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Soll und Haben

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»Seitdem sind Stunden vergangen«, sagte Fink, »die Schurken sind über alle Berge.«

»Ich glaub’s nicht«, erwiderte der Schmied. »Den Leonhard habe ich mit unsern Berittenen sogleich um den Wald herumgeschickt an die Grenze, damit sie aufpassen, wenn das Räubervolk sich aus dem Wald schleicht. Und eine Frau aus Neudorf, die im Wald war, hat noch vor zwei Stunden polnische Leute gesehen, auf der Grenze nach dem Neudorfer Wald, gerade da, wo der Grenzstein unter der alten Eiche steht. Sie hatten ein Vieh bei sich, ob es ein Kalb war oder ein Hund, hat die Frau in ihrer Angst nicht gesehen; wenn’s das Kalb war, so haben’s die Hungerleider lieber aufgegessen als fortgetragen. Ich komme eben von Neudorf, die Neudorfer sind gesammelt wie wir. Wir möchten ein Treiben durch die Wälder anstellen, wenn Ihre Leute uns helfen und wenn Sie uns die Richtung geben wollten.«

»Gut«, sagte Fink, »frisch ans Werk.« Er sandte einen Boten dem Förster entgegen, damit die aus dem Schloß gleich von ihrer Seite das Treiben begönnen, und besprach mit dem Schmied Aufstellung und Richtung der Kunauer. Karl mit den Knechten schickte er zu den Kunauer Reitern auf die entgegengesetzte Seite des Waldes, nach welcher das Treiben zugehen sollte. »Machen Sie keine Umstände mit den Schuften«, rief er dem abreisenden Karl zu und klopfte auf die Pistolen im Halfter. »Vorwärts«, sagte er zum Schmied, »ich selbst reite nach Neudorf. Wenn ihr euer Vorholz abgesucht habt, erwartet uns, dort soll die Neudorfer Kette sich an eure schließen.«

So zogen sie von Kunau aus, den Diebstahl zu rächen. Fink galoppierte, von Lenore begleitet, nach dem Nachbardorf. Auf dem Wege sagte er zu ihr: »Hier werden wir uns trennen, Fräulein.« Lenore schwieg.

Fink sah sie von der Seite an. »Ich glaube nicht«, fuhr er fort, »daß die Schelme uns die Freude machen werden, unsern Besuch im Walde zu erwarten. Und wenn sie weglaufen wollen, der Abend ist nahe, wir werden sie schwerlich hindern. Aber die Jagd ist eine gute Übung für unsere Leute, und deshalb soll sie uns willkommen sein.«

»Dann gehe ich mit nach dem Walde«, sagte Lenore entschlossen.

»Notwendig ist das gerade nicht«, erwiderte Fink. »Ich fürchte zwar keine Gefahr für Sie, aber Ermüdung und vielleicht Regen.«

»Lassen Sie mich mit«, bat Lenore, zu ihm aufsehend.

»Ich habe verständig abgeraten, mehr ist von einem Menschen nicht zu verlangen, und im Vertrauen gesagt, mich freut’s, daß Sie so mutig sind. Galopp, Kamerad!«

In Neudorf stellte Fink die Pferde in den Hof des Schulzen und führte die Schar der Neudorfer an den Waldrand. Die Linie stellte sich auf, die Durchsuchung des Forstes begann. In langer Kette betraten die Männer das Holz, die Entfernung zwischen den einzelnen Gliedern mußte größer sein, als wünschenswert war, Fink schritt mit Lenore auf dem äußersten rechten Flügel, wo der Anschluß an die Linie der Kunauer geschehen sollte, der Nebenmann Finks hatte die Richtung anzugeben. Die Jäger gingen im tiefen Schweigen vorwärts und spähten mit scharfem Auge von Baum zu Baum. Als sie den Wald betraten, rauschte es in den Baumgipfeln, durch die Lücken des Nadelholzes sah man den bleischwarzen Himmel. Unten aber lag noch die Schwüle des heißen Tages, die Vögel saßen in die Zweige geduckt, die Käfer waren in die Büsche der Heidelbeeren gekrochen.

»Der Himmel selbst kommt den Spitzbuben zu Hilfe«, sagte Fink, auf die Wolken deutend, zu seiner Begleiterin, »es wird so finster dort oben, daß wir in einer halben Stunde hier unten nicht zehn Schritte vor uns sehen werden.«

Das Holz schloß sich dichter, das Tageslicht nahm ab, die am Flügel hatten Mühe, die Reihe der Männer zu erkennen. Der Grund wurde morastig, Lenore versank bis an die Knöchel in dem Bruch. »Wenn’s nur kein Katarrh wird«, lachte Fink sie aus.

»Es wird keiner«, erwiderte Lenore herzhaft, aber der Zug in den Wald erschien ihr nicht mehr so harmlos wie vor einer Stunde.

Der Mann neben Fink blieb stehen, sein leises Zischen lief die Kette hinab, die lange Reihe hielt an, die Kunauer zu erwarten. Immer schwärzer wurde es über den Bäumen, immer dunkler im Holz. In der Ferne rollte der Donner, wie ein dumpfer Wirbel klang der Ton unter dem großen Dach von Nadeln. So standen die Männer wohl eine Viertelstunde, da tönte von rechts ein leiser Ruf durch die Dunkelheit, die Treiber aus dem Nachbardorfe kamen heran. Die Warnung: »Nebenmann rechts und links im Auge behalten!« flog durch die Reihe, dann setzte sich der ganze Zug in Bewegung, die Führer aus den beiden Dörfern schritten jetzt nebeneinander, Fink und Lenore in ihrer Spur. Da fuhr ein starker Donnerschlag über den Wald, es pfiff und rasselte in der Luft, der Regen rauschte hernieder. Zuerst klang der Tropfenfall nur in den Ästen der Bäume, bald drangen einzelne schwere Tropfen herunter. Immer lauter schlug der Regen auf die Kronen der Bäume, immer stärker tropfte es von den Ästen, endlich rauschte die Wasserflut von dem Himmel und durch die Zweige herab auf den Boden; jeder Stamm, jeder Strauß Nadeln, jeder herabgebogene Ast verwandelte sich in eine Wasserrinne. Wie ein Flor verhüllten die Wassertropfen die Aussicht. Um jeden einzelnen war ein enger Kreis gezogen durch Finsternis und strömenden Regen, die Männer riefen einander mit gedämpfter Stimme zu, um die Richtung nicht zu verlieren.

Da stieß Lenore, als sie auf Fink sah, mit dem Fuß an eine Baumwurzel, sie unterdrückte einen Schmerzensschrei und sank auf die Knie; Fink eilte zu ihr.

»Ich kann nicht weiter«, sagte sie, den Schmerz bezwingend, »lassen Sie mich hier zurück, ich beschwöre Sie, und holen Sie mich auf dem Rückwege ab.«

»Sie in dieser Lage verlassen«, rief Fink, »wäre eine Barbarei, gegen welche das Menschenfressen als harmlose Ergötzlichkeit erscheinen müßte. Sie werden sich schon meine Nähe gefallen lassen. Vor allem erlauben Sie mir, daß ich Sie aus dieser Baumtraufe fortführe an eine Stelle, wo der Regen weniger unverschämt ist. Unsere Vordermänner habe ich ohnedies verloren, ich sehe durchaus nichts mehr von den breiten Schultern der ehrlichen Knaben.« Er richtete Lenore in die Höhe, sie versuchte, mit dem verletzten Fuß aufzutreten, aber der Schmerz preßte ihr einen neuen Klagelaut aus, sie wankte und hielt sich an Finks Schulter. Da schlug dieser seinen Plaid um sie, hob sie vom Boden und trug sie, eingewickelt, wie, man ein Kind trägt, auf seinen Armen, unter einige Tannen, welche mit ihren dichten Zweigen einen kleinen geschützten Raum einschlossen. Wenn ein Mensch sich beugte, konnte er darunter erträglichen Schutz finden.

»Hier herunter müssen Sie sich setzen, liebes Fräulein«, riet Fink und ließ Lenore vorsichtig auf den Boden herab. »Ich werde vor Ihrem grünen Haus Wache halten und Ihnen den Rücken zukehren, damit Sie Ihr nasses Tuch um den unartigen Knöchel binden.« Lenore drückte sich unter das dichte Tannendach, Fink stellte sich mit dem Rücken gegen sie an einen Baumstamm. »Es ist doch nichts beschädigt«, fragte er, »können Sie den Fuß im Gelenk bewegen?«

»Er tut etwas weh«, sagte Lenore, »aber es geht.«

»Das ist brav«, sprach Fink hinter sich, »jetzt binden Sie das Tuch um, ich hoffe, in zehn Minuten werden Sie auftreten können. Wickeln Sie sich fest in das große Tuch, es hält warm; sonst holt sich mein Kriegskamerad noch das Fieber, und damit wäre die Jagd nach dem gestohlenen Kalbe doch zu teuer bezahlt. Sind Sie fertig mit dem Verband?« fragte er wieder. »Darf ich mich herumdrehen?«

»Ja«, antwortete Lenore.

»Dann erlauben Sie mir, Sie einzuwickeln.« Vergebens protestierte das Fräulein gegen diesen Ritterdienst, Fink schlang das große Tuch um den Körper der Sitzenden und band es hinten in einen festen Knoten. »Jetzt sitzen Sie im Walde wie das graue Männchen.«

»Etwas Gesicht lassen Sie mir frei«, bat Lenore.

»So«, sagte Fink, »jetzt wird Ihnen behaglich werden.« Bald empfand Lenore eine wohltätige Wärme; schweigend saß sie unter ihren Zweigen, bekümmert um die seltsame Lage, in der sie sich befand. Fink hatte wieder seinen Platz am Baumstamm eingenommen und kehrte ihr ritterlich den Rücken zu. Nach einer Weile rief Lenore aus dem Gebüsch: »Sind Sie noch da, Herr Kamerad?«

»Halten Sie mich für einen Verräter, der seinen Zeltgenossen verläßt?« fragte Fink zurück.

»Es ist hier unten ganz trocken«, fuhr Lenore fort, »nur auf meine Nase fällt zuweilen ein Tropfen. Sie aber, armer Herr, werden da draußen ganz durchnäßt. Welch furchtbarer Regen!«

»Dieser Regen flößt Ihnen Schrecken ein?« versetzte Fink achselzuckend. »Der ist nur ein schwaches Kind! Wenn er einen Zweig vom Baume gerauft hat, meint er, Wunder getan zu haben. Da lobe ich mir den Regen in solchen Ländern, wo die Sonne heißer brennt, Tropfen wie Äpfel, nein, keine Tropfen mehr, armdicke Strahlen, das Wasser stürzt aus den Wolken wie ein Wasserfall. Stehenbleiben kann man nicht, denn der Boden schwimmt unter einem fort, unter Bäume flüchten kann man auch nicht, denn der Sturmwind zerbricht die dicksten Baumstämme wie Strohhalme. Man läuft auf das Haus zu, das vielleicht nicht weiter entfernt ist als von hier bis zu der Baumwurzel, die Ihren Fuß verletzte, und das Haus ist verschwunden, an der Stelle befindet sich ein Loch, ein Strom, ein Haufe herangespülter Felsen. Vielleicht fängt dann auch die Erde an ein wenig zu beben und schlägt Wellen wie das Meer im Sturme. Das ist ein Regen, der sich sehen lassen kann. Kleider, die er durchnäßt hat, werden nie wieder trocken, was ein Oberrock war, ist acht Tage nachher noch eine schwarze unförmliche Masse, welche das Aussehen und die Feuchtigkeit einer Morchel hat. Behält man einen solchen Rock auf dem Leibe, so bleibt er fest genug sitzen, die Aufschläge am Ellenbogen, die Taille am Halse, aber nie wird man ihn wieder ausziehen können, außer mit Hilfe eines Federmessers und in schmalen Streifen, die man abschneidet wie Apfelschalen.«

Lenore mußte in ihrem Schmerz lachen. »Ich wünsche mir wohl, einen solchen Regen zu erleben«, sagte sie.

 

»Ich bin uneigennützig, wenn ich mir nicht wünsche, Sie in solcher Lage zu sehen«, erwiderte Fink. »Die Frauen sind am schlimmsten daran, alles, was sie zur Toilette rechnen können, verschwindet in solcher Strömung vollständig. Ist Ihnen das Kostüm der Frau Venus von Milo bekannt?«

»Nein«, antwortete Lenore ängstlich.

»Gerade wie diese Dame sehen alle Frauen aus, die ein tropischer Regen getroffen hat, und die Männer wie Vogelscheuchen. Ja es soll vorgekommen sein, daß Menschen von solchem Regen platt geschlagen wurden wie Kupferdreier, nur mit einem Knopf in der Mitte, der bei näherer Betrachtung sich als ein Menschenkopf auswies und den Vorübergehenden traurig zurief: ›O ihr Mitmenschen, das kommt davon, wenn man ohne Regenschirm ausgeht.‹«

Wieder mußte Lenore lachen. »Mein Fuß tut nicht mehr so weh«, sagte sie, »ich glaube, ich kann jetzt gehen.«

»Das sollen Sie nicht«, entgegnete Fink, »noch läßt der Regen nicht nach, und es ist so finster, daß man kaum die Hand vor den Augen sieht.«

»Dann tun Sie mir die Liebe und suchen Sie die Männer auf. Mir ist es wohler, ich sitze hier wie ein Reh, geschützt vor dem Regen und vor fremden Leuten.«

»Es geht nicht«, sprach Fink von seinem Baume zurück.

»Ich bitte Sie flehentlich darum«, rief Lenore angstvoll und streckte ihre Hände aus dem Tuch, »lassen Sie mich jetzt allein.«

Fink wandte sich um, ergriff ihre Hand und drückte sie an seine Lippen, dann eilte er schweigend in der Richtung fort, welche die Landleute genommen hatten.

So saß Lenore allein unter den Tannenzweigen. Noch immer rauschte der Regen herab, er schlug klatschend an die Baumgipfel und strömte von den Ästen herunter auf den Boden. Dazu rollte oben der Donner, das Gewitter kam herauf; zuweilen fuhr ein grelles Licht durch die Dunkelheit, dann sah Lenore die beleuchteten Baumstämme in langen Reihen wie goldgelbe Säulen eines unabsehbaren Gebäudes vor sich stehen und darüber eine schwarze Decke mit hellen Lichtern geflammt. Dann erschien der Wald wie ein verwünschtes Schloß, das aus der Erde steigt und im Nu wieder versinkt. Durch den Regen klangen geheimnisvolle Töne, wie sie zur Nachtzeit durch den Wald gehen. Über ihr schlug es an den Stamm mit regelmäßigem Klopfen, als wenn ein schlimmes Waldgespenst an das Holz ihrer Hütte anpochte; sie fuhr zusammen und fragte sich gleich darauf, ob das ein Specht sein könnte oder ein Baumast. Aus der Ferne tönte der heisere Klageschrei einer Krähe, der das Wasser in das Nest gedrungen war und den ersten Schlaf gestört hatte. Neben ihr lachte es schauerlich: »Huhu, huhu!«, und wieder erschrak Lenore; war es ein tückischer Kobold aus dem Walde, oder war es nur eine kleine Eule? In hundert melancholischen Lauten sprach die Natur. Lenore empfand den wilden Reiz dieser Einsamkeit bald mit Freude und gleich darauf wieder mit Angst. Und dazwischen flogen andere Gedanken durch ihre Seele, wie töricht sie gehandelt hatte, sich vom Hause fortzustehlen zu einem Zuge, der ein solches Abenteuer möglich machte, wie man sie im Schloß suchen würde und vor allem, was er von ihr denken müsse, der sie auf ihre Bitten verlassen. Sie zog das Tuch von ihrem Ohr und lauschte, es war nichts von Menschenstimmen zu hören; nichts war zu hören als der Fall des Regens und die Seufzer des Waldes. Aber neben ihr rauschte es an dem Boden, zuerst leise, dann vernehmlicher, das Regenwasser floß in einer kleinen Rinne zusammen und murmelte, wenn es an einen großen Busch von Waldbeeren stieß, an einen Wurzelstock oder an die Knolle eines Farnkrauts. Und hinter ihr raschelten die Blätter, und mit eiligem Sprunge kam es heran, sie drückte erschrocken ihr Haupt an den Baumstamm. Etwas setzte sich neben sie nieder, und eine fremde Gestalt rührte an den Plaid, den sie umhatte. Sie fuhr mit der Hand unter dem Tuch vorsichtig nach dem Nachbar und fühlte das weiche Fell eines Hasen, der, durch das rinnende Wasser aus seiner Vertiefung aufgeschreckt, unter den Bäumen Schutz suchte wie sie selbst. Sie hielt den Atem an, um den kleinen Genossen ihrer Hütte nicht zu verscheuchen; und eine Weile kauerten die beiden nebeneinander, der Hase drückte sich dicht an das Tuch.

Da klangen in der Ferne durch Regen und Donner einzelne Schüsse, Lenore zuckte zusammen, mit großem Satz fuhr der Hase in die Finsternis hinein. Dort kämpften Menschen miteinander, dort wurde Blut vergossen auf dem schwarzen Boden. Ein Geschrei wurde gehört, es klang noch aus der Ferne zornig und drohend, dann wurde alles still. »War er in einer Gefahr gewesen?« So fragte sie sich, aber sie fühlte darum keine Angst und schüttelte das Haupt unter ihrem Tuch. Wo er auch war, für ihn gab es keine Gefahr. Das Gewehr, das nach ihm zielte, schlug ein niederfallender Baumast in den Grund; das Messer, das gegen ihn gezückt wurde, zerbrach wie ein Span Holz, bevor es ihn traf; der Mann, der gegen ihn eindrang, mußte straucheln und fallen, ehe er sein stolzes Haupt berührte. Er war fest gegen alle Gefahr, und er war fest gegen jede Furcht; er kannte keine Sorge, keinen Schmerz, ach, er fühlte nicht wie andere Menschen. Frei erhob er sein Haupt, und heiter war sein Auge, wo alle andern gedrückt zur Erde sahen. Keine Schwierigkeit schreckte ihn, kein Hindernis verlegte ihm den Weg. Mit einer leichten Bewegung des Fußes stieß er weg, was andere erdrückte. So war er. Und der Mann hatte sie jetzt schwach gesehen, vorschnell und hilflos! Durch ihre eigene Schuld hatte er das Recht erhalten, sie mit flüchtiger Vertraulichkeit zu behandeln. Sie zitterte, daß er dies Recht benützen könnte, durch einen Blick, ein übermütiges Lächeln, ein schnelles Wort. So pochte ihr Herz, und so flogen ihre Gedanken wohl eine Stunde lang.

Das Wetter verzog sich. Statt der rauschenden Güsse fiel jetzt ein dauerhafter Landregen aus den Wolken, leiser gurgelte die kleine Wasserrinne, und häufiger tönte der Schrei der Eule; auf den Wechsel von schwarzer Finsternis und feuriger Helle folgte ein mattes Grau am Himmel und in dem Walde. Aus dem einförmigen Dunkel hoben sich nur die Säulen der nächsten Bäume als düstere Schatten von dem Hintergrunde ab. Beängstigend stieg das Gefühl der Einsamkeit in Lenore auf. Da drang wieder der ferne Ton von Menschenstimmen an ihr Ohr, Ruf und Gegenruf wurde laut, und die Stimme des Amtmanns rief: »Über den Bruch sind sie noch gegangen, dorthin, ihr von Neudorf!« Die Tritte der Sprechenden kamen näher, dicht an den Tannen bewegte sich die Gestalt eines Mannes. Karl setzte die Hände an den Mund und johlte laut in den Wald hinein: »Halli, Fräulein Lenore!«

»Ich bin hier«, rief eine feine Stimme zu seinen Füßen.

Verwundert trat Karl einen Schritt zurück und schrie freudig: »Gefunden!« Die Landleute umringten Lenorens Hütte mit lautem Ruf. – »Unser Fräulein ist hier!« rief ein Bursch aus Neudorf und jauchzte in seiner Freude wie bei einer Hochzeit. Lenore erhob sich, noch schmerzte der Fuß, aber auf Karls Arm gestützt, versuchte sie tapfer vorwärts zu gehen. »Nur bis an den Bruch«, sagte dieser, »dort stehen die Bäume dünner.« Unterdes brachen die jungen Männer einige Stangen ab und legten Nadelzweige darüber. Trotz ihrem Sträuben wurde Lenore von den Dienstfertigen genötigt, sich auf die kunstlose Trage zu setzen, während einer in den Hof des Schulzen vorauslief, ihr das Pferd entgegenzuführen.

»Haben Sie die Diebe?« fragte Lenore den Amtmann, der neben ihr ging.

»Zwei«, erwiderte dieser. »Das Kalb war geschlachtet, wir bringen die Haut und einen Teil des Fleisches, die Gänse hingen mit umgedrehten Hälsen an einem Ast, aber das Geld hatten die Schurken schon geteilt. Es ist bei den zweien wenig davon gefunden worden.«

»Es sind Leute von Tarow, die wir gefangen haben«, sagte der Schulz finster, »die schlechtesten Kerle im Dorfe. Und ich wollte doch, sie wären woanders her, denn es leben rachsüchtige Menschen dort.«

»Ich hörte schießen«, fragte Lenore weiter, »ist ein Unglück geschehen?«

»Uns nichts«, antwortete Karl. »Sie hatten in ihrem Übermut ein Feuer angemacht, hinten unweit dem Waldrand, wo wir zu Pferd Kette machten. Noch durch den Regen glomm der Brand; so haben sie sich selbst verraten. Wir stiegen von den Pferden, schlichen heran und fielen über sie her. Sie schossen ihre Flinten ab und liefen ins Gebüsch. Dort verschwanden sie in der Finsternis. Es dauerte lange, ehe die andern zu Fuß durch den Wald zu uns kamen; ohne die Schüsse und den Lärm hätten sie uns nicht gefunden. Herr von Fink hat uns die Stelle beschrieben, wo wir Sie finden würden. Er führt die Gefangenen auf dem Fahrwege, sie sollen aufs Gut, morgen schaffen wir sie weiter ins Deutsche.«

»Aber daß Herr von Fink Sie im Walde so allein gelassen hat«, sagte der ehrliche Schulz kopfschüttelnd, »das war doch ein gewagtes Stück.«

»Ich bat ihn, nicht zurückzubleiben«, antwortete Lenore und schlug trotz der Dunkelheit die Augen nieder.

Auf halbem Weg zum Dorf kam Lenorens Pony dem Zug entgegen. In Neudorf empfing Karl das Pferd des Freiherrn aus den Händen der Knechte zurück und geleitete das Fräulein nach dem Schlosse. Es war spät am Abend, als sie dort ankamen. Lenorens lange Abwesenheit hatte die Angst der Mutter und die allerschlechteste Laune des Freiherrn hervorgerufen. Hastig machte sich die Tochter von den Fragen los, die auf sie eindrangen, und eilte auf ihr Zimmer. Eine Stunde später kam Fink mit dem Förster aus Kunau zurück und brachte die beiden Gefangenen, welche mit ihren gebundenen Händen trotzig zwischen den Wächtern daherschritten und ihre Pfauenfeder so hoch trugen, als zögen sie zum Tanz in die Schenke.

»Ihr sollt’s uns bezahlen«, sagte der eine von ihnen auf polnisch zu den begleitenden Männern und ballte die gefesselte Faust.

4

Noch immer regnete es. Bei Anbruch des Tages hatte der Himmel eine Pause gemacht, aber nur, um seine feuchte Arbeit in doppelter Stärke fortzusetzen. Die Wiesenarbeiter waren am frühen Morgen auf das Feld gezogen und bald wieder zurückgekehrt. Jetzt saßen sie schweigsam in der Wachtstube des Schlosses und trockneten ihre durchnäßten Kleider am Ofen.

Der Freiherr lag im Ledersessel seiner Hinterstube; er ließ sich von dem alten Johann aus den Zeitungen vorlesen, welche am Tage zuvor wieder einmal in das Schloß gedrungen waren. Die eintönige Stimme des Dieners meldete nur Unwillkommenes, die Regentropfen klapperten an der Dachrinne, und der Sturmwind schlug heulend an die Hausecke, sie begleiteten in Mißtönen die Worte des Lesenden.

Anton war an seinem Schreibtisch beschäftigt. Vor ihm lag ein Brief des Justizrats Horn, er meldete, daß der Termin zum gerichtlichen Verkauf des Familienguts auf die Mitte des nächsten Winters festgestellt sei; gleich nach Bekanntmachung des Termins seien in Hypotheken des Guts aus einer Hand in die andere übergegangen, wie er fürchte, aufgekauft von einem Spekulanten, der sich hinter verschiedenen Namen zu verbergen wisse. So überdachte Anton in trüber Stimmung die gefährliche Lage des Freiherrn.

In dem Zimmer daneben leistete Fink den Damen Gesellschaft; die Baronin lag in die Kissen des Sofas gedrückt, zugedeckt mit einem Tuch Lenorens. Sie sah schweigend vor sich hin, und nur wenn die Tochter mit zärtlicher Frage zu ihr trat, nickte sie ihr lächelnd zu und sprach beruhigende Worte. Lenore war am Fenster mit einer leichten Arbeit beschäftigt und hörte mit Entzücken auf die Scherze, durch welche Fink das trübe Grau des Zimmers aufzuhellen wußte. Er war heute trotz dem Regen in der übermütigsten Laune. Zuweilen klang Lenorens Lachen durch die eichene Tür in Antons Ohr, dann vergaß Anton Güterverkauf und Hypotheken, sah mit umwölktem Gesicht auf die Tür und empfand nicht ohne Bitterkeit, daß ein neuer Kampf für ihn und die Familie heranziehe.

Draußen aber strömte der Regen, stürmte die Luft. Laut rief der Wind vom Walde her seinen Klageruf nach dem Schloß. Von den Wipfeln der Föhren wogten die Nadelbüsche rastlos auf das Schloß zu; in den Birnbäumen auf dem Ackerland fuhren die Blätter und die weißen Blüten zitternd durcheinander. Zornig warf der Sturm die Blüten zur Erde, schlug sie mit seinen Regentropfen fest auf den nassen Boden und heulte: »Herunter mit eurem lachenden Glanz, graue Trauerfarbe soll heut tragen, was zum Schlosse gehört.« – Von den Bäumen fuhr der wilde an die Mauern des Schlosses, er schüttelte die Fahnenstange auf dem Turm, er schleuderte das Wasser der Wolken in schrägen Linien an die Fensterscheiben, er fuhr stöhnend in den Schlot und donnerte an die Türen. Zu jeder Öffnung rief er herein: »Wahret euer Haus!« So trieb er es stundenlang, aber die drin verstanden nicht seine Sprache.

So achtete auch niemand auf den Reiter, der sein ermüdetes Pferd in eiligem Jagen durch das Dorf dem Schlosse zutrieb. Endlich schlug der Hammer an das Pfahlwerk des Hofes, ungeduldig tönten die Schläge, und Stimmen wurden laut im Hofe und auf der Treppe. Anton öffnete die Tür, ein bewaffneter Mann, triefend von Wasser, bespritzt mit dem Kot der Straße, trat in die Stube.

 

»Du bist es!« rief Anton erstaunt.

»Sie kommen«, meldete Karl, sich vorsichtig umsehend. »Machen Sie sich gefaßt, diesmal gilt es uns.«

»Die Feinde?« fragte Anton schnell. »Wie stark ist der Haufe?«

»Es ist kein Haufe, den ich gesehen«, erwiderte Karl ernst, »es ist ein Heer; an die tausend Sensenmänner, wohl hundert Reiter. Sie sind auf dem Zuge zum Hauptkorps. Ich hörte, sie haben Befehle, alle polnischen Männer mitzunehmen und die deutschen Gemeinden zu entwaffnen.«

Anton öffnete die Tür des Nebenzimmers und bat Fink, hereinzukommen.

»Ah«, rief Fink eintretend, mit einem Blick auf Karl, »wer so die halbe Landstraße in die Stube trägt, bringt nichts Gutes. Von welcher Seite kommt der Feind, Sergeant?«

»Vom Neudorfer Birkenwald her zieht sich’s in hellen Haufen auf uns herunter. Die Leute im Dorf sind in der Schenke versammelt, trinken Branntwein und zanken.«

»Kein Fanal hat gebrannt, es ist noch kein Rapport von den nächsten Dörfern gekommen«, rief Anton am Fenster. »Haben die Deutschen in Neudorf und Kunau geschlafen?«

»Sie sind selbst überrascht worden«, fuhr der Unglücksbote fort. »Ihre Wachen hatten schon gestern am Abend den Feind gesehen; er zog eine halbe Meile von Neudorf auf der großen Straße nach Rosmin zu. Als er die Stelle passiert hatte, wo der Weg nach Neudorf von der Straße abgeht, wurden die Neudorfer guten Mutes. Ihre Reiter folgten von fern den Sensenmännern, bis ihnen der letzte Haufe aus dem Gesicht war. In der Nacht aber sind die Banden umgekehrt, heut morgen haben sie das Dorf überfallen, sie haben gewirtschaftet wie die Teufel. Der Schulz liegt auf dem Stroh voll Wunden, ein gelieferter Mann, das Alarmhaus ist in Brand geraten, dort über den Wald hin müßte man den Rauch sehen, wenn dieser dicke Regen nicht wäre. Jetzt haben sich die Feinde geteilt; sie durchsuchen die deutschen Dörfer, ein Trupp zieht nach Kunau, ein Haufe auf unser neues Vorwerk, ein großer Haufe kommt hierher.«

»Wieviel Zeit haben wir noch, die Herren zu empfangen?« fragte Fink.

»Bei dem Wetter braucht das Fußvolk eine Stunde bis hierher.«

»Ist der Förster gewarnt«, fragte Anton, »und wissen sie’s auf dem Vorwerk?«

»Es war keine Zeit, sie anzurufen, das Vorwerk liegt von Neudorf weiter ab als das Gut, ich wäre vielleicht zu spät hierhergekommen. Unser Fanal habe ich angezündet, aber bei diesem Regen ist weder Feuer noch Rauch zu sehen, und jedes Signal ist vergeblich.«

»Wenn sie nicht für sich selbst ausgesehen haben«, sagte Fink beistimmend, »wir können nichts weiter für sie tun.«

»Der Förster ist ein Fuchs«, erwiderte Karl, »den fängt keiner, aber der Vogt auf dem Vorwerk und des Vogts junge Frau; der Himmel sei ihnen gnädig!«

»Retten Sie unsere Leute!« rief eine flehende Stimme neben Fink: Lenore stand in der Stube, bleich, mit gefalteten Händen.

Anton eilte an die Tür, durch welche Lenore geräuschlos eingetreten war. »Die gnädige Frau!« rief er besorgt.

»Noch hat sie nichts gehört«, erwiderte Lenore hastig. »Senden Sie nach dem Vorwerk, helfen Sie unsern Leuten!«

Fink ergriff seine Mütze. »Führen Sie mein Pferd heraus«, sagte er zu Karl.

»Du darfst jetzt nicht fort«, rief Anton, ihm in den Weg tretend. »Ich werde dein Pferd nehmen.«

»Um Vergebung, Herr Wohlfart«, warf Karl dazwischen, »wenn ich das Pferd des Herrn von Fink reiten darf – ich bin noch imstande, den Weg zu machen.«

»Meinetwegen«, entschied Fink. »Den Förster, und wen Sie von den Männern auftreiben können, senden Sie hierher, die Weiber, die Pferde und Schafe schicken Sie nach dem Wald. Der Vogt soll sich mit dem Vieh tief in das Holz hineinziehen und von den alten Kiefern an der Sandgrube das Schloß beobachten. Sie aber bleiben auf meinem Pferde, das ich leider Ihren Beinen für die nächsten Tage überlassen muß. Reiten Sie auf Rosmin zu und suchen Sie die nächste Abteilung unserer Truppen, wir lassen dringend um Hilfe bitten, womöglich Kavallerie dabei.«

»Unsere Rotmützen sollen eine Stunde hinter Rosmin stehen«, sagte Karl im Abgehen; »der Schmied von Kunau rief mir’s zu, als ich bei ihm vorbeiritt.«

»Was Sie von Militär in Bewegung setzen, bringen Sie hierher. Während Sie das Pferd satteln, schreibe ich eine Zeile an den Kommandierenden.«

Karl machte militärisch grüßend kehrt und sprang hinunter, Anton mit ihm. Während Karl am Sattelgurt schnallte, sagte Anton eilig: »Im Vorbeireiten ruf die Leute auf dem Hofe an, ich gehe sogleich hinüber. – Armer Junge, du hast heut noch kaum gefrühstückt und hast wenig Aussicht, in den nächsten Stunden etwas zu bekommen.« Er sprang in das Haus zurück, holte aus der Küche eine Flasche Likör, ein Brot und Überreste eines Schinkens, steckte die Zehrung in einen Sack und reichte diesen mit dem Briefe dem Reiter, der gerade im Begriffe war, den Hofraum zu verlassen.

»Ich danke«, sagte Karl, Antons Hand ergreifend, »Sie sorgen für alles. Jetzt aber noch eine Bitte an Sie, denken Sie auch an sich selbst, Herr Wohlfart; diese polnische Wirtschaft hier und da draußen ist nicht wert, daß Sie Ihr Leben dafür in die Schanze schlagen; es gibt bei uns daheim Leute, die es schwer ertragen würden, wenn ihnen etwas zustieße.«

Anton schüttelte herzhaft die Hand des Treuen. »Lebe wohl, ich werde meine Pflicht tun; vergiß nicht, den Förster zu uns zu schicken, und rette vor allem die Frau. Das Militär führe auf dem Waldwege hierher.«

»Keine Sorge«, sagte Karl lustig, »der vornehme Braune soll heut merken, was ein Kommißschenkel durchsetzen kann.« Bei diesen Worten schwenkte er seine Mütze und verschwand im gestreckten Galopp hinter den Gebäuden des Wirtschaftshofes.

Anton verriegelte das Tor, dann eilte er in die Wachtstube und zog die Lärmglocke, er befahl dem Obmann, die Leute antreten zu lassen, das Hintertor zu besetzen und niemand ohne Anfrage einzulassen, auch die Flüchtlinge nicht. »Eßt reichlich und trinkt mit Maß, wir werden heut zu tun bekommen«, rief er ihnen zu. Oben in seinem Zimmer stand Fink am Tische und lud die Gewehre, Lenore reichte ihm von der Wand, was er forderte, sie war bleich, aber die Augen glühten ihr in einer Aufregung, welche dem eintretenden Anton nicht entging. »Lassen Sie diese ernsten Spielereien uns allein besorgen«, bat er, zu ihr tretend.

»Es ist das Haus meiner Eltern, das Sie verteidigen«, rief Lenore, »mein Vater ist außerstande, Sie anzuführen. Sie sollen um unsertwillen Ihr Leben nicht auf das Spiel setzen, ohne daß ich dabei bin.«

»Verzeihen Sie«, erwiderte Anton, »ihre erste Pflicht ist jetzt wohl, die Baronin vorzubereiten und in den nächsten Stunden nicht zu verlassen.«

»Meine Mutter, meine arme Mutter!« rief Lenore, die Hände zusammenschlagend, legte das Pulverhorn hin und eilte in das Nebenzimmer.

»Ich lasse die Leute essen«, sagte Anton zu Fink. »Von jetzt an übernimm du den Befehl.«

»Gut«, erwiderte Fink, »hier ist deine Ausrüstung, diese Doppelflinte ist leicht, ein Lauf Kugel, der andere Rehpost. Der Kugelsack liegt unter deinem Bett.«

»Du gedenkst eine Belagerung auszuhalten?« fragte Anton.

»Wir dürfen uns entweder gar nicht zur Wehr setzen und müssen uns dem freundlichen Wohlwollen der heranziehenden Haufen übergeben, oder wir müssen uns zu halten suchen bis zur letzten Kugel. Auf diesen äußersten Fall haben wir uns immer vorbereitet, vielleicht ist Ergebung das Klügere, ich gestehe, daß sie nicht nach meinem Geschmack ist. Da aber noch ein Hausherr vorhanden ist, so mag er sprechen, geh zum Freiherrn.«