Kostenlos

Soll und Haben

Text
0
Kritiken
iOSAndroidWindows Phone
Wohin soll der Link zur App geschickt werden?
Schließen Sie dieses Fenster erst, wenn Sie den Code auf Ihrem Mobilgerät eingegeben haben
Erneut versuchenLink gesendet

Auf Wunsch des Urheberrechtsinhabers steht dieses Buch nicht als Datei zum Download zur Verfügung.

Sie können es jedoch in unseren mobilen Anwendungen (auch ohne Verbindung zum Internet) und online auf der LitRes-Website lesen.

Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Anton eilte durch den Korridor nach dem andern Flügel. Schon von weitem hörte er im Zimmer des Barons heftig mit den Stühlen rücken. Auf ein zorniges Herein trat er in das Zimmer. Der Freiherr stand hoch aufgerichtet in der Mitte der Stube und fuhr ihn an: »Ich höre, daß etwas vorgeht; ich muß es als einen unverzeihlichen Mangel an Aufmerksamkeit betrachten, daß man mich von nichts unterrichtet.«

»Verzeihung, Herr Baron«, erwiderte Anton, »vor wenigen Minuten ist die Nachricht gekommen, daß ein feindlicher Haufe von Sensenmännern und Reitern gegen Ihr Gut heranzieht, wir haben in größter Schnelligkeit einen Boten nach dem nächsten Militärkommando geschickt, dann haben wir das Tor verriegelt und erwarten Ihre Befehle.«

»Rufen Sie mir Herrn von Fink«, erwiderte der Baron herrisch.

»Er ist in diesem Augenblick in der Wachtstube.«

»Ich lasse ihn bitten, sich sogleich zu mir zu bemühen«, rief der zornige Herr. »Mit Ihnen kann ich über militärische Maßregeln nicht sprechen. Fink ist Kavalier und ein halber Soldat, ihm will ich die nötigen Instruktionen geben. Was warten Sie noch?« fuhr er rauh fort. »Glaubt ihr jungen Leute, mit mir spielen zu können, weil ich das Unglück habe, blind zu sein? Wer bei mir in Brot und Lohn steht, der wenigstens soll meine Befehle respektieren.«

»Vater!« rief Lenore, die Hände zusammenschlagend, auf der Schwelle und sah mit flehendem Blick auf Anton.

»Sie haben recht, Herr Baron«, erwiderte Anton, »ich bitte Sie um Verzeihung, daß ich in der Verwirrung meine erste Pflicht vergessen habe. Ich werde Herrn von Fink im Augenblick herschicken.« Er eilte aus dem Zimmer und benachrichtigte Fink in der Vorhalle von der gereizten Stimmung des Freiherrn.

»Er ist ein Narr«, sagte Fink.

»Geh nur sogleich hinauf«, bat Anton, »die Frauen müssen unter seiner Laune leiden.« Darauf hing Anton die Jacke eines Arbeiters um und sprang durch die Hinterpforte hinaus in den Regen nach dem Wirtschaftshofe.

Auf dem Hofe sah er ein wüstes Durcheinander. Deutsche Familien aus den Nachbardörfern hatten sich in das Alarmhaus geflüchtet und saßen dort mit den Kindern und einigen Stücken ihrer Habe. Es hatten sich wohl an zwanzig Personen auf der Tenne gelagert, Männer, Frauen und Kinder; die Weiber jammerten, die Kinder weinten, die Männer starrten finster vor sich hin, mehrere gehörten zum Landsturm der Dörfer, einer oder der andere war mit seiner Flinte bewaffnet. Auf dem Hofraum standen die kleinen Wagen der Flüchtigen. Knechte, Pferde und Kühe rannten durcheinander. Anton rief den Techniker zur Hilfe bei der nötigen Aufsicht. Dem zuverlässigsten Knecht und der deutschen Großmagd übergab er die Ackerpferde und die Rinderherde. Er nahm den Knecht, einen entschlossenen Mann, beiseite und besprach mit ihm einige Stellen im Dickicht unweit der Sandgrube, wo für Menschen und Tiere Verborgenheit und einiger Schutz vor dem Wetter zu hoffen war. Dorthin sollte der Knecht die Herde treiben und fleißig nach dem Vogt vom Vorwerk aussehen, der im Walde die Aufsicht zu führen hatte. Dann befahl er der Magd, eine Kuh zurückzulassen, öffnete der Herde selbst das Hintertor und sah, wie die Leute, mit Lebensmitteln bepackt, auf den Wald zutrieben.

»Was aber tun wir mit den Pferden des Barons und der Fremden?« fragte der Techniker in Eile.

»Sie müssen mit einigen Wagen ins Schloß, wie es auch gehen mag. Wer weiß, ob wir nicht fliehen, wenn’s zum Letzten kommt.«

So ließ Anton schnell in die neuangestrichenen Wagen Karls einige Säcke Kartoffeln laden, Mehl, Hafer, und was von Heubündeln Raum hatte. Auch an die Feuertonne ließ er ein Gespann haken und die Tonne mit frischem Wasser füllen. Noch immer goß es vom Himmel wie mit Kannen, und in dem strömenden Regen warfen die Knechte Säcke, Kasten und Bündel auf die Wagen; alles lief durcheinander, weinte und fluchte in deutscher und polnischer Sprache. Als Anton unter die Flüchtlinge trat, wurde das Geschrei der Frauen noch lauter, die Männer umringten ihn und fingen an, ihr Unglück zu erzählen, die Kinder hingen sich um seine Füße, es war ein trauriger Anblick. Anton tröstete: »Vor allem haltet Ruh, wir werden euch schützen, so gut wir können. Ich hoffe, daß Militär zu unserer Hilfe kommt, unterdes sollt ihr aufs Schloß in Sicherheit. Ihr habt treu zu uns gehalten in dieser bösen Zeit; solange wir Brot haben, soll es auch euch nicht fehlen.«

Nach einer Viertelstunde angestrengter Arbeit trieb Anton nach dem Schlosse. Die Knechte fuhren mit den Wagen an der Hintertür vor, der Trupp der Flüchtlinge folgte. Noch immer kamen Leute an, welche sich aus den deutschen Dörfern gerettet hatten, auch der Schmied von Kunau stand mit einem großen Haufen seiner Dorfnachbarn vor dem Schloßtor. Der ganze Zug wurde jetzt geordnet und der Reihe nach hereingelassen, die Pferde abgeschirrt, die Wagen entladen. Die Frauen und Kinder führte Anton in zwei Stuben des Unterstocks, welche zwar finster, aber immer noch behaglicher waren als die Alarmhäuser oder das regendurchweichte Feld. Die größte Mühe machte das Unterbringen der Pferde; eng aneinander gedrängt stand ein Dutzend Tiere unter einem offenen Schuppen, notdürftig geschützt vor dem Regen und vor einschlagenden Kugeln. In die Mitte des Hofraums wurde der Wasserbottich gestellt und die Kartoffelwagen an das Pfahlwerk geschoben, um den Schützen im Notfall einen Stand zu geben. Darauf wurden die wehrhaften Männer durch den Schmied gesammelt, außer dem Wiesenbauer und vier Knechten waren es noch fünfzehn deutsche Kolonisten, die meisten bewaffnet. Wuchtig tönte ihr Tritt in dem langen Gange des Schlosses; sie zogen in die Vorhalle und stellten sich an der Seite der Arbeiter auf. So war die streitbare Macht der Festung versammelt, Fink ging in seinem Jagdrock vor der Arbeiterkompanie auf und ab. Anton trat an ihn heran und meldete, was bis jetzt geschehen war.

»Du bringst uns Männer«, erwiderte Fink, »das ist in der Ordnung, aber auch einen ganzen Clan Weiber und Kinder, das Schloß ist voll wie ein Bienenkorb, über sechzig Mäuler und fast ein Dutzend Pferde, wir werden trotz deiner Kartoffelwagen noch vor vierundzwanzig Stunden die Steine anbeißen müssen.«

»Konnte ich sie draußen lassen?« fragte Anton unwillig.

»Sie wären im Walde ebenso sicher gewesen als hier«, sagte Fink, die Achseln zuckend.

»Möglich«, erwiderte Anton, »aber die Leute im strömenden Regen nach dem Walde zu jagen, ohne Nahrung und in der furchtbaren Angst einer Flucht ohne Ziel, das wäre eine Grausamkeit gewesen, die ich nicht verantworten will. Und meinst du, daß wir die Männer bekommen hätten ohne die Weiber und Kinder?«

»Die Männer wenigstens können wir brauchen«, schloß Fink, sich zu den Angekommenen wendend. »Sorge du für Verproviantierung der Masse.« Fink gab den Unbewaffneten Gewehre und teilte die Mannschaft in vier Abteilungen, die eine für den Hof, zwei für den Unter- und Oberstock und eine als Reserve in die Wachtstube. Dann ließ er sich durch den Schmied von Kunau und einige andere genauen Bericht über den Feind abstatten. Unterdes war Anton in das unterste Geschoß geeilt, dort übergab er dem Wiesenbauer die Aufsicht über die Vorräte und ließ durch den Diener des Freiherrn Holz und Wasser zusammentragen. Ein Sack Kartoffeln und einer mit Mehl wurde in der Nähe des Herdes aufgestellt und der große Kessel über das Feuer gesetzt. Im Herausgehen vertraute er der Köchin, daß eine Milchkuh in den Stall gezogen war, wo das Pferd des Herrn von Fink gestanden hatte, damit wenigstens die Herrschaft in diesen Tagen die Milch nicht entbehre. Der alten Babette flogen vor Angst die Hände. »Ach, Herr Wohlfart, was für ein schreckliches Unglück«, rief sie, »die Kugeln werden in meine Küche fliegen.«

»Behüte«, sagte Anton, »das Fenster liegt zu tief, es kann Sie keine treffen, kochen Sie ruhig weiter. Die Leute sind ausgehungert, ich werde Ihnen zwei von den fremden Frauen zur Hilfe herunterschicken.«

»Wer wird essen bei solcher Gefahr!« rief die Köchin.

»Wir alle werden essen«, beruhigte Anton.

»Befehlen Sie eine Suppe oder Kartoffelbrei?« fragte Babette in ihrer Verzweiflung und schwenkte mit dem Löffel fieberhaft hin und her.

»Beides, Mütterchen.«

Die Köchin hielt ihn zurück. »Aber Herr Wohlfart, es fehlt an Eiern für die Herrschaft, auch nicht ein Ei ist im ganzen Hause. Gott erbarme, daß das Unglück gerade heute kommen mußte. Was wird der Herr Baron sagen, wenn er heut abend kein geschlagenes Ei bekommt!«

»Zum Teufel mit den Eiern«, rief Anton ungeduldig; »es wird heut nicht so genau genommen.«

Als er zurückkehrte, rief ihm Fink zu: »Die Posten sind aufgestellt, wir können jetzt ruhig den Anmarsch erwarten. Ich gehe auf den Turm und nehme einige Schützen mit. Wenn etwas vorfällt, bin ich dort zu treffen.«

So wurde es leer in der Halle und wieder still im Hause. Die Wachen standen schweigend und starrten auf den Saum des Waldes; in der Wachtstube saß die Mannschaft in leisem Gespräch, nur unten in den Kinderstuben hörte der Lärm nicht auf; und ein emsiger Verkehr entstand zwischen den besetzten Räumen des Unterstocks und der Küche. In unruhiger Erwartung schritt Anton auf und ab, von dem Hause in den Hof und wieder in sein Zimmer, wo er die Papiere des Freiherrn zusammenband, und durch die Gänge und Stuben, in denen die Bewaffneten standen. So verstrich eine Viertelstunde nach der andern, endlich trat Lenore aus dem Zimmer der Mutter und rief: »Die Ungewißheit ist unerträglich!«

»Auch von dem Vorwerk kommt keine Nachricht«, erwiderte Anton finster. »Aber der Regen hört auf, und was heut noch geschehen soll, wird im Sonnenschein vor sich gehen. Dort zerreißen die Wolken, der blaue Himmel scheint durch. – Wie geht es der Frau Baronin?«

»Sie ist gefaßt«, sagte Lenore, »gefaßt auf alles.«

Beide gingen schweigend im Vorsaal auf und ab. Endlich trat Lenore vor Anton und rief mit leidenschaftlichem Ausdruck: »Wohlfart, es ist mir fürchterlich, daß Sie um unsertwillen in diese Lage gekommen sind!«

 

»Ist diese Lage so schrecklich?« fragte Anton mit trübem Lächeln.

»Für Ihr Gefühl vielleicht nicht«, sagte Lenore, »aber Sie opfern uns mehr, als wir verdienen. Wir sind undankbar gegen Sie, Sie würden in andern Verhältnissen glücklicher sein.« Sie stellte sich an das Fenster und weinte bitterlich. Erschrocken trat Anton an sie heran, sie zu beruhigen. »Wenn Sie die lebhaften Äußerungen Ihres Herrn Vaters von vorhin meinen«, sagte er, »so ist kein Grund, mich zu bedauern; Sie wissen, was wir über diesen Punkt bereits früher gesprochen haben.«

»Es ist nicht das allein«, rief Lenore weinend.

Anton wußte wie sie, daß es nicht das allein war; er fühlte, daß ein Geständnis in den Worten lag. »Was es immer sein mag«, sprach er heiter, »wollen Sie nicht auch mir die Freude gönnen, ein Abenteuer zu erleben? Freilich bin ich ein ungeschickter Soldat, aber wie es scheint, wollen die Feinde mir auch nur wenig Gelegenheit geben, ihnen Schaden zu tun.«

»Niemand dankt Ihnen, was Sie für uns ertragen, niemand!« rief Lenore wieder.

»Niemand?« fragte Anton. »Habe ich nicht eine Freundin hier, welche nur zu sehr geneigt ist, das zu überschätzen, was ich etwa tun kann? Lenore, Sie haben mir erlaubt, Ihnen näherzutreten, als in gewöhnlichen Verhältnissen möglich wird. Rechnen Sie für nichts, daß ich einige von den Rechten eines Bruders an Sie gewonnen habe?«

Lenore ergriff heftig seine Hand und drückte sie. »Auch ich bin in der letzten Zeit anders gegen Sie gewesen, als ich hätte sein sollen. Ich bin sehr unglücklich«, rief sie leidenschaftlich aus. »Keinem Menschen kann ich gestehen, was in mir vorgeht, der Mutter nicht, auch Ihnen nicht. Alles Vertrauen habe ich verloren und alle Fassung.« Sie preßte ihr Tuch an die Augen.

»Lenore!« rief ungeduldig der Vater aus seinem Zimmer.

»Es ist jetzt keine Zeit zu Erklärungen«, sagte sie ruhiger. »Wenn wir diesen Tag überstanden haben, will ich mir Mühe geben, stärker zu sein als jetzt. Helfen Sie mir dabei, Wohlfart.«

Lenore eilte nach dem Zimmer des Freiherrn; Anton blieb in trüben Gedanken zurück. Unterdes fiel das helle Sonnenlicht auf den Hofraum des Schlosses, die Männer gingen aus der Wachtstube und stellten sich an der Schwelle auf, auch die Weiber drängten aus den finstern Räumen und mußten mit Ernst zurückgewiesen werden. Nachdem der erste Schreck überstanden war, hatten die Leute wieder Mut und allerlei Gedanken. »Wer weiß, ob sie das Schloß nicht vergessen haben«, sagten die einen, »oder ob sie den Mut haben, uns anzugreifen«, die andern, und ein kluger Schneider bewies durch geschicktes Zusammenflicken der verschiedenen Nachrichten, alle polnischen Röcke seien längst bis hinter Rosmin gezogen. Aber so eifrig auch jeder die Überzeugung aussprach, daß die Gefahr vorüber sei, so hörten doch alle ängstlich auf den Tritt der Wachen im Hause und sahen immer wieder nach dem Turm, ob nicht von dort ein Signal komme. Auch Anton fand das Warten unleidlich, er stieg endlich auf den Turm. Dort war auf der Plattform die befehlende Macht des Schlosses versammelt, der blinde Freiherr saß auf seinem Sessel, hinter ihm lehnte die hohe Gestalt Lenorens, welche ihren Sonnenschirm über die Augen des Vaters hielt; in den breiten Schießscharten saßen vier Büchsenschützen, oben auf dem Mauerwerk ließ Fink die Beine in die freie Luft hinaushängen und blies die blauen Wolken einer Zigarre in den Wind.

»Nichts zu sehen?« fragte Anton.

»Nichts«, erwiderte Fink, »als ein betrunkener Haufe unserer Dorfleute, welcher dort auf dem Wege nach Tarow abzieht.« Er wies auf eine dunkle Masse, welche gerade im Walde verschwand. »Es ist gut, daß wir das Gesindel los sind. Sie haben Furcht vor den grauen Joppen und halten für ratsamer, woanders zu plündern. Noch ist jede Stunde Verzögerung ein Gewinn; wir haben eben berechnet, daß Hilfe im besten Fall vor morgen mittag nicht zu erwarten ist. Für einen Besuch von vollen vierundzwanzig Stunden sind die Herren hinterm Wald nicht interessant genug. – Ein vortrefflicher Punkt, Herr von Rothsattel, dieses Dach hier. Zu sehen ist nicht viel, etwas Kiefernwald, Ihre Felder und Sand. Aber eine gloriose Höhe zur Verteidigung. Daß es um das Schloß herum so kahl ist und kein Baum und kein Strauch steht, ist von gefühlvollen Herzen als unangenehm beklagt worden. Ich finde gerade das prachtvoll; mit Ausnahme der ersten Scheuer des Hofes, die immerhin in gerader Linie gegen dreihundert Schritt von diesem Punkt entfernt ist, gibt es für einen feindlichen Schützen keinen Versteck, der größer wäre als ein Maulwurfshügel. So weit eine Büchsenkugel reicht, beherrscht man von hier die Ebene souverän. Nur das Gebüsch dort ist im Wege, ich glaube, es ist eine Anpflanzung von Fräulein Lenore.«

»Ich bekenne mich schuldig«, sagte Lenore.

»Wohlan«, entgegnete Fink nachlässig, »dann sollen Sie die Kurkosten bezahlen, wenn wir getroffen werden. Ein halbes Dutzend Schützen findet Versteck darin.«

»Es ist Lenorens Lieblingsplatz«, sagte der Freiherr entschuldigend, »sie hat dort eine Rasenbank, es ist die einzige Stelle, wo sie im Freien sitzen kann.«

»Ah«, sagte Fink, »das ist etwas anderes.« Er sah sich nach Lenore um, sie war von der Seite ihres Vaters verschwunden. Gleich darauf wurde das Hoftor geöffnet, Lenore eilte, gefolgt von einigen Arbeitern, auf den Busch zu. Fink rief verwundert hinunter: »Was wollen Sie, Fräulein?« Lenore machte mit der Hand die entschlossene Gebärde des Niederschlagens, sie selbst faßte ein Fichtenstämmchen und hob es mit Anstrengung aller Kräfte aus der Erde. Die Männer folgten ihrem Beispiel. Nach wenigen Augenblicken war die junge Pflanzung ausgerissen. Dann nahm Lenore im Eifer selbst die Hacke und schlug auf die Rasenbank, diese zu zerstören.

Anton hatte die Bäume mit dem Fräulein gepflanzt, beide hatten sich lebhaft über die gute Wirkung gefreut, die das Gebüsch hervorbrachte, täglich war seitdem Lenore dort gewesen, jeder von den kleinen Stämmen war ihr ein persönlicher Freund. Jetzt sah Anton schweigend der Vernichtung zu, zuletzt konnte er sich nicht enthalten, mit einiger Kälte zu sagen: »Die schwache Pflanzung hätte uns wenig geschadet, du hast sicher eine unnütze Zerstörung veranlaßt.«

»Ei«, erwiderte Fink, »Fräulein Lenore handelt wie ein vorsichtiger Festungskommandant. Die erste Bravour solcher Talente ist immer, die Anlagen um ihre Festung zu rasieren, und dieses Gebüsch kann an jedem Frühlingstage wieder gesetzt werden. – Tragt das Holz weiter ab nach dem Wirtschaftshofe«, rief er den Männern zu, »werft auch die hölzerne Einfassung des Brunnens auseinander, schafft die Bohlen nach dem Hofe und verdeckt die Öffnung.«

Als Lenore wieder hinter den Stuhl des Freiherrn trat, nickte Fink ihr zu wie ein älterer Genosse dem jüngeren, nahm sein Fernrohr und untersuchte wieder den Rand des Waldes.

So blieb die Gesellschaft wohl eine Stunde lang, niemand hatte Lust zu sprechen; was Fink gelegentlich scherzte, fiel auf unfruchtbaren Boden. Anton stieg hinunter, die Leute in Ordnung zu halten, aber es trieb ihn wieder auf die Zinne, und wie die andern sah er unverwandt nach dem Waldwege. Endlich sagte Fink nach längerem Stillschweigen, seine Zigarre wegwerfend: »Es wird Abend, wir erweisen unsern Gästen zuviel Ehre, wenn wir dabei beharren, sie in solcher stillen Andacht zu erwarten. Als die Nachricht von dem Anmarsch zu uns kam, waren Wohlfart und ich hier im Hause nötig, und da Karl in der Ferne meinem armen Pferde die Beine bricht, so hatten wir niemand, den wir als Patrouille zum Rekognoszieren ausschicken konnten. Jetzt rächt sich die Unterlassungssünde, wir sitzen hier im Bau gefangen, und die Leute ermüden, bevor der Feind kommt. Es wird unvermeidlich, daß sich einer von uns mit ein paar Leuten auf die Gäule wirft und weiter Nachricht über den Feind einholt. Diese Stille ist unnatürlich; man sieht auf dem ganzen freien Felde keinen Menschen, keinen auf all den Feldwegen, es scheint mir seltsam, daß seit zwei Stunden keine Flüchtlinge mehr vom Walde herkommen, auch die Rauchwolke auf Neudorf zu ist verschwunden.«

Anton schickte sich schweigend an, den Turm zu verlassen. »Geh, mein Sohn«, sagte Fink, »nimm dir die sichersten Leute mit, sieh nach, wie es im Dorfe steht, und hüte dich vor dem Kiefernwald. Halt, noch einen Augenblick, ich will den Wald noch einmal mit dem Fernrohr durchsuchen.« Er sah lange hin, betrachtete jeden Baum und setzte das Rohr endlich ab. »Es ist nichts zu sehen«, sagte er nachdenkend. »Trügen die Herren, die wir erwarten, etwas anderes als Bauernsensen, so müßte man annehmen, daß eine Teufelei am Werke wäre. So aber ist alles Ungewißheit. Hüte dich vor dem Walde.«

Anton verließ den Turm, rief den Techniker und zwei Knechte, ließ das Pferd des Barons und drei der schnellsten Ackerpferde losbinden und vom Schmied das Tor öffnen. Die Reiter ritten zuerst auf den Wirtschaftshof. Alles war still und im tiefsten Frieden. Die Hühner, welche Karl vor einigen Wochen gekauft hatte, scharrten auf dem Mist, seine Tauben gurrten auf dem Strohdach, ein kleiner Hund, der mit dem Schmied aus Kunau gelaufen war, hatte sich unterdes selbst zum Wächter des verlassenen Hofes gemacht und bellte die Reiter argwöhnisch an. Geschlossen trabten sie durch das Dorf vor die Schenke, die Schenkstube war leer. Anton rief nach dem Wirt. Nach einer Weile kam der Mann bleich an die Tür gestürzt und schlug die Hände zusammen, als er Anton sah. »Gerechter Gott, Herr Wohlfart, daß Sie noch hier sind: ich habe geglaubt, Sie wären längst mit der Herrschaft geflüchtet nach Rosmin oder unter unsere Soldaten. Gott, ist das ein Unglück! Der Bratzky ist hier in der Stube gewesen und hat die Leute aufgeredet gegen die Herrschaft im Schlosse und gegen die Deutschen. Er konnte sie aber nicht dazu bringen, daß sie vor das Schloß rückten. So ist der größte Teil der Dorfleute auf Tarow zu den Polen gezogen; die zurückgeblieben sind, haben sich versteckt; ich bin dabei, zu vergraben, was ich in der Eile wegschaffen kann.«

»Wo stehen die Feinde jetzt?« fragte Anton.

»Ich weiß es nicht«, rief der Schenkwirt, »aber ich weiß, daß es ist ein großes Heer, auch Ulanen dabei in Uniform.«

»Wißt Ihr, ob der Wald sicher ist nach Neudorf zu?«

»Wie kann er sicher sein, es ist in den letzten Stunden niemand von Neudorf hergekommen. Wäre der Weg frei, so müßte jetzt das halbe Dorf hier sein in meiner Schenke oder bei Ihnen auf dem Schloß.«

»Ihr habt recht. Wollt Ihr die Banden hier erwarten?« fragte Anton, zum Abritt bereit. »Ihr seid im Schlosse sicherer.«

»Wer weiß!« rief der Wirt. »Ich kann nicht fort; wenn ich gehe, wird mir verwüstet der ganze Kretscham.«

»Aber Eure Weiber?« fragte Anton, das Pferd anhaltend.

»Ich muß Leute haben zur Hilfe«, klagte der verzweifelte Wirt. »Wenn sie auch jung sind, sie müssen es durchmachen. Da ist die Rebekka, meiner Schwester Kind, sie ist aus einer Familie, die gewöhnt ist an den Handel. Sie versteht das Wesen mit den Bauern, sie weiß Geld zu kriegen, auch wenn einer ganz betrunken ist. – Rebekka«, rief er zurück, »der Herr Wohlfart lassen dich fragen, ob du willst aufs Schloß, daß du sicher bist vor den wilden Männern.« Das volle Gesicht Rebekkas, von rötlichem Haar eingefaßt, tauchte aus dem Kellerloch des Hauses hervor.

»Was tu ich mit dem Schloß, Onkel?« rief sie entschlossen. »Wie heißt wilde Männer? Unsere Bauern sind die wildesten Männer in der ganzen Gegend, wenn ich mit den fertig werde, werde ich auch fertig mit den andern. Die Muhme hat verloren ihren Kopf, es muß doch ein Mensch da sein, der mit den Gästen hantiert. Ich bedanke mich, gnädiger Herr, ich fürchte mich nicht; die Herren, welche sind bei den Haufen, werden nicht leiden, daß mir einer etwas antut.«

»Vorwärts, ihr Männer!« rief Anton. Sie trabten weiter durch das Dorf, alle Türen waren geschlossen, aus den kleinen Fenstern sah hier und da ein Frauenkopf verstört den Reitern nach. So kamen sie auf den breiten Feldweg bis in die Nähe des Waldes. »Wo der Weg in den Wald hineinläuft«, sagte der eine Knecht zu Anton, »ist zur linken Hand junges Holz. Dort können viele hundert Mann im Versteck liegen, und wir sehen sie nicht, sie werden uns wegputzen oder den Weg nach dem Schlosse abschneiden.«

»Du hast recht«, sagte Anton, »wir reiten über das Feld bis an die hintere Seite des jungen Schlages, dort stehen die Stämme einzeln, wir können hinein und wieder zurück. Von dort suchen wir zu Fuß das junge Holz ab.« So lenkten sie von der Straße, ritten über das Brachfeld, und ihre Pferde betraten in Schußweite von der Schonung den Wald. »Jetzt herunter von den Pferden«, sagte Anton zu den Knechten. Anton und die Knechte gaben die Zügel dem Techniker, nahmen die Gewehre in die Hand und schritten vorsichtig an das Buschwerk. »Schießt hinein«, befahl Anton, »und dann zurück zu den Pferden, so schnell ihr laufen könnt.« Die Schüsse rasselten in das junge Holz, einige Sekunden darauf antwortete ein unregelmäßiges Feuer aus mehreren Gewehren, ein lautes Geschrei folgte. Die Kugeln pfiffen über den Kopf Antons, aber die Entfernung war nicht gering, und im schnellen Lauf kamen die Männer unbeschädigt zu ihren Pferden. »Galopp, wir wissen genug! Sie waren nicht so schlau, ruhig zu bleiben.« Eilig rasselte die kleine Schar auf der Landstraße dem Schlosse zu, hinter ihnen klang der laute Ruf der Verfolger. Atemlos kamen die Reiter vor dem Schlosse an, im Hofe fand Anton alles alarmiert. Fink erwartete ihn am Eingange.

 

»Du hattest recht«, rief ihm Anton entgegen, »sie lagen im Hinterhalt, gewiß schon mehrere Stunden, vielleicht war ihnen zumeist daran gelegen, dich oder uns beide auf dem Wege nach Neudorf zu fassen. Sie hätten dann das Schloß ohne Kampf in die Hände bekommen.«

»Wieviel mögen ihrer sein?« fragte Fink.

»Du sahst, wir hatten keine Zeit zum Zählen«, entgegnete Anton. »Sicher ist ein Haufe vorgeschoben, und die größere Masse liegt weiter hinten im Walde.«

»Wir haben sie aufgestört«, erwiderte Fink, »jetzt können wir ihren Besuch erwarten. Es ist unserer Leute wegen besser jetzt vor Sonnenuntergang als bei Nacht.«

»Sie kommen!« rief Lenorens Stimme vom Turme herunter.

Die Freunde eilten auf die Plattform. Als Anton über die Zinne des Turmes sah, neigte die Sonne zum Untergang. Der Himmel strahlte in blendender Goldfarbe und verwandelte das Grün der Wälder in bräunliche Bronze. Aus dem Waldwege trabte ein Trupp Reiter, etwa eine halbe Schwadron, in geordnetem Zuge auf das Dorf zu, mehr als hundert Mann zu Fuß folgten, der erste Zug mit Gewehren, der andere mit Sensen bewaffnet. Das schöne Abendlicht umstrahlte die Gestalten auf dem Turme. Ein Käfer summte lustig um Antons Ohr, und oben in der Luft klang das Abendlied der Lerche. Unterdes zog unten die Gefahr heran. Immer näher wand sie sich auf dem gekrümmten Wege, eine dunkle langgestreckte Masse, unhörbar, nur dem Auge erkenntlich. Vor dem Ohre summte der Käfer fort, und die Lerche sang weiter in ihrem Freudenlied. Endlich verschwand der Zug hinter den ersten Hütten des Dorfes. Es waren Augenblicke lautloser Stille, alle sahen unverwandt auf die Stelle, wo der Feind wieder sichtbar werden mußte; neben Anton stand Lenore, sie umklammerte mit der Linken ein Gewehr und hielt die Rechte in einer Jagdtasche, in der ihre Hand, ohne daß sie es wußte, die Kugeln klappernd in Bewegung setzte. Als die Reiter in der Mitte des Dorfes sichtbar wurden, griff Fink an seine Mütze und sagte feierlich: »Jetzt auf unsere Posten, ihr Herren. Du, Anton, habe die Güte, den Freiherrn hinunterzuführen.« Als Anton, den Blinden stützend, die Stufen hinabstieg, wies er zurück auf Lenore, welche unbeweglich auf den heranziehenden Feind hinstarrte. »Auch Sie, gnädiges Fräulein, bitte ich, an Ihre Sicherheit zu denken«, fuhr Fink fort.

»Ich bin am sichersten hier«, erwiderte Lenore trotzig und stieß mit dem Kolben ihres Gewehres auf den Stein. »Sie werden nicht verlangen, daß ich jetzt den Kopf in das Sofa drücke, wo Sie im Begriffe sind, um das Leben zu spielen.«

Fink sah voll Bewunderung in das schöne Antlitz und sagte. »Ich habe nichts dagegen. Wenn Sie sich entschließen können, auf diesem Sessel Platz zu nehmen, so sind Sie hier so sicher wie irgendwo im Schloß.«

»Ich werde vorsichtig sein«, erwiderte Lenore mit einer abwehrenden Bewegung der Hand.

»Und ihr verbergt euch hinter der Mauer, meine Knaben«, sagte Fink, »hütet euch, eine Schulter oder den Zipfel eurer Mütze zu zeigen; und feuert nicht eher, als bis ich euch mit diesem Schreihals ein Zeichen gebe, ihr werdet den Ton auch hier oben hören.« Er holte eine breite Pfeife von fremdartigem Aussehen hervor. »Auf Wiedersehen«, sagte er, Lenore mit strahlendem Blick betrachtend.

»Auf Wiedersehen«, antwortete Lenore, ihren Arm erhebend, und sah dem Hinabsteigenden nach, bis die Tür hinter ihm zufiel.

In der Vorderhalle fand Fink den Freiherrn. Der arme Herr war durch die Spannung des langen Tages und durch das Gefühl seiner Unbrauchbarkeit da, wo er tätig zu sein für ein Vorrecht seines Standes hielt, in einen Wirbel von schmerzlichen Empfindungen versetzt. In früheren Jahren hätte er jede persönliche Gefahr mit der besten Haltung durchgemacht. Wie sehr seine Kraft gebrochen war, zeigte sich jetzt, wo es ihm nicht gelang, seine Fassung zu bewahren. Seine Hände griffen unruhig umher, als suchten sie eine Waffe, und ein schmerzliches Stöhnen drang aus tiefer Brust herauf. »Mein gütiger Gastfreund«, redete Fink ihn an, »da Ihre Unpäßlichkeit Ihnen noch unbequem machen muß, mit den Fremden zu verhandeln, so bitte ich Sie um die Erlaubnis, dies in Ihrem Namen zu tun.«

»Sie haben Vollmacht, lieber Fink«, erwiderte der Freiherr mit heiserer Stimme. »In der Tat ist das Befinden meiner Augen nicht so, daß ich hoffen kann, etwas zu nützen. Ein jämmerlicher Krüppel!« rief er laut und bedeckte das Gesicht mit seinen Händen. Fink wandte sich achselzuckend ab, öffnete einen Schieber in der eichenen Bohlentür, welche bestimmt war, auf die noch nicht aufgeschüttete Rampe zu führen, und sah hinaus.

»Erlauben Sie mir«, bat Anton den Freiherrn, »Sie an einen Platz zu führen, wo Sie den Kugeln nicht unnötig ausgesetzt sind.«

»Bekümmern Sie sich nicht um mich, junger Mann«, sagte der Freiherr. »Es ist heut an mir weniger gelegen als an dem ärmsten Tagelöhner, der um meinetwillen ein Gewehr in die Hand nimmt.«

»Hast du mir noch etwas aufzutragen?« sagte Anton zu Fink, sein Gewehr ergreifend.

»Nichts«, erwiderte dieser lächelnd, »als daß du deine Vorsicht nicht vergißt, wenn du selbst ins Handgemenge kommst. Gute Geschäfte.« Er streckte ihm die Hand hin, Anton ergriff sie und eilte in den Hof. –

»Jetzt begutachten die Feinde Ihre Wirtschaft«, sagte Fink zu dem Freiherrn. »In wenigen Augenblicken werden wir die Herren hier haben. Da kommen sie, Reiter und Fußvolk. Sie machen halt an der Scheuer, ein Reitertrupp avanciert, es ist der Stab, hübsche Jungen darunter, ein paar elegante Pferde, sie reiten außer Schußweite um das Schloß. Sie sind vorsichtiger, als ich erwartete. Sie suchen einen Eingang, wir werden sogleich den Hammer am Hintertor hören.«

Alles blieb still. »Merkwürdig«, sagte Fink. »Es scheint mir Kriegsgebrauch, die Besatzung vor dem Angriff zur Übergabe aufzufordern; dort kommen die Offiziere um das Schloß herum in Karriere zu ihrem Fußvolk zurück. Hat ihnen Wohlfart solchen Schrecken eingejagt, daß sie Hals über Kopf geflohen sind?«

Das Dröhnen der Pferdehufe und der dumpfe Tritt des Fußvolkes wurde gehört.

»Wetter«, fuhr Fink fort, »das ganze Korps marschiert wie zur Parade auf unserer Seite des Schlosses auf; wenn sie von dieser Seite Ihre Festung erstürmen wollen, so müssen sie merkwürdige Begriffe von Berennung eines festen Platzes haben. Sie machen Front gegen uns, zweihundert Schritt Distanz. Das Fußvolk zwei Mann hoch in der Mitte, die Reiter an den Flügeln. Ganz römische Schlachtordnung, der reine Julius Cäsar. Seht, sie haben einen Tambour, der Kerl tritt vor; das Geklapper, welches Sie hören, ist ein Trommelwirbel. – Ah, der Anführer reitet vor die Front. Er kommt heran und hält gerade vor dieser Tür. Die Artigkeit erfordert, daß wir nach dem Begehr dieses Herrn fragen.« Fink faßte den schweren Riegel der Tür und schob ihn zurück, die Tür flog auf, Fink trat auf die Schwelle, den Eingang deckend, die Doppelflinte nachlässig in der Hand. Als der Reiter die schlanke Gestalt im weidgerechten Kostüm so ruhig vor sich stehen sah, parierte er sein Pferd und griff an den Hut, Fink dankte durch eine leichte Neigung des Kopfes.