir­gend­wo her­ein­ge­hen und et­was zu sich neh­men?«

»Ach ja, mein Herr!«

Ich be­merk­te in der Nähe ei­nes je­ner Re­stau­rants, wo sich die Leid­tra­gen­den nach be­en­de­tem Be­gräb­nis zu stär­ken pfle­gen. Wir tra­ten ein und ich ließ ihr eine Tas­se heis­sen Tee ge­ben, der sie sicht­lich zu er­qui­cken schi­en; ein flüch­ti­ges Lä­cheln glitt über ihre Lip­pen. Sie sprach mir von ih­rem Le­ben. Es sei so trau­rig, so un­säg­lich trau­rig, ganz al­lein im Le­ben zu ste­hen, ganz al­lein zu woh­nen bei Tag und Nacht, Nie­man­den mehr zu ha­ben, dem man Zärt­lich­keit, Lie­be und Ver­trau­en schen­ken kön­ne.

Das al­les klang so na­tür­lich, so lieb­lich ge­ra­de­zu aus ih­rem Mun­de. Mir wur­de or­dent­lich warm ums Herz. Sie war noch sehr jung, zwan­zig Jah­re viel­leicht. Ich mach­te ihr ei­ni­ge höf­li­che Re­dens­ar­ten, die sie gern an­zu­neh­men schi­en. Dann schlug ich ihr nach Ver­lauf ei­ner Stun­de vor, sie in ei­nem Wa­gen nach Hau­se zu brin­gen, wor­auf sie dank­bar ein­ging. Im Fia­ker sas­sen wir so dicht ne­ben ein­an­der, Schul­ter an Schul­ter, dass ich ihre Kör­per­wär­me durch mei­ne Klei­der hin­durch fühl­te; die sinn­ver­wir­rends­te Emp­fin­dung üb­ri­gens, die ich ken­ne.

Als der Wa­gen vor ih­rem Hau­se hielt, sag­te sie mit schwa­cher Stim­me:

»Ich kom­me al­lei­ne nicht die Trep­pe her­auf, denn ich woh­ne im vier­ten Stock. Sie wa­ren schon so gut; wol­len Sie mich noch bis an mei­ne Tür füh­ren?«

Wer war dazu be­rei­ter wie ich? Sie ging lang­sam, fast bei je­dem Schritt schwer auf­at­mend. Dann sag­te sie, als wir vor ih­rer Tür an­ge­langt wa­ren:

»Tre­ten Sie doch einen Au­gen­blick ein, da­mit ich Ih­nen dan­ken kann.«

Und mei­ner Seel! ich zö­ger­te nicht lan­ge.

Ihre Ein­rich­tung war be­schei­den, so­gar ein we­nig ärm­lich, aber sau­ber und ge­schmack­voll.

Wir setz­ten uns ne­ben­ein­an­der aufs So­pha, und sie sprach aufs Neue von ih­rem ein­sa­men trost­lo­sen Le­ben.

Sie schell­te ih­rem Mäd­chen, um mir et­was zu trin­ken zu be­stel­len; aber es kam nie­mand. Mir war das sehr an­ge­nehm, denn ich sag­te mir, dass die­ses Mäd­chen sie nur des Mor­gens be­dien­te: was man so eine Zu­ge­he­rin nennt.

Sie hat­te ih­ren Hut ab­ge­nom­men und sah wirk­lich al­ler­liebst aus, als sie jetzt ih­ren Blick auf mich rich­te­te. Die­se Au­gen sa­hen mich so scharf, so durch­drin­gend an, dass ich der Ver­su­chung, die ich plötz­lich emp­fand, nach­gab und sie mit bei­den Ar­men um­fing, wäh­rend ich Kuss um Kuss auf ihre jetzt ge­schlos­se­nen Au­gen­li­der drück­te. Ich konn­te mich gar­nicht satt küs­sen, so hat­te der Blick mich be­zau­bert.

Sie wehr­te sich nach Kräf­ten und such­te mich zu­rück­zu­stos­sen, in­dem sie fort­wäh­rend rief:

»Hö­ren Sie auf … ma­chen Sie ein Ende … ma­chen Sie doch ein Ende.«

Was woll­te sie da­mit sa­gen? In ähn­li­chen Fäl­len we­nigs­tens kann das Wort »ein Ende ma­chen« einen dop­pel­ten Sinn ha­ben. Um sie zum Schwei­gen zu brin­gen, drück­te ich jetzt mei­ne Küs­se auf ih­ren Mund, und gab so ih­rem Rufe die Deu­tung, die mir an­ge­neh­mer war. Sie sträub­te sich nicht gar zu sehr, und als wir uns nach die­ser son­der­ba­ren Art, das An­den­ken des in Ton­kin ge­fal­le­nen Ka­pi­täns zu eh­ren, wie­der an­sa­hen, sprach aus ih­ren Au­gen eine hin­ster­ben­de, wi­der­stands­lo­se Zärt­lich­keit, wel­che mei­ne Be­sorg­nis­se zer­streu­te.