Kostenlos

Soll und Haben

Text
0
Kritiken
iOSAndroidWindows Phone
Wohin soll der Link zur App geschickt werden?
Schließen Sie dieses Fenster erst, wenn Sie den Code auf Ihrem Mobilgerät eingegeben haben
Erneut versuchenLink gesendet

Auf Wunsch des Urheberrechtsinhabers steht dieses Buch nicht als Datei zum Download zur Verfügung.

Sie können es jedoch in unseren mobilen Anwendungen (auch ohne Verbindung zum Internet) und online auf der LitRes-Website lesen.

Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

7

Anton stand unter der gemeinsamen Oberhoheit der Herren Jordan und Pix und entdeckte bald, daß er die Ehre hatte, kleiner Vasall eines großen Staatskörpers zu sein. Was die unerfahrene Außenwelt höchst oberflächlich unter dem Namen Kommis zusammenfaßt, das waren für ihn, den Eingeweihten, sehr verschiedene, zum Teil Ehrfurcht gebietende Ämter und Würden. Der Buchhalter, Herr Liebold, thronte als geheimer Minister des Hauses an einem Fenster des zweiten Kontors in einsamer Majestät und geheimnisvoller Tätigkeit. Unaufhörlich schrieb er Zahlen in ein ungeheures Buch und sah nur selten von seinen Ziffern auf, wenn sich ein Sperling auf die Gitterstäbe des Fensters setzte oder wenn ein Sonnenstrahl die eine Fensterecke mit gelbem Glanze überzog. Herr Liebold wußte, daß der Sonnenstrahl nach den altertümlichen Gesetzen des Universums in keiner Jahreszeit weiter dringen durfte als bis zur Spitze des Fensterbretts, aber er konnte sich doch nicht enthalten, ihm plötzliche Überfälle auf das Hauptbuch zuzutrauen, und beobachtete ihn deshalb mit argwöhnischen Blicken.

Mit der Ruhe in seiner Ecke kontrastierte die ewige Rührigkeit in der entgegengesetzten. Dort wartete in besonderem Verschlage der zweite Würdenträger, der Kassierer Purzel, umgeben von eisernen Geldkasten, schweren Geldschränken und einem großen Tisch mit einer Steinplatte. Auf dem Tische klangen die Taler, klirrte das goldene Blech der Dukaten, flatterte geräuschlos das graue Papiergeld vom Morgen bis zum Abend. Wer die Pünktlichkeit als allegorische Figur in Öl malen wollte, der mußte ohne Widerrede Herrn Purzel abmalen und durfte höchstens das antike Kostüm dadurch andeuten, daß er mit künstlerischer Lizenz Herrn Purzel die Strümpfe über die Stiefel und das weiße Oberhemd über den Kontorrock herüber malte. Alles hatte in der Seele des Herrn Purzel eine eisenfeste unveränderliche Stellung, unser Herrgott, die Firma, der große Geldkasten, der Wachsstock, das Petschaft. Jeden Morgen, wenn der Kassierer in seinen Verschlag getreten war, begann er seine Amtstätigkeit damit, daß er die Kreide ergriff und einen weißen Punkt auf den Tisch malte, um der Kreide selbst die Stelle zu bezeichnen, wo sie sich den Tag über aufzuhalten hatte. Er stand nicht allein in seiner wichtigen Amtstätigkeit. Ein alter Hausdiener war seine Ordonnanz, die als Ausläufer mit Geldsäcken und Papiergeld den Tag über nach allen Richtungen der Stadt trabte. Es ist wahr, daß die Ordonnanz an der Eigentümlichkeit litt, gegen Abend sehr feurig auszusehen und in einer persönlichen Abhängigkeit von starkem Getränk zu stehen. Aber diese starke Eigenschaft vermochte nicht ihre Treue und Besonnenheit zu erschüttern, ja sie schärfte die Erfindungskraft der Ordonnanz, denn nie hat eines Menschen Gewand so viele geheime Taschen mit Knöpfen und Schnallen gehabt als der Rock des Ausläufers, und nach jedem Glase, das er getrunken, steckte er die Banknoten in einen noch geheimeren Verschluß.

In dem vorderen Kontor war Herr Jordan die erste Person, der Generalstatthalter seiner kaiserlichen Firma. Er war der Aristo der Korrespondenten, erster Kommis des Hauses, hatte die Prokura und wurde von dem Prinzipal zuweilen um seine Ansicht befragt. Er blieb für Anton, was er schon am ersten Tage gewesen war, ein treuer Ratgeber, ein Muster von Tätigkeit, der gesunde Menschenverstand in Person.

Von den Korrespondenten des Kontors, welche unter Anführung des Herrn Jordan Briefe schrieben und Bücher führten, war für Anton neben Herrn Specht, dem Sanguiniker, am interessantesten Herr Baumann, der künftige Apostel der Heiden. Der Missionar war nicht nur ein Heiliger, sondern auch ein sehr guter Rechner. Er war untrüglich in allen Reduktionen von Maß und Gewicht, warf die Preise der Waren aus und besorgte die Kalkulation des Geschäftes. Er wußte mit Bestimmtheit anzugeben, nach welchem Münzfuß die Mohrenfürsten an der Goldküste rechneten und wie hoch der Kurs eines preußischen Talers auf den Sandwichinseln war. Herr Baumann war Antons Stubennachbar und fühlte sich durch die gute Art unseres Helden so angezogen, daß er ihm in kurzer Zeit seine Neigung zuwandte und in den Abendstunden zuweilen seinen Besuch gönnte. Den übrigen stand er fern und ertrug mit christlicher Geduld ihre Spöttereien über seine Pläne.

Auch außerhalb des Hauses hatte die Firma noch einige Würdenträger. Da war Herr Birnbaum, der Zollkommis, welcher nur selten im Kontor sichtbar wurde und nur des Sonntags am Tische des Prinzipals erschien, ein exakter Mann, der draußen auf dem Packhof herrschte. Er hatte die Zollprokura für die Geschäfte nach dem Auslande, das gewichtige Recht, den Namen T. O. Schröter unter die Begleitscheine des Hauses zu setzen. Wenn einer von den Herren der Handlung den Namen eines Beamten verdiente, so war es dieser Herr, er trug auch seinen Rock stets zugeknöpft, wie seine Freunde, die Steueroffizianten. Ferner war da der Magazinier des Geschäftes, der die Kontrolle über die verschiedenen Magazine in der Stadt hatte, die Assekuranzen besorgte und auf dem Markte die großen Einkäufe in Landesprodukten machte. Herr Balbus war durchaus kein feiner Mann, er war von Haus aus sehr arm, und seine Schulbildung war mangelhaft, aber der Prinzipal behandelte ihn mit großer Achtung. Anton erfuhr, daß er seine Mutter und eine kranke Schwester durch sein Gehalt erhielt.

Aber die größte Tätigkeit unter allen, eine kriegerische, wahrhaft absolute Feldherrntätigkeit, entwickelte Herr Pix, erster Disponent des Provinzialgeschäfts. An der Tür des vorderen Kontors begann seine Herrschaft und erstreckte sich durch das ganze Haus, bis weit hinaus auf die Straße. Er war der Gott aller Kleinkrämer aus der Provinz, die ihre laufenden Rechnungen hatten, galt bei ihnen für den Chef des Hauses und erwies ihnen dafür die Ehre, sich um ihre Frauen und Kinder zu kümmern. Er hatte die ganze Spedition der Handlung unter sich, regierte ein halbes Dutzend Hausknechte und ebensoviele Auflader, schalt die Fuhrleute, kannte und wußte alles, war immer auf dem Platz und verstand es, in demselben Augenblick einer Krämersfrau zur Entbindung ihrer Tochter zu gratulieren, einen Bettler gröblich anzufahren, einem Hausknecht Order zu geben und das Zünglein an der großen Waage zu beobachten. Wie alle hohen Herren, konnte auch er keinen Widerspruch vertragen und verfocht seine Ansicht selbst gegen den Prinzipal mit einer Hartnäckigkeit, welche unserm Anton einige Male Entsetzen erregte. Außerdem besaß Herr Pix als Geschäftsmann zwei Eigenschaften von wahrhaft wissenschaftlicher Bedeutung: er konnte von jedem Häufchen Kaffeebohnen angeben, in welchem Lande dieses gewachsen war, und vermochte leere Räume im Hause und dessen Umgegend ebensowenig zu vertragen, wie die Luft und die Philosophie einen leeren Raum vertragen wollen. Wo ein Winkel, eine kleine Kammer, ein Treppenverschlag, ein Kellerloch aufzuspüren war, da siedelte sich Herr Pix mit Tonnen, Leiterbäumen, Stricken und allen erdenklichen Stoffen an, und wo er und seine Bande, die Riesen, sich einmal festgesetzt hatten, vermochte sie keine Gewalt der Erde zu vertreiben, selbst der Prinzipal nicht.

»Wo ist Wohlfart?« rief Schröter aus der Tür des vordern Kontors in den Hausflur.

»Auf dem Boden«, antwortete Herr Pix kaltblütig.

»Was tut er dort?« fragte der Prinzipal verwundert. – In demselben Augenblick hörte man oben im Hause lebhafte Stimmen, und Anton polterte die Treppe herunter, gefolgt von einem Hausknecht, beide beladen mit Zigarrenkisten, hinter ihnen die Tante, ein wenig erhitzt und sehr ärgerlich.

»Sie wollen uns oben nicht leiden«, sagte Anton eifrig zu Herrn Pix.

»Jetzt kommen sie uns schon auf den Wäscheboden«, sagte die Tante ebenso eifrig zum Prinzipal.

»Die Zigarren dürfen hier unten nicht stehenbleiben«, erklärte Herr Pix dem Prinzipal und der Tante.

»Unter den Wäscheleinen dulde ich keine Zigarren!« – rief die Tante. »Kein Ort im Hause ist mehr sicher vor Herrn Pix. Auch in die Kammern der Dienstmädchen hat er Zigarren räumen lassen; die Mädchen klagen, daß sie es vor Tabakgeruch nicht mehr aushalten.«

»Es ist trocken dort oben«, sagte Herr Pix zum Prinzipal.

»Können Sie die Zigarren nicht irgend anderswo unterbringen?« fragte der Prinzipal Herrn Pix rücksichtsvoll.

»Es ist unmöglich«, antwortete Herr Pix bestimmt.

»Haben Sie den ganzen Bodenraum zur Wäsche nötig, liebe Tante?« fragte der Prinzipal die Dame.

»Ich glaube, die Hälfte wäre genug«, warf Herr Pix dazwischen.

»Ich hoffe, Sie werden sich mit einer Ecke begnügen«, entschied der Prinzipal lächelnd. »Lassen Sie sogleich den Tischler einen Verschlag machen.«

»Wenn Herr Pix erst einmal auf dem Boden ist, so wird er unsere Wäsche verdrängen«, klagte die erfahrene Tante.

»Es soll die letzte Billigung sein, die wir ihm machen«, beruhigte sie der Prinzipal.

Herr Pix lachte still, wie die Tante später behauptete, mit einem rebellischen Grinsen, und gab unserm Helden, sobald sich die beiden Autoritäten entfernt hatten, sofort den Befehl, mit den Kisten wieder hinaufzuziehen.

Am größten aber war Herr Pix, sooft seine Vertrauten, die reisenden Kommis des Geschäfts, auf kurze Zeit in die Handlung zurückkehrten. Dann setzte sich das Provinzialgeschäft im Hinterhause zusammen und verarbeitete die Neuigkeiten des Landes. Dann entfaltete Herr Pix seine genaue Bekanntschaft mit allen Geschäftsleuten der Provinz, mit ihren Vermögensverhältnissen und ihrer Gemütsart, und verfügte in kurzen, aber gewichtigen Worten, wieviel an Vertrauen und Kredit den kleinen Handlungen zu schenken sei. Dann wurde Punsch getrunken und Solo gespielt, welches Spiel seines monarchischen Charakters wegen von Herrn Pix am meisten geschätzt wurde; doch behandelte er auch hier alle Kompaniegeschäfte mit Verachtung.

Was aber Herrn Pix in dem Auge der Mitwelt das größte Ansehen gab, das waren die Riesen, welche um die große Waage herum nach seinem Befehle schalteten, hohe breitschultrige Männer mit herkulischer Kraft. Wenn sie die großen Tonnen zuschlugen und rollten und mit Zentnern umgingen wie gewöhnliche Menschen mit Pfunden, so erschienen sie dem neuen Lehrling wie die Überreste eines alten Volkes, von dem die Märchen erzählen, daß es einst auf deutschem Boden gehaust und mit turmhohen Felsblöcken Märmel gespielt habe. Bald merkte Anton, daß sie selbst nicht einem Stamme angehörten. Da waren zuerst sechs Hausknechte, alle von der Natur aus zähem Holz über Lebensgröße ausgeführt. Sie gehörten ganz der Handlung an, waren die regelmäßigen Untergebenen des schwarzen Pinsels, ja mehrere von ihnen wohnten im Hause selbst und hatten allnächtlich der Reihe nach die Wache. Von neun Uhr ab saß dann Pluto, der Neufundländer des Fräuleins, neben einer riesigen Gestalt schweigend im Schatten eines großen Fasses. Diese Hausknechte, wie groß sie auch waren und wie stark, sahen doch den Söhnen sterblicher Menschen noch in manchen Stücken ähnlich. Daneben aber bildeten die Auflader der Kaufmannschaft eine besondere Korporation, welche auf dem Packhof vor dem Tore ihr Hauptquartier hatte und von dort aus die Ladungen nach den großen Warenhandlungen der Stadt schaffte oder abholte. Diese waren die mächtigsten unter den Riesen und einzelne unter ihnen von einer Körperkraft, wie sie in anderm Berufe nicht mehr gefunden wird. Sie hatten mit vielen Handlungen der Stadt zu tun, aber das alte angesehene Haus von T. O. Schröter war die irdische Stätte, auf der sie sich am liebsten herabließen, mit der kleinen Gegenwart zu verkehren. Seit mehr als einem Menschenalter war der Chef dieses Hauses der erste Vorstand ihrer Korporation gewesen. So hatte sich ein Klientenverhältnis zu der Firma gebildet. Herr Schröter empfing am Neujahr als erster ihren Glückwunsch und wurde Pate sämtlicher Riesenkinder, welche im Laufe des Jahres bei ihrer Taufe die Arme der diensttuenden Hebamme auf das Taufbecken herunterdrückten und den Geistlichen durch ihre ungeheuren Köpfe so beunruhigten, daß er seine Stimme zur Stärke des Donners erhob, um den Teufel aus ihnen herauszutreiben.

 

Unter diesen Lederschürzen war Sturm, ihr Oberster, wieder der größte und stärkste, ein Mann, der enge Hintergassen vermied, um seine Kleider nicht auf beiden Mauerseiten zu reiben. Er wurde gerufen, wenn eine Last so schwer war, daß seine Kameraden sie nicht bewältigen konnten, dann stemmte er seine Schulter an und schob die größten Fässer weg wie Holzklötzchen. Es ging von ihm die Sage, daß er einmal ein polnisches Pferd mit allen vier Beinen in die Höhe gehoben hätte, und Herr Specht behauptete, es gäbe für ihn nichts Schweres auf der Erde. Über seinem großen Körper glänzte ein breites Gesicht von natürlicher Gutherzigkeit, welche nur durch die Würde gebändigt wurde, die ein Mann von seiner Stellung besitzen mußte.

Er stand zur Firma in einem besonders freundschaftlichen Verhältnis und besaß ein einziges Kind, an dem er mit großer Zärtlichkeit hing. Der Knabe hatte seine Mutter früh verloren, und der Vater hatte ihn als fünfzehnjährigen Burschen in der Handlung von T. O. Schröter untergebracht in einer eigentümlichen Stellung, die er selbst für ihn ausgedacht. Karl Sturm war unter den Hausknechten ungefähr dasselbe, was Fink im Kontor war, ein Volontär, er trug seine Lederschürze und seinen kleinen Haken wie der Vater und war durch eignes Verdienst zu einem ausgedehnten Wirkungskreis gekommen. Er genoß das Vertrauen aller Mitglieder der Handlung, wußte in jedem Winkel des Hauses Bescheid, sammelte alle Bindfäden und Schnüre, alle Nägel und alle Faßdauben, hob alles Packpapier auf, fütterte den Pluto und unterstützte den Bedienten beim Stiefelputzen. Er konnte genau angeben, wo irgendeine Tonne, ein Brett, ein alter Warenrest lag. Wenn ein Nagel einzuschlagen war, so wurde Karl gerufen; sooft ein Stemmeisen verlegt war, Karl wußte es zu schaffen; wenn die Tante den Wintervorrat von Schinken und Würsten aufhob, so verstand Karl am besten, diese Schätze einzupacken, und wenn Herr Schröter eine schnelle Bestellung auszurichten hatte, so war Karl der zuverlässigste Bote. Zu allem anstellig, immer guter Laune und nie um Auskunft verlegen, war er ein Günstling aller Parteien, die Auflader nannten ihn ›unser Karl‹, und der Vater wandte sich oft von seiner Arbeit ab, um einen heimlichen Blick voll Stolz auf den Knaben zu werfen.

Nur in einem Punkte war er nicht mit ihm zufrieden: Karl gab keine Hoffnung, seinem Vater in Größe und Stärke gleich zu werden. Er war ein hübscher Bursch mit roten Wangen und blondem Kraushaar, aber nach dem Gutachten aller Riesen war für seine Zukunft keine andere als eine mäßige Mittelgröße zu erwarten. So kam es, daß der Vater ihn als eine Art Zwerg behandelte, mit unaufhörlicher Schonung und nicht ohne Wehmut. Er verbot seinem Sohne, beim Aufladen schwerer Frachtgüter anzugreifen, und wenn er plötzlich von einem Vatergefühl ergriffen wurde, so legte er die Hand vorsichtig auf den Kopf seines Karls, in der unbestimmten Furcht, daß die Köpfe von Zwergen nur die Dicke einer Eierschale hätten und bei einem kräftigen Druck zerbrechen müßten.

»Es ist einerlei, was das Ding lernt«, sagte er zu Herrn Pix, als er den Knaben nach der Konfirmation im Geschäft einführte, »wenn er nur zweierlei lernt: ehrlich sein und praktisch sein.« Diese Rede war ganz nach dem Herzen des Herrn Pix. Und der Vater fing seine Lehre auf der Stelle damit an, daß er den Sohn in das große Gewölbe unter die offenen Vorräte führte und zu ihm sagte: »Hier sind die Mandeln und hier die Rosinen, diese in dem kleinen Faß schmecken am besten, koste einmal.«

»Sie schmecken gut, Vater«, rief Karl vergnügt.

»Ich denk’s, Liliputer«, nickte der Vater. »Sieh, aus allen diesen Fässern kannst du essen, soviel du willst, kein Mensch wird dir’s wehren; Herr Schröter erlaubt dir’s, Herr Pix erlaubt dir’s, ich erlaube dir’s. Jetzt merke auf, mein Kleiner. Jetzt sollst du probieren, wie lange du vor diesen Tonnen stehen kannst, ohne hineinzugreifen. Je länger du’s aushältst, desto besser für dich; wenn du’s nicht mehr aushalten kannst, kommst du zu mir und sagst: Es ist genug. Das ist gar kein Befehl für dich, es ist nur wegen dir selber und wegen der Ehre.« So ließ der Alte den Knaben allein, nachdem er seine große dreischalige Uhr herausgezogen und auf eine Kiste neben sich gelegt hatte. »Versuch’s zuerst mit einer Stunde«, sagte er im Weggehen, »geht’s nicht, schadet’s auch nicht. Es wird schon werden.« Der Junge streckte trotzig die Hände in die Hosentaschen und ging zwischen den Fässern auf und ab. Nach Verlauf von mehr als zwei Stunden kam er, die Uhr in der Hand, zum Vater heraus und rief: »Es ist genug.«

»Zwei und eine halbe Stunde«, sagte der alte Sturm und winkte vergnügt Herrn Pix zu. »Jetzt ist’s gut, Kleiner, jetzt brauchst du den übrigen Tag nicht mehr ins Gewölbe zu gehen. Komm her, du sollst diese Kiste zusammenschlagen; hier ist ein neuer Hammer für dich, er kostet zehn Groschen.«

»Er ist nur acht wert«, sagte Karl, den Hammer betrachtend, »du kaufst immer zu teuer.«

So wurde Karl eingeführt. Am ersten Morgen, nachdem Anton gekommen war, sagte Karl zu seinem Vater im Hausflur: »Es ist ein neuer Lehrling da.«

»Was ist’s für einer?« f ragte der Alte.

»Er hat einen grünen Rock und graue Hosen, es ist Mitteltuch; er ist nur wenig größer als ich. Er hat schon mit mir gesprochen, es scheint ein guter Kerl. Gib mir dein Taschenmesser, ich muß ihm einen neuen Holznagel in einen Kleiderschrank schneiden.«

»Mein Messer, du Knirps?« rief Sturm, auf seinen Sohn heruntersehend, mit tadelnder Stimme. »Du hast ja dein eigenes.«

»Zerbrochen«, sagte Karl unwillig.

»Wer hat’s gekauft?« fragte Sturm.

»Du hast’s gekauft, Vater Goliath; es war ein erbärmliches Ding, wie ein Wickelkind.«

»Ich konnte dir doch kein schweres kaufen für deine kleine Hand?« fragte der Vater gekränkt.

»Da haben wir’s«, sagte Karl, sich vor den Vater hinstellend, »wenn man dich hört, muß man glauben, ich wäre eine Kaulquappe von Gassenjungen, die ihre Hosen noch an die Jacke knöpft und hinten ein weißes Schwänzchen trägt.«

Die Auflader lachten. »Sei nicht aufsässig gegen deinen Vater«, sagte Sturm und legte seine Hand behutsam auf den Kopf seines Sohnes.

»Sieh, Vater, das ist der Lehrling«, rief Karl und betrachtete Anton, der jetzt für ihn zum Inventarium des Hauses gehörte, mit prüfenden Blicken.

Herr Pix stellte Anton dem Riesen vor, und Anton sagte, wieder mit Achtung zu dem Riesen aufsehend: »Ich war noch nie in einem Geschäft, ich bitte auch Sie, mir zu helfen, wo ich nicht Bescheid weiß.«

»Alles Ding will gelernt sein«, erwiderte der Riese mit Würde. »Da ist mein Kleiner hier, der hat in einem Jahre schon hübsch etwas losgekriegt. Also Ihr Vater ist nicht Kaufmann.«

»Mein Vater war Beamter, er ist gestorben«, erwiderte Anton.

»Oh, das tut mir leid«, sagte der Auflader mit betrübtem Gesicht. »Aber Ihre Frau Mutter kann sich doch über Sie freuen.«

»Sie ist auch gestorben«, sagte Anton wieder.

»Oh, oh, oh!« rief der Riese bedauernd und sann erstaunt über das Schicksal Antons nach. Er schüttelte lange den Kopf und sagte endlich mit leiser Stimme zu seinem Karl: »Er hat keine Mutter mehr.«

»Und keinen Vater«, erwiderte Karl ebenso.

»Behandle ihn gut, Liliputer«, sagte der Alte, »du bist gewissermaßen auch eine Waise.«

»Na«, rief Karl, auf die Schürze des Aufladers schlagend, »wer einen so großen Vater hat, der hat Sorgen genug.«

»Weißt du, was du bist? Du bist ein kleines Ungetüm«, sagte der Vater und schlug lustig mit dem Schlegel auf die Reifen eines Fasses.

Seit der Zeit schenkte Karl dem neuen Lehrling seine Gunst. Wenn er am Morgen auf dessen Stiefelsohlen Nr. 14 geschrieben hatte, so stellte er die Stiefel mit besonderer Sorgfalt zurecht; er nähte ihm abgerissene Knöpfe an die Kleider und war, sooft Anton an der Waage zu tun hatte, dienstbeflissen an seiner Seite, ihm etwas zuzureichen und die kleineren Gewichte auf die Waage zu heben. Anton vergalt diese Dienste durch freundliches Wesen gegen Vater und Sohn, er unterhielt sich gern mit dem aufgeweckten Burschen und wurde der Vertraute von manchen kleinen Liebhabereien des Praktikers. Und als die nächste Weihnacht herankam, veranstaltete er bei den Herren vom Kontor eine Geldsammlung, kaufte einen großen Kasten mit gutem Handwerkszeug und machte dadurch Karl zum glücklichsten aller Sterblichen.

Aber auch mit allen gebietenden Herren der Handlung stand Anton auf gutem Fuß. Er hörte die verständigen Urteile des Herrn Jordan mit großer Achtung an, bewies Herrn Pix einen aufrichtigen und unbedingten Diensteifer, ließ sich von Herrn Specht in politischen Kombinationen unterrichten, las die Missionsberichte, welche ihm Herr Baumann anvertraute, erbat sich von Herrn Purzel niemals Vorschüsse, sondern wußte mit dem wenigen auszukommen, was ihm sein Vormund senden konnte, und ermunterte oft durch seine lebhafte Beistimmung Herrn Liebold, irgendeine unzweifelhafte Wahrheit auszusprechen und diese nicht durch sofortigen Widerruf zu vernichten. Mit sämtlichen Herren der Handlung stand er auf gutem Fuß, nur mit einem einzigen wollte es ihm nicht glücken, und dieser war der Volontär des Geschäfts.

An einem Nachmittage sah das Kontor in der Dämmerung grau und unheimlich aus, melancholisch tickte die alte Wanduhr, und jeder Eintretende brachte eine Wolke feuchter Nebelluft in das Zimmer, welche den Raum nicht anmutiger machte. Da gab Herr Jordan unserm Helden den Auftrag, in einer andern Handlung eine schleunige Besorgung auszurichten. Als Anton an das Pult des Prokuristen trat, um den Brief in Empfang zu nehmen, sah Fink von seinem Platz auf und sagte zu Jordan: »Schicken Sie ihn doch gleich einmal zum Büchsenmacher, der Taugenichts soll ihm mein Gewehr mitgeben.«

Unserm Helden schoß das Blut ins Gesicht, er sagte eifrig zu Jordan: »Geben Sie mir den Auftrag nicht, ich werde ihn nicht ausrichten.«

»So?« fragte Fink und sah verwundert auf. »Und warum nicht, mein Hähnchen?«

»Ich bin nicht Ihr Diener«, antwortete Anton erbittert. »Hätten Sie mich gebeten, den Gang für Sie zu tun, so würde ich ihn vielleicht gemacht haben, aber einem Auftrage, der mit solcher Anmaßung gegeben ist, folge ich nicht.«

»Einfältiger Junge«, brummte Fink und schrieb weiter.

Das ganze Kontor hatte die schmähenden Worte gehört, alle Federn hielten still, und alle Herren sahen auf Anton. Dieser war in der größten Aufregung, er rief mit etwas bebender Stimme, aber mit blitzenden Augen: »Sie haben mich beleidigt, ich dulde von niemandem eine Beleidigung, am wenigsten von Ihnen. Sie werden mir heute abend darüber eine Erklärung geben.«

»Ich prügele niemanden gern«, sagte Fink friedfertig, »ich bin kein Schulmeister und führe keine Rute.«

 

»Es ist genug«, rief Anton totenbleich. »Sie sollen mir Rede stehen«, ergriff seinen Hut und stürzte mit dem Briefe des Herrn Jordan hinaus.

Draußen rieselte kalter Regen herunter, Anton merkte es nicht. Er fühlte sich vernichtet, gehöhnt von einem Stärkeren, tödlich gekränkt in seinem jungen, harmlosen Selbstgefühl. Sein ganzes Leben schien ihm zerstört, er kam sich hilflos vor auf seinen Wegen, allein in einer fremden Welt. Gegen Fink empfand er etwas, was halb glühender Haß war und halb Bewunderung; der freche Mensch erschien ihm auch nach dieser Beleidigung so sicher und überlegen. Es wurde ihm schwer ums Herz, und seine Augen füllten sich mit Tränen. So kam er an das Haus, wo er seinen Auftrag auszurichten hatte. Vor der Tür hielt der Wagen seines Prinzipals, er huschte mit niedergeschlagenen Augen vorbei und hatte kaum Fassung genug, in dem fremden Kontor sein Unglück zu verbergen. Als er wieder herauskam, traf er an der Haustür mit der Schwester seines Prinzipals zusammen, welche im Begriff war, in den Wagen zu steigen. Er grüßte und wollte neben ihr vorbeistürzen; Sabine blieb stehen und sah ihn an. Der Bediente war nicht zur Stelle, der Kutscher sprach vom Bock nach der anderen Seite hinab laut mit einem Bekannten. Anton trat herzu, rief den Kutscher an, öffnete den Schlag und hob das Fräulein in den Wagen. Sabine hielt den Schlag zurück, den er zuwerfen wollte, und blickte ihm fragend in das verstörte Gesicht. »Was fehlt Ihnen, Herr Wohlfart?« fragte sie leise.

»Es wird vorübergehen«, erwiderte Anton mit zuckender Lippe und einer Verbeugung und schloß die Wagentür. Sabine sah ihn noch einen Augenblick schweigend an, dann neigte sie sich gegen ihn und zog sich zurück, der Wagen fuhr davon.

So unbedeutend der Vorfall war, er gab doch den Gedanken Antons eine andere Richtung. Sabinens Frage und ihr Gruß waren in diesem Augenblick eine Beschwörung seiner Mutlosigkeit. In ihrer dankenden Verbeugung lag Achtung und ein menschlicher Anteil in ihren Worten. Die Frage, der Gruß, der kleine Ritterdienst, den er der jungen Herrin des Hauses geleistet hatte, erinnerten ihn, daß er kein Kind sei, nicht hilflos, nicht schwach und nicht allein. Ja auch in seiner bescheidenen Stellung genoß er die Achtung anderer, und er hatte ein Recht darauf, und er hatte die Pflicht, sich diese Achtung zu bewahren. Er erhob sein Haupt, und sein Entschluß stand fest, lieber das Äußerste zu tun als den Schimpf zu ertragen. Er hielt die Hand in die Höhe wie zum Schwur.

Als er in das Kontor zurückkam, richtete er mit entschiedenem Wesen seine Besorgung aus, ging schweigend und unbekümmert um die neugierigen Blicke der Herren an seinen Platz und arbeitete weiter.

Nach dem Schluß des Kontors eilte er auf Jordans Zimmer. Er fand bereits die Herren Pix und Specht daselbst vor, in dem gemütlichen Eifer, welchen jede solche Szene bei Unbeteiligten zu erzeugen pflegt. Die drei Herren sahen ihn zweifelhaft an, wie man einen armen Teufel ansieht, der vom Schicksal mit Fäusten geschlagen ist, etwas verlegen, etwas mitleidig, ein wenig verächtlich. Anton sagte mit einer Haltung, die in Betracht seiner geringen Erfahrung in Ehrensachen anerkennenswert war: »Ich bin von Herrn von Fink beleidigt worden und habe die Absicht, mir diese Beleidigung nicht gefallen zu lassen. Sie beide, Herr Jordan und Herr Pix, sind im Geschäft meine Vorgesetzten, und ich habe große Achtung vor Ihrer Erfahrung. Von Ihnen wünsche ich vor allem zu wissen, ob Sie in dem Streite selbst mir vollkommen recht geben.«

Herr Jordan schwieg vorsichtig, aber Herr Pix zündete entschlossen eine Zigarre an, setzte sich auf den Holzkorb am Ofen und erklärte: »Sie sind ein guter Kerl, Wohlfart, und Fink hat unrecht, das ist meine Meinung.«

»Meine Meinung ist es auch«, stimmte Herr Specht bei.

»Es ist gut, daß Sie sich an uns gewendet haben«, sagte Herr Jordan, »ich hoffe, der Streit wird sich beilegen lassen; Fink ist oft rauh und kurz angebunden, aber er ist nicht maliziös.«

»Ich sehe nicht ein, wie die Beleidigung ausgeglichen werden kann, wenn ich nicht die nötigen Schritte tue«, rief Anton finster.

»Sie wollen den Streit doch nicht vor den Prinzipal bringen?« fragte Herr Jordan mißbilligend. »Das würde allen Herren unangenehm sein.«

»Mir am meisten«, erwiderte Anton. »Ich weiß, was ich zu tun habe, und wünsche nur vorher noch von Ihnen die Erklärung, daß Fink mich unwürdig behandelt hat.«

»Er ist Volontär«, sagte Herr Jordan, »und hat kein Recht, Ihnen Aufträge zu geben, am wenigsten in seinen Privatgeschäften mit Hasen und Rebhühnern.«

»Das genügt mir« , sagte Anton. »Und jetzt bitte ich Sie, Herr Jordan, mich einen Augenblick unter vier Augen anzuhören.« Er sagte das mit so viel Ernst, daß Herr Jordan stillschweigend die Tür seiner Schlafkammer aufmachte und mit ihm eintrat. Hier ergriff Anton die Hand des Prokuristen, drückte sie kräftig und sprach: »Ich bitte Sie um einen großen Dienst, gehen Sie hinab zu Herrn von Fink und fordern Sie von ihm, daß er mir morgen, in Gegenwart der Herren vom Kontor, das abbittet, was er von beschimpfenden Ausdrücken gegen mich gebraucht hat.«

»Das wird er schwerlich tun«, sagte Herr Jordan kopfschüttelnd.

»Wenn er es nicht tut«, sagte Anton heftig, »so fordern Sie ihn von mir auf Degen oder Pistolen.«

Wenn vor Herrn Jordan plötzlich aus seiner Tintenflasche ein schwarzer Rauch gestiegen wäre, wenn dieser Rauch sich zu einem fürchterlichen Geiste zusammengeballt hätte wie in jenem alten Märchen, und wenn dieser Geist die Absicht ausgesprochen hätte, Herrn Jordan zu erdrosseln, so hätte dieser Herr nicht bestürzter dastehen können, als er jetzt unserm Helden gegenüberstand. »Sie wollen sich mit Herrn von Fink duellieren, er ist ein toller Pistolenschütz, und Sie sind Lehrling und erst seit einem halben Jahr im Geschäft, das ist ja unmöglich!«

»Ich bin Primaner gewesen und habe mein Abiturientenexamen gemacht und wäre jetzt Student, wenn ich nicht vorgezogen hätte, Kaufmann zu werden! – Verwünscht sei das Geschäft, wenn es mich so erniedrigt, daß ich meinen Feind nicht mehr fordern darf. Ich gehe dann noch heut zu Herrn Schröter und erkläre ihm meinen Austritt«, rief Anton mit flammenden Augen.

Herr Jordan sah mit größtem Erstaunen auf seinen gutmütigen Schüler, der auf einmal als ein phantastischer Riese vor ihm umherflackerte. »Seien Sie nur nicht so heftig, lieber Wohlfart«, bat er begütigend, »ich werde zu Fink hinuntergehen, vielleicht läßt sich alles im guten ausgleichen.«

»Ich verlange Abbitte vor dem Kontor«, rief Anton wieder, »Abbitte oder Satisfaktion.«

Es war wohltuend, unterdes die beiden Herren in der Nebenstube zu beobachten. Pix hatte als kluger Feldherr mit einem Ruck seinen Holzkorb in die Nähe der Kammertür geschoben und saß scheinbar gleichgültig da, nur mit seiner Zigarre beschäftigt, während Herr Specht sich nicht enthalten konnte, das Ohr an die Tür zu legen. »Sie schießen sich«, flüsterte Herr Specht, entzückt über die großen Empfindungen, welche dieser Streit hervorzurufen versprach. »Passen Sie auf, Pix, es wird ein furchtbares Unglück; wir alle müssen zum Begräbnis gehen, keiner darf fehlen. Ich wirke die Erlaubnis aus, daß wir Junggesellen die Leiche tragen dürfen.«

»Wessen Leiche?« fragte Herr Pix verwundert.

»Wohlfart muß dran glauben«, rief Herr Specht wieder in dumpfem Flüsterton.

»Unsinn«, sagte Pix, »Sie sind ein Narr!«

»Ich bin kein Narr, und ich verbitte mir alle Anzüglichkeiten«, rief Herr Specht wieder flüsternd und nach dem Beispiel Antons entschlossen, sich nichts gefallen zu lassen.