Kostenlos

Soll und Haben

Text
0
Kritiken
iOSAndroidWindows Phone
Wohin soll der Link zur App geschickt werden?
Schließen Sie dieses Fenster erst, wenn Sie den Code auf Ihrem Mobilgerät eingegeben haben
Erneut versuchenLink gesendet

Auf Wunsch des Urheberrechtsinhabers steht dieses Buch nicht als Datei zum Download zur Verfügung.

Sie können es jedoch in unseren mobilen Anwendungen (auch ohne Verbindung zum Internet) und online auf der LitRes-Website lesen.

Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Jetzt hatte Anton Ursache, auf seiner Hut zu sein. »Er hat vor Zeugen Aussagen getan, welche die Überzeugung geben, daß er die Papiere kennt, daß er weiß, wo sie sich befinden, und daß er die Absicht hat, sie zu irgendeinem Zwecke zu gebrauchen.«



»Vielleicht ist das genug für die Juristen, aber nicht genug für einen Geschäftsmann, um mit ihm zu unterhandeln«, fuhr Veitel fort. »Wissen Sie genau, was er gesagt hat?«



Anton parierte und schlug auf seinen Gegner, indem er sagte: »Seine Mitteilungen sind mir und mehreren anderen Personen genau bekannt, sie sind der Grund, daß ich Sie aufgesucht habe.«



Itzig mußte dies gefährliche Thema verlassen. »Und welche Summe will der Baron daran wenden, die Papiere wiederzuerlangen? Ich will sagen«, verbesserte er einlenkend, »ist es ein Geschäft, auf welches Mühe und Zeit zu verwenden lohnt? Ich habe jetzt vieles andere, was mir zu tun macht. Sie werden nicht verlangen, daß ich wegen ein paar Louisdor meine Zeit verbringe, um etwas zu suchen, was so unbedeutend ist und so schwer zu fassen wie Papiere, die einer versteckt hält.«



Vor Jahren, als die beiden miteinander nach der Hauptstadt zogen, welche sich jetzt als Feinde gegenüberstanden, da war es der Judenknabe, welcher nach Papieren suchte, von denen er in kindlichem Unverstand das Glück seiner Zukunft abhängig glaubte. Damals war er bereitwillig gewesen, das Gut des Freiherrn für Anton zu kaufen. Und jetzt war der andere ausgegangen, geheimnisvolle Dokumente zu suchen, der andere forderte jetzt das Gut des Freiherrn von ihm, und er selbst war ein Wissender geworden. Er hatte die geheimnisvollen Rezepte gefunden, er hielt das Gut des Freiherrn fest in seiner Hand für sich selbst, und sein Schicksal näherte sich der Erfüllung. Beide Männer dachten in demselben Augenblick an den Tag ihrer gemeinsamen Reise.



Anton antwortete: »Ich habe Vollmacht, über die Summe mit ihnen zu verhandeln; ich bemerke Ihnen aber, daß die Angelegenheit eilt. Deshalb ersuche ich Sie, mir vor allem zu erklären, ob Sie geneigt sind, die Dokumente an den Baron von Rothsattel zu überliefern und bei Ankauf der Hypotheken in unserm Interesse tätig zu sein.«



»Ich werde Erkundigungen einziehen und mir überlegen, ob ich Ihnen dienen kann«, erwiderte Veitel kalt.



Anton fragte ebenso. »Welche Zeit verlangen Sie, um sich zu entscheiden?«



»Drei Tage«, versetzte der Agent.



»Ich kann Ihnen nur vierundzwanzig Stunden bewilligen«, sprach Anton bestimmt. »Wenn mir in dieser Zeit Ihre Erklärung nicht wird, so werde ich im Auftrage des Freiherrn jedes, auch das äußerste Mittel anwenden, die Papiere wiederzuerlangen oder mich von deren Vernichtung zu überzeugen. Und alles, was ich über die Entwendung und den gegenwärtigen Versteck der Dokumente weiß, werde ich benutzen, um die zu entdecken, welche das Verbrechen verübt haben.« Er zog seine Uhr und wies auf das Zifferblatt: »Morgen um dieselbe Stunde werde ich mir Ihre Antwort holen.«



So verlief die verhängnisvolle Unterredung. Als Anton die Tür hinter sich zuzog, stand Itzigs Entschluß fest. Er warf noch einen Blick auf den Davoneilenden, einen Blick voll Furcht und Haß. Sein Schulkamerad war sein gefährlichster Feind geworden. Er wußte jetzt, wie sehr Anton zum Nutzen des Freiherrn handelte. Er hatte eine dunkle Ahnung davon, daß die Verbindung Antons mit der Familie an jenem Tage begonnen hatte, wo die Tochter des Edelmanns den andern über den Teich ruderte und er im Staube der Landstraße zusah. Er war geneigt, anzunehmen, daß Anton auf einem ganz andern Wege als er nach dem Besitz desselben Gutes strebe. So erwachte aller Trotz seiner selbstsüchtigen Seele und machte ihn fest. »Noch acht Tage«, murmelte er, »bis zur Verlobung mit Rosalie. Den Tag darauf finde ich die Schuldscheine in einem Winkel von Ehrenthals Kontor. Dann sollen der Rothsattel und seine Freunde den Vergleich suchen auf die Bedingungen, die ich ihnen stelle. Durch die einzige Drohung, daß ich die Auseinandersetzung gerichtlich machen lasse und das Verfahren des Barons unter die Geschäftsleute bringe, zwinge ich diesen Wohlfart zu allem, was ich will. Nur noch acht Tage! So halte ich ihn hin, und dann hab’ ich gewonnen!«



Als Anton nach Verlauf von vierundzwanzig Stunden an Itzigs Wohnung kam, fand er die Tür verschlossen. Er kehrte an demselben Abend zweimal wieder, niemand war für ihn zu Hause. Am nächsten Morgen empfing ihn der schlaue Bursch und erwiderte auf Antons Frage, Herr Itzig sei verreist, es sei möglich, daß er schon in dieser Stunde zurückkomme, es sei auch möglich, daß er erst in einigen Tagen wieder zu sprechen sei.



Aus dem geläufigen Geschwätz erkannte Anton, daß der Knabe nach Anweisung redete.



Von der Tür Itzigs ging Anton zu einem Beamten, welcher in dem Ruf stand, das tätigste Mitglied der Entdeckungspolizei zu sein. Er teilte diesem mit Vorsicht das Nötige über die gestohlene Kassette und deren Inhalt mit und bat um seinen Rat; er äußerte den Verdacht, daß der Diebstahl durch den Advokaten unter Mitwissen des Agenten Itzig verübt sei, und verschwieg nicht die unvollständigen Warnungen, welche der ehrenwerte Tinkeles gemacht hatte. Der Beamte hörte mit Anteil auf Antons Bericht und sagte endlich: »Bei dem ungenügenden Material, welches Sie geben, hat mir der Name Hippus das meiste Interesse. Er ist ein sehr gefährliches Subjekt, das ich bis jetzt immer noch nicht recht habe fassen können. Wegen Schwindelei und kleiner Betrügereien ist er öfter bestraft und steht unter polizeilicher Aufsicht. An die andere Person, welche Sie mir nennen, habe ich allerdings nicht dieselben Rechte. Übrigens sind die Anzeichen, auf welche Sie hinweisen, so gering, daß eine amtliche Verfolgung der Sache kaum tunlich erscheint. Ist doch der Diebstahl selbst, der vor Jahresfrist verübt sein soll, der Behörde noch nicht einmal offiziell angezeigt.«



»Raten Sie mir«, fragte Anton, »nach dem, was Sie von diesem Hippus wissen, ihn aufzusuchen und vielleicht im Wege der Unterhandlung die verschwundenen Dokumente zu erwerben?«



Achselzuckend erwiderte der Beamte: »Von meinem Standpunkt darf ich einen solchen Rat nicht erteilen, ich fürchte aber auch, dieser Schritt würde keinen Erfolg haben. Denn wenn der Verdächtige die Dokumente zum Nutzen eines andern entwendet hat, so werden sie nicht mehr in seinen Händen sein. Und daß er seinen Mitschuldigen verraten sollte, ist wenigstens vorläufig nicht anzunehmen.«



»Und sind Sie unter solchen Umständen ganz außerstande, mir zur Wiedererlangung der Dokumente behilflich zu sein?« fragte Anton.



»Da die erste Bedingung für meine Tätigkeit sein muß, daß der Diebstahl angezeigt und in der Anzeige die gestohlenen Sachen so genau als möglich angegeben sind, so kann ich Ihnen jetzt noch bei Ihren Nachforschungen keine direkte Hilfe leisten. Da Sie aber gerade Herrn Hippus, an dem ich ein persönliches Interesse nehme, zum Gegenstand Ihrer Verfolgung erwählt haben, so will ich tun, was ich irgend vermag. Ich will noch heute bei ihm Haussuchung vornehmen. Ich sage Ihnen im voraus, daß wir nichts finden werden. Ich bin ferner bereit, diese Haussuchung in einigen Tagen zu wiederholen, auf die Gefahr, meinen guten Ruf in den Augen des wackern Hippus einzubüßen. Denn der Kunstgriff, Diebe durch eine oberflächliche Haussuchung sicher zu machen, ist zwar bei Neulingen wirksam, aber bei diesem erfahrenen Mann so wenig angebracht, daß er mir deshalb möglicherweise seine Verachtung gönnen wird. Ganz sicher ist, daß wir auch bei der zweiten Haussuchung nichts finden werden.«



»Und welchen Vorteil kann diese Maßregel für mich haben?« fragte Anton resigniert.



»Einen größeren, als Sie glauben. Da Sie den Weg der Verhandlung mit dem Agenten Itzig bereits eingeschlagen haben, so werden Sie möglicherweise durch unser Eingreifen leichteres Spiel gewinnen. Denn eine Haussuchung hat in der Regel die Wirkung, den Betroffenen zu beunruhigen. Und obgleich ich gar nicht sicher bin, wie Hippus eine solche Heimsuchung aufnehmen wird, so glaube ich doch, daß sie auch ihm ein gewisses Unbehagen einflößen wird. Das kann Ihre Bemühungen unterstützen. Ich will zum Überfluß dafür sorgen, daß die Haussuchung das erstemal ungeschickt und geräuschvoll ausgeführt wird. Glücklicherweise hat er jetzt wieder eine feste Wohnung, er hat eine Zeitlang Ruhe vor uns gehabt und ist sicher geworden. Auch höre ich, daß er alt und kränklich wird, das alles mag Ihnen helfen, den Mann auf irgendeinem Wege zu fangen.«



Mit diesem Bescheide mußte sich Anton entfernen.



4

Es war ein finsterer Novemberabend; der Nebel lag auf der Stadt, er füllte die alten Straßen und Plätze und drang durch die offenen Türen in die Häuser. Er ballte sich um die Straßenlaternen, deren Licht in einer rötlichen Dampfkugel flackerte und nicht drei Schritt weit den Boden erleuchtete. Er schwebte über dem Flusse und wälzte sich dort in dicken Massen durcheinander. Eine Schar langschleppiger grauer Gestalten zog über den schwarzen Strom hin, über die alten Wasserpfähle, unter den Brücken durch, eine gespenstige Bande von giftigen Dünsten! Sie rollten an den Treppen hinauf, hefteten sich an die Holzpfeiler der Galerien und wogten geschäftig durcheinander. Zuweilen entstand eine Lücke zwischen den Gebilden des Nebels, dann konnte man auf das schwarze Wasser hinabsehen, welches wie ein unterirdischer Strom des Verderbens an den Wohnungen der Menschen dahinfloß.



Die Straßen waren leer, hier und da sah man eine Gestalt in der Nähe einer Laterne auftauchen und schnell wieder in der Finsternis verschwinden. Unter diesen dämmerigen Wesen war auch ein kleiner zusammengedrückter Mann, der mit schwankenden Schritten vorwärts strebte und unter den Laternen fortschlüpfte, so schnell ihm dies die unsicheren Füße erlaubten. Durch den Hausflur wankte er in den Hof, in welchem Itzigs Kontor war, und sah nach den Fenstern des Agenten hinauf. Die Vorhänge waren heruntergelassen, aber aus den Ritzen drang ein Lichtschimmer. Der kleine Mann versuchte festzustehen, starrte nach dem Licht, streckte die geballte Faust nach der Höhe und schüttelte sie drohend; dann stieg er die Treppe hinauf und klingelte heftig zwei-, dreimal. Endlich hörte man einen leisen Schritt, die Tür wurde geöffnet, der Kleine fuhr hinein und lief durch das Vorzimmer, welches Itzig hinter sich abschloß. Veitel sah noch bleicher aus als gewöhnlich, und sein Auge fuhr unstet über die Gestalt des späten Gastes. Hippus aber war nie ein einladendes Bild männlicher Schönheit gewesen, heut sah er wahrhaftig unheimlich aus. Seine Züge waren tief eingefallen, eine Mischung von Angst und Trotz saß in dem häßlichen Gesicht, und tückisch sahen seine Augen über die angelaufenen Brillengläser auf den früheren Schüler. Sicher war er wieder betrunken, aber eine fieberhafte Angst hatte seine Lebensgeister erregt und für den Augenblick die Wirkung des Branntweins aufgehoben.

 



»Sie sind mir auf dem Nacken«, rief er und fingerte mit seinen Händen unruhig in der Luft. »Sie suchen mich!«



»Wer soll Euch suchen?« fragte Itzig, aber er wußte, wer ihn suchte.



»Die Polizei, du Schuft«, schrie der Alte. »Um deinetwillen stecke ich in der Klemme. Ich darf nicht mehr nach Hause, du mußt mich verstecken.«



»So weit sind wir noch nicht«, antwortete Veitel mit aller Kälte, die ihm zu Gebote stand. »Woher wißt Ihr, daß Euch die Polizeidiener auf der Ferse sind?«



»Die Kinder auf der Straße erzählen einander davon«, rief Hippus, »auf der Straße hab’ ich’s gehört, als ich in mein Loch kriechen wollte. Es war ein Zufall, daß ich mich nicht in meiner Stube befand. Sie stehen an meinem Hause, sie stehen auf der Treppe, sie warten, bis ich zurückkomme. Du sollst mich verstecken, Geld will ich haben, über die Grenze will ich; hier ist meines Bleibens nicht mehr; du mußt mich fortschaffen.«



»Fortschaffen?« wiederholte Veitel finster. »Und wohin?«



»Dorthin, wo mich die Polizei nicht einholt, über die Grenze nach Amerika!«



»Und wenn ich nicht will«, sprach Itzig feindselig und überlegend.



»Du wirst wollen, Einfaltspinsel. Bist du noch so grün, daß du nicht weißt, was ich tun werde, wenn du mir nicht aus der Klemme hilfst, du Taugenichts? Sie werden auf dem Kriminalgericht Ohren haben für das, was ich von dir weiß.«



»Ihr werdet so schlecht nicht sein und einen alten Freund verraten«, sagte Itzig in einem Tone, der sich vergebens bemühte, gefühlvoll zu sein. »Seht die Sache ruhiger an, was ist zuletzt für Gefahr, wenn sie Euch arretieren? Wer kann Euch etwas beweisen? Sie müssen Euch wieder loslassen. Ihr kennt das Gesetz ja ebensogut wie die vom Gericht.«



»So«, schrie der Alte giftig, »meinst du, daß ich ins Loch kriechen werde um deinetwillen, um eines solchen Hanswurstes willen? Daß ich bei Wasser und Brot sitzen werde, während du hier Gänsebraten ißt und den alten Esel von Hippus auslachst? Ich will nicht ins Loch, ich will fort, und bis ich fort kann, sollst du mich verstecken.«



»Hier könnt Ihr nicht bleiben«, antwortete Veitel finster, »hier ist keine Sicherheit für Euch und für mich; der Jakob wird Euch verraten, die Leute im Hause werden merken, daß Ihr hier seid.«



»Das ist deine Sorge, wo du mich unterbringst«, rief der Alte, »aber von dir verlange ich, daß du mir heraushilfst, oder –«



»Haltet Euer Maul«, sagte Veitel, »und hört mir zu: Wenn ich Euch auch Geld geben will und dafür sorgen, daß Ihr mit der Eisenbahn nach Hamburg und über das Wasser kommt, so kann ich es doch nicht machen gleich und nicht machen von mir aus. Ihr müßt bei Nacht ein paar Meilen bis zu einer kleinen Station der Eisenbahn geschafft werden; ich darf Euch die Fuhre nicht mieten, das könnte Euch verraten, und wie Ihr vor mir steht, seid Ihr zu schwach zum Gehen. Ich muß Euch mit einer Gelegenheit fortbringen, von der ich erst sehen muß, ob ich sie finde. Unterdes muß ich Euch an einen andern Ort schaffen, wo die Polizei nicht weiß, daß ich selbst hinkomme, denn ich fürchte, sie wird Euch bei mir suchen. Wenn Ihr nicht nach Hause kommt, so wird sie Euch suchen bei mir vielleicht schon heut nacht. Ich will gehen und nachsehen, daß ich Euch eine Fuhre verschaffe und einen Ort, wo Ihr Euch verstecken könnt. Unterdes sollt Ihr bleiben in der hintern Stube, bis ich zurückkomme.« Er öffnete die Tür, Herr Hippus schlüpfte wie eine gescheuchte Fledermaus hinein. Veitel wollte die Tür hinter ihm schließen, aber das alte Geschöpf klemmte seinen Leib zwischen die Tür und schrie in voller Entrüstung: »Ich will nicht im Finstern bleiben wie eine Ratte, du wirst mir Licht hier lassen. Ich will Licht haben, du Satan!« schrie er laut.



»Man wird unten sehen, daß Licht in der Stube ist; das wird uns verraten.«



»Ich will nicht im Finstern sitzen!« schrie der Alte wieder.



Mit einem Fluch ergriff Veitel die Lampe und trug sie in das zweite Zimmer. Dann schloß er die Tür und eilte auf die Straße.



Vorsichtig näherte er sich dem Hause des Löbel Pinkus. Dort war alles ruhig; von dem Hausflur sah er durch das kleine Schiebefenster in den Branntweinladen, wo Pinkus und einige Gäste in der Sorglosigkeit eines guten Bewußtseins zusammensaßen. Er schlich die Treppe hinauf nach seiner frühern Stube, holte dort aus einem versteckten Winkel einige verrostete Schlüssel, betrat vorsichtig den Schlafsaal und sah mit Freude, daß dieser nicht erleuchtet und leer war. Er eilte auf die Galerie. Dort blieb er einen Augenblick stehen und blickte auf die rollenden Nebelmassen und die dunkle Flut. Der Augenblick war günstig, es war hohe Zeit, ihn zu benutzen, denn unregelmäßig strich ein Luftzug über das Wasser; schon war am Nachthimmel ein unruhiges Treiben sichtbar, zerrissen flogen die dunklen Wogen über dem Strome dahin, in kurzer Zeit mußte der Wind auch den Strom, die Umrisse der Häuser und die Laternen frei machen, welche an der Straßenecke wie rote Punkte glänzten.



Itzig eilte an das Ende der Galerie und steckte einen Schlüssel in die Tür, welche den Eingang zur Wassertreppe verdeckte. Knarrend flog die Tür auf, er stieg bis an den Rand des Flusses hinab und untersuchte die Höhe der Flut. Hohl gurgelte das Wasser und staute sich an den letzten Stufen der Treppe. Der Fußsteig war überschwemmt, welcher längs den Häusern am seichten Rande des Strombettes fast das ganze Jahr sichtbar war. Aber nur wenige Schritte durfte man im Wasser gehen, um von dieser Treppe zu der Treppe des Nebenhauses zu gelangen. Veitel sah starr auf das Wasser und steckte seinen Fuß in die eiskalte Flut, um zu fühlen, wie tief man zu steigen habe, um auf den Grund zu kommen. So besorgt war er für die Rettung des alten Mannes, daß er die Kälte an seinem Bein nicht beachtete; er empfand sie nicht einmal. Das Wasser reichte ihm bis an die Knie. Noch einen Blick warf er auf die Häuser in der Nähe. Alles war Finsternis, Dampf, Grabesstille, nur das Wasser und der Wind murmelten klagend.



Unterdes versuchte Hippus, sich in der verschlossenen Stube häuslich einzurichten. Nachdem er den abgehenden Veitel durch gottlose Flüche und geballte Fäuste, die er ihm nachschleuderte, auf seinem Gang gesegnet hatte, wandte er seinen verstörten Geist auf Untersuchung des Zimmers. Er wankte zu einem niedrigen Schrank, drehte den Schlüssel und suchte nach einer Flüssigkeit, die ihm die sinkende Kraft und den trockenen Gaumen erfrischen könnte. Er fand eine Flasche mit Rum, goß ihren Inhalt in ein Bierglas und schlürfte ihn mit so großer Hast hinunter, als das scharfe Gift möglich machte. Ein kalter Schweiß trat dem Unglücklichen sogleich auf die Stirn, er zog die Reste eines Taschentuchs hervor, wischte sein Gesicht eifrig ab und ging breitspurig mit trunkenen Schritten und mit schnell wachsendem Mut in der Stube auf und ab, indem er laut dazu phantasierte:



»Er ist ein Lump, ein schuftiger, feiger Hase, ein jämmerlicher Schacherer ist er; wenn ich ihm ein altes Taschentuch verkaufen will, er muß es kaufen, es ist seine Natur, er ist ein verächtliches Subjekt. Und mir will er trotzen, mich will er ins Gefängnis stecken, und er selbst will hier sitzen auf diesem Sofa und bei dieser Rumflasche, der Hundsfott!« Dabei ergriff er die leere Flasche und warf sie zornig gegen das Sofa, daß sie an dem Holz der Lehne zersprang. »Wer war er?« fuhr er in steigendem Zorne fort. »Ein schachernder Hanswurst. Durch mich ist er geworden, was er ist; ich habe ihn pfeifen gelehrt, den Gimpel. Wenn ich pfeife, muß er tanzen, er ist nur mein Lockvogel, ich bin der Vogelsteller. Dein Vogelsteller bin ich, du ruppiges Scheusal.« Hier versuchte der Alte zu pfeifen: »Freut euch des Lebens«, erhob die Beine und machte einen Versuch, lustig umherzuspringen. Wieder strömte ihm der kalte Schweiß von der Stirne, er zog wieder den Lappen aus der Tasche, trocknete sich das Gesicht ab und steckte das Tuch gedankenlos wieder ein. – »Er wird nicht zurückkommen«, rief er plötzlich, »er läßt mich hier sitzen, sie werden mich finden.« Er rannte nach der Tür und rüttelte heftig daran. »Eingeschlossen hat mich der Schuft, ein Jude hat mich eingeschlossen«, schrie er kläglich. »Ich muß verhungern, ich muß verdursten in diesem Gefängnis. Oh, oh, er hat schlecht an mir gehandelt, niederträchtig an seinem Wohltäter, er ist ein undankbarer Bösewicht, ein Rabensohn ist er.« Dabei fing er an zu schluchzen. »Ich habe ihn gepflegt, als er krank war, ich habe ihn Kunststücke gelehrt, ich habe ihn zu einem Manne gemacht, und so lohnt er seinem alten Freund.« Der Advokat weinte laut und rang die Hände. Plötzlich blieb er vor dem Spiegel stehen, auf welchen der helle Glanz des Lichtes fiel, erschrocken starrte er die Gestalt an, welche ihm in dem Spiegel gegenüberstand. Immer zorniger wurde sein Blick, immer grausiger der Glanz seiner Augen, er sah von dem Spiegelglas auf den Rahmen, schob sich die verbogene Brille zurecht und bewegte den Kopf am Rahmen entlang. Der Spiegel kam ihm bekannt vor. Hatte der Zufall ein Möbel aus seinem frühern glänzenden Leben in den geheimen Trödel des Pinkus und von da in Itzigs Wohnung geführt oder täuschte den Trunkenen nur eine Ähnlichkeit? Aber die Erinnerung an sein Schicksal erfüllte ihn mit Wut. »Es ist mein Spiegel«, schrie er laut, »mein eigener Spiegel ist es, den der Schurke in seiner Stube hat«; toll fuhr er durch das Zimmer, packte einen Stuhl in wahnwitziger Kraft und stieß ihn mit den Beinen gegen das Spiegelglas. Klirrend zerbrach die Platte in Scherben, aber immer und immer wieder stampfte der Betrunkene mit dem Stuhle gegen das Holz und schrie dabei wie rasend: »In meiner Stube hat er gehangen, der Schurke hat mir den Spiegel gestohlen, er hat mein Glück gestohlen, zur Hölle mit ihm!«



In dem Augenblick stürzte Veitel herein, schon auf dem Vorsaal hatte er wüsten Lärm gehört und fürchtete das Ärgste. Als der Advokat den Eintretenden sah, fuhr er mit gehobenem Stuhle auf ihn zu und schrie: »Du hast mich ins Elend gebracht, du sollst die Zeche bezahlen!« Dabei führte er einen Schlag nach Itzigs Haupt. Dieser fing den Stuhl auf, warf ihn beiseite und faßte den Alten mit überlegener Kraft. Hippus sträubte sich zwischen seinen Händen wie eine wilde Katze und rief alle Flüche, die er finden konnte, auf seinen Bändiger herab. Veitel drückte ihn mit Gewalt in eine Ecke des Sofas und flüsterte, ihn festhaltend: »Wenn Ihr nicht ruhig seid, alter Mann, so ist’s um Euch geschehen.« Der Alte sah aus den Augen Itzigs, welche dicht vor den seinen starrten, daß er von dem Empörten das Ärgste zu fürchten hatte, der Paroxysmus verließ ihn, er sank kraftlos zusammen und wimmerte nur leise, am ganzen Körper schauernd: »Er will mich töten!«



»Das will ich nicht, Ihr trunkener Narr, wenn Ihr ruhig seid; welcher Teufel treibt Euch, mir meine Stube zu verwüsten«



»Er will mich töten«, ächzte Hippus, »weil ich meinen Spiegel wiedergefunden habe.«



»Ihr seid verrückt«, rief Veitel, ihn schüttelnd, »nehmt Eure Kraft zusammen, Ihr dürft hier nicht bleiben, Ihr müßt fort, ich habe ein Versteck für Euch.«



»Ich gehe nicht mit dir«, schrie der Alte, »du willst mich umbringen.«



Veitel tat einen gräßlichen Fluch, packte den schäbigen Hut des Hippus, drückte ihm diesen auf den Kopf, faßte den Alten am Nacken und rief: »Ihr müßt mitkommen oder Ihr seid verloren. Die Polizei wird Euch hier suchen und wird Euch finden, wenn Ihr noch zögert. Fort, oder Ihr zwingt mich, Euch ein Leids zu tun.«



Die Kraft des Trunkenen war gebrochen, er wankte, Veitel faßte ihn unter dem Arme und zog den Widerstandslosen fort. Er zog ihn aus den Zimmern die Treppe hinunter, ängstlich spähend, ob ihnen niemand begegne. Alles war still. Der Advokat gewann in der kalten Luft einen Teil seiner Besinnung wieder, Veitel raunte ihm zu: »Seid still und folgt mir, ich werde Euch fortschaffen.«



»Er wird mich fortschaffen«, murmelte ihm der Advokat nach und lief an seiner Seite vorwärts. Als sie in die Nähe der Herberge kamen, ging Veitel vorsichtiger, zog seinen Gefährten in den finstern Hausflur und flüsterte: »Faßt meine Hand und steigt leise mit mir die Treppe hinauf.« So kamen sie an das große Gastzimmer, sie fanden das Zimmer noch leer, wie es zuvor gewesen. Erleichtert sagte Veitel: »Nebenan im Hause ist ein Versteck, Ihr müßt hinein.«

 



»Ich muß hinein«, wiederholte der Alte.



»Folgt mir«, rief Veitel und zog den Advokaten auf die Galerie und von da die bedeckte Treppe hinunter.



Der Alte wankte unsicher die Stufen hinab und klammerte sich fest an den Rock seines Führers, der ihn halb hinuntertrug. So kamen sie Stufe für Stufe bis hinunter zu der letzten, über welche die Strömung dahinrauschte. Veitel ging voraus und trat rücksichtslos bis an die Knie ins Wasser, bemüht, den Alten nachzuziehen.



Der alte Mann fühlte das Wasser an seinem Stiefel, er stand still und schrie laut: »Wasser!«



»Still«, flüsterte Veitel zornig, »sprecht kein Wort!«



»Wasser!« schrie der Alte. »Hilfe! Er will mich umbringen.«



Veitel packte den Schreienden und hielt ihm den Mund zu, aber der Todesschreck hatte noch einmal das Leben des Advokaten aufgestört, er hob die Füße auf die nächste Stufe zurück, klammerte sich, so gut er konnte, an die Seitenbretter und schrie wieder: »Zu Hilfe!«



»Verrückter Schuft!« knirschte Veitel, durch den hartnäckigen Widerstand in Wut gesetzt, drückte ihm mit einem Schlage den alten Hut bis tief über das Gesicht, faßte ihn mit voller Kraft am Halstuch und schleuderte ihn hinunter in das Wasser. Die Flut spritzte auf, das Geräusch eines fallenden Körpers und ein dumpfes Gurgeln wurde gehört; dann war alles still.



Unter den bleigrauen Nebeln, welche mit langen Schleppen längs dem Wasser hinzogen, wurde noch einmal eine dunkle Masse sichtbar, welche mit dem Strome fortzog. Bald war sie verschwunden. Die Gespenster des Nebels bedeckten sie, die Strömung zog darüber hin. Das Wasser brach sich klagend an den Holzpfählen und Treppenstufen, und oben heulte der Nachtwind sein eintöniges Lied.



Der Täter stand einige Augenblicke regungslos in der Finsternis, an das Holzwerk gelehnt. Dann stieg er langsam hinauf. Im Aufsteigen fühlte er an das Tuch seiner Kleider, um sich zu überzeugen, wieweit er durchnäßt war. Er dachte daran, daß er sie am Ofenfeuer trocknen müsse, noch heut nacht; er sah das Ofenfeuer in seinem Zimmer brennen und sich im Schlafrock davor sitzen, wie er so gern tat, wenn er über seine Geschäfte nachdachte. Wenn er jemals in seinem Leben das Gefühl behaglicher Ruhe genossen hatte, so war es in solchen Stunden gewesen, wo er müde von den Gängen und Sorgen des Tags das Holz in den Ofen steckte und davor saß, bis ihm die müden Augen zufielen. Er fühlte deutlich, wie müde er auch jetzt sei und wie wohl es ihm tun würde, am warmen Feuer einzuschlafen. In diesen dämmrigen Träumen blieb er wieder einige Augenblicke stehen, wie einer, der einschlafen will, und fühlte dabei einen dumpfen Druck irgendwo in seinem Innern, einen Schmerz, der es ihm schwer machte, Atem zu holen, und seine Brust wie mit eisernen Bändern zusammenzog. Da dachte er an den Ballen, den er jetzt in das Wasser geworfen hatte, er sah ihn eintauchen in die Flut, er hörte das Rauschen des Wassers und erinnerte sich daran, daß der Hut, den er dem Manne über das Gesicht gezogen, noch zuletzt über dem Wasser zu sehen gewesen war als ein rundes, wunderliches Ding. Er sah den Hut deutlich vor sich, abgegriffen, die Krempe halb abgerissen und oben auf dem Deckel zwei alte Ölflecke. Es war ein sehr schäbiger Hut gewesen. Als er daran dachte, merkte er, daß er jetzt lächeln könnte, wenn er wollte. Er lachte aber nicht. Während seine Seele so in halber Erstarrung um die Stelle herumflatterte, die ihn in seinem Innern schmerzte, war er heraufgestiegen. Als er die Treppentür herumlegte, sah er noch einmal die schwarze Röhre, in welche vor wenigen Augenblicken zwei hinuntergestiegen waren, während jetzt nur einer zurückkehrte. Er sah auf den grauen Schimmer des Wassers, und wieder fühlte er einen dumpfen Druck. Eilig huschte er durch das große Zimmer die Treppe hinunter, im Hausflur stieß er auf einen der fremden Gäste, welche in der Karawanserei wohnten; beide eilten schnell, ohne ein Wort zu sprechen, aneinander vorüber.



Diese Begegnung brachte die Gedanken des Heimkehrenden in andere Richtung: War er sicher? Noch immer lag der Nebel dick auf den Straßen, niemand hatte ihn mit dem Advokaten hinein