Fahrt und Fessel

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Übrigens sprach sich die Neuigkeit vom Zeltlager des Alman so bald herum, daß wir kaum noch Zeit zu ungestörter Arbeit fanden. Kehrten wir von unseren Tagesausflügen heim, die wir bei jedem schüchternen Aufblitzen der Sonne schon wieder wagten, so fanden wir unser Zelt erfüllt von Lachen und Lärmen der Gäste. Von den Nachbardörfern und selbst von der nächsten Stadt kamen sie herbeigezogen, um bei den Europäern zu plaudern, unendliche Mengen Kaffee zu trinken und vor allem vom guten Samsuner Tabak zu rauchen. Da war ein Beamter, der durch meine Vermittlung eine deutsche Frau haben wollte, da war ein fanatischer Geistlicher, der mich mit Kraftsprüchen zum Islam bekehren wollte, da waren Bauern, die für ein Huhn Heilung von den unheilbarsten Leiden suchten, Soldaten, die Unterhandlungen mit unserem Cerberus pflogen, Fischer, die das Boot begutachteten, und da war endlich der liebe tapfere Junge vom Kaukasus, der sich unbekümmert um Armut und Entbehrungen bis zu seiner deutschen Heimat durchschlagen wollte. Kaum konnte der enge Stoffraum noch die Zahl der Gäste fassen; ganz schlimm aber wurde es, als der März kam, der islamische Ramasan, wo der Gläubige zwischen Aufgang und Untergang der Sonne nicht essen, trinken und, ach, auch nicht rauchen darf. Damals entdeckte ein findiger Kopf, daß unser Zelt, auf dem die deutsche Flagge wehte, ein exterritoriales Gebiet darstelle, in dem die strengen Gesetze des Propheten ihre Gültigkeit verlieren müssen. Und so kam manch einer von weit her, um nur im Zelt einige Züge aus der Zigarette zu tun.

So verflogen uns die Tage, reich an Abwechslung, im steten Einerlei: früh seekrank auf bewegtem Meere, mittags wandernd und studierend inmitten des Pontusschnees, abends mit frohen Gästen am Strande plaudernd oder auf der alten Fiedel musizierend und nachts frierend im sturmdurchrüttelten Zelt, dieser reizvolle Wechsel reihte sich zu einer rhythmischen Gleichheit von Wochen. Nur wurde mir mit der Zeit die übertriebene Strenge des Gendarmen zu lästig, so daß wir einen Schlachtplan entwarfen: während ich tun wollte, als beabsichtigte ich, den ganzen Tag im Zelt zu bleiben, sollte Beschkow sich in aller Frühe schon, mit einigen überflüssigen, aber gewichtig aussehenden Apparaten bewaffnet, zum Aufbruch rüsten. Wir wußten im voraus, daß der Soldat sich dann nach einem sorgenvollen Blick auf mich entscheiden würde, Beschkows gefährlichen Raubzügen zu folgen, während ich indes unbehelligt meine Wanderung in ein Nachbartal beginnen könnte, das noch kein Europäer betreten hatte.

Unsere List gelang. Eine halbe Stunde, nachdem Beschkow und sein Schatten nach Westen gezogen, brach ich nach Osten zu auf. In emsiger Arbeit genoß ich die langentbehrte Freude ungestörten Forschens, und als ich auf dem Kamm ankam, hinter dem mit saftigen Almen, verwilderten Haselnußkulturen und Rhododendrondickicht das ersehnte Tal auftauchte, hatte ich eine genaue Routenaufnahme, zwanzig belichtete Photoplatten und eine Last von Gesteinsproben im Rucksack.

Beim Abstieg traf ich einen Schäfer, der am Hange die Herden hütete. Mittagliche Einsamkeit brütete um uns; plaudernd hockte ich neben dem sonnverbrannten sehnigen Burschen nieder, der anfangs verschüchtert schwieg, bot ihm Schokolade an, die er verwundert kostete und dann gierig aufaß, und ich erzählte ihm von meiner Wanderung. Da wurde auch der Hirt zutraulich; er plauderte, wies mir den Weg zum Tale, winkte mir freundlich zum Abschied und trug mir noch lachend den Hut nach, den ich auf dem Steine bei ihm vergessen hatte. Als ich mich inmitten der Almen noch einmal nach ihm umwandte, sah ich neben ihm einen bärtigen Alten auftauchen, der, wiederholt auf mich weisend, heftig auf den Jungen einzureden schien. Dann hörte ich den Burschen mir nachlaufen. Mit einer Stimme, die zwischen Frechheit und Verlegenheit schwankte, forderte er mich zum Umkehren auf; sein Freund wolle mir etwas sagen. Ich behauptete, keine Zeit zu haben, und ging ruhig weiter. Unablässig lief der Junge neben mir her; und kaum hatte ich am Ende der Matten den schmalen Waldpfad erreicht, so sprang er mir katzenhaft gewandt in den Weg, um mich am Weitergehen zu hindern. Mit ruhigem Verweis schob ich ihn zur Seite. Aber das Dunkel des Waldes schien ihn mutig zu machen; trotzig forderte er nun Ringe und Geld von mir. Als ich ihm darauf keine Antwort gab, zog er einen Dolch aus dem Gürtel und sprang mir an die Kehle. Mit einem Überfall unter den sonst so freundlichen Eingeborenen hatte ich nicht gerechnet; deshalb führte ich auch keine Waffe bei mir. Schon fühlte ich die kalte Glätte des Stahls an meinem Halse, da riß ich in wütender Verzweiflung meine Kräfte zusammen, schüttelte den Burschen ab, schlug ihm meinen großen Landschaftsapparat um den Kopf, daß er betäubt taumelte, und entfloh. Eben konnte ich hinter der nächsten Wegbiegung noch in das schützende Haseldickicht zurückspringen, als ich den Schäfer schon mit wildem Gebrüll mir nachlaufen hörte. Fest umklammerte ich den Gesteinshammer; denn wurde ich jetzt entdeckt, so ging es auf Leben und Tod. Tiefer duckte ich mich in das bergende Gesträuch, doch in blinder Wut lief der andere an mir vorüber zu Tal. Auf den Weg wagte ich nicht zurückzukehren, da oben der aufmerksam gewordene Alte spähend stand. Auch mußte ich versuchen, einen Bogen der Strecke abzuschneiden, weil der Schäfer ja wußte, daß ich im Tale entlang zum Meer zurückmußte, und weil ich ihn um keinen Preis noch einmal dort unten treffen wollte. So kletterte ich zwischen Dornen und Gestrüpp senkrecht in der wild verwachsenen Schlucht hinab, zerschunden, ausgleitend und außer Atem, bis ich das Haupttal erreichte und eilends zum Meere lief. Jetzt erst wurde mir klar, wie knapp ich dem Tode entronnen, und ich schwor mir, nie wieder ohne Pistole auszuziehen.

Wie gehetzt floh ich den schmalen Talpfad entlang, der zwischen dem brodelnden Fluß in der Tiefe und dem steil aufspringenden Fels schmal und gewunden auf und nieder zog. Plötzlich stockte mein Lauf; vor mir am Wege saßen drei Holzfäller, verwegen dreinschauende Gesellen, die Stämme zu Flößen banden und in die Wasser rollen ließen. Erstaunt musterten sie mich, stießen sich an, flüsterten und machten Gebärden, die mir wenig verheißungsvoll aussahen. Wie sollte ich nun aus diesem verrufenen Tale kommen? Zur Rechten unersteigbares Gefels, zur Linken der schäumende Fluß, hinter mir der Verfolger und vor mir die drei finsteren Gesellen, zaudernd in Furcht stand ich still. Dann aber ging ich mit geheuchelter Kaltblütigkeit auf die Gruppe zu, die bei meinem Nahen verlegen verstummte, und setzte mich, wie ermüdet von friedlichem Spaziergang, zu ihnen auf den Stein nieder; ein freundliches Gespräch, dazu vielleicht ein kleines Geschenk, dies schien mir die einzige Möglichkeit, einem erneuten Angriff vorzubeugen. Wie aber anfangen? Ein drückendes Schweigen lag über uns und ließ uns das Unnatürliche dieser Situation doppelt peinvoll empfinden. Als endlich einer der Alten fragte, wer ich sei und wie ich in dies verlassene Tal komme, antwortete ich mechanisch, daß ich als deutscher Ingenieur hierher gesandt sei, um nach Erzen zu suchen. Da richtete der Jüngste der Drei einen freundlich verschmitzten Blick auf mich und sagte gedehnt: »Das ist sehr schön.« Und er sagte es deutsch! Ich sprang auf und umarmte den Mann; denn nie noch hatten mich vier kleine deutsche Wörtchen so glücklich gemacht wie diese belanglosen. Diese vier Worte waren übrigens auch die einzigen deutschen, die der andere kannte; aber sie hatten einen herzlichen Kontakt zwischen uns geschaffen. Nachdem ich erfahren hatte, wie der Türke im deutschen Heer diesen Sprachschatz erworben hatte, mußte ich von meinen jüngsten Erlebnissen erzählen. Und die Geschichte vom Überfall auf einen Bundesgenossen erfüllte die Männer mit solchem Zorn, daß ich sie nur mit Mühe davon abbringen konnte, dem Hirten mit geschwungenen Äxten entgegenzueilen. Da es bis zum Talausgang noch eine gute Wegstunde war und die Holzfäller es für gewagt erklärten, hier ohne Waffen zu gehen, nahm ich gern das Geleit des alten Soldaten an und trennte mich von ihm erst, als ich Beschkow an der Küste warten sah. Ich versprach dem neuen Freunde ein baldiges Wiederkommen, worauf er sich mit lächelndem Winken und mit einem weich gedehnten: »Das ist sehr schön!« zum Walde zurückwandte. Beschkow war in größter Unruhe, da die Stunde des verabredeten Treffens längst schon verstrichen war. Nur unser treuer Gendarm zeigte sich zum ersten Male ehrlich entzückt, als ich die Erlebnisse des Tages schilderte, nicht etwa aus Schadenfreude, sondern weil er nun einen interessanten Fall hatte, den er am Abend noch, stöhnend und strahlend zugleich, mit umständlicher Wichtigkeit zu Papier brachte, während wir ihm versprechen mußten, nicht eher nach Trapezunt aufzubrechen, als sein Bericht den Vorgesetzten erreicht hätte. Wir hatten wirklich indes beschlossen, nach Trapezunt zurückzukehren; denn zu gemeinsamer Arbeit ließ uns die unerträgliche Kontrolle des Soldaten nicht kommen, und getrennt wandern, das hatte mich dies Abenteuer gelehrt, war zu gewagt. So wollten wir denn in einer persönlichen Verhandlung mit dem Wali zu erreichen suchen, was unsere brieflichen Bitten und Vorstellungen nicht vermocht hatten.

Es war Abend, als wir an unser kleines Paradies herantrieben. Trapezunt wirkte mit seinen höhenwärts gestaffelten Häusern, aus deren Fenstern lange Lichtbahnen über das Wasser zitterten, wie ein festlich angezündeter Christbaum. Dunkel ragte darüber die Silhouette des Boztepe, von einer Moschee gekrönt, die mit dem Finger ihres Minaretts zu den matten Sternen wies. Während wir über die bewegte See herantrieben, versanken die Berge im wachsenden Dunkel, und verloschen die Lichter der müden Stadt, bis uns nächtliches Schwarz umfing. Vorsichtig steuerten die Bootsleute dem Lande zu; weil aber die Sandbänke sich im letzten Sturm verlagert hatten, fuhr der Kiel plötzlich mit hellem Knirschen fest, und ungewiß, wie weit wir noch vom Ufer seien, fürchteten wir, daß das schiefliegende Schiff im hohen Wellengang kentern könnte, zumal das Heck schon wieder reichlich Wasser schöpfte. Wieder sah ich keine andere Rettung: erschauernd sprang ich ins Wasser, das immer noch nicht mehr als neun Grad haben mochte, und hob und schob, bis das Boot wieder flott war.

 

Erleichterungen konnte ich im Wilajet zwar nur schwer erkämpfen, bekam dafür aber sofort den Photoapparat zurück, den ich damals bei der Flucht hatte liegen lassen. Die Platten zwar waren zerkratzt und zerbrochen, einige glänzende Metallteile hatte man abgeschraubt, und aus dem Lederfutteral waren zwei Sohlen herausgeschnitten, das Übrige aber hatte der Räuber als unbrauchbar liegen lassen. Mich überraschte nicht nur die Schnelligkeit, mit der man die Nachforschungen aufgenommen und mir mein Eigentum zurückgegeben hatte, sondern auch die helle Empörung, die dieser versuchte Raubüberfall auslöste; denn solche Dinge geschehen in der Türkei äußerst selten. Am meisten aber wunderte mich die Unparteilichkeit der Beamten von Trapezunt, mit denen ich doch sonst um jede kleine Forschungsfreiheit die heftigsten Kleinkriege zu führen hatte. Diesmal aber fragten sie mich einmütig: »Ja, aber konnten Sie diesen Verbrecher denn nicht niederschießen? Das wäre doch Ihr gutes Recht gewesen!« Die Afghanen haben übrigens über einen gleichen Fall etwas anders gedacht; das sollte ich aber erst später lernen.

Wir segelten wieder davon. Inzwischen war Frühling geworden, und über Nacht stand alles in Blüten. Zarte Farben flossen über die dunklen Macchien, zwischen Weiß und Flammendrot wiegten sich die Zweige der Südfruchtbäume, in herbem Gelb und blassem Violett leuchteten plötzlich Tulpen und andere Blüten auf den Wiesen, übergroße Veilchen drängten sich zwischen den Felsspalten hervor, und das undurchdringliche Dickicht der Rhododendren ward zu einem Blütenmeer von unsagbarer Pracht und Fülle. Ein großer Farbenrausch für das Auge, beängstigend und herzbedrückend im überstarken Duft, schien das ganze Land sich im Blühen verströmen zu wollen.

Als ich zum ersten Male, es war in der Nähe von Rize, durch das Knospen der Täler zu Berg zog, traf ich ungewöhnlich viel Landbewohner, die zu Fuß oder mit Tragtieren schwer beladen zur Stadt zogen. Ich hielt fragend einen Bauern an, der lächelnd und unbeschwert, den Regenschirm hinten in den Rockkragen eingehängt, mir entgegenschritt, während seine Frau ihm langsam folgte, gebückt und fast verborgen unter einer riesigen Last von Maisstroh. »Es ist Basartag an der Küste,« erklärte er, »du siehst, ich trage Maisstroh zum Verkauf hin.« Tageweit waren die beiden wie viele andere zu Tal gezogen, um auf dem Markt ihre geringen Erzeugnisse, manchmal nur zwei, drei Stück Butter, gegen Salz oder ein wenig von dem kostbaren Zucker einzutauschen. Oft auch kauften sie dort auf eigenes Risiko noch Nägel, Draht, Eisenstangen oder ähnlichen Kleinkram, den sie dann weit hinter den 3000 Meter hohen Pässen, im Tschorochtal, zum Verkauf anboten, um nur ein paar Pfennige für ihre Mühen zu erhalten. Und sie fühlen sich reich in ihrer armen Genügsamkeit; denn sie kennen nichts anderes.

Nun folgten ein paar Tage strenger und glücklicher Arbeit. Und wieder setzte ihnen das Verhängnis bald ein Ziel: als ich wie gewöhnlich früh vorm Aufbruch die Meerestemperatur messen wollte, wurde vom Wellengang das Bodenthermometer weggespült. Schnell sprang ich nach, konnte es aber, weil die Brandung es immer weiter hinauszog, erst nach langem Suchen und Tauchen wiederfinden. Das Wasser war immer noch so kalt gewesen, daß ich weder auf den besonnten Höhen am Mittag noch beim Kohlenfeuer des Zeltes am Abend warm werden konnte. Und als ich am nächsten Morgen erwachte, glühte mein Auge dunkelrot. Sofort packten wir und fuhren im günstigen Wind nach Rize, wo ich die Entzündung in einer Rast von zwei Tagen ausheilen lassen wollte. Zwar schlugen wir aus Sparsamkeitsgründen zuerst das Zelt wieder im Sande bei Rize auf, da wir über den Forschungszügen der letzten Zeit zu geldbringenden Arbeiten kaum gekommen waren, doch zwang uns ein neues Unwetter, das mit Schnee und Regen die Wellen nachts in das Zelt trieb, tags darauf in das Hotel von Rize zu übersiedeln. Indessen waren beide Augen schon so arg entzündet, daß ich nicht mehr lesen und schreiben konnte; auch nach einer Woche absoluter Bettruhe hatten sie sich noch nicht gebessert, die grauen Schleier senkten sich immer dichter und dunkler um mich. Tag und Nacht hockte das Gespenst der Erblindung auf meiner Seele, ohne daß ich eine Hilfe in meiner Not finden konnte; denn meine geringen Geldmittel gestatteten mir nicht einmal, zu einem verläßlichen Arzt im nahen Rußland in Behandlung zu gehen. Aber nach Trapezunt wollte ich wenigstens zurück; stets noch war es mir im Treiben meiner Reise der Rettungshafen gewesen. Dort hoffte ich auch diesmal Hilfe zu finden.

So verabschiedeten wir denn unsere Bootsleute und fuhren mit dem Dampfer nach Westen.

Trapezunt, ich fühlte es an den warmen Strahlen, mußte in voller Sonne liegen. Ich aber konnte diesmal nicht wie die anderen jubelnd den Anblick des kleinen Paradieses preisen. Mit verbundenen Augen wurde ich durch die Straßen geführt bis zum Hotel, wo mitleidgedämpfte Stimmen mich begrüßten. Diese Stimmen blieben auch um mich, als ich im verdunkelten Zimmer meinen Kopf in die Kissen wühlte, jeden Tag von nun an waren sie um mich, und aus dem, was sie erzählten, sammelte ich einen leisen Abglanz von der Welt, die mir in Finsternis versunken war. Täglich traf sich nun ein kleiner Freundeskreis bei mir, Europäer und Eingeborene, Männer und Frauen. Sie brachten mir Kunde von draußen, von ihrem Leben und von ihrem Land, von den Bergen, der Sonne, der See. Und wenn sie fühlten, daß ihr Glück eines Lebens im Lichte mich schmerzte, erzählten sie Träume und Märchen.

Am ersten Abend untersuchte mich der Trapezunter Arzt, dessen Entscheidung ich die ganze Zeit ersehnt und gefürchtet hatte. »Ich hoffe Sie retten zu können!« Das waren seine Abschiedsworte. Schlaflos lag ich die Nacht; je stiller es um mich wurde, desto mehr schwand mir die Hoffnung; denn sie klammerte sich ja nur an das Hoffen eines anderen. Und konnte dies nicht getäuscht werden? Oder hatte man mich nicht aus Mitleid belogen? Brandrote Ringe ließ der Schmerz mir vor den Augen tanzen; und als ein zähes Grau sie immer dichter umzog, überflutete mich plötzlich eine grauenvolle Furcht: vielleicht waren diese Feuerkreise das Letzte, was ich an Farbe sah in meinem Leben! Und was dann? Ich wagte es nicht auszudenken.

Obwohl die Augen am Morgen mehr brannten als je zuvor, zeigte der Arzt bei der Untersuchung einen starken Optimismus; da ich diesen unwahrscheinlich lichten Zukunftsschilderungen nicht zu glauben wagte, da ich aber auch merkte, daß ein mohammedanischer Arzt einem europäischen Patienten nie das Versagen seiner Kunst zugestehen würde, bat ich meinen türkischen Freund um Hilfe. Ihm würde der Arzt, auf Ehre und Gewissen befragt, eine offene Auskunft nicht weigern, ebenso wie der Freund mich nie aus falschem Mitleid täuschen würde.

Nach Mittag kam der Türke vom Arzt zurück. Er plauderte von den Fremden, von der Stadt und von der stürmischen Nacht; er redete halb scherzend, halb tröstend wie zu einem Kinde. »Werde ich wieder sehen können?« Er aber sprach ruhig weiter, von den Fremden, von der Stadt und von der stürmischen Nacht. Und ich konnte ja nicht in seinen Mienen lesen, was seine Stimme mir verschwieg!

»Muß es denn sein, daß ich auch das zweite Auge verliere?«

»Das zweite? Und das erste?«

»Das war in der zehnten Isonzoschlacht. Haben Sie je eine Schlacht erlebt, Loutfy, um diese Hölle ausdenken zu können? Nach tagelangem Vernichtungsfeuer lag Gas über unserer Batterie. Den Einsatz der zerschossenen Maske im Munde, richtete ich und schoß mit den beiden letzten meiner Getreuen. Das Gas ätzte wie Gift, und die Augen brannten und glühten, daß das Ziel im Fernrohr verflimmerte. Doch wenn ich die Tränen weggewischt hatte, sah ich noch die Girlanden der Schützenlinien heranwellen, richtete und schoß. Dann, als das Rohr auskühlen konnte, wurde es Graudämmer um mich. Erst leises Grau, in dem die roten Ringe tanzten, dann immer dichter, zäher und dunkler, wie jetzt, Loutfy, wie jetzt!« Aber die Entgegnung, auf die ich in qualvoller Spannung wartete, blieb aus. Schweigend verließ mich der Freund.

Einen Monat lang lag ich im verdunkelten Zimmer, während draußen mit tausend Blüten der Frühling über das Land floß, das ich durchforschen wollte und das mir nun doch ein dichtes Dunkel verschloß. Beschkow fragte, ob wir unsere Ausarbeitungen weiterführen wollten. Ich wies ihn zurück: wozu Bruchstücke sammeln, wenn keine Vollendung gewährt ward? Nach Tagen erst wagte ich es, mir aus einem Reisebuch vorlesen zu lassen. Seiten knisterten, dann hob eine weiche Stimme an: »Unsere Reise stand unter einem glücklichen Stern …«

»Nicht weiterlesen, heute nicht! Ich kann es noch nicht ertragen.« Und hilflos wie ein Kind barg ich den heißen Kopf in den Kissen. Da legte sich eine Hand auf meine Stirn, eine Hand voll Güte und Gewißheit.

»Nicht weinen! Dann werden die Sterne wieder aufgehen, die glücklichen und die unglücklichen. Und können wir auch ihren Lauf am Himmel nicht ändern, so können wir ihn doch wenden in unserer Brust. Denn es gibt kein Leid unter den Sternen, das größer wäre als der menschliche Wille, der davon erlösen kann.«

Wie endlos waren diese Nächte; wie langsam vertropften die Stunden, ehe der blasse Schein an des Vorhanges Spalten die Augen von neuem brennen ließ: dann ging draußen die Sonne auf, über den Bergen von Kolchis. Und wieder mußten Stunden vergehen, Stunden, bleiern schwer und kriechend langsam, bis der Arzt kam, und viele Tage mußte er kommen, ehe ich die erlösende Gewißheit empfing, die mir nun Leben schlechthin bedeutete: du wirst wieder sehen können!

Nach Mittag sammelte sich der Freundeskreis bei mir; mählich plauderten sie freier, fröhlicher und ohne jenen dämpfenden Schleier des Mitleids über der Stimme. Sie brachten heitere Bewegung und erzählten selbst die Stadtneuigkeiten. Da war ein Lastauto am Paß abgestürzt, eine Türkin war öffentlich beschimpft worden, als sie sich ohne Schleier auf die Straße wagte, ein Eingeborener hatte seine Nebenfrau aus Eifersucht erstochen …

»Seltsam, diese Eifersucht der Türken; sind ihnen ihre Frauen denn nicht menschlich gleichgültig? Was also fürchten sie beim Ehebruch an ihnen zu verlieren?«

»Eben daraus erwächst ihre maßlose Eifersucht, daß sie wissen, es gehört ihnen am andern nichts als das unpersönlich Weibliche. Aber man darf es den Orientalen auch nicht zum Vorwurf machen, daß sie das, was jenseits vom Gattungsmäßigen, vom Erotischen und Sexuellen liegt, an ihren Frauen nicht sehen. Vielleicht nämlich können sie es gar nicht sehen, weil es nicht da ist.«

»Aber die modernen Türkinnen? Haben sie nicht, sobald sie sich auf neutrale Gebiete wagen durften, gute Leistungen gezeigt?«

Heftig wehrte der andere ab: »Wissen Sie denn, wie dünn diese Oberschicht moderner Türkinnen ist? Bei diesen freilich finden Sie Frauen von größtem geistigen Format. Aber ich rede von jenen zahllosen anderen, die sich gegen alle Reformen der Jungtürken wehren, soweit diese schwachen Armen zur Gegenwehr erzogen sind. Was ihnen als einziges Mittel dazu bleibt, sagen Ihnen ja die zahlreichen Selbstmorde junger Mädchen in letzter Zeit. Ich rede von den vielen, die das moderne Neutrale mit all seiner Freiheit ablehnen, da sie wissen, daß sie in dieser Form nichts zu geben hätten und nichts sein könnten, während sie in ihrer Beschränkung auf das rein Weibliche vollendete Typen sind. Und wenn ich schon werten sollte, so würde ich diesen rein weiblichen Typ dem neutralen zufällig weiblichen mindestens gleichstellen.«

»Kennen Sie solche echten Orientalinnen denn?«

»Wenige nur; aber diese wenigen glichen einander so sehr, daß ich zu verallgemeinern wage. Lassen Sie sich von einer erzählen; es war die erste, die ich kennenlernte:

›Die Geschichte fängt mit einem kleinen Zettel an, den ich von ihr bekam. Ich hielt das beschriebene Blatt in den Händen und überlegte. Es ist ein Leichtsinn, sagte ich mir, ein unverantwortlicher; denn er kann dich das Leben kosten. Unfähig zu eigener Entscheidung, zog ich einen Freund ins Vertrauen. Der zuckte die Achseln: es ist da schwer zu raten; der Vorsichtige würde es jedenfalls nicht wagen. Doch wenn Sie den Orient kennenlernen wollen, er besteht nun einmal nicht aus Männern allein. Und daß Sie nochmals eine so günstige Gelegenheit finden, bezweifle ich. Aber Sie müssen klug sein! So ging ich. Eine feuchte Nacht hing über der Stadt, weich wie Daunen. Ein Schakal heulte fern, Hunde kläfften. Kein Licht mehr in den Straßen, kein Stern am Himmel. Hier mußte das Haus sein, nein, das nächste. Stimmen in der Ferne; ich warf mich im Schwarz der Hausmauern zu Boden und preßte das Gesicht an die kühle Erde. Zwei Leute kamen heran, sie sprachen vom Kartenspiel; hallend verklangen ihre Schritte. Langsam richtete ich mich auf, tastete zur Tür und kratzte leis am Holz. Von drinnen öffnete jemand vorsichtig. Wer mochte es sein? Lang und bang verstrich eine Sekunde. Endlich, da ich noch immer zögerte, trat eine dunkle Gestalt hervor, ging auf mich zu, legte den Finger an den Mund und bedeutete mich, die Schuhe auszuziehen. Ich trat ein. Geräuschlos schloß sich hinter mir die Tür. Ich war gefangen. In jedem Schatten sah ich einen Diener, der die Ehre des verreisten Hausherrn schützen wollte. Indes zündete die Gestalt ein Licht an; es war die Dienerin, die mich nun mit schlauem Lächeln prüfte. Sie legte die Lippen an mein Ohr: die fünfte und achte Stufe darfst du nicht betreten; beide knarren und könnten die Großmutter wecken. Zögernd folgte ich ihr; oben öffnete sie eine enge Tür, hieß mich eintreten und zog sich mit lautlosen Schritten zurück. Als sich mein Auge an das matte Halbdunkel des Zimmers gewöhnt hatte, sah ich vor mir ein weißes Schmales auf Decken liegen. Monsieur, flüsterte sie, ich erkannte die Stimme der jungen Frau, und sie hob mir die Arme entgegen.

 

Sinnend saß ich und horchte in die Nacht. Das Meer warf weiche Wogen an den Strand, warm wehte es von draußen durch die Gitter. Zwei Augen hingen an mir in Neugier und Scheu. Da nahm ich den dunklen Kopf in beide Hände und suchte in dem rätselvoll schimmernden Blick zu lesen. Sie kennt nur eines im Leben: die Liebe; und von der Liebe nichts Anderes als das Verlangen in Geduld. Ihre Zeit liegt wesenlos und ohne Inhalt; nur ein Erlebnis kann sie erfüllen: der Mann, das andere Geschlecht. So ist diese Frau wie eine Blume, die all ihre Schönheit und Kraft um den Kelch entfaltet, sie ist ein lockender Nachtblütler. Und so kennt sie auch keine Scham; nur die Scheu eines unwissenden Tieres, das unter Menschen lebt. Sie fühlt nur eine Bestimmung in sich: Weib zu sein; und dies ganz zu sein, muß ihr jedes Mittel dienen. Durch und durch ungebildet, zeigt sie die instinkthafte Schlauheit der Frau am reinsten. Wohl fühlt sie sich als Sklavin des Mannes, doch als Königin der Liebe, und so gibt sie sich auch. Im Grunde schenkt sie sich nicht einmal dem Manne, sondern nimmt sich im Schenken selbst. Sie will auch nicht erobert sein, sondern wartet nur auf die Aufforderung, sich zu ergeben. Und ergeben ist sie; darin liegt ihre einzige Bescheidenheit. Wohl kann sie trotzen, zürnen, schmollen; aber sie meint damit nichts; sie drückt sich darin nur aus wie ein Pfau, der das Rad schlägt; es ist ihr nur dekorative Gebärde. Sie denkt nicht an das Morgen und wäre darum leichtsinnig, wenn man das Wesen leichtsinnig nennen dürfte, das keinen Sinn hat für Zukunft und fließende Zeit. Auch ist sie nicht sinnlich in unserem Sinne, sondern selbstverständlich weiblich. Nie noch ist ihr zum Bewußtsein gekommen, daß Liebe anderes sein könnte als unbegrenztes Verlangen. Sie legt keinen Wert darauf, sich individuell zu entwickeln, da sie reiner Typ ist. Auch in ihrem Manne liebt sie nur den Typ, und daher schreckt nur die Strenge des Gesetzes und die Gewohnheit sie vom Betruge ab. Sie ist feige, aber nur aus dem Gefühl des Schwachseins heraus. Dann wieder ist sie skrupellos mutig, aber nur aus dem Gefühl einer unabwendbaren Bestimmung zur Liebe heraus. Übrigens trennt sie sich nur ungern von ihrem Schleier; denn er gibt ihr Freiheiten, die sie unverhüllt entbehren müßte. Und die Frömmigkeit? Ich fragte sie: Es ist doch eine Todsünde, den Ungläubigen zu lieben? Da lächelte sie weich in tierhafter Unschuld: Aber ich liebe die weißen Hände, die Allah dir gab‹«

So erzählten wir uns die langen Nachmittage, bis die Sonne über dem Lande meiner ersehnten Arbeit sank. Langsam, unerträglich langsam wich mein Leiden. Allmählich hatte mich eine dumpfe Apathie erfaßt. Darum war es fast gut, daß mich der einsetzende Geldmangel zur Arbeit zwang. Das lange Diktieren lenkte mich ab, ohne mich freilich richtig zu ermüden, so daß ich die Nächte hindurch unruhig zwischen Halbschlaf und Wachen lag. Die Augen brannten dann wieder wie zu Beginn der Krankheit, die Zeit schien mitten im Fluß zu erstarren, und die qualvollsten Wachträume schreckten mich. Immer kreisten sie um das eine: Afghanistan. Ich hatte das Gefühl, in höchster Gefahr zu sein, ich mußte vor irgend etwas Furchtbarem fliehen, dem ich doch nicht entrinnen konnte, und dann quälte mich eine schreckliche Todesgewißheit. Immer verfolgten mich die gleichen Vorstellungen, und dabei blieben sie trotz ihrer gesteigerten Eindringlichkeit so unkonkret, daß ich keinen Anhaltspunkt für eine nüchterne Analyse finden konnte, die sie ihrer Schrecken beraubt hätte. Zuletzt fürchtete ich mich vor der Nacht und vor dem Halbschlaf, doch vergebens suchte ich mich abzulenken oder wachzuhalten, immer wieder mußte ich das gleiche Grauenvolle erleben, das dann auch über Tag in mir nachhallte, bis ich mich entschloß, meine Verpflichtungen zu lösen und schon von Persien aus heimzukehren.

Allmählich, in dem Grade, wie sich mein physischer Zustand besserte, verblaßten diese Vorstellungen. Die Arbeit im Ostpontus konnte endlich wieder beginnen. Wieder wollten wir längs der Küste nach Osten fahren, diesmal sogar bis zur russischen Grenze. Leider aber schöpfte der Wali neues Mißtrauen aus unseren Plänen; denn da wir nun einmal russische Spione waren, was sollten wir an der Grenze Anderes suchen als Instruktionen? So erhielten wir ein striktes Verbot, nach Osten zu reisen. Verärgert und bestürzt begnügten wir uns zu Anfang auch wirtlich mit Bergfahrten nach dem Westen, die nun schon mit dem Motorrad unternommen werden konnten. Doch zu mächtig lockte das verschlossene Kolchis; und wir ersannen eine neue List: wir taten, als rüsteten wir zum Aufbruch von der Türkei. Entzückt über unseren Abschied, stellte uns der Wali das Visum aus. Übrigens hatten wir nicht gelogen, als wir ihm erklärt hatten, daß wir nach Süden, über den Ziganapaß nach Baiburt, fahren wollten. Wohlweislich verschwiegen hatten wir aber, daß wir dann durch das unbekannte Tschorochtal, über den Kamm des Gebirges und längs der Küste zurückkehren wollten. Durften wir nicht nach Osten gehen, so würden wir eben von Osten kommen. Für unsere Forschung war der Besuch der östlichen Gebiete ebenso notwendig wie die zeitliche Folge gleichgültig.

Am Vorabend, als ich wieder auf der Ehrenkiste in der Garage zwischen den plaudernden Chauffeuren saß, verkündete ich endlich auch hier den lange verschwiegenen Plan einer Fahrt über den Zigana. Ein Lärm des Erstaunens und Entsetzens erhob sich. »Mit dem Motorrad? Mit deinen 4,5 PS über die zwei Hochpässe nach Baiburt? Wo wir froh sind, wenn wir sie mit unseren 50 PS geschafft haben! Und wie oft haben wir dir erzählt von den Bergstürzen, von den steilen Serpentinen, den Wegrutschungen, die unsere besten Fahrer in der Tiefe zerschmettert haben!« Sie beschworen mich, sie schalten mich, sie baten mich; als sie aber sahen, daß ich ihnen unerschütterlich das gleiche: »Ich muß über den Zigana« entgegenhielt, wandten sie sich achselzuckend von mir. Nur Mechmed, mein besonderer Freund und Gönner, sagte mir zum Abschied: »Morgen Abend muß ich mit dem Berliet nach Erzerum; da werde ich dich unterwegs auflesen. Verlaß dich drauf, ich komme.«

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