Einige Minuten später hörte man schon, wie er sich am Brunnen im Hofe den Kopf wusch; und als er bald darauf mit dem Wagen erschien, war er wieder ganz nüchtern.
Man fuhr in derselben Weise fort wie tags zuvor, und der kleine Schimmel bewegte sich in demselben lebhaften und schaukelnden Tempo.
Trotz der warmen Sonne erwachte jetzt die während des Mahles gedämpft gewesene Munterkeit. Den Mädchen machten jetzt die Sprünge des Wagens Freude, sie stiessen selbst an die Stühle ihrer Nachbarinnen, und brachen bei der Erinnerung an Rivet’s vergebliche Anstrengungen jedes Mal wieder in ein lautes Gelächter aus.
Auf den Fluren lag eine Luft, die zur Ausgelassenheit reizte, eine Luft, die einem vor den Augen tanzte; unter den Rädern stiegen zwei mächtige Staubwolken hervor, die lange Zeit hinter dem Wagen herliefen, wie zwei übermütige Clowns.
Fernande, eine große Musikfreundin, bat plötzlich Rosa, etwas zu singen; diese ließ sich das nicht zweimal sagen und wollte eben das Lied: »Der dicke Pfarrer von Meudon« anstimmen, als Madame ihr sofort Schweigen gebot. Sie hielt den Text des Liedes für den heutigen Tag nicht passend und sagte: »Sing uns lieber etwas von Beranger.« -- Rosa sann einen Augenblick nach und hob dann mit ihrer etwas verrosteten Stimme die »Großmutter« an:
Großmütterchen hatte am Namensfest kaum
Zwei Schlückchen vom Wein nur genippt;
Da sprach sie und nickt mit dem Kopf wie im Traum:
»Wie hab’ ich doch einst viel geliebt!
Doch verdorrt ist der Arm,
So rosig und warm:
Und verwelkt ist das Herz,
Nur geblieben der Schmerz.«
Und von Madame selbst geleitet, fiel der Chorus der Mädchen ein:
»Doch verdorrt ist der Arm,
So rosig und warm;
Und verwelkt ist das Herz,
Nur geblieben der Schmerz.«
»Herrlich! prächtig!« rief Rivet, den der Schlussvers hingerissen hatte; Rosa fuhr indessen fort:
Wie? Mütterchen! also auch Du warst nicht brav?
»Nein, Kindchen, nicht einmal im Schlaf.
Wie konnt’ es auch sein, denn mit fünfzehn Jahren,
Da hatt’ ich genug von der Lieb’ schon erfahren.«
Alle zusammen gröhlten den Refrain, und Rivet trat mit dem Fusse auf der Deichsel den Takt und schlug ihn gleichzeitig mit den Zügeln auf dem Rücken des Schimmels. Dieser war selbst gleichsam von der Melodie des Liedes angefeuert und setzte sich in flotten Galopp, in Folge dessen die Damen von ihren Sitzen flogen und sich in einem bunten Haufen auf dem Boden des Wagens wälzten.
Sie erhoben sich unter ausgelassenem Gelächter und brüllten von Neuem aus vollem Halse ihr Lied übers Feld, auf dessen reifende Früchte die Sonne ihre sengenden Strahlen sandte. Der Schimmel nahm bei jeder Wiederholung einen neuen Galopp-Anlauf, was den Insassen des Gefährtes eine unbändige Freude machte.
Hin und wieder wandte sich ein Steinklopfer nach ihnen um und betrachtete durch das Drahtnetz seiner Schutzbrille dieses heulende Fahrzeug, das durch den wirbelnden Staub dahinraste.
Der Tischler war sehr unzufrieden, als man in die Nähe des Bahnhofes kam.
»Schade, dass Ihr fortmüsst« sagte er, »wir hätten uns herrlich amüsiert.«
»Jedes Ding zu seiner Zeit,« antwortete Madame überlegen »man kann sich nicht immer nur amüsieren.«
Da kam Rivet auf eine gute Idee: »Höre, ich werde Euch nächsten Monat in Fecamp besuchen« sagte er, Rosa mit einem verzehrenden Blick und listigem Blinzeln anschauend.
»Gut« sagte Madame, »man muss vernünftig sein. Du kannst kommen, wenn Du willst, aber Du darfst keine Dummheiten machen.«
Er antwortete nicht und begann jede Einzelne aus der Gesellschaft zu umarmen, als man von Weitem den Zug herannahen hörte. Bei Rosa angekommen, suchte er deren Mund zu erwischen, den diese ihm jedes Mal, hinter ihren geschlossenen Zähnen lachend, durch eine schnelle Wendung entzog. Er hielt sie zwar in seinen Armen, aber er kam nicht zum Ziel, weil ihn seine große Peitsche hinderte, die er in der Hand hielt, und mit der er hinter ihrem Rücken bei seinen vergeblichen Versuchen die sonderbarsten Figuren beschrieb.
»Nach Rouen einsteigen!« rief der Portier; so mussten sie sich trennen.
Die kleine Pfeife des Zugführers schrillte vom Perron und gleich darauf ertönte der laute Pfiff der Lokomotive, die dann sofort ihre erste Dampfwolke in die Luft stiess, während die Räder unter kreischendem Geräusch ein wenig anzogen.
Rivet verliess das Innere des Bahnhofes und lief an die Schranke, um Rosa noch einmal zu sehen, und als der Wagen mit seiner menschlichen Last an ihm vorbeifuhr, knallte er mit der Peitsche und hüpfte umher, dabei aus Leibeskräften singend:
»Doch verdorrt ist der Arm
So rosig und warm,
Und verwelkt ist das Herz,
Nur geblieben der Schmerz.«
Dann sah er eine weiße Rauchwolke in der Ferne langsam verschwinden.
Sie schliefen bis zur Ankunft in Fecamps den sanften Schlaf eines befriedigten Gemütes, und als sie in die Wohnung traten, erfrischt und ausgeruht für ihr tägliches Abendgeschäft, konnte Madame sich nicht enthalten zu sagen:
»Einerlei; ich sehnte mich doch schon nach Hause.«
Schnell wurde zu Abend gegessen, das gewöhnliche Arbeitskostüm angelegt und dann auf die gewohnten Stammgäste gewartet; die kleine Laterne brannte wieder hinter ihrem Gitter und verkündete den Passanten, dass die Gesellschaft im Hause ihre Tätigkeit wieder aufgenommen habe.
Wie der Blitz hatte sich die Nachricht von ihrer Rückkehr verbreitet; kein Mensch wusste wie und durch wen. Herr Philippe, der Bankierssohn, hatte sogar die Liebenswürdigkeit, durch ein besonderes Billet den an seine Familie gefesselten Herrn Tournevau davon zu verständigen.
Der Fischhändler hatte gerade, wie jeden Sonntag, mehrere Vettern zum Essen bei sich, und man nahm eben den Kaffee, als ein Mann mit einem Brief in der Hand hereingeführt wurde. Hastig erbrach Herr Tournevau den Umschlag und erbleichte, als er die nur mit Bleistift gekritzelten Worte las: »Kabeljau-Ladung wiedergefunden; Schiff im Hafen eingelaufen; gutes Geschäft für Sie. Kommen Sie schnell.«
Er griff in die Tasche, reichte dem Boten zwanzig Centimes und sagte heftig errötend: »Es hilft nichts, ich muss gehen.« Während seine Gattin das geheimnisvolle lakonische Billet las, schellte er und rief der eintretenden Dienerin zu: »Meinen Überzieher und Hut, aber schnell!« Kaum auf der Strasse, rannte er im Sturmschritt davon, und der Weg kam ihm in seiner Ungeduld noch zweimal so lang vor.
Das Haus Tellier trug ein festliches Gepräge. Im Erdgeschoss widerhallten die lärmenden Stimmen der Hafenleute, die einen wüsten Spektakel aufführten. Louise und Flora wussten nicht wem sie zuerst antworten sollten, tranken mit jedermann, und verdienten mehr, als bisher jemals die »zwei Feuerspritzen« erworben hatten. Man rief von allen Seiten zugleich nach ihnen; sie hätten zwanzig Hände zugleich haben mögen und sahen voraus, dass es für sie eine böse Nacht geben würde.
Im Salon des ersten Stockes war es seit neun Uhr sehr still geworden. Herr Vasse, der Handelsrichter, Madames platonischer Liebhaber, plauderte mit dieser ganz leise in einem Winkel. Herr Poulin, der ehemalige Maire, hatte Rosa auf dem Schosse die, dicht an ihn geschmiegt, mit ihren kurzen fetten Händchen die weißen Koteletten des wackeren Mannes streichelte. Zwischen ihren Strümpfen, welche durch die blauen Bänder, das Geschenk des Handlungsreisenden, befestigt waren, und dem schwarzen Spitzenbesatz ihrer Pantalons, die unter dem etwas verschobenen Kleiderrocke hervorsahen, zeigte sich ein Streifen ihrer blossen Haut.
Die große Fernande lag auf dem Sopha und ließ ihre Füsse auf dem Schosse des Einnehmers, Herrn Pimpesse, ruhen, während sie sich mit dem Rücken an die Brust des jungen Herrn Philippe lehnte, dem sie mit der Rechten den Kopf kraute; indess die Linke eine Zigarette hielt.
Raphaële schien eifrige Verhandlungen mit Herrn Dupuis, dem Versicherungs-Agenten, zu führen, die sie mit den Worten beendete: »Jawohl, mein Schatz; heute Abend bin ich gern bereit.« Dann machte sie allein eine rasende Walzertour durch den Salon und rief: »Heute Abend alles, was man will!«
Plötzlich wurde hastig die Tür aufgerissen und Herr Tournevau trat ein.
»Hoch Tournevau!« rief alles begeistert. Raphaële, die sich noch im Walzer wiegte, sank an seine Brust und er riss sie stürmisch an sich. Dann hob er sie, ohne ein Wort zu sagen, wie eine Feder vom Boden auf, trug sie quer durch den Salon, öffnete die Türe im Hintergrund und betrat mit seiner lebendigen Last die Treppe, die zu den Zimmern führte, gefolgt von einem rasenden Beifallsjubel.
Rosa, die den ehemaligen Maire in Flammen setzte, indem sie ihn alle Augenblicke küsste und zugleich seine beiden Koteletten streichelte, nahm sich ein Beispiel hieran. »Komm, mach es ebenso« sagte sie. Schliesslich erhob sich der Brave und, indem er seine Kleider ordnete, folgte er dem Mädchen, dabei mit der Rechten in die Tasche fahrend, wo er sein Geld verwahrte.
Fernande und Madame blieben mit den vier anderen Herren allein, und Herr Philippe rief:
»Ich gebe Sekt; lassen Sie drei Flaschen holen, Madame Tellier!«
Fernande nahm ihn bei Seite und flüsterte ihm ins Ohr: »Spiel’ uns einen Tanz, willst Du?«
Er erhob sich und setzte sich an das alte Spinett, das in einem Winkel ruhte und entlockte demselben einen heiser klingenden, klagenden Walzer. Das große Mädchen engagierte den Einnehmer, Madame ergriff den Arm des Herrn Vasse, und die beiden Paare walzten herum unter lebhaftem Küssen. Herr Vasse, der vor Zeiten mal in der Welt getanzt hatte, machte seine Sache vortrefflich und Madame sah ihn mit trunkenem Blicke an, jenem Blicke, der »ja« sagt; ein »ja«, das viel diskreter und köstlicher ist als ein Wort!
Friedrich brachte den Sekt und nach dem ersten Glase schlug Herr Philippe eine Quadrille vor.
Die zwei Paare führten dieselbe ganz in der üblichen Weise aus, steif und feierlich, mit allen Bewegungen, Neigungen und Komplimenten; worauf man sich wieder zur Flasche setzte.
Da erschien plötzlich Herr Tournevau wieder, strahlend in angenehmer Erschlaffung. »Weiß der Teufel, was das Mädchen, die Raphaële, hat, aber sie ist heute entzückend!« Er trank ein dargebotenes Glas Sekt auf einen Zug aus, indem er murmelte: »Kuckuck auch! So ein Luxus!«
Herr Philippe begann auf der Stelle eine Polka und Herr Tournevau schwenkte die schöne Jüdin herum, welche er hoch in der Luft hielt, sodass ihre Füsse immer über dem Boden schwebten. Auch Herr Pimpesse und Herr Vasse waren mit neuem Eifer losgestürzt. Von Zeit zu Zeit machte ein Paar am Kamine Halt und pfiff schnell ein Glas Sekt.
Der Tanz schien kein Ende nehmen zu wollen, als Rosa mit einem Leuchter in der Hand die Tür öffnete. Sie trug das Haar lose, und war nur in Hemd und Hausschuhen; dabei machte sie einen sehr zufriedenen, wenn auch etwas mitgenommenen Eindruck.
»Ich will tanzen!« rief sie.
»Und Dein Alter?« fragte Raphaële.
Rosa lachte: »Der? Der schläft schon; er schläft immer gleich ein.«
Sie holte sich Herrn Dupuis, der allein auf dem Sopha geblieben war und die Polka begann von Neuem.
Als die Flaschen leer waren, sagte Herr Tournevau: »Ich zahle noch eine!«
»Und ich auch!« riefen Herr Vasse und Herr Dupuis wie aus einem Munde. Alles klatschte Beifall.
Es entwickelte sich nun ein regelrechter Ball. Von Zeit zu Zeit kamen auch Louise und Flora schnell herauf, tanzten in Eile einmal herum und schlürften ein Glas Sekt, während unten die Gäste vor Ungeduld vergingen. Dann stürzten sie wieder ins Café herunter, nicht ohne einen traurigen Seufzer auszustossen.
Um Mitternacht tanzte man immer noch. Zuweilen verschwand eines der Mädchen, und wenn man sie suchte, um ein Gegenüber zu haben, bemerkte man plötzlich, dass auch einer der Herren fehlte.
»Wo kommen Sie nur her?« fragte scherzend Herr Philippe, als Herr Pimpesse und Fernande gerade wieder eintraten.
»Wir besahen uns den schlafenden Herrn Poulin«, antwortete der Einnehmer.
Das Wort hatte eine kolossale Wirkung: Alle gingen hintereinander mit einem der Mädchen, die heute aussergewöhnlich lustig waren, herauf, »um den schlafenden Herrn Poulin zu sehen.« Madame drückte heute ein Auge zu; sie hatte in der Ecke wieder ein langes Gespräch mit Herrn Vasse, um die letzten Punkte einer Angelegenheit zu ordnen, die schon so gut wie abgemacht war.
Endlich um ein Uhr erklärten die beiden Ehemänner, Herr Tournevau und Herr Pimpesse, dass sie fort müssten und zahlen wollten. Madame nahm nur Geld für den Champagner an und rechnete noch dazu die Flasche nur mit sechs Franks, statt der gewöhnlichen zehn Franks. Und als man allseitig diese Großmut bewunderte, sagte sie mit lustigem Lachen:
»Es ist nicht alle Tage Kirchweih!«
*
Die fünf Freunde waren mit ihrem Diner zu Ende. Es waren fünf in den besten Jahren stehende Männer aus der guten Gesellschaft. Drei von ihnen waren verheiratet, während die zwei übrigen dem Junggesellenstande angehörten. Jeden Monat kamen sie einmal in dieser Weise zusammen, um die Erinnerung an ihre Jugendzeit zu feiern und nach dem heiteren Mahle noch unter freundschaftlichem Geplauder bis in die Morgenstunde hinein zu verweilen. Man sprach über dies und Jenes, über alles, was Paris beschäftigt und amüsiert; man trieb es hier nicht anders, wie in den meisten Pariser Salons, wo die Unterhaltung weiter Nichts ist, wie eine mündliche Wiedergabe dessen, was man in den Morgenblättern gelesen hat.
Einer dieser Lustigsten unter ihnen war Joseph de Bardon, ein Junggeselle, der das Pariser Leben so vollständig und vielseitig wie möglich auskostete. Er war weder ein Schwelger, noch ein Wüstling, aber er hatte den Wunsch, alles zu kennen, was das Leben bot; und diese Art von Genuss bereitete ihm eine wirkliche Freude. Seine vierzig Jahre erlaubten ihm das übrigens auch. Ein Weltmann im weitesten und besten Sinne des Wortes, besass er viel Witz ohne besondere Geistestiefe, viele Kenntnisse ohne gründliche Bildung, eine schnelle Auffassungsgabe ohne besonderen Hang zum Studium; er wusste das, was er bei allen seinen Abenteuern und Erlebnissen sah und beobachtete, so hübsch zu scherzhaften und gleichzeitig tiefsinnigen Anekdoten zu verwerten und seine Betrachtungen daran zu knüpfen, dass ihm in der ganzen Stadt der Ruf eines geistreichen Menschen gezollt wurde.
Bei ihren gemeinschaftlichen Diners war er stets der Festredner. Er hatte immer etwas in Bereitschaft und auf irgend eine neue Geschichte konnte man stets bei ihm zählen. Er gab sie zum Besten, ohne sich lange bitten zu lassen.
Eine Zigarrette rauchend, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, auf dem vor ihm ein halbvolles Glas »fine Champagne« stand, und mit Behagen den Duft einziehend, welcher sich aus dem aromatischen Tabak im Verein mit dem dampfenden Kaffee entwickelte, schien er ganz in sich gekehrt, wie es einzelne Personen an gewissen Orten und zu gewissen Zeiten zu sein pflegen.
Zwei Rauchwolken von sich blasend, sagte er dann nach einigen Minuten dieses brütenden Schweigens:
»Mir ist vor einiger Zeit eine seltsame Geschichte passiert.«
»Erzähle!« tönte es gleichzeitig aus aller Munde.
»Sehr gern«, entgegnete er. »Ihr wisst, dass ich sehr viel in Paris herumspaziere, wie die Raritätensammler, welche alle Schaufenster und Läden durchstöbern. Mich interessiert alles, die Leute, das Gedränge, kurz alles, was an mir vorübergeht und alles, was um mich herum vorgeht.
Schön! Eines Tages, Mitte September, verliess ich, angelockt durch das herrliche Wetter, meine Wohnung, und schlenderte zunächst planlos durch die Strassen. Man hat stets das unbestimmte Bedürfnis, irgend einer hübschen Dame seinen Besuch zu machen. Man durchstöbert im Geiste die ganze Reihe seiner Bekannten, vergleicht den Reiz der einen und das Interesse, welches sie uns einflösst, mit den Eigenschaften der Andren, und entscheidet sich schliesslich je nach der Laune, die man an diesem Tage gerade hat. Aber wenn die Sonne so herrlich scheint und die Luft so milde ist, vergeht einem manchmal die Lust zu jedem Besuche.
So ging es auch mir damals, und ich zündete mir eine Zigarre an, um stumpfsinnig dem äusseren Boulevard zuzustreben. Dann kam mir, als ich dort spazieren ging, plötzlich der Gedanke, den Kirchhof auf dem Montmartre zu besuchen.
Ich gehe gern auf einen Kirchhof; es bringt mir das eine gewisse melancholische Ruhe, der ich zuweilen bedarf. Und dann hat man ja auch so manchen guten Freund da, den man im Leben nicht wiedersieht. Warum sollte ich also nicht zuweilen dahin gehen?
Und gerade auf den Kirchhof Montmartre zieht mich immer eine alte Herzensgeschichte. Dort ruht eine Freundin von mir, die mich viel gequält und viel geliebt hat, ein reizendes kleines Frauchen, an die ich oft mit Verdruss, oft aber auch mit Bedauern … ja mit großem Bedauern … zurückdenke … Da gehe ich dann, um an ihrem Grabe zu träumen … Sie hat nun ausgelitten!
Ich liebe auch die Kirchhöfe, weil sie mir immer wie große dichtbevölkerte Städte vorkommen. Denken Sie nur, wie viel Tote auf diesem engen Raume bei einander liegen, denken Sie nur an all’ die Generationen von Parisern, die dort wohnen, für immer wohnen, richtige Höhlenbewohner, die in ihren kleinen Höhlen da eingeschlossen sind, in ihren kleinen durch einen Stein oder ein Kreuz bezeichneten Löchern hausen, während die Lebenden, diese Toren, so viel Raum einnehmen und so viel Geräusch von sich machen.
Ausserdem gibt es noch auf den Kirchhöfen ebenso interessante Denkmäler wie in den besten Museen. Das Grabmal Cavaignac’s gibt mir schon Stoff zum Nachdenken, ohne es mit dem Meisterwerke Jean Goujon’s vergleichen zu wollen: Dem Bilde Ludwigs de Brezé, der in der unterirdischen Kapelle der Kathedrale von Rouen begraben liegt. All’ unsere sogenannte moderne und realistische Kunstrichtung, meine Herren, stammt von daher. Dieser tote Ludwig de Brezé ist wahrheitsgetreuer, grausenerregender, in seiner Leblosigkeit verkörperter, durch den Tod verzerrter, als alle die erkünstelten Leichname, die man jetzt auf die Grabdenkmäler meiselt.
Aber auf dem Kirchhof Montmartre kann man auch noch das großartige Denkmal Baudin’s bewundern, ferner dasjenige Gauthier’s und dasjenige Mürger’s; auf letzterem bemerkte ich eines Tages einen armseligen Kranz aus verblichenen Immortellen. Wer mochte ihn gebracht haben? Vielleicht die letzte Grisette, die jetzt, alt und runzelig, irgendwo in der Nähe als Türschliesserin ihr Leben fristete. Das Ganze ist eine Statuette, das Werk Millet’s, an dem aber Schmutz und Vernachlässigung ihr Zerstörungswerk verrichten. O Jugendlied, o Mürger!
Hier war ich nun, auf dem Kirchhof Montmartre, und plötzlich umfing mich Traurigkeit, jene Art von Traurigkeit, die einem nicht gerade wehe tut, sondern die uns mehr zum Nachdenken stimmt und bei der wir uns sagen, wenn es uns noch wohl geht: »Das ist kein heiterer Ort hier, aber der Augenblick für mich ist noch nicht gekommen …«
Die herbstliche Stimmung, jene laue Feuchtigkeit, welche das Absterben der Blätter ankündigt, und die abnehmende Kraft der Sonnenstrahlen, die an zunehmende Schwäche und schwindendes Leben erinnert, vermehrten in mir das Gefühl der Einsamkeit und die Vorahnung vom Ende aller Dinge, welche diesen Ort umschweben. Es war, als hörte man von Weitem die Schwingen des Todes rauschen.
Langsam schritt ich durch diese Gräberstrassen, wo der Nachbar die Nachbarin nicht kennt, wo jeder für sich schläft und niemand mehr eine Zeitung liest. Ich begann die Grabinschriften zu studieren. Das ist, nebenbei bemerkt, eine der unterhaltendsten Beschäftigungen. Niemals habe ich über Labiche oder über Meilhac so herzlich lachen müssen, wie über die prosaische Komik so mancher Grabinschriften. Wahrlich, ihr Inhalt ist zwerchfellerschütternder, als die Bücher Pauls de Kock, wenn er auch nur auf Marmor oder Sandstein geschrieben ist.
Vor allem aber zieht es mich auf diesem Kirchhof immer nach dem einsam liegenden leeren Teil, der mit Cypressen und Taxus bewachsen ist; dem alten Quartier der Toten, das nun bald wieder neubesetzt sein wird, nachdem man die mit menschlichen Körpern genährten Bäume niedergehauen hat, um frische Leichen unter kleinen Marmorsteinen der Reihe nach hier zu betten.
Als ich hier eine Zeit lang geweilt und meinen Geist wieder erfrischt hatte, fühlte ich das Bedürfnis nach etwas Anderem und dachte mir, es sei Zeit, die letzte Stätte meiner kleinen Freundin aufzusuchen. Als ich nahe bei dem Grabe war, fühlte ich doch einen Stich im Herzen. Arme Kleine! Sie war so lieb und gut, so duftig und frisch … und jetzt! … wenn man das da öffnen würde! …
An das Gitter gelehnt klagte ich ihr ganz leise mein Leid, mochte sie es verstehen oder nicht. Schon wollte ich hierauf wieder gehen, als ich eine schwarzgekleidete Dame bemerkte, die in tiefer Trauer an dem nächsten Grabe kniete. Ihr zurückgeschlagener Crêpeschleier ließ mich einen hübschen Blondkopf entdecken, dessen Haare sich dem nächtlichen Schwarz ihrer Toilette gegenüber wie ein Schimmer des Morgenrots ausnahmen. Ich blieb noch.
Sie war sichtlich von tiefem Kummer bedrückt. Das Gesicht in den Händen begraben, starr wie eine Bildsäule, ganz versunken in ihrem Schmerz, schien sie an ihren geschlossenen und mit den Händen bedeckten Augen eine ganze Reihe qualvoller Erinnerungen vorüberziehen zu lassen. Sie selbst glich einer Toten, die an einen Toten denkt. Dann erriet ich plötzlich, dass sie zu weinen begann, und zwar erriet ich es an einer kleinen Bewegung ihres Rückens, die dem Säuseln des Windes in einer Trauerweide glich. Zuerst weinte sie leise, dann stärker, mit heftiger Erschütterung von Hals und Schultern. Schliesslich nahm sie die Hände vom Gesicht; ihre glänzenden Augen, welche voll Tränen waren, ließ sie einer Irren gleich umherschweifen, wie wenn sie aus einem tiefen Traume erwachte. Sie sah, dass ich sie beobachtete und schien sich zu schämen, denn sie verbarg aufs neue ihr Gesicht in den Händen. Ihr Schluchzen wurde jetzt krampfhaft, und sie neigte das Haupt auf den kalten Marmor. Wie sie so ihre Stirne daran lehnte und der zurückgeschlagene um ihren Oberkörper wallende Schleier die weißen Kanten des Grabmals bedeckte, sah dieses aus, als wäre es mit einem neuen Trauerflor umwunden. Ich hörte sie plötzlich seufzen; dann sank sie zusammen und blieb mit dem Gesicht auf dem Stein regungslos und ohne Bewusstsein liegen.
Ich stürzte zu ihr hin, rieb ihr die Hände, hauchte ihr ins Gesicht und las zugleich die einfache Grabschrift: »Hier ruht Ludwig Theodor Carrel, Kapitän der Marine-Infanterie; er fiel vor dem Feinde in Tonkin. Betet für ihn.«
Dieser Todesfall hatte sich einige Monate vorher zugetragen, wie mir jetzt wieder einfiel. Ich war zu Tränen gerührt und verdoppelte meine Bemühungen, die schliesslich auch von Erfolg begleitet waren; sie kam wieder zu sich. Ich war sehr bewegt -- bei meinen vierzig Jahren habe ich noch ein weiches Herz. -- Bei ihrem ersten Augenaufschlag bemerkte ich, dass sie mir dankbar sein würde. Sie äusserte denn auch ihre Erkenntlichkeit unter neuen Tränenströmen und erzählte mir stückweise, von häufigem Schluchzen unterbrochen, ihre Geschichte. Der Kapitän war nach dem ersten Jahre ihrer Ehe in Tonkin gefallen; er hatte sie, die elternlose Waise, aus Liebe geheiratet, denn sie besass kaum genug, um die vorgeschriebene Kaution stellen zu können.
Ich tröstete und beruhigte sie, ich stützte sie und hob sie schliesslich vom Boden auf.
»Bleiben Sie nicht länger hier; kommen Sie!« sagte ich dann.
»Ich kann kaum einen Schritt gehen«, murmelte sie.
»Ich werde Sie stützen.«
»Danke, mein Herr! Sie sind sehr gütig. Auch Sie wollten gewiss einen Toten hier beweinen?«
»Jawohl, Madame!«
»Eine Tote?«
»Ja, Madame!«
»Ihre Gattin?«
»Nein, eine Freundin.«
»Man kann eine Freundin ebenso sehr lieben, wie eine Frau; die Neigung kennt kein Gebot.«
»Das ist wahr, Madame!«
So gingen wir zusammen fort, wobei sie sich auf mich stützte; indessen trug ich sie mehr über die Wege des Friedhofes, als dass ich sie führte. Als wir draussen waren, überfiel sie die Schwäche von Neuem.
»Ich fürchte, mir wird ganz schlecht«, murmelte sie.
»Wollen Sie irgendwo hereingehen und etwas zu sich nehmen?«
»Ach ja, mein Herr!«
Ich bemerkte in der Nähe eines jener Restaurants, wo sich die Leidtragenden nach beendetem Begräbnis zu stärken pflegen. Wir traten ein und ich ließ ihr eine Tasse heissen Tee geben, der sie sichtlich zu erquicken schien; ein flüchtiges Lächeln glitt über ihre Lippen. Sie sprach mir von ihrem Leben. Es sei so traurig, so unsäglich traurig, ganz allein im Leben zu stehen, ganz allein zu wohnen bei Tag und Nacht, Niemanden mehr zu haben, dem man Zärtlichkeit, Liebe und Vertrauen schenken könne.
Das alles klang so natürlich, so lieblich geradezu aus ihrem Munde. Mir wurde ordentlich warm ums Herz. Sie war noch sehr jung, zwanzig Jahre vielleicht. Ich machte ihr einige höfliche Redensarten, die sie gern anzunehmen schien. Dann schlug ich ihr nach Verlauf einer Stunde vor, sie in einem Wagen nach Hause zu bringen, worauf sie dankbar einging. Im Fiaker sassen wir so dicht neben einander, Schulter an Schulter, dass ich ihre Körperwärme durch meine Kleider hindurch fühlte; die sinnverwirrendste Empfindung übrigens, die ich kenne.
Als der Wagen vor ihrem Hause hielt, sagte sie mit schwacher Stimme:
»Ich komme alleine nicht die Treppe herauf, denn ich wohne im vierten Stock. Sie waren schon so gut; wollen Sie mich noch bis an meine Tür führen?«
Wer war dazu bereiter wie ich? Sie ging langsam, fast bei jedem Schritt schwer aufatmend. Dann sagte sie, als wir vor ihrer Tür angelangt waren:
»Treten Sie doch einen Augenblick ein, damit ich Ihnen danken kann.«
Und meiner Seel! ich zögerte nicht lange.
Ihre Einrichtung war bescheiden, sogar ein wenig ärmlich, aber sauber und geschmackvoll.
Wir setzten uns nebeneinander aufs Sopha, und sie sprach aufs Neue von ihrem einsamen trostlosen Leben.
Sie schellte ihrem Mädchen, um mir etwas zu trinken zu bestellen; aber es kam niemand. Mir war das sehr angenehm, denn ich sagte mir, dass dieses Mädchen sie nur des Morgens bediente: was man so eine Zugeherin nennt.
Sie hatte ihren Hut abgenommen und sah wirklich allerliebst aus, als sie jetzt ihren Blick auf mich richtete. Diese Augen sahen mich so scharf, so durchdringend an, dass ich der Versuchung, die ich plötzlich empfand, nachgab und sie mit beiden Armen umfing, während ich Kuss um Kuss auf ihre jetzt geschlossenen Augenlider drückte. Ich konnte mich garnicht satt küssen, so hatte der Blick mich bezaubert.
Sie wehrte sich nach Kräften und suchte mich zurückzustossen, indem sie fortwährend rief:
»Hören Sie auf … machen Sie ein Ende … machen Sie doch ein Ende.«
Was wollte sie damit sagen? In ähnlichen Fällen wenigstens kann das Wort »ein Ende machen« einen doppelten Sinn haben. Um sie zum Schweigen zu bringen, drückte ich jetzt meine Küsse auf ihren Mund, und gab so ihrem Rufe die Deutung, die mir angenehmer war. Sie sträubte sich nicht gar zu sehr, und als wir uns nach dieser sonderbaren Art, das Andenken des in Tonkin gefallenen Kapitäns zu ehren, wieder ansahen, sprach aus ihren Augen eine hinsterbende, widerstandslose Zärtlichkeit, welche meine Besorgnisse zerstreute.