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Soll und Haben

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Draußen war finstere Nacht, durch die dicke Luft rieselte ein kalter Sprühregen, und die Haut der Fußgänger schauerte unter den dichten Herbstkleidern. Itzig sprang die Treppe hinab. Er hörte noch auf den Stufen eine bebende Stimme. »Die Polizei ist in der Wohnung, sie stehen im Hofe, sie lauern auf der Treppe, sie brechen die Stubentür auf.« Dann hörte er nichts mehr, eine furchtbare Angst überschüttete seine Seele. Mit rasender Schnelligkeit fuhren die Gedanken durch sein Haupt. Flucht, Flucht! schrie alles in ihm. Er fühlte nach seiner Tasche, worin er seit der letzten Woche einen Teil seines Vermögens herumtrug. Er dachte an die Züge der Eisenbahn, es war nicht die Stunde, wo ein Zug abging, der ihn zum Meere führen konnte. Und auf allen Bahnhöfen fand er Verfolger, die auf ihn lauerten. So rannte er hinein in die Nacht, durch enge Gassen in entlegene Stadtteile. Wo eine Laterne brannte, fuhr er zurück. Immer flüchtiger wurde sein Gang, immer verworrener der Zug seiner Gedanken. Endlich verließ ihn die Kraft, er kauerte in eine Ecke und preßte die Hände an seinen Kopf, um die Gedanken zusammenzuhalten. Da hörte er das dumpfe Horn des Wächters in seiner Nähe, wenige Schritte von ihm stand der Mann, und seine Hellebarde klapperte an den Schlüsseln, die er am Gürtel trug. Tief zur Erde beugte sich der Flüchtige, die Angst schnürte ihm die Brust zusammen, daß er stöhnte, obgleich es sein Leben galt. Auch hier war die Gefahr. Wieder stürzte er zwischen den Häuserreihen vorwärts auf den einzigen Ort zu, der noch deutlich vor seiner Seele stand, vor dem er sich graute wie vor dem Tode und zu dem es ihn doch hinzog als zu dem letzten Versteck, das er auf Erden noch hatte. Als er in die Nähe der Herberge kam, sah er einen dunklen Schatten vor der Tür. Dort hatte der kleine Mann oft in der Dunkelheit gestanden und auf den heimkehrenden Veitel gewartet. Auch heut stand er dort und wartete auf ihn. Der Unselige fuhr zurück und wieder näher heran, die Tür war frei. Er fuhr mit der Hand nach einem verborgenen Drücker und schlüpfte hinein. Aber hinter ihm hob sich wieder drohend der Schatten aus dem Dunkel eines vorspringenden Kellers, er glitt hinter ihm an die Tür und blieb dort regungslos stehen. Der Flüchtling zog seine Stiefel aus und huschte die Treppe hinauf. Er fühlte sich im Finstern an eine Stubentür, öffnete sie mit zitternder Hand und griff nach einem Schlüsselbund an der Wand. Mit den Schlüsseln eilte er durch den Saal auf die Galerie, wie in weiter Ferne hörte er die Atemzüge schlafender Menschen. Er stand vor der Treppentür. Ein heftiger Schauer schüttelte seine Glieder, wankend stieg er hinunter, Stufe auf Stufe. Als er den Fuß in das Wasser setzte, hörte er ein klägliches Stöhnen. Er hielt sich an der Holzwand, wie der andere getan, und starrte hinunter. Wieder stöhnte es aus tiefster Brust, er merkte, daß er es selbst war, der so Atem holte. Mit dem Fuß suchte er den Gang im Wasser. Das Wasser war gestiegen seit jener Zeit, es ging ihm hoch über das Knie, er hatte Grund gefunden und stand im Wasser.

Finster war die Nacht, immer noch rieselte der Regen durch die schwere Luft, der Nebel überzog Häuser und Galerien längs dem Flusse, nur undeutlich trat eine Wassertreppe, ein stützender Pfeiler oder das Giebeldach eines Hauses aus der dunkelgrauen Masse hervor. Das Wasser staute sich an den alten Pfählen, den Treppen und den Vorsprüngen der Häuser und murmelte eintönig. Es war der einzige Laut in der finstern Nacht, und er drang wie Donnergetöse in das Ohr des Mannes. Alle Qual der Verdammten fühlte er jetzt, wo er watend, mit den Händen fühlend, durch Wasser und Regen den Weg zur Rettung suchte. Er klammerte sich an das schlüpfrige Holz der Pfähle, um nicht zu sinken. Er stand an der Treppe des Nachbarhauses, er fühlte nach den Schlüsseln in seiner Tasche, noch ein Schwung um die Ecke, und sein Fuß berührte die Stufen der Treppe. Da, als er sich wenden wollte, fuhr er kraftlos zurück, der gehobene Fuß sank in das Wasser, vor sich, auf dem Pfahlwerk über der Flut, sah er eine dunkle, gebückte Gestalt. Er konnte die Umrisse des alten Hutes erkennen, er sah trotz der Finsternis die häßlichen Züge eines wohlbekannten Gesichts. Unbeweglich saß die Erscheinung vor ihm. Er fuhr mit der Hand an seine Augen und in die Luft, als wollte er sie wegwischen. Es war keine Täuschung, das Gespenst saß wenige Schritte vor ihm. Endlich streckte das Schreckliche eine Hand aus nach Itzigs Brust. Mit einem Schrei fuhr der Verbrecher zurück, sein Fuß glitt von dem Wege herunter, er fiel bis an den Hals ins Wasser. So stand er im Strom, über ihm heulte der Wind, an seinem Ohr rauschte das Wasser immer wilder, immer drohender. Er hielt die Hände in die Höhe, sein Auge starrte noch immer auf die Erscheinung vor ihm. Langsam löste sich die fremde Gestalt von dem Balken, es rauschte auf dem Wege, den er selbst gegangen war, das Gespenst trat ihm näher, wieder streckte sich die Hand nach ihm aus. Er sprang entsetzt weiter ab in den Strom. Noch ein Taumeln, ein lauter Schrei, der kurze Kampf eines Ertrinkenden, und alles war vorüber. Der Strom rollte dahin und führte den Körper des Leblosen mit sich.

An dem Rand des Flusses wurde es lebendig, Pechfackeln glänzten am Ufer, Waffen und verhüllte Uniformen blinkten im Schein der Lichter. Der Zuruf suchender Menschen wurde gehört, und vom Fuß der Treppe watete ein Mann längs dem Ufer und rief hinauf: »Er ist fortgetrieben, bevor ich ihn erreichen konnte, morgen wird er am Wehr zu finden sein.«

7

Die Herberge des Löbel Pinkus wurde durchsucht, das geheime Magazin im Nebenhause mit Beschlag belegt; und da man die Beute zahlreicher und neuer Diebstähle darin angesammelt fand, wurde der Herbergsvater selbst ins Gefängnis gesetzt. Unter den gefundenen Gegenständen war auch die leere Kassette des Freiherrn; in einem verschlossenen Schrank der geheimen Höhle lagen zusammengepackt die Ehrenscheine des Freiherrn und die beiden Hypothekeninstrumente über die ersten und die letzten zwanzigtausend Taler der Gutsschulden. In der Wohnung des Agenten Itzig fand sich ein Dokument, in welchem Pinkus versicherte, daß Veitel Itzig Eigentümer der ersten Hypothek sei. Der harte Sinn des Pinkus wurde durch die Untersuchungshaft erweicht; er gestand, was zu leugnen für ihn nicht mehr von Nutzen war, daß er nur im Auftrage des Ertrunkenen dem Freiherrn das Geld gezahlt und daß dieser in der Tat von Itzig nicht mehr als zusammen ungefähr zehntausend Taler erhalten habe. So gewann der Freiherr auch sein Anrecht auf die Hälfte der ersten Hypothek zurück.

Pinkus wurde zu langer Gefängnisstrafe verurteilt. Die stille Herberge ging ein, und Tinkeles, der das zweite Hundert gleich nach Itzigs Tode von Anton gefordert hatte, trug fortan sein Bündel und seinen Kaftan in einen andern Schlupfwinkel. Sein Gefühl für die Handlung erhielt durch die letzten Ereignisse eine Wärme, welche die Handlung veranlaßte, ihm gegenüber ungewöhnliche Vorsicht zu beobachten und einige große Geschäfte zurückzuweisen, die er jetzt durchaus mit ihr unternehmen wollte. Die natürliche Folge dieser Kälte war, daß Tinkeles um so höhere Achtung vor der Klugheit des Geschäfts erhielt und fortfuhr, dem Kontor seine Besuche zu gönnen, ohne daß eine neue kühne Spekulation das gute Verhältnis unterbrach. Das Haus des Pinkus wurde verkauft, ein ehrlicher Färber zog hinein, und von der Galerie, an welcher einst die hagere Gestalt des jungen Veitel gelehnt hatte, hing jetzt blau und schwarz gefärbtes Garn hinunter bis in die trübe Flut.

Nach langen Verhandlungen mit dem Anwalt und der gedrückten Familie Ehrenthals empfing Anton im Wege des Vergleichs die Ehrenscheine und die letzte Hypothek gegen Zahlung der zwanzigtausend Taler zurück.

Unterdes kam der Versteigerungstermin des Familiengutes heran. Noch vor dem Tage suchte ein Kauflustiger Anton auf, und Anton traf mit ihm, unter Zuziehung seines Rechtsbeistandes und mit Einwilligung des Freiherrn, das Abkommen, daß der Käufer wenigstens eine Kaufsumme zu bieten habe, welche dem Freiherrn auch die letzte für Ehrenthal ausgestellte Hypothek rettete. Bei dem noch immer niedrigen Güterpreise war eine höhere Verkaufssumme für das Gut nicht zu hoffen, und im Termin, dessen Ende Anton in großer Spannung abwartete, erstand der neue Käufer in der Tat das Gut zu dem vorher besprochenen Preise.

Am Tage nach dem Verkauf schrieb Anton der Baronin, er übersandte ihr die Schuldscheine des Freiherrn und seine Vollmacht. Er siegelte den Brief mit dem frohen Gefühl, daß er aus all der Verwirrung für Lenore doch ein Erbteil von ungefähr dreißigtausend Talern gerettet hatte.

Auf dem Dach des Starostenhauses lag wieder der weiße Schnee, und die Krähen drückten die Spuren ihrer Füße hinein. Das glänzende Festkleid des Winters war über Flur und Wald ausgebreitet, in tiefem Schlaf lag die Erde, kein Schäferhund bellte auf den Feldern, das Ackergerät stand untätig in einem Schuppen des Hofes. Und doch war auf dem Gut ein heimliches Leben sichtbar, und über den weiten Hofraum eilten geschäftige Arbeiter mit Zollstab und Säge. Der Boden in dem Wirtschaftshof war uneben, denn der Grund für neue Gebäude wurde ausgegraben, und in den Stuben und sogar draußen im Sonnenschein arbeitete eine Schar Handwerker aus der Stadt, Zimmerleute, Tischler und Stellmacher. Lustig pfiff der Gesell sein Lied bei der Arbeit, und die gelben Späne flogen weit in den Hof hinein. Es war eine neue Kraft auf dem Gute sichtbar und ein neues Leben, und wenn das Frühjahr kommt, wird eine Schar Arbeiter sich über den polnischen Grund verbreiten und den ausgeruhten Boden zwingen, emsiger Arbeit Früchte zu tragen.

In seiner warmen Stube saß Vater Sturm auf der Schnitzbank unter Tonnenreifen und Faßdauben, und sein Eisen arbeitete mächtig in das Eichenholz hinein. Und ihm gegenüber auf dem einzigen Polsterstuhle der Stube lehnte der blinde Freiherr, den Krückstock in der Hand, sein Ohr auf den alten Sturm gerichtet.

 

»Sie müssen müde sein, Sturm«, sagte der Freiherr.

»Ei«, rief der Riese, »mit den Händen geht es noch wie sonst. Das hier wird eine kleine Tonne für das Regenwasser, es ist bloße Kinderarbeit.«

»Auch er hat einmal in einer kleinen Tonne gesteckt«, sagte der Freiherr vor sich hin. »Er war ein schwaches Kind, die Amme hatte ihn zum Baden hineingesetzt, und er hatte seinen Rücken darin gebogen und vorn die Knie angestemmt, so konnte er nicht mehr heraus. Ich mußte die Reifen der Tonne abschlagen lassen, um den Knaben aus seinem Gefängnis zu erlösen.«

Der Riese räusperte sich. »Waren es eiserne Reifen?« fragte er teilnehmend.

»Es war mein Sohn«, sagte der Freiherr mit zuckendem Antlitz.

»Ja«, sagte Sturm leise, »er war stattlich, er war ein hübscher Mann, es war eine Freude, zu hören, wenn sein Säbel rasselte, und zu sehen, wie er seinen kleinen Bart drehte.« – Ach, er hatte dasselbe dem blinden Vater schon oft gesagt, alle Tage mußte er es wiederholen, wenn der Freiherr ihm gegenübersaß!

»Es war des Himmels Wille«, sagte der Freiherr und faltete die Hände.

»So war es«, wiederholte der alte Sturm, »unser Herrgott wollte ihn zu sich nehmen, gerade als er bei seiner besten Arbeit war. Das war ehrenvoll für ihn, und kein Mensch kann schöner die Erde verlassen. Für sein Vaterland und für seine Eltern zog er in seinem Schnurrock aus, und er war siegreich und jagte die Polacken in die Felder, als der Herr seinen Namen rief und ihn unter seine eigene Garde versetzte.«

»Ich aber mußte zurückbleiben«, klagte der Freiherr.

»Und mich freut’s, daß ich unsern jungen Herrn noch gesehen habe«, fuhr Sturm mit großer Beredsamkeit fort, »denn wie Sie wissen, war er damals unser junger Herr. Sie vertrauten meinem Karl die ganze Wirtschaft an, und so war es für mich eine Ehre, auch Ihrem Herrn Sohn ein Vertrauen zu zeigen.«

»Es war unrecht, daß er zu Ihnen kam, Geld zu borgen«, sagte der Freiherr kopfschüttelnd. Und er sagte so, weil er die trostvolle Antwort Sturms schon so oft gehört hatte und sie wieder hören wollte.

Der Riese legte sein Schnitzeisen weg, fuhr sich in die Haare und bemühte sich, recht unternehmend auszusehen, als er in leichtsinnigem Tone begann: »Wissen Sie was, man muß mit einem jungen Herrn auch Nachsicht haben. Jugend will austoben. Es borgt sich mancher Geld in jungen Jahren, und vollends wenn einer einen so lustigen Rock hat mit Quasten und Silber. Wir waren auch keine Geizhälse, Herr Baron«, fuhr er bittend fort und klopfte mit seinem Eisen leise an die Knie des Blinden. – »Und der Herr Offizier war sehr artig, und ich glaube, er war etwas verlegen. Und als ich ihm das Geld gab, sah ich ihm an, wie leid es ihm tat, daß er es brauchte. Ich gab’s ihm um so lieber. Und als ich ihm in die Droschke half und er sich aus dem Wagen beugte, ich versichere Ihnen, da war er ganz bewegt, er griff mit beiden kleinen Händen heraus und suchte meine Faust, um sie noch einmal zu schütteln. Und wie er so dasaß, fiel das Licht der Straßenlaterne in sein Gesicht. Es war in diesem Augenblick ein freundliches liebes Gesicht, etwa wie das Ihrige und noch mehr wie das der Frau Baronin, soweit ich dies gesehen habe.«

Auch der Blinde streckte die Hände aus und suchte die Faust des Aufladers. Sturm schob die Schnitzbank fort, faßte mit seiner Rechten die Hände des Freiherrn und streichelte sie mit der Linken. So saßen beide stumm nebeneinander.

Endlich begann der Freiherr mit gebrochener Stimme: »Sie sind der letzte Mensch gewesen, der meinem Eugen Freundschaft bewiesen hat – ich danke Ihnen, ich danke Ihnen von Herzen. Es ist ein unglücklicher, zerschmetterter Mann, der Ihnen das sagt. Aber solange ich noch auf dieser Erde lebe, werde ich den Segen des Höchsten für Sie erflehen. Es sollte nicht sein, daß mein Sohn mir in meinen alten Tagen den wankenden Schritt stützte, Ihnen aber hat der Himmel einen guten Sohn erhalten. Was ich von Friede und Glück für meinen armen Eugen wünschen würde, das, flehe ich zu Gott, soll Ihrem Sohne werden.«

Sturm fuhr sich über die Augen und umschloß gleich darauf wieder die Hände des Freiherrn. So saßen die Väter wieder stumm nebeneinander, bis der Freiherr sich mit einem Seufzer erhob. Behutsam faßte Sturm den Arm des Blinden und führte ihn über den Hof und Anger bis auf die Rampe des Schlosses. Jetzt ist ein Weg zu der Turmtür aufgeschüttet, er hat eine Vormauer von großen Quadersteinen, und man kann zu Fuß und zu Wagen die Turmtür erreichen. Und Sturm zieht den Draht einer Glocke, der Diener des Freiherrn eilt herzu und führt seinen Herrn die Schloßtreppe hinauf, denn das Treppensteigen wird dem Vater Sturm noch sauer.

In den Wirtschaftshof fuhr unterdes ein Wagen, Karl eilte respektvoll aus seiner Stube, der neue Gutsherr sprang herab.

»Guten Tag, Sergeant!« rief Fink. »Wie steht’s im Schlosse und in der Wirtschaft? Was macht das Fräulein und die Frau Baronin?«

»Alles in Ordnung«, meldete Karl, »nur mit der Frau Baronin geht’s schwach. Wir erwarten Sie schon seit vierzehn Tagen. Die Herrschaften im Schloß haben alle Tage gefragt, ob keine Nachricht von Ihnen gekommen sei.«

»Ich wurde aufgehalten«, sagte Fink, »und ich wäre vielleicht noch nicht zurück, aber seit dem Schneefall ist nicht mehr viel von den Gütern zu sehen. Ich habe Dobrowice gekauft.«

»Alle Wetter!« rief Karl erfreut.

»Mächtiger Boden«, fuhr Fink fort, »fünfhundert Morgen Laubwald, in dem die Baumasche fast einen Fuß hoch liegt. In dem polnischen Loch daneben, das sie dort Kreisstadt nennen, fuhr das Schachervolk wie Ameisen durcheinander, als es erfuhr, daß von jetzt unser Sporn täglich über ihren Markt klirren soll. Sie aber, Amtmann, werden sich freuen, wenn Sie das neue Gut sehen. Ich habe Lust, Sie im ersten Frühjahr hinzuschicken. – Was halten Sie in der Hand? Ein Schreiben von Anton? Geben Sie her.«

Er brach den Brief hastig auf. »Ist das Fräulein im Schloß?« – »Ja, Herr von Fink.« – »Gut. Heut abend geht ein Bote zum Pastor nach Neudorf.« Mit schnellen Schritten ging er nach dem Schloß.

Lenore saß in ihrem Zimmer, um sie herum lag zerschnittene Leinwand, sie nähte. Emsig stach sie mit der Nadel in den harten Stoff, legte zuweilen die Naht auf das Knie, glättete mit dem Fingerhut und betrachtete dann mißtrauisch die einzelnen Stiche, ob sie auch klein und regelmäßig waren. Da klang auf dem Korridor der schnelle Schritt, sie sprang auf, und krampfhaft preßte ihre Hand die Leinwand zusammen. Aber sie faßte sich mit kräftigem Entschluß und setzte sich wieder zu ihrer Arbeit. Es klopfte an ihre Tür. Ein tiefes Rot stieg ihr langsam über Hals und Wange, und ihr »Herein!« gelangte kaum bis an das Ohr des Gastes. Der eintretende Fink sah sich neugierig in dem schmucklosen Raume um, an der Wand einige Kreidezeichnungen Lenorens, sonst nur der unentbehrlichste Hausrat. Das kleine Sofa aus Pantherfellen stand nicht mehr darin.

Als Fink sich vor Lenore verneigte, fragte sie in gleichgültigem Ton: »Hat was Unangenehmes Sie aufgehalten? Wir alle machten uns Sorge.«

»Ein Gut, das ich gekauft habe, verzögerte die Rückkehr. Jetzt komme ich in Eile, mich bei meiner Herrin zu melden, zugleich bringe ich Ihnen ein Paket, welches Anton für die Frau Baronin gesandt hat. Wenn das Befinden der gnädigen Frau mir erlaubt, sie zu begrüßen, wünsche ich, ihr meine Aufwartung zu machen.«

Lenore nahm den Brief. »Ich gehe sogleich zur Mutter, verzeihen Sie!« Mit einer Verbeugung suchte sie bei ihm vorbeizukommen.

Fink hielt sie durch eine Handbewegung zurück und sagte scherzend: »Ich sehe Sie hausmütterlich mit Schere und Nadel beschäftigt. Wer ist der Glückliche, für den Sie diese keilförmigen Stücke zusammennähen?«

Lenore errötete wieder. »Das ist Frauenarbeit, und ein Herr darf danach nicht fragen.«

»Ich weiß doch, der Fingerhut steht sonst nicht in Ihrer Gunst«, sagte Fink gutmütig. »Ist es denn nötig, liebes Fräulein, daß Sie sich die Augen verderben?«

»Ja, Herr von Fink«, erwiderte Lenore in festem Tone, »es ist nötig, und es wird nötig sein.«

»Ei, ei!« rief Fink kopfschüttelnd und setzte sich gemächlich auf eine Stuhllehne. »Glauben Sie denn, daß ich Ihre geheimen Feldzüge mit Nadel und Schere nicht schon längst gemerkt habe? Und dazu Ihr ernstes Gesicht und die wahrhaft glorreiche Haltung, mit der Sie mich dreisten Knaben behandeln. Wo ist das Katzensofa? Wo ist die brüderliche Offenheit; die ich nach unserm Vertrage erwarten durfte? Sie haben unser Abkommen schlecht gehalten. Ich sehe deutlich, mein guter Freund ist geneigt, mich aufzugeben, und zieht sich mit bestem Anstande zurück. Aber gestatten Sie auch mir die Bemerkung, daß Ihnen das schwerlich etwas nützen wird. Sie werden mich nicht los.«

»Seien Sie edelmütig, Herr von Fink«, unterbrach ihn Lenore in heftiger Bewegung. »Machen Sie mir nicht noch schwerer, was ich tun muß. Ja, ich bereite mich vor, von hier zu scheiden, zu scheiden auch von Ihnen.«

»Sie weigern sich also, hier bei mir auszuhalten?« sagte Fink mit gefurchter Stirn. – »Wohlan, ich werde wiederkommen und so lange bitten, bis Sie mich erhören. Wenn Sie mir entlaufen, reise ich Ihnen nach, und wenn Sie Ihr schönes Haar abschneiden und in ein Kloster fliehen, ich sprenge die Mauern und hole Sie heraus. Habe ich nicht um Sie geworben wie der Taugenichts im Märchen um die Königstochter? Um Sie zu gewinnen, stolze Lenore, habe ich Sand in Gras verwandelt und mich selber in einen ehrbaren Hauswirt. Diese Wundertaten haben Sie verschuldet. Darum, geliebte Herrin, seien Sie gescheit und quälen Sie uns nicht durch mädchenhafte Launen.«

»Oh, ehren Sie diese Launen!« rief Lenore, in Tränen ausbrechend. »In der Einsamkeit dieser Wochen habe ich jede Stunde mit meinem Schmerz gerungen. Ich bin ein armes Mädchen, das jetzt die Pflicht hat, für ihre leidenden Eltern zu leben. Die Mitgift, welche ich in Ihre Zukunft bringen würde, heißt Krankheit, Trübsinn und Hilflosigkeit.«

»Sie irren«, unterbrach sie Fink ernst. »Unser Freund hat für Sie gesorgt Er hat zwei Schurken ins Wasser gejagt und die Schulden Ihres Vaters bezahlt; dem Freiherrn bleibt ein hübsches kleines Vermögen, alle Not ist zu Ende, und Sie selbst, Trotzkopf, sind gar keine schlechte Partie, wenn Ihnen daran etwas liegt. Der Brief, den Sie in der Hand halten, vernichtet Ihre Philosophie.«

Lenore starrte auf den Umschlag und warf den Brief von sich weg. »Nein!« rief sie außer sich. »Als ich von Jammer zerrissen an Ihrem Herzen lag, damals riefen Sie mir zu, ich sollte Kraft gewinnen auch Ihnen gegenüber. Und jeden Tag fühle ich, daß ich Ihnen gegenüber keine Kraft habe, keine Überzeugung und keinen Willen. Was Sie sagen, erscheint mir wahr, und ich vergesse, was ich selbst anders gedacht; was Sie von mir fordern, das muß ich tun, widerstandslos, wie eine Sklavin. Die Frau, welche neben Ihnen durch das Leben geht, soll Ihnen ebenbürtig sein an Geist und Kraft, und sicher soll sie sich fühlen in dem eigenen Kreis. Ich bin ein ungebildetes, hilfloses Mädchen. In törichter Leidenschaft habe ich Ihnen verraten, daß ich um Ihretwillen wagen kann, was ein Weib nie wagen sollte. Sie finden in mir nichts, was Sie ehren können. Sie werden mich küssen und – werden mich ertragen.« – Lenorens Hand ballte sich, und ihre Augen flammten. So stand sie vor ihm, und ihre Gestalt erbebte in dem Kampfe von Stolz und Liebe.

»Reut Sie so sehr, daß Sie für mich eine Kugel in die Schulter des Mordgesellen sandten?« fragte Fink finster. »Was ich sehe, sieht nicht aus wie Liebe, eher wie Haß.«

»Ich Sie hassen!« rief das Mädchen und schlug die Hände vor das Gesicht.

Er nahm ihr die Hände vom Antlitz, zog sie an sich und drückte einen Kuß auf ihre Lippen. »Vertraue mir, Lenore.«

»Laß mich, laß mich!« rief Lenore sich sträubend, aber ihr Mund hing wieder heiß an dem seinen, sie umschlang ihn fest, und zu ihm aufsehend mit einem leidenschaftlichen Ausdruck von Liebe und Furcht, glitt sie zu seinen Füßen nieder.

Erschüttert beugte sich Fink herab und hob sie auf. »Mein bist du, und ich halte dich fest!« rief er. »Mit Büchse und Blei habe ich dich erbeutet, du stürmisches Herz! – In einem Atem sagst du mir Liebevolles und Hartes. – Alle Wetter, bin ich denn ein solcher Sklavenvogt, daß ein braves Weib fürchten muß, unter mein Joch zu kommen? So wie du bist, Lenore, entschlossen, kühn, ein kleiner Teufel von Leidenschaft, gerade so will ich dich haben und nicht anders. Wir sind Waffenbrüder gewesen, und wir werden es in diesem Lande bleiben. Der Tag kann wiederkommen, wo wir beide in unserm Hause den Kolben an die Wange legen, und das Volk um uns verlangt einen Sinn, der eher einen Schlag gibt, als einen erträgt. Und wärest du niemals die Sehnsucht meines Herzens gewesen und wärest du ein Mann, ich würde dich für mein Leben zu gewinnen suchen als meinen Genossen. Denn, Lenore, du wirst mir nicht nur ein liebes Weib sein, auch ein mutiger Freund, der Vertraute meiner Taten, mein treuester Kamerad.«

 

Lenore schüttelte den Kopf, aber sie hielt den Geliebten fest umklammert. »Ich soll deine Hausfrau werden«, klagte sie. Fink strich ihr liebkosend über das Haar und küßte die glühende Stirn. »Gib dich zufrieden, mein Herz«, sagte er zärtlich, »und finde dich drein. Wir haben miteinander in einem Feuer gesessen, das stark genug war, um ein großes Gefühl zur Reife zu bringen. Und wir kennen eines das andere. Unter uns gesagt, wir werden manchmal einen Wirbelwind in unserm Hause haben. Ich bin kein bequemer Gesell, am wenigsten für ein Weib, und du wirst deinen eigenen Willen, dessen Verlust du jetzt beklagst, recht gemütlich wiederfinden. Sei ruhig, Liebchen, du wirst wieder ein Trotzkopf werden, wie du gewesen bist, du brauchst dich deshalb gar nicht zu grämen. Also auf einige Stürme mache dich gefaßt, aber auch auf herzliche Liebe und auf ein fröhliches Leben. Du sollst mir wieder lachen, Lenore. Meine Hemden brauchst du nicht zu nähen; wenn du das Wirtschaftsbuch nicht führen willst, so läßt du es bleiben. Und wenn du deinen Söhnen zuweilen im Eifer einen Backenstreich gibst, er wird unsrer Brut nicht schaden. Also ich denke, du gibst dich.«

Lenore schwieg, aber sie drückte sich fest an seine Brust.

Fink zog sie fort. – »Komm zur Mutter!« rief er.

Über das Bett der Kranken beugten sich Fink und Lenore. Um das bleiche Gesicht der Mutter flog ein heller Schein, als sie die Hände auf das Haupt des Mannes legte und ihm ihren Segen gab.

»Sie ist weich und noch immer ein Kind«, sagte sie zu dem Manne. »In Ihren Händen, mein Sohn, liegt es, eine gute Frau aus ihr zu machen.«

Sie trieb die Kinder aus dem Zimmer. »Geht zum Vater«, bat sie, »führt ihn dann zu mir und laßt uns allein.«

Als der Freiherr neben seiner Gemahlin saß, zog die Baronin seine Hand an ihre Lippen und sprach leise: »Heut will ich dir danken, Oskar, für viele Jahre des Glücks, für all deine Liebe.«

»Armes Weib!« murmelte der Blinde.

»Was du erfahren und gelitten hast«, fuhr die Baronin fort, »das hast du erfahren und gelitten für mich und meinen Sohn, und beide lassen wir dich allein zurück in einer freudelosen Welt. – Dir sollte das Glück nicht werden, deinen Namen in der Familie zu vererben. In deinem Haus bist du der letzte, welcher den Namen Rothsattel trägt.«

Der Freiherr stöhnte.

»Aber der Ruf, den wir hinterlassen, soll ohne Flecken sein, wie dein ganzes Leben war – bis auf zwei Stunden der Verzweiflung.« Sie hielt die Hand des Blinden an das Bündel der Schuldscheine und riß jeden einzelnen durch, sie klingelte dem Diener und ließ die Papiere Stück für Stück in den Ofen werfen. Die Flamme flackerte hell auf und warf ein rotes Licht über das Zimmer, es rauschte und knisterte, bis der Brand verglommen. Die Dämmerung des Abends füllte die Stube, und an dem Bett der kranken Frau lag der Freiherr und drückte das Haupt in die Decken, und sie hielt ihre Hände über ihm gefaltet, und ihre Lippen bewegten sich im leisen Gebet.

Im Morgengrauen flattern die Krähen und Dohlen über dein Schnee des Schloßdaches. Die schwarzen Vögel schweben um die Zinne des Turms, und sie brechen mit lautem Geschrei nach dem Walde auf und erzählen ihrem Volke, daß im Hause eine Braut sei und eine Tote. Die bleiche Frau aus der Fremde ist in der Nacht gestorben, und der Blinde, welcher jetzt zusammengesunken in den Armen seiner Tochter liegt, hat in seinem Schmerz nur ein tröstendes Gefühl, daß er ihr, die endlich Ruhe gefunden, in kurzem nachfolgen wird. Und die Unglücksvögel rufen in alle Lüfte, daß auch die fremden Einwanderer dem alten Slawenfluch verfallen sind, der auf dem Schlosse und auf dem Grunde liegt.

Aber den Mann, welcher jetzt im Schloß gebietet, kümmert es wenig, ob eine Dohle schreit oder die Lerche; und wenn ein Fluch auf seinem Boden liegt, er bläst lachend in die Luft und bläst ihn hinweg. Sein Leben wird ein unaufhörlich siegreicher Kampf sein gegen die finstern Geister der Landschaft; und aus dem Slawenschloß wird eine Schar kraftvoller Knaben herausspringen, und ein neues deutsches Geschlecht, dauerhaft an Leib und Seele, wird sich über das Land verbreiten, ein Geschlecht von Kolonisten und Eroberern.

Mit wenigen herzlichen Worten zeigte Fink dem Freunde seine Verlobung und den Tod der Baronin an. Ein versiegelter Brief an Sabine lag dem Schreiben bei.

Es war Abend, als der Postbote den Brief in Antons Zimmer brachte. Lange saß Anton, den Kopf auf die Hand gestützt, vor der Botschaft, endlich ergriff er den Brief an Sabine und eilte nach dem Vorderhaus.

Er traf den Kaufmann im Arbeitszimmer und übergab diesem den Brief. Der Kaufmann rief sogleich Sabine herein. »Fink ist verlobt, hier die Anzeige an dich!«

Sabine schlug erfreut die Hände zusammen und eilte auf Anton zu, aber sie hielt errötend auf dem Wege an, trug den Brief zur Lampe und öffnete ihn. Es mochte nicht viel darin stehen, denn sie war im Augenblick zu Ende; sie mühte sich, ernsthaft auszusehen, aber der Mund gehorchte ihr nicht, sie vermochte ein Lächeln nicht zu unterdrücken. Anton hätte zu anderer Zeit diese Stimmung mit leidenschaftlichem Anteil beobachtet, heut achtete er kaum darauf.

»Sie bleiben doch heut abend bei uns, lieber Wohlfart?« fragte der Kaufmann.

Anton erwiderte: »Ich selbst wollte Sie bitten, mir einige Minuten zu schenken. Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen.« Er sah unruhig auf Sabine.

»Lassen Sie hören! – Bleib, Sabine!« rief der Kaufmann der Schwester zu, welche nach Antons Worten entschlüpfen wollte. »Ihr seid gute Freunde, Herr Wohlfart wird an deiner Gegenwart keinen Anstoß nehmen. Sprechen Sie, Freund, womit kann ich Ihnen dienen?«

Anton preßte die Lippen zusammen und blickte wieder auf die Geliebte, welche an den Türpfosten gelehnt vor sich niedersah. »Darf ich fragen, Herr Schröter«, begann er endlich mit Überwindung, »ob Sie die Stellung gefunden haben, welche Ihre Güte mir vermitteln wollte?«

Sabine bewegte sich unruhig, auch der Kaufmann sah verwundert auf. »Ich glaube, Ihnen etwas anbieten zu können, aber eilt das so sehr, lieber Wohlfart?«

»Ja«, entgegnete Anton feierlich. »Ich habe keinen Tag zu verlieren. Meine Beziehungen zu der Familie Rothsattel sind jetzt völlig gelöst, die furchtbaren Ereignisse, welche noch in den letzten Wochen durch meine Tätigkeit herbeigeführt wurden, haben auch meinen Körper angegriffen. Ich sehne mich nach Ruhe. Regelmäßige Arbeit in einer fremden Stadt, wo mich nichts mehr an die Vergangenheit erinnert, ist mir jetzt Bedürfnis.«

Wieder bewegte sich Sabine, ein ernster Blick des Bruders hielt sie zurück.

»Und diese Ruhe, die auch ich für Sie wünsche, können Sie bei uns nicht finden?« fragte der Kaufmann.

»Nein«, erwiderte Anton mit klangloser Stimme, »ich bitte Sie, mir nicht zu zürnen, wenn ich heut von Ihnen Abschied nehme.«

»Abschied!« rief der Hausherr. »Ich verstehe nicht, weshalb das so eilig ist. In unserm Hause sollen Sie sich erholen, die Frauen sollen besser für Sie sorgen, als sie bisher getan. Wohlfart beklagt sich über dich, Sabine. Er sieht blaß und angegriffen aus. Du und die Tante, ihr dürft so etwas nicht leiden.«

Sabine antwortete nichts.

»Ich muß fort, Herr Schröter«, sprach Anton fest, »morgen reise ich ab.«

»Und wollen Sie Ihren Freunden nicht sagen, weshalb dies so plötzlich sein muß?« fragte der Kaufmann ernsthaft.