Durch sein Duell war Duroy in die Reihe der Leitartikelschreiber der Vie Française aufgerückt. Doch bereitete es ihm unendliche Mühe, eigene Ideen zu finden; so wählte er sich als Spezialität, gegen den Niedergang der Sitten, gegen die Entartung des Charakters, gegen das Nachlassen des Patriotismus und die Anämie des französischen Ehrgefühls zu donnern. (Das Wort Anämie war seine eigene Erfindung, auf die er sehr stolz war.)
Und wenn Madame de Marelle mit ihrem spöttischen, skeptischen und scharfen Witz, den man Pariser Esprit nennt, sich über seine Tiraden lustig machte und sie mit einem kurzen, vernichtenden Wort abtat, so antwortete er lächelnd:
»Damit bekomme ich einen guten Ruf für spätere Zeiten.«
Er wohnte jetzt in der Rue Constantinople, wohin er seine ganze Einrichtung, die aus einem Koffer, einer Bürste, dem Rasierzeug und der Seife bestand, transportiert hatte. Zwei- oder dreimal in der Woche besuchte ihn dort die junge Frau schon früh am Morgen, bevor er aufgestanden war, zog sich in einer Minute aus und glitt in sein Bett, zitternd vor der draußen herrschenden Kälte.
Duroy dagegen aß jeden Donnerstag abend bei ihr und machte dem Mann den Hof, indem er mit ihm über Landwirtschaft sprach. Und da er selbst auch wirklich das Leben auf dem Lande liebte, so vertieften sie sich häufig so sehr in ihre Unterhaltung, dass sie gar nicht mehr auf ihre gemeinsame Frau achteten, die auf dem Sofa schlummerte.
Auch Laurine schlief ein, bald auf dem Schoß ihres Vaters, bald auf dem Schoß des Bel-Ami.
Und wenn der Journalist gegangen war, dann bemerkte Herr de Marelle mit dem doktrinären Ernst, mit dem er jede Kleinigkeit behandelte:
»Dieser junge Mann ist wirklich sehr sympathisch. Er ist sehr gebildet.«
Der Februar ging zu Ende. Auf den Straßen duftete es bereits wieder nach Veilchen, wenn man morgens an den Karren der Blumenhändlerinnen vorbeikam.
Duroy lebte wie im wolkenlosen Himmel.
Aber eines Abends, als er nach Hause kam, fand er einen Brief mit dem Poststempel »Cannes« vor. Er öffnete ihn und las:
Cannes, Villa Jolie. »Mein lieber Freund! Sie sagten mir, nicht wahr, ich könnte mich unter allen Umständen auf Sie verlassen. Nun also: Ich muss heute einen sehr harten Dienst von Ihnen erbitten: nämlich mir beizustehen und mich in den letzten Stunden vor Charles’ Tode nicht allein zu lassen. Er liegt im Sterben, obgleich er noch aufsteht, aber seine Tage sind gezählt und der Arzt hat mich darauf vorbereitet, dass er kaum diese Woche überleben wird.
Ich habe nicht mehr die Kraft und den Mut, Tag und Nacht diesen Todeskampf mit anzusehen, und ich denke mit Entsetzen an die letzten Augenblicke, die immer näher rücken. Sie sind der einzige, den ich um einen solchen Dienst bitten kann, denn mein Mann hat keine Verwandten mehr. Er war Ihr Freund, er hat Ihnen den Weg zur Zeitung geöffnet. — Kommen Sie, ich bitte Sie darum. Seien Sie überzeugt, dass ich stets Ihre dankbare Freundin bleiben werde.
Madeleine Forestier.«
Ein eigenartiges Gefühl drang wie ein Lufthauch in Georges Herz. Es war ihm, als würde er frei, als täte sich die Welt weit vor ihm auf, und er murmelte: »Gewiss, ich gehe hin. Der arme Charles! Jeder von uns kommt mal an die Reihe.«
Der Chef, dem er von dem Brief der jungen Frau Mitteilung machte, gab brummig seine Einwilligung. Er wiederholte :
»Aber bitte kommen Sie bald zurück, Sie sind hier unentbehrlich.«
Georges Duroy gab dem Ehepaar Marelle durch ein Telegramm von seiner plötzlichen Abreise Kenntnis und fuhr am nächsten Abend um sieben Uhr mit dem Schnellzug nach Cannes. Tags darauf um vier Uhr traf er dort ein.
Ein Dienstmann führte ihn zur Villa Jolie. Sie lag auf halber Höhe in den von weißen Villen belebten Fichtenwäldern, die sich von Le Cannet bis zum Golf Juan hinziehen. Das Haus war klein und niedrig, im italienischen Stil erbaut. Es lag dicht an der Straße, die im Zickzack zwischen den Bäumen hinaufführte, und bei jeder Biegung öffnete sich die wundervollste Aussicht.
Der Diener öffnete die Tür und rief:
»Oh, mein Herr, Madame wartet voller Ungeduld auf Sie.«
Duroy fragte :
»Wie geht es Herrn Forestier?«
»Oh! Nicht gut, mein Herr, er wird nicht mehr lange leben.«
Der Salon, in den der junge Mann geführt wurde, hatte einen hellrosa persischen Stoffbezug mit blauen Verzierungen. Durch das breite, hohe Fenster sah man auf die Stadt und das Meer hinaus.
Duroy murmelte: »Donnerwetter! Ein herrliches Landhaus ist das hier. Wo, zum Teufel, nehmen sie das viele Geld her?«
Er hörte das Rauschen des Kleides und drehte sich um. Frau Forestier streckte ihm beide Hände entgegen:
»Wie lieb von Ihnen, dass Sie gekommen sind, wie lieb!«
Und plötzlich umarmte sie ihn. Dann blickten sie sich an. Sie war etwas blasser und magerer geworden, aber noch immer frisch, und ihr etwas schmaleres und noch zarteres Gesicht stand ihr sehr gut. Sie sagte leise:
»Es ist entsetzlich! Er fühlt, dass er verloren ist, und nun tyrannisiert er mich furchtbar. Ich habe ihm gesagt, dass Sie kommen würden. Wo ist Ihr Gepäck?«
»Ich habe es auf der Bahn gelassen, denn ich wusste nicht, welches Hotel Sie mir raten würden, um in Ihrer Nähe zu sein.«
Sie zauderte einen Moment, dann sagte sie:
»Sie wohnen hier in der Villa, Ihr Zimmer steht übrigens für Sie bereit. Er kann jeden Augenblick sterben, und wenn die Katastrophe nachts erfolgt, wäre ich ganz allein. Ich lasse Ihr Gepäck hierher bringen.«
Er sagte mit einer Verbeugung:
»Wie Sie befehlen!«
»Nun wollen wir hinaufgehen«, sagte sie.
Er folgte ihr, sie öffnete eine Tür im ersten Stock und Duroy sah im hellen, roten Schein der untergehenden. Sonne auf einem Lehnstuhl am Fenster eine Art Leichnam sitzen, der in Tücher eingewickelt war und ihn anstarrte. Er konnte ihn nicht erkennen, er erriet nur, dass es sein Freund sein müsste.
Das Zimmer roch nach Fieber und nach Arzneimitteln, Äther und Teer, dem ganzen, undefinierbaren, dumpfen Geruch einer Stube, wo ein Lungenkranker atmet.
Forestier erhob langsam und mühselig die Hand:
»Da bist du ja,« sagte er, »du kommst, um mich sterben zu sehen! Ich danke dir!«
Duroy zwang sich zu einem Lächeln.
»Dich sterben zu sehen, das wäre auch kein erfreulicher Anblick, diese Gelegenheit hätte ich nicht benutzt, um Cannes zu besuchen. Ich wollte dich nur begrüßen und mich ein bisschen erholen.«
Der andere murmelte:
»Setz dich.«
Und er ließ den Kopf sinken, als wäre er von verzweifelten Gedanken niedergedrückt.
Sein Atem ging schnell und gepresst, und manchmal stieß er einen Seufzer aus, als ob er fühlbar machen wollte, wie krank er wäre.
Seine Frau sah, dass er nicht mehr sprechen würde; sie lehnte sich an das Fenster, wies mit einer Kopfbewegung nach dem Horizont und sagte:
»Schauen Sie, ist das nicht herrlich?«
Der von Villen verdeckte Bergabhang senkte sich vor ihnen bis zur Stadt hinunter, die im Halbkreis die Bucht umgab, rechts vom Hafen mit der Altstadt, über der ein alter Wartturm thronte, bis links zur Landspitze de la Croisette gegenüber den Inseln von Lerins; diese Inseln waren wie zwei grüne Flecke, die auf dem tiefblauen Wasser schwammen, und von oben gesehen, schienen sie flach zu sein wie zwei riesige Blätter.
Und ganz in der Ferne, jenseits der Bucht und des alten Turmes, zeichnete sich auf dem flammend roten Himmel eine lange Reihe bläulicher Berge ab, bald mit runden Gipfeln, bald mit Spitzen, Zähnen und Zacken, die in einen hohen, pyramidenförmigen Berg ausliefen, der mit seinem Fuß mitten in das Meer tauchte.
»Das ist der Esterel«, sagte Frau Forestier.
Hinter den dunklen Gipfeln flammte goldenrot der Himmel. Der Glanz war so feurig, dass das Auge es kaum ertragen konnte.
Duroy empfand unwillkürlich die Pracht dieses Sonnenunterganges. Da er keinen bildlichen Ausdruck für seine Bewunderung fand, murmelte er:
»O ja, es ist fabelhaft!«
Forestier hob jetzt ein wenig den Kopf und sagte zu seiner Frau:
»Ich will etwas frische Luft!«
Sie antwortete:
»Nimm dich in acht; es ist spät, die Sonne geht unter. Du wirst dich erkälten, du weißt doch, wie schädlich das bei deinem jetzigen Gesundheitszustande ist.«
Er machte mit der Hand eine zitternde, schwache Bewegung, die ein Faustschlag auf die Lehne des Sessels sein sollte. Er brummte und sein Gesicht verzerrte sich vor Zorn; es war das Gesicht eines Sterbenden; dabei traten die dünnen Lippen, die eingefallenen Backen und die hervorstehenden Knochen noch mehr hervor.
»Ich sage dir doch, ich ersticke. Was macht dir das aus, ob ich einen Tag früher oder später sterbe, mit mir ist es doch aus.«
Sie öffnete ganz, weit das Fenster.
Der Windzug, der plötzlich hineindrang, umfing sie alle drei wie eine Liebkosung; es war ein milder, weicher, warmer Lufthauch, ein berauschender Hauch des Frühlings, erfüllt von dem Duft der Bäume und Blüten, die dort an der Küste gedeihen. Besonders stark und intensiv machte sich der Harzgeruch und der Duft des Eukalyptus geltend.
Forestier sog die Luft mit kurzen, fieberhaften Atemzügen ein. Er krallte seine Nägel in die Lehne des Armstuhles und sagte mit zischender, wütender Stimme:
»Mach das Fenster zu. Das tut mir weh. Lieber will ich in einem Keller krepieren.«
Langsam schloss die Frau das Fenster. Dann lehnte sie die Stirn an die Scheibe und blickte in die Ferne.
Duroy fühlte sich unbehaglich. Er hätte dem Kranken ein paar tröstende Worte gesagt, um ihn zu beruhigen, aber ihm fiel nichts Passendes ein und er sagte nur:
»Es geht dir also nicht besser, seitdem du hier bist?«
Der andere zuckte verzweifelt und ungeduldig die Achseln:
»Du siehst ja doch!«
Und der Kopf sank ihm wieder auf die Brust.
Duroy fuhr fort:
»Es ist hier übrigens im Vergleich zu Paris einfach wunderbar. Da ist man noch mitten im Winter. Es schneit, hagelt, regnet, und es ist so dunkel, dass man um drei Uhr schon die Lampen anzünden muss.«
»Gibt es was Neues auf der Zeitung?« fragte Forestier.
»Nichts. Man hat als Ersatz für dich den kleinen Lacrin genommen, der vom ›Voltaire‹ kommt. Aber er kann nicht viel. Es ist höchste Zeit, dass. du wiederkommst.«
Der Kranke stammelte:
»Ich? Ich werde bald sechs Fuß unter der Erde Artikel schreiben.«
Immerzu kam ihm diese fixe Idee wie ein Glockenschlag wieder, sie tauchte in jedem Gedanken, in jedem Satze von Neuem auf.
Es folgte nun ein langes, tiefes und schmerzliches Schweigen. Die feuerrote Glut des Sonnenunterganges erlosch nach und nach, und die Berge am Horizont wurden allmählich schwarz unter dem rötlichen Himmel, der immer dunkler wurde. Farbige Schatten, der Beginn der Nacht, über die noch die letzten Lichter des Sonnenscheines zuckten, drangen in das Zimmer und schienen die Wände, Bezüge, Möbel und alle Winkel mit einer aus Tinte und Purpur gemischten Farbe zu überziehen. Der Spiegel über dem Kamin, der den Horizont zurückstrahlte, glich einer blutigen Scheibe.
Frau Forestier rührte sich nicht. Sie stand noch immer mit dem Rücken zum Zimmer, das Gesicht gegen die Fensterscheibe gelehnt.
Forestier begann zu reden, mit abgerissener, keuchender, langsamer Stimme, die sich entsetzlich anhörte.
»Wie viel Sonnenuntergänge werde ich wohl noch erleben? … achtzehn … fünfzehn oder zwanzig … vielleicht auch dreißig, aber nicht mehr. Ihr habt Zeit, ihr anderen … mit mir ist es vorbei … Und alles wird weitergehen … auch nach mir, als sei ich gar nicht fortgegangen.«
Ein paar Minuten blieb er still, dann sprach er weiter:
»Alles, was ich sehe, mahnt mich daran, dass ich es in wenigen Tagen nicht mehr sehen werde … Es ist entsetzlich … Ich werde nichts mehr sehen … nichts von dem, was da ist … nicht die kleinsten Dinge, die man in die Hand nehmen kann … die Gläser, die Teller … die Betten, in denen man so angenehm ruht … die Wagen. Es ist doch so schön, im Wagen abends spazieren zu fahren! … Wie liebte ich das alles.«
Er machte mit den Fingern beider Hände leichte, nervöse Bewegungen, als ob er auf den Armlehnen seines Sessels Klavier spielte. Und jedes Schweigen, das seinen Worten folgte, war noch furchtbarer; man spürte deutlich, dass er währenddessen an die entsetzlichsten Dinge dachte.
Duroy musste plötzlich daran denken, was ihm Norbert de Varenne vor wenigen Wochen gesagt hatte:
»Ich sehe jetzt oft den Tod so nahe vor mir, dass ich die Arme ausstrecken will, um ihn zurückzustoßen. Ich entdecke ihn überall. Die kleinen Tierchen, die auf den Wegen zertreten werden, die fallenden Blätter, das weiße Haar im Bart eines Freundes, alles zerreißt mir das Herz und ruft mir zu: »Da ist er!«
Damals hatte er ihn nicht verstanden, jetzt, wo er Forestier sah, verstand er alles. Und eine ihm noch unbekannte, qualvolle Angst erfasste ihn, als sähe er dort vor sich auf dem Lehnstuhl, wo der keuchende Mann saß, die abscheuliche Gestalt des Todes. Er hatte Lust, aufzustehen, fortzulaufen, um sich zu retten und schleunigst nach Paris zurückzukehren. Oh, wenn er das geahnt hätte, er wäre nicht gekommen!
Die Nacht erfüllte nun das ganze Zimmer, wie eine vorzeitige Trauer für den Todgeweihten. Nur das Fenster blieb noch sichtbar und zeichnete in seinem etwas helleren Viereck den unbeweglichen Schattenumriss der jungen Frau.
Forestier fragte gereizt:
»Nun, wird heute keine Lampe gebracht? Das nennt man einen Kranken pflegen.«
Der Schatten des Körpers verschwand vom Fenster und der laute Ton einer elektrischen Klingel klang durch das Haus.
Alsbald erschien der Diener und stellte eine Lampe auf den Kamin.
Frau Forestier fragte ihren Mann:
»Willst du zu Bett gehen oder kommst du zum Essen hinunter?«
»Ich gehe hinunter«, murmelte er.
Sie mussten fast eine ganze Stunde bis zum Beginn des Essens warten und blieben alle drei unbeweglich sitzen. Sie sprachen nur hin und wieder irgendein gleichgültiges, banales Wort, als brächte es eine schauderhafte Gefahr, wenn das Schweigen zu lange dauerte, damit nicht die stumme Luft, in der der Tod schon lauerte, erstarrte. Schließlich meldete der Diener, dass es angerichtet sei. Das Essen kam Duroy entsetzlich lang vor. Sie sprachen kein Wort, aßen lautlos und zerkrümelten während der Pausen das Brot. Auch der Diener kam und ging, ohne dass man seine Schritte hörte, da Charles das Knarren der Stiefelsohlen nicht vertragen konnte und der Mann deshalb Filzpantoffel trug. Nur das Ticktack der hölzernen Wanduhr unterbrach mit regelmäßigem, mechanischem Ton die schweigende Ruhe.
Sobald das Essen zu Ende war, begab sich Duroy, unter dem Vorwand, müde zu sein, in sein Zimmer und schaute, gelehnt an das Fensterbrett, den Vollmond an, der wie ein riesiger Lampion mitten am Himmel stand, seinen hellen Schein auf die weißen Wände der Häuser warf und sein sanftes Licht wie Silberflitter über das Meer streute. Duroy suchte nach einem Ausweg, der ihm eine möglichst schnelle Abreise gestattete. Er erfand Listen; er dachte an ein Telegramm, das er sich schicken lassen wollte, eine Rückberufung durch Herrn Walter.
Als er am nächsten Morgen erwachte, schienen ihm alle seine Fluchtpläne sehr schwer zu verwirklichen. Frau Forestier ließ sich sicherlich nicht durch seine Vorwände hinters Licht führen, und durch seine Feigheit würde er alles wieder verderben, was er durch seine Ergebenheit gewinnen könnte. Er sagte sich: »Ja, es ist halt langweilig; aber das lässt sich nicht ändern, es gibt nun einmal im Leben unangenehme Zeiten. Und hoffentlich dauert die Geschichte nicht allzu lange.«
Der Himmel war blau, von jenem tiefen, südlichen Blau, das das Herz bei seinem Anblick mit Freude erfüllt. Duroy ging zum Meer hinunter, in der Meinung, dass es früh genug wäre, mit Forestier am Tage zusammen zu sein.
Als er zum Frühstück zurückkam, sagte der Diener:
»Herr Forestier hat schon zwei-, dreimal nach dem gnädigen Herrn gefragt. Vielleicht möchte der Herr zu Herrn Forestier hinaufgehen …«
Er ging hinauf. Forestier schien in einem Sessel zu schlafen. Seine Frau lag ausgestreckt auf dem Sofa und las.
Der Kranke hob den Kopf. Duroy fragte:
»Nun, wie geht es dir? Du siehst heute früh ganz munter aus.«
»Ja, es geht besser, ich fühle mich kräftiger«, murmelte der andere. »Frühstücke schnell mit Madeleine, dann wollen wir eine Wagenfahrt machen.«
Sobald die junge Frau mit Duroy allein war, sagte sie zu ihm:
»Sehen Sie, heute fühlt er sich gerettet. Seit dem frühen Morgen trägt er sich mit allerlei Plänen. Wir fahren nachher nach dem Golf Juan, um Fayencen für unsere Wohnung in Paris einzukaufen. Er will mit aller Gewalt hinaus, aber ich habe eine Todesangst, dass ihm etwas passiert, er kann das Stoßen des Wagens nicht vertragen.«
Als der Landauer vorgefahren war, stieg Forestier Schritt für Schritt die Treppe hinunter, gestützt von seinem Diener. Sobald er aber den Wagen erblickte, wollte er, dass das Verdeck zurückgeschlagen würde.
Seine Frau widersprach ihm:
»Du wirst dich erkälten. Sei nicht töricht.«
Er blieb hartnäckig:
»Nein, nein, es geht mir viel besser. Ich fühl’ es ja.«
Sie fuhren zuerst auf den schattigen Wegen, die sich immer zwischen zwei Gärten durchziehen und die Cannes wie eine Art englischen Park erscheinen ließen. Dann ging es auf der Straße von Antibes am Meer entlang. Forestier erklärte dem Freunde die Gegend, er zeigte die Villa des Grafen von Paris, dann, nannte er noch verschiedene andere. Er war lustig, aber seine Fröhlichkeit war erzwungen und gemacht wie die eines zum Tode Verurteilten. Er hob den Finger, da er nicht mehr die Kraft hatte, den Arm zu heben.
»Sieh her, dort drüben ist die Insel Sainte-Marguerite, und das ist das Schloss, aus dem Bazaine entflohen ist.«
Dann fielen ihm Erinnerungen aus seiner Militärzeit ein, er nannte die Namen mehrerer Offiziere, von denen ihm noch kleine Anekdoten erinnerlich waren. Doch plötzlich bei einer Straßenbiegung tat sich der ganze Golf Juan auf mit seinem weißen Dörfchen im Hintergründe und der Landenge von Antibes am anderen Ende.
Forestier wurde plötzlich von kindlicher Freude ergriffen und stammelte:
»Ach, das Geschwader, du kannst von hier aus das Geschwader sehen!«
Und tatsächlich erblickte man mitten in der weiten Bucht ein halbes Dutzend großer Schiffe; sie glichen Felsen, die mit Ästen bedeckt waren. Sie waren von riesiger, ungeheuerlicher Gestalt mit Auswüchsen, Türmen und Schnäbeln, die sich ins Wasser senkten, als wollten sie sich in den Meeresgrund einbohren. Man begriff gar nicht, wie so etwas sich von der Stelle rühren und bewegen konnte, so schwer und im Grunde eingewurzelt erschienen diese Riesenleiber. Eine runde, hohe, schwimmende Batterie in Gestalt einer Sternwarte erinnerte an die auf Felsenklippen gebauten Leuchttürme.
Ein großer Dreimaster fuhr mit vollen Segeln, die schneeweiß und heiter leuchteten, an den Kriegsschiffen vorüber, in die hohe See hinaus. Neben diesen hässlichen, eisernen Kriegsungetümen sah er hübsch und graziös aus.
Forestier bemühte sich, jedes einzelne Kriegsschiff zu erkennen. Er nannte die Namen:
»Das ist der Colbert, der Suffren, der Admiral Duperré, der Redoutable, die Dévastation, nein, ich irre mich, da drüben ist die Dévastation.«
Sie gelangten zu einer großen Ausstellungshalle, auf der die Inschrift stand: »Kunstfayencen vom Golf Juan«. Der Wagen fuhr um einen Rasenplatz herum und hielt dann vor der Tür.
Forestier wollte zwei Vasen kaufen, um sie in seiner Bibliothek aufzustellen. Da er nicht aus dem Wagen heraussteigen konnte, wurden ihm die Muster eines nach dem anderen gebracht. Er wählte lange und fragte bald seine Frau, bald Duroy um Rat.
»Weißt du, ich stelle sie auf das Möbelstück am Ende meines Arbeitszimmers. Ich werde sie dann immer vor Augen haben. Ich liebe die antike, griechische Form.«
Er prüfte die Muster, ließ sich andere bringen, dann wieder die, die er schon gesehen hatte. Schließlich entschloss er sich, bezahlte und verlangte, dass sie ihm sofort hingeschickt würden.
»Ich kehre in wenigen Tagen nach Paris zurück«, sagte er.
Sie fuhren längs der Meeresküste nach Hause. Plötzlich traf sie ein kalter Luftzug, der aus irgendeinem Seitental kam, und der Kranke begann zu husten. Anfangs war es nur ein kleiner Anfall, aber er wurde stärker, das Husten wurde heftiger und hörte gar nicht mehr auf. Es wurde ein ununterbrochenes Ächzen und ging zuletzt in ein Röcheln über.
Forestier war am Ersticken, und jedes Mal, wenn er aufatmen wollte, zerriss ihm der Husten, der aus seiner Brust herauskam, die Kehle. Nichts konnte ihm die Qual erleichtern, nichts konnte ihn beruhigen, und der Kranke musste aus dem Wagen in sein Zimmer hinaufgetragen werden. Duroy hielt seine Beine und fühlte bei jedem krampf der Lungen das Zucken seiner Füße.
Auch das warme Bett brachte keine Linderung und der Anfall dauerte bis Mitternacht an. Endlich gelang es durch Betäubungsmittel den tödlichen Hustenkrampf einigermaßen zu beruhigen. Und der Kranke blieb bis zum Morgen mit offenen Augen im Bett sitzen. Seine ersten Worte waren, man möchte den Barbier holen, denn er hielt peinlich darauf, jeden Morgen rasiert zu werden. Er stand zu diesem Zwecke auf, musste aber sofort wieder ins Bett gelegt werden, und er begann so kurz und rau und mühsam zu atmen, dass Frau Forestier in ihrer Angst Duroy, der sich zu Bett gelegt hatte, sofort wecken ließ und ihn bat, einen Arzt zu holen.
Er erschien kurze Zeit darauf mit dem Doktor Gavaut, der eine Arzenei verschrieb und ein paar Ratschläge erteilte. Als ihn Duroy hinausbegleitete und ihn nach seiner Meinung fragte, sagte er:
»Das ist der Todeskampf, Morgen früh ist er tot. Bereiten Sie die arme, junge Frau vor und lassen Sie einen Priester holen. Für mich ist hier nichts mehr zu tun, aber selbstverständlich stehe ich ganz zu Ihrer Verfügung.«
Duroy ließ Frau Forestier rufen.
»Er wird sterben. Der Doktor rät, nach einem Priester zu schicken. Was wollen Sie tun?«
Sie konnte sich lange nicht entschließen. Dann sagte sie mit langsamer Stimme, nachdem sie sich alles überlegt hatte:
»Ja, es ist besser in mancher Hinsicht. … Ich werde ihn darauf vorbereiten und ihm sagen, dass der Pfarrer ihn sehen möchte … ich weiß noch nicht, irgend was. Also bitte seien Sie so freundlich und holen Sie mir einen Pfarrer. Aber suchen Sie ihn aus. Nehmen Sie einen, der nicht zu viel Mätzchen macht und sich mit der einfachen Beichte begnügt.«
Der junge Mann brachte einen liebenswürdigen, alten Geistlichen mit, der sich den Umständen anzupassen wusste. Er wurde sofort zu dem Sterbenden geführt. Frau Forestier ging hinaus und setzte sich mit Duroy in das Zimmer nebenan.
»Das hat ihn furchtbar ergriffen«, sagte sie. »Als ich vom Priester sprach, nahm sein Gesicht einen entsetzlichen Ausdruck an … als ob … als fühlte er den Hauch des … Sie verstehen mich … Er begriff, dass es zu Ende ging und dass seine Stunden gezählt seien …«
Sie war ganz blass.
»Ich werde den Ausdruck seines Gesichts nie vergessen«, fuhr sie fort. »Sicherlich hat er den Tod in diesem Augenblicke gesehen. Er hat ihn gesehen …«
Sie hörte die Stimme des Priesters; er sprach etwas laut, denn er war schwerhörig.
»Nein, nein, es steht gar nicht so schlimm mit Ihnen. Sie sind krank, Sie sind leidend, aber es droht Ihnen keine Gefahr. Und der Beweis ist, dass ich als Freund und Nachbar zu Ihnen komme.«
Was Forestier antwortete, konnten sie nicht hören. Der Priester fuhr fort:
»Ich will Ihnen nicht das Abendmahl reichen. Darüber wollen wir reden, wenn Sie sich besser fühlen. Wenn Sie aber meinen Besuch benutzen wollen, um zu beichten, so ist es mir recht. Ich bin ein Seelenhirt und benutze jede Gelegenheit, um meine Schafe zu retten.«
Es folgte ein langes Schweigen. Offenbar sprach Forestier mit seiner keuchenden, klanglosen Stimme. Plötzlich sagte der Priester in verändertem Ton, dem Ton einer gottesdienstlichen Handlung:
»Gottes Barmherzigkeit ist unendlich. Sprechen Sie das Confiteor, mein Sohn. Sie haben es vielleicht vergessen, ich will Ihnen helfen. Sprechen Sie mir nach: Confiteor Deo omnipotenti … Beatae Mariae semper virgini …«
Von Zeit zu Zeit machte er eine Pause, damit der Sterbende ihn einholen konnte. Dann sagte er:
»Nun beichten Sie.«
Die junge Frau und Duroy rührten sich nicht mehr.
Sie fühlten sich seltsam verwirrt und von einer ängstlichen Spannung ergriffen.
Der Kranke hatte etwas gemurmelt. Der Priester wiederholte :
»Sie haben sich der sündhaften Nachsicht sträflich gemacht? Welcher Art war sie, mein Sohn?«
Die junge Frau stand auf und sagte kurz :
»Wir wollen in den Garten gehen. Wir dürfen seine Geheimnisse nicht hören.«
Sie gingen und setzten sich auf eine Bank vor der Tür, unter einem blühenden Rosenstrauch, hinter einem Nelkenbeet, das seinen starken, süßen Duft ausströmte.
Nach einer minutenlangen Pause fragte Duroy:
»Wird es lange dauern, bis Sie nach Paris zurückkehren?«
»O nein,« antwortete sie, »sobald hier alles zu Ende ist, fahre ich zurück.«
»Etwa in zehn Tagen?«
»Ja, höchstens.«
»Hat er keine Verwandte?« fragte Duroy.
»Keine. Nur ein paar Vettern. Sein Vater und seine Mutter sind gestorben, als er noch ganz klein war.«
Sie schauten beide einem Schmetterling zu, der auf den Nelken seine Nahrung suchte; er flog von einer Blüte zur anderen und flatterte hastig mit den Flügeln, die sich jedoch langsam bewegten, wenn er auf einer Blume saß. Sie saßen und schwiegen eine lange Zeit. Der Diener kam und teilte mit, dass »der Herr Pfarrer fertig sei«. Sie gingen zusammen hinauf. Forestier schien seit gestern noch magerer geworden zu sein.
Der Priester reichte ihm die Hand.
»Auf Wiedersehen, mein Sohn. Ich komme morgen früh.«
Und er ging fort.
Sobald er hinaus war, versuchte der Sterbende, der schwer röchelte, seine beiden Hände zu seiner Frau zu erheben und stotterte:
»Rette mich … Rette mich … Geliebte … ich will nicht sterben … ich will nicht sterben … Oh! Rettet mich … Sagt, was ich tun soll, holt den Arzt … Ich nehme alles ein, was er verschreibt … Ich will nicht … ich will nicht …«
Er weinte. Große Tränen rannen aus seinen Augen über die fleischlosen Backen, und die eingefallenen Falten seines Mundes verzogen sich wie die eines betrübten kleinen Kindes.
Und nun sanken seine Hände auf das Bett und bewegten sich hier fortwährend langsam und regelmäßig, als ob sie auf der Decke etwas suchten. Seine Frau begann nun auch zu weinen und stammelte:
»Aber nein, es ist doch nichts. Es ist ein Anfall, morgen geht es dir besser. Du bist sehr müde von der gestrigen Spazierfahrt.«
Forestier atmete so schnell wie ein Hund, der eben gelaufen ist. Die Atemzüge gingen so hastig, dass man sie kaum zählen konnte, und so leise, dass, man sie kaum vernehmen konnte. Er wiederholte immerfort:
»Ich will nicht sterben … Oh, mein Gott … mein Gott … was wird mit mir? Ich werde nichts mehr sehen? Ich werde nichts mehr sehen … nichts … Niemals … Oh, mein Gott …«
Er starrte vor sich hin und sah etwas, was für die anderen unsichtbar blieb, etwas Furchtbares, denn in seinen unbeweglichen Augen spiegelte sich das entsetzlichste Grauen wieder. Seine beiden Hände fuhren mit ihrer schrecklichen, ermüdenden Gebärde fort.
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