Guy de Maupassant – Gesammelte Werke

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VIII.

Durch sein Duell war Du­roy in die Rei­he der Leit­ar­ti­kel­schrei­ber der Vie Françai­se auf­ge­rückt. Doch be­rei­te­te es ihm un­end­li­che Mühe, ei­ge­ne Ide­en zu fin­den; so wähl­te er sich als Spe­zia­li­tät, ge­gen den Nie­der­gang der Sit­ten, ge­gen die Ent­ar­tung des Cha­rak­ters, ge­gen das Nach­las­sen des Pa­trio­tis­mus und die Anämie des fran­zö­si­schen Ehr­ge­fühls zu don­nern. (Das Wort Anämie war sei­ne ei­ge­ne Er­fin­dung, auf die er sehr stolz war.)

Und wenn Ma­da­me de Ma­rel­le mit ih­rem spöt­ti­schen, skep­ti­schen und schar­fen Witz, den man Pa­ri­ser Esprit nennt, sich über sei­ne Ti­ra­den lus­tig mach­te und sie mit ei­nem kur­z­en, ver­nich­ten­den Wort ab­tat, so ant­wor­te­te er lä­chelnd:

»Da­mit be­kom­me ich einen gu­ten Ruf für spä­te­re Zei­ten.«

Er wohn­te jetzt in der Rue Con­stan­ti­no­ple, wo­hin er sei­ne gan­ze Ein­rich­tung, die aus ei­nem Kof­fer, ei­ner Bürs­te, dem Ra­sier­zeug und der Sei­fe be­stand, trans­por­tiert hat­te. Zwei- oder drei­mal in der Wo­che be­such­te ihn dort die jun­ge Frau schon früh am Mor­gen, be­vor er auf­ge­stan­den war, zog sich in ei­ner Mi­nu­te aus und glitt in sein Bett, zit­ternd vor der drau­ßen herr­schen­den Käl­te.

Du­roy da­ge­gen aß je­den Don­ners­tag abend bei ihr und mach­te dem Mann den Hof, in­dem er mit ihm über Land­wirt­schaft sprach. Und da er selbst auch wirk­lich das Le­ben auf dem Lan­de lieb­te, so ver­tief­ten sie sich häu­fig so sehr in ihre Un­ter­hal­tung, dass sie gar nicht mehr auf ihre ge­mein­sa­me Frau ach­te­ten, die auf dem Sofa schlum­mer­te.

Auch Lau­ri­ne schlief ein, bald auf dem Schoß ih­res Va­ters, bald auf dem Schoß des Bel-Ami.

Und wenn der Jour­na­list ge­gan­gen war, dann be­merk­te Herr de Ma­rel­le mit dem dok­tri­nären Ernst, mit dem er jede Klei­nig­keit be­han­del­te:

»Die­ser jun­ge Mann ist wirk­lich sehr sym­pa­thisch. Er ist sehr ge­bil­det.«

Der Fe­bru­ar ging zu Ende. Auf den Stra­ßen duf­te­te es be­reits wie­der nach Veil­chen, wenn man mor­gens an den Kar­ren der Blu­men­händ­le­rin­nen vor­bei­kam.

Du­roy leb­te wie im wol­ken­lo­sen Him­mel.

Aber ei­nes Abends, als er nach Hau­se kam, fand er einen Brief mit dem Post­stem­pel »Can­nes« vor. Er öff­ne­te ihn und las:

Can­nes, Vil­la Jo­lie. »Mein lie­ber Freund! Sie sag­ten mir, nicht wahr, ich könn­te mich un­ter al­len Um­stän­den auf Sie ver­las­sen. Nun also: Ich muss heu­te einen sehr har­ten Dienst von Ih­nen er­bit­ten: näm­lich mir bei­zu­ste­hen und mich in den letz­ten Stun­den vor Charles’ Tode nicht al­lein zu las­sen. Er liegt im Ster­ben, ob­gleich er noch auf­steht, aber sei­ne Tage sind ge­zählt und der Arzt hat mich dar­auf vor­be­rei­tet, dass er kaum die­se Wo­che über­le­ben wird.

Ich habe nicht mehr die Kraft und den Mut, Tag und Nacht die­sen To­des­kampf mit an­zu­se­hen, und ich den­ke mit Ent­set­zen an die letz­ten Au­gen­bli­cke, die im­mer nä­her rücken. Sie sind der ein­zi­ge, den ich um einen sol­chen Dienst bit­ten kann, denn mein Mann hat kei­ne Ver­wand­ten mehr. Er war Ihr Freund, er hat Ih­nen den Weg zur Zei­tung ge­öff­net. — Kom­men Sie, ich bit­te Sie dar­um. Sei­en Sie über­zeugt, dass ich stets Ihre dank­ba­re Freun­din blei­ben wer­de.

Ma­de­lei­ne Fo­res­tier.«

Ein ei­gen­ar­ti­ges Ge­fühl drang wie ein Luft­hauch in Ge­or­ges Herz. Es war ihm, als wür­de er frei, als täte sich die Welt weit vor ihm auf, und er mur­mel­te: »Ge­wiss, ich gehe hin. Der arme Charles! Je­der von uns kommt mal an die Rei­he.«

Der Chef, dem er von dem Brief der jun­gen Frau Mit­tei­lung mach­te, gab brum­mig sei­ne Ein­wil­li­gung. Er wie­der­hol­te :

»Aber bit­te kom­men Sie bald zu­rück, Sie sind hier un­ent­behr­lich.«

Ge­or­ges Du­roy gab dem Ehe­paar Ma­rel­le durch ein Te­le­gramm von sei­ner plötz­li­chen Abrei­se Kennt­nis und fuhr am nächs­ten Abend um sie­ben Uhr mit dem Schnell­zug nach Can­nes. Tags dar­auf um vier Uhr traf er dort ein.

Ein Dienst­mann führ­te ihn zur Vil­la Jo­lie. Sie lag auf hal­ber Höhe in den von wei­ßen Vil­len be­leb­ten Fich­ten­wäl­dern, die sich von Le Can­net bis zum Golf Juan hin­zie­hen. Das Haus war klein und nied­rig, im ita­lie­ni­schen Stil er­baut. Es lag dicht an der Stra­ße, die im Zick­zack zwi­schen den Bäu­men hin­auf­führ­te, und bei je­der Bie­gung öff­ne­te sich die wun­der­volls­te Aus­sicht.

Der Die­ner öff­ne­te die Tür und rief:

»Oh, mein Herr, Ma­da­me war­tet vol­ler Un­ge­duld auf Sie.«

Du­roy frag­te :

»Wie geht es Herrn Fo­res­tier?«

»Oh! Nicht gut, mein Herr, er wird nicht mehr lan­ge le­ben.«

Der Sa­lon, in den der jun­ge Mann ge­führt wur­de, hat­te einen hell­ro­sa per­si­schen Stoff­be­zug mit blau­en Ver­zie­run­gen. Durch das brei­te, hohe Fens­ter sah man auf die Stadt und das Meer hin­aus.

Du­roy mur­mel­te: »Don­ner­wet­ter! Ein herr­li­ches Land­haus ist das hier. Wo, zum Teu­fel, neh­men sie das vie­le Geld her?«

Er hör­te das Rau­schen des Klei­des und dreh­te sich um. Frau Fo­res­tier streck­te ihm bei­de Hän­de ent­ge­gen:

»Wie lieb von Ih­nen, dass Sie ge­kom­men sind, wie lieb!«

Und plötz­lich um­arm­te sie ihn. Dann blick­ten sie sich an. Sie war et­was blas­ser und ma­ge­rer ge­wor­den, aber noch im­mer frisch, und ihr et­was schma­le­res und noch zar­te­res Ge­sicht stand ihr sehr gut. Sie sag­te lei­se:

»Es ist ent­setz­lich! Er fühlt, dass er ver­lo­ren ist, und nun ty­ran­ni­siert er mich furcht­bar. Ich habe ihm ge­sagt, dass Sie kom­men wür­den. Wo ist Ihr Ge­päck?«

»Ich habe es auf der Bahn ge­las­sen, denn ich wuss­te nicht, wel­ches Ho­tel Sie mir ra­ten wür­den, um in Ih­rer Nähe zu sein.«

Sie zau­der­te einen Mo­ment, dann sag­te sie:

»Sie woh­nen hier in der Vil­la, Ihr Zim­mer steht üb­ri­gens für Sie be­reit. Er kann je­den Au­gen­blick ster­ben, und wenn die Ka­ta­stro­phe nachts er­folgt, wäre ich ganz al­lein. Ich las­se Ihr Ge­päck hier­her brin­gen.«

Er sag­te mit ei­ner Ver­beu­gung:

»Wie Sie be­feh­len!«

»Nun wol­len wir hin­auf­ge­hen«, sag­te sie.

Er folg­te ihr, sie öff­ne­te eine Tür im ers­ten Stock und Du­roy sah im hel­len, ro­ten Schein der un­ter­ge­hen­den. Son­ne auf ei­nem Lehn­stuhl am Fens­ter eine Art Leich­nam sit­zen, der in Tü­cher ein­ge­wi­ckelt war und ihn an­starr­te. Er konn­te ihn nicht er­ken­nen, er er­riet nur, dass es sein Freund sein müss­te.

Das Zim­mer roch nach Fie­ber und nach Arz­nei­mit­teln, Äther und Teer, dem gan­zen, un­de­fi­nier­ba­ren, dump­fen Ge­ruch ei­ner Stu­be, wo ein Lun­gen­kran­ker at­met.

Fo­res­tier er­hob lang­sam und müh­se­lig die Hand:

»Da bist du ja,« sag­te er, »du kommst, um mich ster­ben zu se­hen! Ich dan­ke dir!«

Du­roy zwang sich zu ei­nem Lä­cheln.

»Dich ster­ben zu se­hen, das wäre auch kein er­freu­li­cher An­blick, die­se Ge­le­gen­heit hät­te ich nicht be­nutzt, um Can­nes zu be­su­chen. Ich woll­te dich nur be­grü­ßen und mich ein biss­chen er­ho­len.«

Der an­de­re mur­mel­te:

»Setz dich.«

Und er ließ den Kopf sin­ken, als wäre er von ver­zwei­fel­ten Ge­dan­ken nie­der­ge­drückt.

Sein Atem ging schnell und ge­presst, und manch­mal stieß er einen Seuf­zer aus, als ob er fühl­bar ma­chen woll­te, wie krank er wäre.

Sei­ne Frau sah, dass er nicht mehr spre­chen wür­de; sie lehn­te sich an das Fens­ter, wies mit ei­ner Kopf­be­we­gung nach dem Ho­ri­zont und sag­te:

»Schau­en Sie, ist das nicht herr­lich?«

Der von Vil­len ver­deck­te Ber­gab­hang senk­te sich vor ih­nen bis zur Stadt hin­un­ter, die im Halb­kreis die Bucht um­gab, rechts vom Ha­fen mit der Alt­stadt, über der ein al­ter Wart­turm thron­te, bis links zur Land­spit­ze de la Croi­sette ge­gen­über den In­seln von Le­r­ins; die­se In­seln wa­ren wie zwei grü­ne Fle­cke, die auf dem tief­blau­en Was­ser schwam­men, und von oben ge­se­hen, schie­nen sie flach zu sein wie zwei rie­si­ge Blät­ter.

Und ganz in der Fer­ne, jen­seits der Bucht und des al­ten Tur­mes, zeich­ne­te sich auf dem flam­mend ro­ten Him­mel eine lan­ge Rei­he bläu­li­cher Ber­ge ab, bald mit run­den Gip­feln, bald mit Spit­zen, Zäh­nen und Za­cken, die in einen ho­hen, py­ra­mi­den­för­mi­gen Berg aus­lie­fen, der mit sei­nem Fuß mit­ten in das Meer tauch­te.

»Das ist der Es­te­rel«, sag­te Frau Fo­res­tier.

Hin­ter den dunklen Gip­feln flamm­te gol­den­rot der Him­mel. Der Glanz war so feu­rig, dass das Auge es kaum er­tra­gen konn­te.

Du­roy emp­fand un­will­kür­lich die Pracht die­ses Son­nen­un­ter­gan­ges. Da er kei­nen bild­li­chen Aus­druck für sei­ne Be­wun­de­rung fand, mur­mel­te er:

»O ja, es ist fa­bel­haft!«

Fo­res­tier hob jetzt ein we­nig den Kopf und sag­te zu sei­ner Frau:

»Ich will et­was fri­sche Luft!«

Sie ant­wor­te­te:

»Nimm dich in acht; es ist spät, die Son­ne geht un­ter. Du wirst dich er­käl­ten, du weißt doch, wie schäd­lich das bei dei­nem jet­zi­gen Ge­sund­heits­zu­stan­de ist.«

Er mach­te mit der Hand eine zit­tern­de, schwa­che Be­we­gung, die ein Faust­schlag auf die Leh­ne des Ses­sels sein soll­te. Er brumm­te und sein Ge­sicht ver­zerr­te sich vor Zorn; es war das Ge­sicht ei­nes Ster­ben­den; da­bei tra­ten die dün­nen Lip­pen, die ein­ge­fal­le­nen Ba­cken und die her­vor­ste­hen­den Kno­chen noch mehr her­vor.

»Ich sage dir doch, ich er­sti­cke. Was macht dir das aus, ob ich einen Tag frü­her oder spä­ter st­er­be, mit mir ist es doch aus.«

Sie öff­ne­te ganz, weit das Fens­ter.

 

Der Wind­zug, der plötz­lich hin­ein­drang, um­fing sie alle drei wie eine Lieb­ko­sung; es war ein mil­der, wei­cher, war­mer Luft­hauch, ein be­rau­schen­der Hauch des Früh­lings, er­füllt von dem Duft der Bäu­me und Blü­ten, die dort an der Küs­te ge­dei­hen. Be­son­ders stark und in­ten­siv mach­te sich der Harz­ge­ruch und der Duft des Eu­ka­lyp­tus gel­tend.

Fo­res­tier sog die Luft mit kur­z­en, fie­ber­haf­ten Atem­zü­gen ein. Er krall­te sei­ne Nä­gel in die Leh­ne des Arm­stuh­les und sag­te mit zi­schen­der, wü­ten­der Stim­me:

»Mach das Fens­ter zu. Das tut mir weh. Lie­ber will ich in ei­nem Kel­ler kre­pie­ren.«

Lang­sam schloss die Frau das Fens­ter. Dann lehn­te sie die Stirn an die Schei­be und blick­te in die Fer­ne.

Du­roy fühl­te sich un­be­hag­lich. Er hät­te dem Kran­ken ein paar trös­ten­de Wor­te ge­sagt, um ihn zu be­ru­hi­gen, aber ihm fiel nichts Pas­sen­des ein und er sag­te nur:

»Es geht dir also nicht bes­ser, seit­dem du hier bist?«

Der an­de­re zuck­te ver­zwei­felt und un­ge­dul­dig die Ach­seln:

»Du siehst ja doch!«

Und der Kopf sank ihm wie­der auf die Brust.

Du­roy fuhr fort:

»Es ist hier üb­ri­gens im Ver­gleich zu Pa­ris ein­fach wun­der­bar. Da ist man noch mit­ten im Win­ter. Es schneit, ha­gelt, reg­net, und es ist so dun­kel, dass man um drei Uhr schon die Lam­pen an­zün­den muss.«

»Gibt es was Neu­es auf der Zei­tung?« frag­te Fo­res­tier.

»Nichts. Man hat als Er­satz für dich den klei­nen La­crin ge­nom­men, der vom ›Vol­tai­re‹ kommt. Aber er kann nicht viel. Es ist höchs­te Zeit, dass. du wie­der­kommst.«

Der Kran­ke stam­mel­te:

»Ich? Ich wer­de bald sechs Fuß un­ter der Erde Ar­ti­kel schrei­ben.«

Im­mer­zu kam ihm die­se fixe Idee wie ein Glo­cken­schlag wie­der, sie tauch­te in je­dem Ge­dan­ken, in je­dem Sat­ze von Neu­em auf.

Es folg­te nun ein lan­ges, tie­fes und schmerz­li­ches Schwei­gen. Die feu­er­ro­te Glut des Son­nen­un­ter­gan­ges er­losch nach und nach, und die Ber­ge am Ho­ri­zont wur­den all­mäh­lich schwarz un­ter dem röt­li­chen Him­mel, der im­mer dunk­ler wur­de. Far­bi­ge Schat­ten, der Be­ginn der Nacht, über die noch die letz­ten Lich­ter des Son­nen­schei­nes zuck­ten, dran­gen in das Zim­mer und schie­nen die Wän­de, Be­zü­ge, Mö­bel und alle Win­kel mit ei­ner aus Tin­te und Pur­pur ge­misch­ten Far­be zu über­zie­hen. Der Spie­gel über dem Ka­min, der den Ho­ri­zont zu­rück­strahl­te, glich ei­ner blu­ti­gen Schei­be.

Frau Fo­res­tier rühr­te sich nicht. Sie stand noch im­mer mit dem Rücken zum Zim­mer, das Ge­sicht ge­gen die Fens­ter­schei­be ge­lehnt.

Fo­res­tier be­gann zu re­den, mit ab­ge­ris­se­ner, keu­chen­der, lang­sa­mer Stim­me, die sich ent­setz­lich an­hör­te.

»Wie viel Son­nen­un­ter­gän­ge wer­de ich wohl noch er­le­ben? … acht­zehn … fünf­zehn oder zwan­zig … viel­leicht auch drei­ßig, aber nicht mehr. Ihr habt Zeit, ihr an­de­ren … mit mir ist es vor­bei … Und al­les wird wei­ter­ge­hen … auch nach mir, als sei ich gar nicht fort­ge­gan­gen.«

Ein paar Mi­nu­ten blieb er still, dann sprach er wei­ter:

»Al­les, was ich sehe, mahnt mich dar­an, dass ich es in we­ni­gen Ta­gen nicht mehr se­hen wer­de … Es ist ent­setz­lich … Ich wer­de nichts mehr se­hen … nichts von dem, was da ist … nicht die kleins­ten Din­ge, die man in die Hand neh­men kann … die Glä­ser, die Tel­ler … die Bet­ten, in de­nen man so an­ge­nehm ruht … die Wa­gen. Es ist doch so schön, im Wa­gen abends spa­zie­ren zu fah­ren! … Wie lieb­te ich das al­les.«

Er mach­te mit den Fin­gern bei­der Hän­de leich­te, ner­vö­se Be­we­gun­gen, als ob er auf den Arm­leh­nen sei­nes Ses­sels Kla­vier spiel­te. Und je­des Schwei­gen, das sei­nen Wor­ten folg­te, war noch furcht­ba­rer; man spür­te deut­lich, dass er wäh­rend­des­sen an die ent­setz­lichs­ten Din­ge dach­te.

Du­roy muss­te plötz­lich dar­an den­ken, was ihm Nor­bert de Va­ren­ne vor we­ni­gen Wo­chen ge­sagt hat­te:

»Ich sehe jetzt oft den Tod so nahe vor mir, dass ich die Arme aus­stre­cken will, um ihn zu­rück­zu­sto­ßen. Ich ent­de­cke ihn über­all. Die klei­nen Tier­chen, die auf den We­gen zer­tre­ten wer­den, die fal­len­den Blät­ter, das wei­ße Haar im Bart ei­nes Freun­des, al­les zer­reißt mir das Herz und ruft mir zu: »Da ist er!«

Da­mals hat­te er ihn nicht ver­stan­den, jetzt, wo er Fo­res­tier sah, ver­stand er al­les. Und eine ihm noch un­be­kann­te, qual­vol­le Angst er­fass­te ihn, als sähe er dort vor sich auf dem Lehn­stuhl, wo der keu­chen­de Mann saß, die ab­scheu­li­che Ge­stalt des To­des. Er hat­te Lust, auf­zu­ste­hen, fort­zu­lau­fen, um sich zu ret­ten und schleu­nigst nach Pa­ris zu­rück­zu­keh­ren. Oh, wenn er das ge­ahnt hät­te, er wäre nicht ge­kom­men!

Die Nacht er­füll­te nun das gan­ze Zim­mer, wie eine vor­zei­ti­ge Trau­er für den Tod­ge­weih­ten. Nur das Fens­ter blieb noch sicht­bar und zeich­ne­te in sei­nem et­was hel­le­ren Vier­eck den un­be­weg­li­chen Schat­te­num­riss der jun­gen Frau.

Fo­res­tier frag­te ge­reizt:

»Nun, wird heu­te kei­ne Lam­pe ge­bracht? Das nennt man einen Kran­ken pfle­gen.«

Der Schat­ten des Kör­pers ver­schwand vom Fens­ter und der lau­te Ton ei­ner elek­tri­schen Klin­gel klang durch das Haus.

Als­bald er­schi­en der Die­ner und stell­te eine Lam­pe auf den Ka­min.

Frau Fo­res­tier frag­te ih­ren Mann:

»Willst du zu Bett ge­hen oder kommst du zum Es­sen hin­un­ter?«

»Ich gehe hin­un­ter«, mur­mel­te er.

Sie muss­ten fast eine gan­ze Stun­de bis zum Be­ginn des Es­sens war­ten und blie­ben alle drei un­be­weg­lich sit­zen. Sie spra­chen nur hin und wie­der ir­gend­ein gleich­gül­ti­ges, ba­na­les Wort, als bräch­te es eine schau­der­haf­te Ge­fahr, wenn das Schwei­gen zu lan­ge dau­er­te, da­mit nicht die stum­me Luft, in der der Tod schon lau­er­te, er­starr­te. Schließ­lich mel­de­te der Die­ner, dass es an­ge­rich­tet sei. Das Es­sen kam Du­roy ent­setz­lich lang vor. Sie spra­chen kein Wort, aßen laut­los und zer­krü­mel­ten wäh­rend der Pau­sen das Brot. Auch der Die­ner kam und ging, ohne dass man sei­ne Schrit­te hör­te, da Charles das Knar­ren der Stie­felsoh­len nicht ver­tra­gen konn­te und der Mann des­halb Filz­pan­tof­fel trug. Nur das Tick­tack der höl­zer­nen Wand­uhr un­ter­brach mit re­gel­mä­ßi­gem, me­cha­ni­schem Ton die schwei­gen­de Ruhe.

So­bald das Es­sen zu Ende war, be­gab sich Du­roy, un­ter dem Vor­wand, müde zu sein, in sein Zim­mer und schau­te, ge­lehnt an das Fens­ter­brett, den Voll­mond an, der wie ein rie­si­ger Lam­pi­on mit­ten am Him­mel stand, sei­nen hel­len Schein auf die wei­ßen Wän­de der Häu­ser warf und sein sanf­tes Licht wie Sil­ber­f­lit­ter über das Meer streu­te. Du­roy such­te nach ei­nem Aus­weg, der ihm eine mög­lichst schnel­le Abrei­se ge­stat­te­te. Er er­fand Lis­ten; er dach­te an ein Te­le­gramm, das er sich schi­cken las­sen woll­te, eine Rück­be­ru­fung durch Herrn Wal­ter.

Als er am nächs­ten Mor­gen er­wach­te, schie­nen ihm alle sei­ne Flucht­plä­ne sehr schwer zu ver­wirk­li­chen. Frau Fo­res­tier ließ sich si­cher­lich nicht durch sei­ne Vor­wän­de hin­ters Licht füh­ren, und durch sei­ne Feig­heit wür­de er al­les wie­der ver­der­ben, was er durch sei­ne Er­ge­ben­heit ge­win­nen könn­te. Er sag­te sich: »Ja, es ist halt lang­wei­lig; aber das lässt sich nicht än­dern, es gibt nun ein­mal im Le­ben un­an­ge­neh­me Zei­ten. Und hof­fent­lich dau­ert die Ge­schich­te nicht all­zu lan­ge.«

Der Him­mel war blau, von je­nem tie­fen, süd­li­chen Blau, das das Herz bei sei­nem An­blick mit Freu­de er­füllt. Du­roy ging zum Meer hin­un­ter, in der Mei­nung, dass es früh ge­nug wäre, mit Fo­res­tier am Tage zu­sam­men zu sein.

Als er zum Früh­stück zu­rück­kam, sag­te der Die­ner:

»Herr Fo­res­tier hat schon zwei-, drei­mal nach dem gnä­di­gen Herrn ge­fragt. Vi­el­leicht möch­te der Herr zu Herrn Fo­res­tier hin­auf­ge­hen …«

Er ging hin­auf. Fo­res­tier schi­en in ei­nem Ses­sel zu schla­fen. Sei­ne Frau lag aus­ge­streckt auf dem Sofa und las.

Der Kran­ke hob den Kopf. Du­roy frag­te:

»Nun, wie geht es dir? Du siehst heu­te früh ganz mun­ter aus.«

»Ja, es geht bes­ser, ich füh­le mich kräf­ti­ger«, mur­mel­te der an­de­re. »Früh­stücke schnell mit Ma­de­lei­ne, dann wol­len wir eine Wa­gen­fahrt ma­chen.«

So­bald die jun­ge Frau mit Du­roy al­lein war, sag­te sie zu ihm:

»Se­hen Sie, heu­te fühlt er sich ge­ret­tet. Seit dem frü­hen Mor­gen trägt er sich mit al­ler­lei Plä­nen. Wir fah­ren nach­her nach dem Golf Juan, um Fayencen für un­se­re Woh­nung in Pa­ris ein­zu­kau­fen. Er will mit al­ler Ge­walt hin­aus, aber ich habe eine To­des­angst, dass ihm et­was pas­siert, er kann das Sto­ßen des Wa­gens nicht ver­tra­gen.«

Als der Lan­dau­er vor­ge­fah­ren war, stieg Fo­res­tier Schritt für Schritt die Trep­pe hin­un­ter, ge­stützt von sei­nem Die­ner. So­bald er aber den Wa­gen er­blick­te, woll­te er, dass das Ver­deck zu­rück­ge­schla­gen wür­de.

Sei­ne Frau wi­der­sprach ihm:

»Du wirst dich er­käl­ten. Sei nicht tö­richt.«

Er blieb hart­nä­ckig:

»Nein, nein, es geht mir viel bes­ser. Ich fühl’ es ja.«

Sie fuh­ren zu­erst auf den schat­ti­gen We­gen, die sich im­mer zwi­schen zwei Gär­ten durch­zie­hen und die Can­nes wie eine Art eng­li­schen Park er­schei­nen lie­ßen. Dann ging es auf der Stra­ße von An­ti­bes am Meer ent­lang. Fo­res­tier er­klär­te dem Freun­de die Ge­gend, er zeig­te die Vil­la des Gra­fen von Pa­ris, dann, nann­te er noch ver­schie­de­ne an­de­re. Er war lus­tig, aber sei­ne Fröh­lich­keit war er­zwun­gen und ge­macht wie die ei­nes zum Tode Ver­ur­teil­ten. Er hob den Fin­ger, da er nicht mehr die Kraft hat­te, den Arm zu he­ben.

»Sieh her, dort drü­ben ist die In­sel Sain­te-Mar­gue­ri­te, und das ist das Schloss, aus dem Ba­zai­ne ent­flo­hen ist.«

Dann fie­len ihm Erin­ne­run­gen aus sei­ner Mi­li­tär­zeit ein, er nann­te die Na­men meh­re­rer Of­fi­zie­re, von de­nen ihm noch klei­ne An­ek­do­ten er­in­ner­lich wa­ren. Doch plötz­lich bei ei­ner Stra­ßen­bie­gung tat sich der gan­ze Golf Juan auf mit sei­nem wei­ßen Dörf­chen im Hin­ter­grün­de und der Landen­ge von An­ti­bes am an­de­ren Ende.

Fo­res­tier wur­de plötz­lich von kind­li­cher Freu­de er­grif­fen und stam­mel­te:

»Ach, das Ge­schwa­der, du kannst von hier aus das Ge­schwa­der se­hen!«

Und tat­säch­lich er­blick­te man mit­ten in der wei­ten Bucht ein hal­b­es Dut­zend großer Schif­fe; sie gli­chen Fel­sen, die mit Äs­ten be­deckt wa­ren. Sie wa­ren von rie­si­ger, un­ge­heu­er­li­cher Ge­stalt mit Aus­wüch­sen, Tür­men und Schnä­beln, die sich ins Was­ser senk­ten, als woll­ten sie sich in den Mee­res­grund ein­boh­ren. Man be­griff gar nicht, wie so et­was sich von der Stel­le rüh­ren und be­we­gen konn­te, so schwer und im Grun­de ein­ge­wur­zelt er­schie­nen die­se Rie­sen­lei­ber. Eine run­de, hohe, schwim­men­de Bat­te­rie in Ge­stalt ei­ner Stern­war­te er­in­ner­te an die auf Fel­sen­klip­pen ge­bau­ten Leucht­tür­me.

Ein großer Drei­mas­ter fuhr mit vol­len Se­geln, die schnee­weiß und hei­ter leuch­te­ten, an den Kriegs­schif­fen vor­über, in die hohe See hin­aus. Ne­ben die­sen häss­li­chen, ei­ser­nen Kriegs­un­ge­tü­men sah er hübsch und gra­zi­ös aus.

Fo­res­tier be­müh­te sich, je­des ein­zel­ne Kriegs­schiff zu er­ken­nen. Er nann­te die Na­men:

»Das ist der Col­bert, der Suf­fren, der Ad­mi­ral Duperré, der Re­dou­ta­ble, die Déva­sta­ti­on, nein, ich irre mich, da drü­ben ist die Déva­sta­ti­on.«

Sie ge­lang­ten zu ei­ner großen Aus­s­tel­lungs­hal­le, auf der die In­schrift stand: »Kunst­fa­yencen vom Golf Juan«. Der Wa­gen fuhr um einen Ra­sen­platz her­um und hielt dann vor der Tür.

Fo­res­tier woll­te zwei Va­sen kau­fen, um sie in sei­ner Biblio­thek auf­zu­stel­len. Da er nicht aus dem Wa­gen her­aus­stei­gen konn­te, wur­den ihm die Mus­ter ei­nes nach dem an­de­ren ge­bracht. Er wähl­te lan­ge und frag­te bald sei­ne Frau, bald Du­roy um Rat.

»Weißt du, ich stel­le sie auf das Mö­bel­stück am Ende mei­nes Ar­beits­zim­mers. Ich wer­de sie dann im­mer vor Au­gen ha­ben. Ich lie­be die an­ti­ke, grie­chi­sche Form.«

Er prüf­te die Mus­ter, ließ sich an­de­re brin­gen, dann wie­der die, die er schon ge­se­hen hat­te. Schließ­lich ent­schloss er sich, be­zahl­te und ver­lang­te, dass sie ihm so­fort hin­ge­schickt wür­den.

»Ich keh­re in we­ni­gen Ta­gen nach Pa­ris zu­rück«, sag­te er.

 

Sie fuh­ren längs der Mee­res­küs­te nach Hau­se. Plötz­lich traf sie ein kal­ter Luft­zug, der aus ir­gend­ei­nem Sei­ten­tal kam, und der Kran­ke be­gann zu hus­ten. An­fangs war es nur ein klei­ner An­fall, aber er wur­de stär­ker, das Hus­ten wur­de hef­ti­ger und hör­te gar nicht mehr auf. Es wur­de ein un­un­ter­bro­che­nes Äch­zen und ging zu­letzt in ein Rö­cheln über.

Fo­res­tier war am Er­sti­cken, und je­des Mal, wenn er auf­at­men woll­te, zer­riss ihm der Hus­ten, der aus sei­ner Brust her­aus­kam, die Keh­le. Nichts konn­te ihm die Qual er­leich­tern, nichts konn­te ihn be­ru­hi­gen, und der Kran­ke muss­te aus dem Wa­gen in sein Zim­mer hin­auf­ge­tra­gen wer­den. Du­roy hielt sei­ne Bei­ne und fühl­te bei je­dem krampf der Lun­gen das Zu­cken sei­ner Füße.

Auch das war­me Bett brach­te kei­ne Lin­de­rung und der An­fall dau­er­te bis Mit­ter­nacht an. End­lich ge­lang es durch Be­täu­bungs­mit­tel den töd­li­chen Hus­ten­krampf ei­ni­ger­ma­ßen zu be­ru­hi­gen. Und der Kran­ke blieb bis zum Mor­gen mit of­fe­nen Au­gen im Bett sit­zen. Sei­ne ers­ten Wor­te wa­ren, man möch­te den Bar­bier ho­len, denn er hielt pein­lich dar­auf, je­den Mor­gen ra­siert zu wer­den. Er stand zu die­sem Zwe­cke auf, muss­te aber so­fort wie­der ins Bett ge­legt wer­den, und er be­gann so kurz und rau und müh­sam zu at­men, dass Frau Fo­res­tier in ih­rer Angst Du­roy, der sich zu Bett ge­legt hat­te, so­fort we­cken ließ und ihn bat, einen Arzt zu ho­len.

Er er­schi­en kur­ze Zeit dar­auf mit dem Dok­tor Ga­vaut, der eine Ar­ze­nei ver­schrieb und ein paar Ratschlä­ge er­teil­te. Als ihn Du­roy hin­aus­be­glei­te­te und ihn nach sei­ner Mei­nung frag­te, sag­te er:

»Das ist der To­des­kampf, Mor­gen früh ist er tot. Be­rei­ten Sie die arme, jun­ge Frau vor und las­sen Sie einen Pries­ter ho­len. Für mich ist hier nichts mehr zu tun, aber selbst­ver­ständ­lich ste­he ich ganz zu Ih­rer Ver­fü­gung.«

Du­roy ließ Frau Fo­res­tier ru­fen.

»Er wird ster­ben. Der Dok­tor rät, nach ei­nem Pries­ter zu schi­cken. Was wol­len Sie tun?«

Sie konn­te sich lan­ge nicht ent­schlie­ßen. Dann sag­te sie mit lang­sa­mer Stim­me, nach­dem sie sich al­les über­legt hat­te:

»Ja, es ist bes­ser in man­cher Hin­sicht. … Ich wer­de ihn dar­auf vor­be­rei­ten und ihm sa­gen, dass der Pfar­rer ihn se­hen möch­te … ich weiß noch nicht, ir­gend was. Also bit­te sei­en Sie so freund­lich und ho­len Sie mir einen Pfar­rer. Aber su­chen Sie ihn aus. Neh­men Sie einen, der nicht zu viel Mätz­chen macht und sich mit der ein­fa­chen Beich­te be­gnügt.«

Der jun­ge Mann brach­te einen lie­bens­wür­di­gen, al­ten Geist­li­chen mit, der sich den Um­stän­den an­zu­pas­sen wuss­te. Er wur­de so­fort zu dem Ster­ben­den ge­führt. Frau Fo­res­tier ging hin­aus und setz­te sich mit Du­roy in das Zim­mer ne­ben­an.

»Das hat ihn furcht­bar er­grif­fen«, sag­te sie. »Als ich vom Pries­ter sprach, nahm sein Ge­sicht einen ent­setz­li­chen Aus­druck an … als ob … als fühl­te er den Hauch des … Sie ver­ste­hen mich … Er be­griff, dass es zu Ende ging und dass sei­ne Stun­den ge­zählt sei­en …«

Sie war ganz blass.

»Ich wer­de den Aus­druck sei­nes Ge­sichts nie ver­ges­sen«, fuhr sie fort. »Si­cher­lich hat er den Tod in die­sem Au­gen­bli­cke ge­se­hen. Er hat ihn ge­se­hen …«

Sie hör­te die Stim­me des Pries­ters; er sprach et­was laut, denn er war schwer­hö­rig.

»Nein, nein, es steht gar nicht so schlimm mit Ih­nen. Sie sind krank, Sie sind lei­dend, aber es droht Ih­nen kei­ne Ge­fahr. Und der Be­weis ist, dass ich als Freund und Nach­bar zu Ih­nen kom­me.«

Was Fo­res­tier ant­wor­te­te, konn­ten sie nicht hö­ren. Der Pries­ter fuhr fort:

»Ich will Ih­nen nicht das Abend­mahl rei­chen. Dar­über wol­len wir re­den, wenn Sie sich bes­ser füh­len. Wenn Sie aber mei­nen Be­such be­nut­zen wol­len, um zu beich­ten, so ist es mir recht. Ich bin ein See­len­hirt und be­nut­ze jede Ge­le­gen­heit, um mei­ne Scha­fe zu ret­ten.«

Es folg­te ein lan­ges Schwei­gen. Of­fen­bar sprach Fo­res­tier mit sei­ner keu­chen­den, klang­lo­sen Stim­me. Plötz­lich sag­te der Pries­ter in ver­än­der­tem Ton, dem Ton ei­ner got­tes­dienst­li­chen Hand­lung:

»Got­tes Barm­her­zig­keit ist un­end­lich. Spre­chen Sie das Con­fi­te­or, mein Sohn. Sie ha­ben es viel­leicht ver­ges­sen, ich will Ih­nen hel­fen. Spre­chen Sie mir nach: Con­fi­te­or Deo om­ni­po­ten­ti … Bea­tae Ma­riae sem­per vir­gi­ni …«

Von Zeit zu Zeit mach­te er eine Pau­se, da­mit der Ster­ben­de ihn ein­ho­len konn­te. Dann sag­te er:

»Nun beich­ten Sie.«

Die jun­ge Frau und Du­roy rühr­ten sich nicht mehr.

Sie fühl­ten sich selt­sam ver­wirrt und von ei­ner ängst­li­chen Span­nung er­grif­fen.

Der Kran­ke hat­te et­was ge­mur­melt. Der Pries­ter wie­der­hol­te :

»Sie ha­ben sich der sünd­haf­ten Nach­sicht sträf­lich ge­macht? Wel­cher Art war sie, mein Sohn?«

Die jun­ge Frau stand auf und sag­te kurz :

»Wir wol­len in den Gar­ten ge­hen. Wir dür­fen sei­ne Ge­heim­nis­se nicht hö­ren.«

Sie gin­gen und setz­ten sich auf eine Bank vor der Tür, un­ter ei­nem blü­hen­den Ro­sen­strauch, hin­ter ei­nem Nel­ken­beet, das sei­nen star­ken, sü­ßen Duft aus­ström­te.

Nach ei­ner mi­nu­ten­lan­gen Pau­se frag­te Du­roy:

»Wird es lan­ge dau­ern, bis Sie nach Pa­ris zu­rück­keh­ren?«

»O nein,« ant­wor­te­te sie, »so­bald hier al­les zu Ende ist, fah­re ich zu­rück.«

»Etwa in zehn Ta­gen?«

»Ja, höchs­tens.«

»Hat er kei­ne Ver­wand­te?« frag­te Du­roy.

»Kei­ne. Nur ein paar Vet­tern. Sein Va­ter und sei­ne Mut­ter sind ge­stor­ben, als er noch ganz klein war.«

Sie schau­ten bei­de ei­nem Schmet­ter­ling zu, der auf den Nel­ken sei­ne Nah­rung such­te; er flog von ei­ner Blü­te zur an­de­ren und flat­ter­te has­tig mit den Flü­geln, die sich je­doch lang­sam be­weg­ten, wenn er auf ei­ner Blu­me saß. Sie sa­ßen und schwie­gen eine lan­ge Zeit. Der Die­ner kam und teil­te mit, dass »der Herr Pfar­rer fer­tig sei«. Sie gin­gen zu­sam­men hin­auf. Fo­res­tier schi­en seit ges­tern noch ma­ge­rer ge­wor­den zu sein.

Der Pries­ter reich­te ihm die Hand.

»Auf Wie­der­se­hen, mein Sohn. Ich kom­me mor­gen früh.«

Und er ging fort.

So­bald er hin­aus war, ver­such­te der Ster­ben­de, der schwer rö­chel­te, sei­ne bei­den Hän­de zu sei­ner Frau zu er­he­ben und stot­ter­te:

»Ret­te mich … Ret­te mich … Ge­lieb­te … ich will nicht ster­ben … ich will nicht ster­ben … Oh! Ret­tet mich … Sagt, was ich tun soll, holt den Arzt … Ich neh­me al­les ein, was er ver­schreibt … Ich will nicht … ich will nicht …«

Er wein­te. Gro­ße Trä­nen ran­nen aus sei­nen Au­gen über die fleisch­lo­sen Ba­cken, und die ein­ge­fal­le­nen Fal­ten sei­nes Mun­des ver­zo­gen sich wie die ei­nes be­trüb­ten klei­nen Kin­des.

Und nun san­ken sei­ne Hän­de auf das Bett und be­weg­ten sich hier fort­wäh­rend lang­sam und re­gel­mä­ßig, als ob sie auf der De­cke et­was such­ten. Sei­ne Frau be­gann nun auch zu wei­nen und stam­mel­te:

»Aber nein, es ist doch nichts. Es ist ein An­fall, mor­gen geht es dir bes­ser. Du bist sehr müde von der gest­ri­gen Spa­zier­fahrt.«

Fo­res­tier at­me­te so schnell wie ein Hund, der eben ge­lau­fen ist. Die Atem­zü­ge gin­gen so has­tig, dass man sie kaum zäh­len konn­te, und so lei­se, dass, man sie kaum ver­neh­men konn­te. Er wie­der­hol­te im­mer­fort:

»Ich will nicht ster­ben … Oh, mein Gott … mein Gott … was wird mit mir? Ich wer­de nichts mehr se­hen? Ich wer­de nichts mehr se­hen … nichts … Nie­mals … Oh, mein Gott …«

Er starr­te vor sich hin und sah et­was, was für die an­de­ren un­sicht­bar blieb, et­was Furcht­ba­res, denn in sei­nen un­be­weg­li­chen Au­gen spie­gel­te sich das ent­setz­lichs­te Grau­en wie­der. Sei­ne bei­den Hän­de fuh­ren mit ih­rer schreck­li­chen, er­mü­den­den Ge­bär­de fort.