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Soll und Haben

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Noch einmal sah Anton in den Hof und die Ställe, auch hier war die Ruhe eingekehrt, nur die Pferde schlugen unruhig auf den harten Boden. Leise öffnete er die Tür der Frauenstuben, dort in dem zweiten Zimmer hatte man die Verwundeten niedergelegt. Als er eintrat, saß Lenore auf einem Schemel neben dem Strohlager, zu ihren Füßen zwei der fremden Frauen. Er beugte sich über das Lager der Verwundeten, die farblosen Gesichter und das verworrene Haar der Armen stachen grell ab gegen die weißen Kissen, welche Lenore von ihrem Bett gerafft hatte. »Wie steht’s mit ihnen?« fragte Anton leise. »Wir haben versucht, die Wunden zu verbinden«, erwiderte Lenore. »Der Förster sagt, daß beide Hoffnung geben.«

»Dann«, fuhr Anton fort, »überlassen Sie den Frauen die Pflege und benutzen auch Sie die Stunden der Ruhe.«

»Sprechen Sie mir nicht von Ruhe«, sprach Lenore aufstehend, »Sie sind in dem Zimmer des Todes.« Sie faßte ihn bei der Hand und führte ihn in die andere Ecke, dort zog sie an einem dunkeln Mantel und wies auf eine menschliche Gestalt, welche darunter lag.

»Er ist tot!« sagte sie mit klangloser Stimme. »Als ich ihn mit diesen Händen aufrichtete, ist er gestorben. An meinem Kleide hängt sein Blut, und es ist nicht das einzige, das heute vergossen worden. Ich bin es gewesen«, rief sie mit wildem Ausdruck und drückte krampfhaft Antons Hand, »ich habe den Anfang gemacht mit diesem Blutvergießen. Wie ich den Fluch ertragen soll, weiß ich nicht. Wenn ich noch wohin gehöre in dieser Welt, so ist es in dieses Zimmer. Lassen Sie mich hier, Wohlfart, und sorgen Sie sich nicht mehr um mich.«

Sie wandte sich ab und setzte sich wieder auf den Schemel an das Strohlager. Anton deckte den Mantel über den toten Mann und verließ schweigend das Zimmer.

Er ging nach der Wachtstube und ergriff das Gewehr. »Ich gehe auf den Turm, Förster«, sagte er.

»Jeder hat seine eigene Art«, brummte der Alte. »Der andere ist klüger, er schläft aus. Aber es wird frisch dort oben, ohne Mantel soll er nicht bleiben.« Er schickte einen Mann mit einem Bauernmantel hinauf und befahl ihm, bei dem Herrn oben zu warten. Anton ließ den Mann zum Schlaf niedersetzen und wickelte sich in die warme Hülle. So saß er schweigend und stützte sein Haupt an die Mauer, über welche sich Lenore gebeugt hatte, als sie hinunterschoß. Und seine Gedanken flogen über die Ebene fort, aus der finstern Gegenwart in die unsichere Zukunft. Er sah über den Kreis der feindlichen Wachen und über den dunkeln Ring der Kiefernwälder, welche ihn hier gefangenhielten und ihn festbanden an die Verhältnisse, die ihm jetzt so fremd und abenteuerlich vorkamen, als lese er sie ab aus einem Buche. Sein eigenes Schicksal betrachtete er mit müdem Blick gleichmütig wie ein fremdes, und ruhig konnte er hineinblicken in die Tiefen seiner Seele, die ihm sonst das wogende Gefühl des Tages verbarg. Er sah sein vergangenes Leben vor sich vorüberziehen, die Gestalt der Edeldame auf dem Balkon des Schlosses, das schöne Mädchen auf dem Kahn unter ihren Schwänen, den Kerzenglanz im Tanzsalon, die traurige Stunde, wo die Edelfrau ihren Schmuck in seine Hände legte, alle Augenblicke, wo Lenorens Auge so liebevoll das seine gesucht hatte – alle diese Zeiten sah er vor sich, und deutlich erkannte er den Zauber, den sie um ihn gelegt hatten; alles, was seine Phantasie gefesselt hatte, sein Urteil bestochen, seinem Selbstgefühl geschmeichelt, das erschien ihm jetzt als eine Täuschung.

Ein Irrtum war’s seiner kindlichen Seele, den die Eitelkeit großgezogen hatte. Ach, schon längst war der glänzende Schein zerronnen, der dem armen Sohn des Kalkulators das Leben der Ritterfamilie stark, edel, begehrenswert gezeigt hatte. Ein anderes Gefühl war an die Stelle getreten, ein reineres, eine zärtlichere Freundschaft zu der einzigen, die in dem Kreise sich stark erhalten hatte, als die andern zerbrachen. Und jetzt löste auch die sich von ihm. Er fühlte, daß es so war und immer mehr geschehen mußte. Er fühlte das in dieser Stunde ohne Schmerz als etwas Natürliches, was nicht anders kommen konnte. Und er fühlte, daß er selbst dadurch frei wurde von den Banden, welche ihn hier festhielten. Er erhob sein Haupt und sah über die Wälder hinüber in die Ferne. Er schalt sich, daß ihm dieser Verlust nicht mehr Schmerzen bereitete, und gleich darauf, daß er einen Verlust fühlte. War im Grunde seiner Seele doch ein stilles Begehren gewesen? Hatte er das schöne Mädchen für seine Zukunft zu erwerben gedacht? Hatte er davon geträumt, in der Familie, für die er jetzt arbeitete, heimisch zu werden für immer? Wenn er in einzelnen Stunden der Schwäche dies Gefühl gehabt hatte, jetzt verurteilte er es. Er war nicht immer gut gewesen, er hatte im stillen eigennützig auch an sich gedacht, wenn er Lenore sah. Das war unrecht gewesen, und ihm geschah sein Recht, daß er jetzt allein stand unter Fremden, in Verhältnissen, die ihn wund drückten, weil sie nicht klar waren, in einer Lage, aus der auch sein Entschluß ihn nicht lösen konnte, nicht jetzt und schwerlich in der nächsten Zukunft.

Und doch fühlte er sich frei. »Ich werde meine Pflicht tun und nur für ihr Glück sorgen«, sagte er laut. – Aber ihr Glück? Er dachte an Fink und an das Wesen des Freundes, das ihm selbst immer wieder imponierte und ihn so oft ärgerte. Würde er sie wiederlieben und würde er sich fesseln lassen in diesen Verhältnissen? »Arme Lenore!« seufzte er.

So stand Anton, bis der helle Schein am Nordrand des Horizontes herüberzog auf Osten zu und von dort ein fahles Grau am Himmel aufstieg, der schauerbringende Vorbote der Morgensonne. Da sah Anton noch einmal auf die Landschaft um sich herum, schon konnte er die Wachen der Landleute zählen, die zu zweien das Schloß umstanden; hier und da blinkte ein Sensenspieß in hellerem Licht. Anton beugte sich nieder und weckte den Mann, der neben der Blutlache des getöteten Kameraden eingeschlafen war, dann stieg er herunter in die Wachtstube, warf sich auf das Stroh, das ihm der Förster sorgsam auseinanderschüttelte, und schlief ein, gerade als die Lerche aus dem feuchten Boden aufflog, um durch fröhlichen Ruf die Sonne herbeizuholen.

5

Nach einer Stunde weckte der Förster den Schlafenden. Anton fuhr auf und sah verdutzt in die fremdartige Umgebung.

»Es ist fast Sünde, Sie zu stören«, sagte der ehrliche Alte; »draußen ist alles ruhig, nur die Reiterei der Feinde ist auf dem Wege nach Rosmin abgezogen.«

»Abgezogen?« rief Anton. »So sind wir frei.«

»Bis auf das Fußvolk«, sagte der Förster, »es kommen immer noch zwei auf einen von uns. Sie halten uns fest. – Und noch etwas habe ich zu sagen. In der Tonne ist kein Wasser mehr. Die Hälfte haben unsere Leute ausgetrunken, das übrige ist ins Feuer gegossen. Ich für meinen Teil mache mir nichts aus dem Getränk, aber das Schloß ist voll Menschen; ohne einen Trank werden sie schwerlich den Tag aushalten.«

Anton sprang auf. »Das war ein schlechter Morgengruß, mein Alter.«

»Der Brunnen ist kassiert«, fuhr der Alte fort, »aber wenn wir jetzt eine von den Frauen an den Bach schickten? Die Wachen würden den Weibern nicht viel tun, vielleicht würden sie ihnen nicht wehren, einige Eimer Wasser zu holen.«

»Einige Eimer«, sagte Anton, »die werden uns wenig nützen.«

»Es ist doch etwas fürs Herz«, erwiderte der Alte, »man müßte es einteilen. Wenn die Rebekka hier wäre, die schaffte uns Wasser. So müssen wir es mit einer andern wagen. Die Sakramenter dort sind nicht schlecht gegen die Frauenzimmer, wenn nämlich diese Dreistigkeit haben. Wenn es Ihnen recht ist, will ich’s mit einem von unsern Bälgern versuchen.«

Der Förster rief in die Küche hinunter: »Suska!« Das Polenkind sprang aus dem Kellerraum herauf.

»Höre, Suska«, sagte der Förster bedächtig, »wenn der Herr Baron aufwacht, wird er frisches Wasser verlangen; das Wasser im Schlosse ist zu Ende, zum Trinken haben wir Bier und Schnaps genug, aber welcher Christenmensch kann sich in Bier die Hände waschen? Nimm schnell die Eimer und hole uns Wasser, lauf hinunter zum Bach, du wirst schon mit den Nachbarn dort fertig werden. Schwatze aber nicht lange mit ihnen, sonst kriegen wir ein Donnerwetter vom Herrn. – Und hör, frage die Nachbarn doch, wozu sie noch mit ihren Spießen dastehn, ihre Reiter sind ja schon abgeritten. Wir haben nichts dagegen, wenn die dort unten sich auch fortmachen.«

Willig ergriff das Mädchen die Wassereimer, der Förster öffnete die Hoftür, und die Kleine trabte dem Wasser zu. Mit unruhiger Erwartung sah ihr Anton nach. Das Mädchen kam bis an den Bach, ungehindert und ohne sich um den Posten zu kümmern, der etwa zwanzig Schritt vor ihr stand und ihr neugierig zusah. Endlich ging einer der Sensenmänner auf sie zu, das Mädchen setzte den Eimer zu Boden, schlug die Arme übereinander, und beide fingen eine friedliche Unterhaltung an. Zuletzt ergriff der Sensenmann die Eimer, bückte sich selbst zum Wasser hinunter und reichte die gefüllten dem Mädchen. Langsam brachte die Kleine ihre vollen Eimer zurück, der Förster öffnete wieder das Tor und sagte schmunzelnd: »Brav, Susanne. Was hat denn die Wache mit dir gesprochen?«

»Dumme Dinge«, erwiderte das Mädchen errötend, »er hat mir gesagt, ich soll ihm und seinen Kameraden das Tor aufmachen, wenn sie wieder an das Schloß kommen.«

»Wenn’s weiter nichts war«, sagte der Förster schlau. »Also, sie wollen wieder an das Schloß?«

»Freilich wollen sie«, sagte die Kleine, »die Reiter sind gegen das Militär nach Rosmin gezogen; wenn sie zurückkehren, laufen sie alle zusammen gegen das Schloß, sagte der Mann.«

»Wir werden sie schwerlich hereinlassen«, erwiderte der Förster, »keiner soll zum Tor herein als dein Schatz dort unten. Du hast’s ihm doch versprochen, wenn er allein kommt und bei der Nacht?«

»Nein«, antwortete Susanne aufgebracht, »aber ich durfte doch nicht böse sein.«

»Vielleicht können wir’s zum zweitenmal probieren?« fragte der Förster, auf Anton blickend.

 

»Ich zweifle«, versetzte dieser. »Dort reitet einer der Offiziere an den Posten heran; der arme Bursch wird für seinen Ritterdienst einen rauhen Morgengruß erhalten. Kommt her, wir teilen den kleinen Vorrat! Der erste Eimer zur Hälfte für die Herrschaft, zur Hälfte für uns Männer, der zweite zu einer Morgensuppe für die Frauen und Kinder.« Er goß selbst das Wasser in die verschiedenen Gefäße und stellte den Schmied als Wächter dazu. Beim Eingießen sagte er zu dem Förster: »Das ist die schwerste Arbeit, die wir während der Belagerung gehabt haben. Noch weiß ich nicht, wie wir den Tag aushalten wollen.«

»Es geht vieles«, erwiderte tröstend der Förster. –

Ein heller Frühlingstag begann, wolkenlos stieg die Sonne hinter dem Wirtschaftshofe herauf, bald erwärmte ihr milder Strahl die Luft, welche feucht um die Mauern des Schlosses lag. Die Leute suchten die sonnige Ecke des Hofes, in kleinen Gruppen saßen die Männer mit ihren Frauen und Kindern zusammen, alle zeigten gute Zuversicht. Anton trat unter sie: »Wir müssen uns gedulden bis Mittag, vielleicht bis Nachmittag, dann kommen unsere Soldaten.«

»Wenn die drüben nicht mehr tun als bis jetzt, so können wir’s ruhig ansehn«, bemerkte der Schmied, »sie stehn so hölzern wie eingegrabene Zaunpfähle.« –

»Sie haben gestern ihre Courage verloren«, sagte ein anderer verächtlich.

»Es war Strohfeuer, der Schmied hat ihnen die Bündel vom Wagen geworfen, sie haben nichts mehr zuzusetzen«, rief ein Dritter.

Der Schmied schlug die Arme übereinander und lächelte stolz, und vergnügt sah seine Frau zu ihm auf.

Jetzt wurde es in dem obern Stock lebendig, der Freiherr klingelte und forderte Bericht. Anton eilte hinauf, ihm und den Damen zu erzählen, dann trat er in Finks Zimmer und weckte den Freund, der noch im festen Schlummer lag.

»Guten Morgen, Tony«, grüßte Fink und dehnte sich behaglich. »Ich komme im Augenblick herunter. Wenn du mir durch deine Verbindungen etwas Wasser verschaffen könntest, würde ich dir sehr dankbar sein.«

»Ich will dir eine Flasche Wein aus dem Keller holen«, erwiderte Anton, »du mußt dich heut mit Wein waschen.«

»Hui«, rief Fink, »steht es so? Es ist doch wenigstens kein Rotwein?«

»Wir haben überhaupt nur wenige Flaschen«, fuhr Anton fort.

»Du bist ein Unglücksrabe«, sagte Fink, seine Stiefel suchend, »um so mehr Bier wird in euren Kellern sein.«

»Geradesoviel, als zu einem Trunk für die Mannschaft reicht; ein Fäßchen Branntwein ist jetzt unser größter Schatz.«

Fink pfiff die Melodie des Dessauers. »Siehst du wohl, mein Sohn, daß die Zärtlichkeit für die Frauen und Kinder ein wenig sentimental war? Ich sehe dich im Geiste vor mir, wie du mit aufgestreiften Hemdärmeln die magere Kuh schlachtest und mit deiner alten Gewissenhaftigkeit dem hungernden Volk bissenweis in den Mund steckst. Du in der Mitte, fünfzig aufgesperrte Mäuler um dich herum. Binde dir nur gleich ein Dutzend Birkenruten, in wenigen Stunden wird ein Geschrei hungernder Kinder zum Himmel aufsteigen, und du wirst genötigt sein, trotz deiner Menschenliebe die ganze Bande auszuhauen. Übrigens denke ich, wir haben uns gestern nicht schlecht gehalten, ich habe ausgeschlafen, und so mögen heut die Dinge gehn, wie sie können. Und jetzt laß uns nach dem Feinde sehn.« Die Freunde stiegen auf den Turm, Anton berichtete, was er erfahren hatte. Fink untersuchte sorgfältig die Postenkette und sah mit dem Fernrohr die hellen Bänder der Feldwege entlang, bis dahin, wo der dunkle Wald sie verdeckte. »Unsere Lage ist zu friedlich, um trostreich zu sein«, sagte er endlich, das Rohr zusammenschiebend.

»Sie wollen uns aushungern«, versetzte Anton ernst.

»Ich traue ihnen diese Schlauheit zu, und sie rechnen nicht schlecht, denn im Vertrauen, ich habe starken Zweifel, ob wir auf Entsatz hoffen dürfen.«

»Auf Karl können wir uns verlassen«, begütigte Anton.

»Auf meinen Braunen auch«, erwiderte Fink. »Aber es ist wohl möglich, daß mein armer Blackfoot in diesem Augenblick bereits das Unglück hat, das Gesäß irgendeines Insurgenten zu tragen. Ob Karl nicht einem der Haufen, welche sicher in der ganzen Gegend umherschwärmen, in die Hände gefallen ist, ob er überhaupt die Regulären aufgefunden hat, ob diese ferner Lust haben, uns zu Hilfe zu marschieren, ob sie endlich den Witz haben, zu rechter Zeit anzukommen, und ob sie zu allerletzt stark genug sind, die Schar, welche ihnen den Weg zu uns verlegt, zu zerstreuen – das, mein Junge, sind alles Fragen, welche wohl aufgeworfen werden dürfen, und ich will lieber alle Brombeeren der Welt aufessen, als eine fröhliche Antwort darauf geben.«

»Wir könnten’s mit einem Ausfall versuchen; freilich, er würde blutig werden«, riet Anton.

»Bah«, sagte Fink. »Aber was schlimmer ist, er würde nichts nutzen. Einen Haufen werfen wir vielleicht, die nächste Stunde ist ein anderer da. Nur siegreicher Entsatz kann uns aus der Klemme helfen. Solange wir in diesen Mauern unser Hausrecht wahren, sind wir stark, auf freiem Felde mit Weibern und Kindern werden wir von einem Dutzend Reiter überrannt.«

»Warten wir’s also ab«, schloß Anton finster.

»Weise gesprochen, der ganze Witz des Lebens ist zuletzt der, daß man sich und andern keine Fragen vorlegt, die nicht zu beantworten sind. Die Sache droht langweilig zu werden.«

So stiegen die Freunde wieder herab, und so verstrich Stunde auf Stunde, langsame Stunden bleierner Untätigkeit. Bald sah Anton, bald Fink mit dem Fernrohr nach den Öffnungen des Waldes, es war wenig Auffallendes zu sehen. Patrouillen der Feinde kamen und gingen, bewaffnete Haufen von Landleuten zogen dem Dorfe zu und wurden nach verschiedenen Richtungen wieder abgesandt, die Postenkette wurde regelmäßig besichtigt und alle zwei Stunden abgelöst. Die Belagerer waren beschäftigt, die Dörfer der Umgebung zu durchsuchen und zu entwaffnen, um die im Schloß zuletzt mit vereinter Kraft anzugreifen. Die Deutschen waren in ihrem Steinbau umstellt wie ein wildes Tier in seinem Lager, und die Jäger warteten mit ruhiger Sicherheit die Stunde ab, wo der Hunger oder Feuer und Waffen die Bezwungenen heraustreiben mußten.

Unterdes versuchte Fink, die Leute zu beschäftigen, die Männer mußten Waffen und Armatur reinigen und putzen, sie mußten antreten, und Fink untersuchte selbst die einzelnen Gewehre; darauf wurde Pulver und Blei verteilt, Kugeln gegossen und Patronen gemacht. Die Frauen wies Anton an, Haus und Hof zu reinigen, soweit dies ohne Wasser möglich war. Das hatte die gute Wirkung, die Eingeschlossenen durch einige Stunden in Tätigkeit zu erhalten.

Die Sonne stieg höher, und die Luft trug von dem nächsten Dorf das leise Bimmeln der Glocke herüber. »Die erste Mahlzeit ist spärlich genug ausgefallen«, sagte Anton zu seinem Kameraden, »die Kartoffeln sind in der Asche gebraten; auch Fleisch und Speck sind zu Ende, die Köchin kann das Mehl nicht mehr verbacken, es fehlt wieder an Wasser.«

»Solange wir die Milchkuh im Stall haben«, erwiderte Fink, »besitzen wir immer noch einen Schatz, den wir dem hungrigen Volk vorzeigen können. Dann bleiben noch die Mäuse des Schlosses und zuletzt unsere Stiefel. Wer in diesem Lande verurteilt war, bisweilen Beefsteak zu essen, der kann Stiefelleder für kein zähes Gericht halten.«

Der Förster unterbrach das Gespräch mit der Meldung: »Ein einzelner Reiter kommt vom Wirtschaftshof auf das Schloß zu, hinter ihm geht ein Frauenzimmer; ich wette, es ist die Rebekka.«

Der Reiter näherte sich, ein weißes Taschentuch schwenkend, der Tür in der Vorhalle, er hielt neben den verkohlten Trümmern des Erntewagens und sah nach den Fenstern des Oberstocks. Es war der Parlamentär vom Tage zuvor.

»Wir wollen nicht so unhöflich sein, den Herrn warten zu lassen«, sagte Fink, schob den Riegel zurück und trat unbewaffnet auf die Schwelle. Der Pole grüßte schweigend, Fink lüftete seine Mütze.

»Ich habe Ihnen gestern abend gesagt«, begann der Reiter, »daß ich heute das Vergnügen haben würde, Sie wiederzusehen.«

»Ei«, antwortete Fink, »Sie selbst waren der Herr, der uns den Rauch verursachte. Es war schade um den Erntewagen.«

»Sie haben gestern Ihre Leute verhindert, auf mich zu feuern«, fuhr der Pole in deutscher Sprache mit hartem Akzent fort, »ich bin Ihnen dankbar dafür und möchte Ihnen meine Erkenntlichkeit beweisen. Wie ich höre, sind Damen in diesem Hause, das Mädchen bringt ihnen Milch. Wir wissen, daß man hier im Schloß kein Wasser hat, und ich wünsche nicht, daß die Damen durch unsern Streit zu Entbehrungen genötigt werden.«

»Du Racker«, murmelte der Förster.

»Wenn Sie mir erlauben, Ihnen für die Milch einige Flaschen Wein aus unserem Keller zurückzugeben, so nehme ich Ihr Geschenk mit Dank an«, erwiderte Fink. »Ich setze voraus, daß Ihnen in der Schenke diese Flüssigkeit ebenfalls nicht im Überfluß zu Gebote stehen wird.«

»Es ist gut«, sagte der Pole lächelnd. Rebekka eilte mit ihrem Krug nach der Pforte des Hofraums, gab die Milch ab und empfing durch den brummenden Förster die Flaschen mit Wein. Der Pole aber fuhr fort: »Wenn Sie auch mit Wein versehen sind, so kann dieser doch nicht das Wasser ersetzen, Ihre Garnison ist zahlreich, und wir hören, daß Sie viele Frauen und Kinder im Hause haben.«

»Ich werde es für kein Unglück halten«, erwiderte Fink, »wenn die Frauen und Kinder einige Tage mit uns Männern Wein trinken, bis Sie uns den Gefallen erweisen, um den ich Sie schon gestern ersuchte, dies Gut und den Brunnen drüben zu verlassen.«

»Hoffen Sie nicht darauf, mein Herr«, sagte der Pole ernst, »wir werden jede Gewalt anwenden, Sie zu entwaffnen; wir wissen jetzt, daß Sie keine Artillerie haben, und es ist uns jede Stunde möglich, den Eingang in dies Haus zu erzwingen. Sie haben sich aber als tapfere Männer gehalten, und wir wünschen nicht weiter zu gehen, als wir müssen.«

»Vorsichtig und verständig«, versetzte Fink beistimmend.

»Deshalb mache ich Ihnen einen Vorschlag, der Ihr Ehrgefühl nicht verletzen wird. Sie haben auf keinen Entsatz zu hoffen. Zwischen Ihrem Militär und diesem Dorf steht ein starkes Korps unserer Truppen, ein Zusammenstoß beider Armeen ist in den nächsten Tagen einige Meilen von hier zu erwarten, und Ihre Kommandeure sind deshalb außerstande, einzelne Korps zu entsenden. Ich sage Ihnen keine Neuigkeit, denn Sie wissen das so gut als wir selbst. Und so verbürge ich Ihnen und allen, welche in diesem Hause sind, bei meinem Ehrenwort freien Abzug, wenn Sie Ihre Waffen und das Schloß übergeben. Wir sind bereit, Sie und die Damen durch eine Eskorte in jeder Richtung, welche Sie wünschen, so weit zu begleiten, als wir das Terrain behaupten.«

Fink versetzte ernsthafter, als er bis dahin gewesen: »Darf ich fragen, aus wessen Munde das Ehrenwort kommt, das mir soeben gegeben wurde?«

»Oberst Zlotowsky«, erklärte der Reiter, sich leicht verneigend.

»Ihr Vorschlag, mein Herr«, entgegnete Fink, »verpflichtet uns zu Dank. Ich setze keinen Zweifel in die Aufrichtigkeit Ihres Anerbietens und will auch annehmen, daß Ihr Einfluß auf die Männer, welche Sie begleiten, groß genug ist, um die Bedingungen aufrechtzuerhalten. Da ich aber nicht selbst des Hauses Herr bin, so muß ich diesem Ihre Vorschläge mitteilen.«

»Ich warte«, sagte der Pole, ritt auf eine Entfernung von dreißig Schritt zurück und hielt der Tür gegenüber still.

Fink schloß die Tür und sagte zu Anton: »Schnell zum Freiherrn! Was ist deine Meinung?«

»Aushalten«, versetzte Anton.

Sie trafen den Freiherrn in seinem Zimmer, den Kopf in seine Hände gestützt, mit verstörtem Gesicht, ein Bild des Leidens und nervöser Unruhe. Fink trug ihm das Anerbieten des Polen vor und bat um seine Entscheidung.

Der Freiherr erwiderte: »Ich habe bis jetzt vielleicht mehr gelitten als irgendeiner der Braven, welche in diesem Hause ihr Leben gewagt haben. Es ist ein furchtbares Gefühl, hilflos dazusitzen, wo die Ehre gebietet, in der vordersten Reihe zu stehen. Aber eben deshalb habe ich kein Recht, Ihnen Vorschriften zu machen. Wer außerstande ist zu kämpfen, hat auch kein Recht, zu bestimmen, wann der Kampf aufhören soll. Ich habe ja kaum das Recht, Ihnen meine Ansicht zu sagen, weil ich fürchte, daß sie für Ihren hochherzigen Sinn bestimmend sein würde. Außerdem kenne ich Unglücklicher nicht die Leute, welche mich verteidigen, und habe kein Urteil über ihre Stimmung und über ihre Kraft. Ich überlasse Ihnen alles und lege das Schicksal der Meinen vertrauend in Ihre Hand. Der Himmel möge Ihnen vergelten, was Sie für mich tun. Nicht für mich, um Gottes willen nicht für mich, das Opfer wäre zu groß«, rief der erregte Mann, erhob seine gefalteten Hände und starrte mit den glanzlosen Augen in die Höhe. »Denken Sie an nichts als an die Sache, welche wir verteidigen.«

 

»Wenn Sie uns ein so hohes Vertrauen schenken«, sagte Fink mit ritterlicher Haltung, »so sind wir entschlossen, Ihr Schloß zu halten, solange wir noch eine schwache Hoffnung auf Entsatz haben. Unterdes sind ernste Zufälle möglich, die Weigerung unserer Leute, sich ferner zu schlagen, oder das gewaltsame Eindringen der Feinde.«

»Meine Frau und Tochter bitten wie ich, daß Sie in dieser Stunde auf ihr Wohl keine Rücksicht nehmen. Gehen Sie, meine Herren«, rief der Freiherr, seine Arme ausstreckend, »die Ehre eines alten Soldaten liegt in Ihrer Hand.«

Beide Männer verneigten sich tief vor dem Blinden und verließen das Zimmer. »Es ist doch Ehre in den Leuten«, sagte Fink auf dem Wege, mit dem Kopfe nickend. Er öffnete die Tür, der Offizier ritt heran.

»Der Freiherr von Rothsattel dankt Ihnen für Ihr Anerbieten, er ist entschlossen, sein Haus und das Eigentum derer, welche sich ihm anvertraut haben, gegen Ihre Angriffe zu verteidigen bis zum Äußersten. Wir nehmen Ihren Vorschlag nicht an.«

»So tragen Sie die Folgen«, rief der Reiter zurück, »und die Verantwortung für alles, was jetzt geschehen muß.«

»Ich übernehme die Verantwortung«, sagte Fink. »An Sie aber noch eine Bitte. Es sind außer den Frauen und Kindern der Landleute zwei Damen in diesem Schloß, die Gemahlin und die Tochter des Freiherrn von Rothsattel; wenn ein Zufall Ihnen doch Gelegenheit geben sollte, die Räume dieses Hauses zu betreten, so empfehle ich die Wehrlosen Ihrem ritterlichen Schutz.«

»Ich bin ein Pole!« versetzte der Reiter stolz, sich auf seinem Pferde erhebend. Er nahm den Hut ab und ritt in kurzem Galopp nach dem Wirtschaftshofe zurück.

»Er sieht aus wie ein kühner Bursch«, sagte Fink sich umwendend zu den Leuten, welche aus der Wachtstube herzugeeilt waren. »Aber, meine Männer, wenn man die Wahl hat, ob man sich verlassen soll auf die Versprechungen eines Feindes oder auf dies kleine Rohr von Eisen, so bin ich allemal der Meinung, daß man sich am besten dem vertraut, was man in der Hand hält.« Er schüttelte sein Gewehr. »Der Pole verspricht uns freien Abzug, weil er weiß, daß in ein paar Stunden seine Bande vor unsern Soldaten auseinanderlaufen wird. Wir wären für ihn ein guter Bissen, an die dreißig Gewehre! Und wenn die Reiter kämen und uns nicht in dem Hause fänden, zu dem wir sie gerufen, sondern dies Gesindel mit seinen Krötenspießen, sie würden uns ein schönes Donnerwetter nachschicken, und wir hätten den Schimpf für immer.«

»Ob er es ehrlich gemeint hat?« fragte einer der Leute zögernd.

Fink faßte den Mann vertraulich an der Klappe seines Rockes: »Ich glaube, daß er es ehrlich meint, mein Junge, aber ich frage euch, wie weit reicht bei diesem Volk der Gehorsam? Wir wären noch nicht hinter der Waldecke dort unten, so käm’ ein anderer Haufe über uns, und die Weiber und eure Sachen würden vor unsern Augen mißhandelt. Und deswegen, rechne ich, tun wir am besten, wenn wir ihnen die Zähne zeigen.«

Lebhafte Beistimmung der Hörer folgte, und einige Hoch auf die jungen Herren im Schlosse wurden ausgebracht.

»Wir danken«, sagte Fink, »und jetzt alle auf Posten, ihr Männer, denn es kann wohl kommen, daß sie sich wieder blutige Köpfe holen. – Das hält sie auf eine Stunde hin«, fuhr er zu Anton gewandt fort. »Ich glaube nicht an einen Angriff bei Tage, aber auf Posten stehen ist besser für sie als die Köpfe zusammenstecken. Bei alledem ist quer, daß die Leute diese Verhandlung angehört haben.«

Auch der strenge Dienst, den Fink jetzt einrichtete, vermochte nicht die Entmutigung aufzuhalten, welche allmählich, je weiter die Sonne am Himmel stieg, über die kleine Besatzung kam. Die Worte des Polen waren von vielen gehört worden, auch die Weiber hatten neugierig ihre Tür geöffnet und sich in die Halle gedrängt. Leise, nach und nach fiel die Furcht in die Herzen, und ansteckend wie eine Krankheit erfaßte sie einen nach dem andern. In der Frauenstube brach sie aus. Plötzlich empfanden einzelne eine große Sehnsucht nach Wasser, sie klagten über Durst, zuerst schüchtern, dann lauter, sie drängten sich an der Tür der Küche zusammen und begannen laut zu schluchzen. Nicht lange, so schrien alle Kinder nach Wasser, und viele, die unter andern Umständen nicht an Trinken gedacht hätten, fühlten sich unsäglich elend. Anton ließ die letzten Flaschen Wein aus dem Keller holen, zerschnitt das letzte Brot, tauchte jedem einzelnen einige Bissen in den Wein ein, bis sie ganz durchweicht waren, und verteilte sie mit der ernsthaften Versicherung, dies sei das beste Mittel gegen Durst; wenn man das in den Mund stecke, so sei man einen ganzen Tag lang nicht imstande, Wasser zu trinken, und wenn man Geld dafür bekomme. Das half auf eine Weile, aber die Angst fand andere Türen, durch welche sie einschlich. Manche überlegten, was sie denn zu verlieren hätten, wenn sie ein altes Gewehr abgäben und dafür die Freiheit erhielten und das Recht, überall hinzugehen, wohin sie wollten. Diese Ansicht wurde vorläufig von dem Förster bekämpft, der sich in die Mitte der Wachtstube stellte und entschlossen erwiderte: »Ich will Euch sagen, Gottlieb Fitzner, und Euch, Ihr dicker Bökel, daß das Weggeben des Gewehrs für uns alle eine Kleinigkeit ist, es ist nur der Übelstand dabei, daß der von euch, der auf diesen niederträchtigen Gedanken käme, ein ganz gemeiner feiger Schuft wäre, vor dem ich alle Tage ausspucken würde, sooft ich ihn träfe.« Darauf gaben Fitzner und Bökel dem Förster eifrig recht, und Bökel erklärte, er werde es mit jedem solchen Kerl ebenso machen wie der Förster. Und auch diese Gefahr war beseitigt. Aber die abgelösten Wachen blieben in unruhiger Unterhaltung. Die Streitkräfte des Schlosses wurden mit denen des Feindes verglichen; endlich wurde die geringe Stärke des Pfahlwerks im Hofe der herrschende Gegenstand einer furchtsamen Kritik. Es war klar, daß dort der nächste Angriff erfolgen würde, und auch die Beherzten nahmen an, daß der Bohlenzaun nur geringen Widerstand leisten könnte. Sogar der treue Schmied schüttelte mit der Hand an dem Zaun und fand keinen Gefallen an der Art, wie er zusammengenagelt war. In den Mittagsstunden waren diese Anfälle von Zaghaftigkeit noch nicht gefährlich, denn der größte Teil der Männer erwartete, das Gewehr in der Hand, jeden Augenblick den Anmarsch des Feindes. Als sich aber die Sonne von ihrer Höhe neigte, ohne daß ein Angriff erfolgte und ohne daß der Posten auf dem Turme den Entsatz meldete, da wirkten Tatlosigkeit und Abspannung zusammen, das Leiden allgemein zu machen. Die Mittagskost war ungenügend, Kartoffeln mit verkohlter Rinde und etwas Salz dazu. Natürlich fingen die Leute wieder an zu dursten, wieder kamen die Frauen jammernd zu Anton und klagten, sein Mittel habe nur auf kurze Zeit geholfen. Und auch unter den Männern flog die Angst um Hunger und Durst von einem Pfeiler zum andern, aus der Wachtstube in den Hof bis hinauf in den Turm. Anton hatte die doppelte Ration Branntwein ausgeteilt, auch das half nicht bei allen. Die Männer wurden nicht aufsässig, es war zuviel gute Art in ihnen, sie wurden nur kleinlaut und schwächer. Fink sah mit verächtlichem Lächeln auf diese Symptome eines Zustandes, der seinem elastischen Geist und seinen stählernen Nerven unbegreiflich war. Aber Anton, den alle mit Bitten und Klagen überliefen, fühlte die ganze Verlegenheit dieser Stunden. Etwas mußte geschehen, um gründlich zu helfen, oder alles war verloren. So trat er in den Hof, entschlossen, die Kuh zu opfern. Er stellte sich vor die Milchkuh, klopfte sie auf den Hals. »Liese, armes Tier, du mußt jetzt daran.« Als er sie am Strick herauszog, fiel sein Blick auf die leere Wassertonne, und ihn überkam ein glücklicher Gedanke. Die Erhebung des Bodens über das Wasser des Baches betrug nur wenige Fuß, die ganze Gegend war quellenreich, es war wahrscheinlich, daß man in geringer Tiefe Wasser finden würde. Es war für die Besatzung eine leichte Sache, ein Brunnenloch auszugraben. Wenn man die ausgegrabene Erde an das Pfahlwerk stampfte, so wurde dessen Festigkeit beträchtlich vermehrt. Und was die Hauptsache war, die Arbeit setzte alle müßigen Hände in Bewegung, sie konnte stunden-, ja tagelang fortgesetzt werden. Aus früheren Versuchen wußte er, daß das Wasser um das Schloß schlammig und in gewöhnlicher Zeit nicht zu gebrauchen war, aber darauf kam es heut nicht an. Anton sah nach der Sonne, es war keine Minute zu verlieren.