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Soll und Haben

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So spricht sie fröhlich in Anton hinein, aber er hört nicht auf ihre Worte. Ungeduldig hat er den Brief Baumanns erbrochen, und während er liest, rötet sich sein Gesicht vor innerer Bewegung. Langsam, in tiefen Gedanken geht er in sein Zimmer hinauf und kommt nicht wieder herunter.

Lenore ergreift den Umschlag, welcher auf den Boden gefallen ist. »Das ist wieder die Hand seines Freundes aus der Handlung«, sagt sie traurig. »Sooft er einen Brief von dort erhält, wird er finster und kalt gegen mich.« Sie wirft das Papier weit weg und eilt in den Stall, ihren Vertrauten, den Pony, zu satteln.

6

Es war Wochenmarkt in der kleinen Kreisstadt Rosmin. Seit uralter Zeit war der Markttag für die Landleute der Umgegend ein Fest von besonderer Bedeutung. Fünf Tage der Woche mußte der Bauer seinen Kohl essen oder dem gestrengen Herrn fronen, am Sonntage war sein Herz geteilt zwischen der Jungfrau Maria, seiner Familie und der Schenke, der Markttag trieb ihn über die Grenze seiner Feldmark hinein in die große Welt. Dann fühlte er sich auch gegenüber den Fremden als ein schlauer Mann, welcher schafft und einkauft, er sah Bekannte wieder, die er sonst niemals getroffen, er erblickte neue Dinge aus der Fremde, er hörte von andern Städten und Ländern und genoß, was andere für ihn erfunden hatten, in vollen Zügen. Und am Abend dieses Tages flogen die Neuigkeiten aus der weiten Welt bis in das entfernte Walddorf, in jede Hütte, in jede einzelne Menschenseele des Kreises. So war es schon damals gewesen, als noch die Slawen allein auf dem Boden saßen, der Bauer leibeigen unter schmutzigem Strohdach, der Edelmann hoffärtig in seinem hölzernen Palast. Damals war ein offenes Feld gewesen, was jetzt Rosmin heißt; vielleicht stand eine Kapelle darauf mit einem gnädigen Bilde oder ein paar mächtige Bäume noch aus der Heidenzeit oder das Haus eines klugen Grundherrn, der weiter sah als seine langbärtigen Genossen. Damals war der deutsche Kaufmann zum Markte über die Grenze gekommen mit seinen Wagen und Dienern, er hatte unter dem Schutz des Kruzifixes oder eines slawischen Säbels seine Truhen geöffnet und die Werke des heimischen Fleißes, Tuche, buntfarbige Kleider, Zwickelstrümpfe, Halsbänder von Glas und teure Korallen, Heiligenbilder und Kirchengerät, aber auch, was den Gaumen erfreut, süße Backwaren, fremden Wein und wohlriechende Zitronen feilgeboten und hatte dagegen eingetauscht, was die Landschaft ihm entgegenbrachte: Wolfsfelle, Hamsterpelze, Honig, Getreide, Vieh und anderes. Nicht lange, so schlug neben dem Kaufmann auch ein Handwerker seine Werkstatt auf, der deutsche Schuster kam und der Knopfmacher, der Blechschmied und der Gürtler, die Zelte und Hütten verwandelten sich allmählich in feste Häuser, die im Viereck um den großen Marktplatz aufstiegen, auf dem viele Hundert beladener Polenwagen Raum haben mußten. Fest schlossen sich die fremden Ansiedler zusammen, sie kauften den Grund, sie kauften ein Stadtrecht von dem slawischen Grundherrn, sie gaben sich ein Statut nach dem Muster deutscher Städte. Die neuen Bürger bauten ihr Rathaus in die Mitte des großen Vierecks und daran ein Dutzend Häuser für Kaufleute und Schenken, und der Marktring war geschlossen. Um die Hofräume, die Hintergebäude und Gassen wurde die Stadtmauer gezogen und über die beiden gewölbten Tore nach dem Brauch der Heimat wohl auch die Wachttürme gesetzt, unten hauste der Zöllner, oben der Wächter. Und mit Verwunderung erzählte man sich draußen in den Wäldern und auf der Heide, wie schnell die Männer mit fremder Sprache gewachsen waren und daß jeder Landmann, der durch ihr Tor fuhr, ihnen ein Kupferstück bezahlen mußte als Brückengeld, ja der Edelmann, der allmächtige, mußte auch bezahlen. Manchen Slawen aus dem Umkreise warf sein Schicksal zu den Bürgern in die Stadt, er wurde heimisch unter ihnen, ein Handwerker, Kaufmann, Bürger wie sie. So war Rosmin entstanden, so viele deutsche Städte auf altem Slawengrund, und sie sind geblieben, was sie im Anfang waren, die Märkte der großen Ebene, die Stätten, wo polnische Ackerfrucht eingetauscht wird gegen die Erfindungen deutschen Gewerbefleißes, die Knoten eines festen Netzes, welches der Deutsche über den Slawen gelegt hat, kunstvolle Knoten, in denen zahllose Fäden zusammenlaufen, durch welche die kleinen Arbeiter des Feldes verbunden werden mit andern Menschen, mit Bildung, mit Freiheit und einem zivilisierten Staat.

Noch immer ist der Markttag von Rosmin der große Tag für die Umgegend. Vom frühen Morgen an ziehen Hunderte von Korbwagen mit Ackerfrüchten nach der Stadt, und hoch auf den Säcken sitzen der breitschultrige Bauer und die Bäuerin; aber nicht mehr peitscht der Leibeigene die abgetriebenen Gäule seines Gebieters, ein freigeborenes Slawenkind lenkt die stattlichen Pferde, deren Vater sogar ein Hengst des Königs ist. Und wenn der Federwagen eines Edelmanns vorbeifährt, dann treibt auch der Bursch sein Pferd zu schnellerem Lauf, und wenn er artig ist, rückt er nur ein wenig an seinem Hut. Auf allen Straßen und Feldwegen zieht es der Stadt zu, die kleinen Leute fahren ihre Gänse auf der Radber, und die Frau trägt im Korbe die Butter ihrer Kuh, Beeren und Pilze und ganz unten auf dem Boden vielleicht einen heimlichen Hasen, den ihr Mann durch einen Wurf seines Stockes getötet hat. Vor allen Gasthäusern der Vorstadt stehen Haufen abgespannter Wagen, an jeder Schenktür drängen sich die ein und aus gehenden Leute. Auf dem Markt sind die Getreidewagen dicht nebeneinander aufgefahren, der große Platz ist bedeckt mit runden Säcken und Gespannen, und Pferde von jeder Größe und in allen Farben stehen nebeneinander, an den guten Plätzen am Rande auch die Hoffuhren der Edelleute. Und in dem Viereck der hundert Wagen, zwischen den Knechten, Pferdeköpfen und Heubündeln windet sich aalgleich der jüdische Faktor hindurch, Getreideproben in jeder Tasche, in zwei Sprachen fragend und antwortend. Neben dem weißen Kittel und blauen Schnurrocke der Slawen und ihrem Hut mit der Pfauenfeder zeigt sich das einförmige Dunkelblau des deutschen Kolonisten. Dazwischen Soldaten aus der nächsten Garnison, Stadtbewohner, Wirtschaftsbeamte und feine Herren vom Landadel. An der Ecke des Marktes hält auf seinem großen Pferde hoch und erhaben der Gendarm, auch er ist heut im Eifer, und seine Stimme klingt herrisch über das Gewirr der Wagen, welche die Einfahrt zur Straße verstopft haben.

Überall in der Stadt sind die Kaufläden weit geöffnet, und vor den Häusern stellen die kleinen Händler auf Tischen und Tonnen ihre Ware aus. Bedächtig schreitet das Bäuerlein, gefolgt von den Weibern seiner Hütte, die Reihen der Schautische entlang, mit kurzem Befehl hält er die Frauen zusammen, welche begehrlich stehenbleiben und die Köpfe zusammenstecken, wo bunter Kattun, Tücher oder Halsbänder aufgehängt sind, bis auch sein künstlicher Gleichmut von einem Ausruf der Bewunderung durchbrochen wird, wenn er bei einem Tisch voll Stahlwaren ankommt oder bei einem Pferdegeschirr oder einem großen Schinken im Fleischladen. Lange wird geprüft, bevor der Einkauf geschieht, wohl fünf Minuten biegt er das gestählte Blatt der Säge hin und her, bis der Kaufmann ihm gelangweilt das Stück aus der Hand nimmt, dann erst entschließt er sich zum Kauf; fast ebensolange klopft sein Weib an den irdenen Töpfen herum, ob nicht an einer Stelle ein schnurrender Mißton den Sprung verrät. Der Genuß des Kaufens wird hier viel stärker empfunden als da, wo Tausende mit einem Wort weggegeben werden. Immer wieder stillgehalten, wenn ein bekannter Mann oder ein Blutsfreund aus einem andern Dorf den Kaufenden entgegenkommt. Dann entsteht ein langes Begrüßen, die Frauen drängen sich heran, die Neuigkeiten fliegen aus einem Mund in den andern, bis der ganze Trupp zuletzt gemeinsam seine Warenschau fortsetzt. Endlich halten die Ermüdeten vor dem Tische, wo durchgeschnittene Würste durch ihr marmoriertes Füllsel anmutig locken, wo Semmelberge stehen und wo der ewig wünschenswerte Hering in der Tonne liegt. Hier wird der letzte Einkauf gemacht und dann in ein Wirtshaus gezogen, die weiße Flasche gefüllt, und da kein Platz auf den Bänken zu finden ist, wird in einer Ecke des Hauses niedergesetzt und ein langsames Mahl gehalten. Die Flasche geht im Kreise, die Wangen werden röter, die Gebärden lebendiger, die Gespräche lauter, die Männer fangen an sich zu küssen, alte Feinde suchen sich auf, miteinander zu zanken. Weithin auf die Straße tönt aus jeder Schenkstube das Gesumme und Geschrei. Unterdes, wer andere Gänge hat, besorgt diese, wer eine Klage anzubringen hat, heut läuft er aufs Gericht, wer Steuern abzuliefern hat, heut pflegt er sie zu zahlen; alle Behörden sind heute in großer Tätigkeit, alle Schreiber dehnen heut ihre Finger, um die Feder schnell über das Papier zu führen, alle Schulzen erscheinen heut in den Ämtern, um zu melden und zu hören. Auch die Weinstuben sind gefüllt, und der Weinkaufmann Löwenberg macht heut die besten Geschäfte, er hat neben seinem Wein auch einen großen Handel mit Getreide und Wolle, er verleiht Gelder und ist der Vertraute vieler Gutsherren. In seiner großen Vorderstube sitzen die Gäste einzeln, deutsche Oberamtleute, ältere polnische Gutsbesitzer, vielleicht ein reicher deutscher Bauer, der einen guten Viehhandel gemacht hat. In dem Hinterzimmer aber geht’s höher zu, dort sind die Edelleute des Kreises versammelt, manches wüste Gesicht mit stumpfen Zügen, aber auch der edle Schnitt des polnischen Herrenantlitzes, kräftige Männer von adligem Wesen. Dort springt der Kork des Champagners zur Decke, und neben den Geschäften der Woche wird noch manches andere verhandelt, was fremde Ohren nicht hören dürfen. Ist’s nicht Politik, so rollen vielleicht die Würfel auf den Tisch, oder ein Spiel Karten fliegt aus einer Tasche unter die Weingläser; schnell fährt dann an der Ecke des Tisches eine Gruppe zusammen, es wird still in der Stube, und nur kurze Ausrufe in französischer Sprache werden gehört. So vergeht der Markttag als ein unaufhörliches Anrufen und Handeln, Erwerben und Genießen, unter Wagengerassel und Pferdelenken, bis der Abend seine graue Decke über den Marktplatz breitet: dann zieht die Bauernfrau ihren Mann am Rocke, sie denkt an die irdenen Töpfe, welche so leicht zerschlagen sind, und an die kleinen Kinder, die jetzt nach der Mutter rufen. Dann fahren die Wagen wieder auf allen Straßen auseinander, der Bauernbursch trägt einen Strauß von Flittern auf seinem Hut, er klatscht unaufhörlich mit der neugekauften Peitsche, und in trunkenem Mut treibt er seine Pferde zum rasenden Wettlauf mit andern Gespannen. Auf allen Feldwegen ziehen die kleinen Leute in ihre Dörfer, die Frau hat die Töpfe auf den Rücken gebunden, ein schönes rotes Tuch und ein Stück Pfefferkuchen für die Kinder liegen darin und neue Kochlöffel und Quirle ragen daraus hervor, und neben ihr schreitet der Mann unsicher und schwer, die stählerne Säge auf der Schulter, vergeblich bemüht, die Würde eines Hausherrn vor den Fremden zu bewahren. Viel später fahren auch die Wagen der Herren vor das Weinhaus, die Kutscher müssen lange auf den Aufbruch warten, denn auch den Herren wird die Trennung schwer von dem Tisch der Trinkstube. Es wird stiller in der müden Stadt, der Kaufmann öffnet seine Schublade, zählt und sortiert mit seiner Frau das eingenommene Geld und schlägt die falschen Silberstücke zornig mit einem Nagel vorn auf die Ladentafel, zur eindringlichen Warnung für alle unsichern Zahler. Jetzt führt auch der Gendarm sein Pferd in den Stall, überzählt die Landstreicher, die Marktdiebstähle, die Händel, die er heut angezeigt, und hofft auf einen gnädigen Blick. Endlich macht der Nachtwächter seine Runde, er achtet sorglich auf die Schenkstuben, in denen noch immer einzelne Schreier sitzen, und sieht beim trüben Laternenlicht erstaunt auf den unsaubern Marktplatz, den sein Besen morgen von allem Schmutz befreien soll.

 

So war der Jahrmarkt von Rosmin immer gewesen. In dem letzten Winter war der Marktverkehr nicht geringer als sonst, aber es war eine Unruhe sichtbar in vielen Köpfen, am meisten bei den Herren. Beim Weinkaufmann sah man fremde Männer von kriegerischem Aussehen in die Hinterstube eintreten, dann wurde das Zimmer verschlossen. Auf den Straßen schritten junge Burschen in auffallender Tracht mit roten viereckigen Mützen durch das Gedränge, sie schlugen zuweilen einen Landsmann auf die Schulter, riefen andere beim Namen und zogen sie aus dem Gedränge in eine Ecke. Wo sich ein Soldat sehen ließ in seiner Uniform, sahen die Leute auf ihn wie auf einen verkleideten Mann, manche wichen ihm aus, viele waren doppelt freundlich gegen ihn, Deutsche wie Polen. In den Schenken saßen die von den deutschen Dörfern gesondert und mischten sich nicht mit den andern, und die Polnischen von den Gütern des Herrn von Tarow tranken viel und fingen noch mehr Händel an als sonst. Der Vogt vom neuen Vorwerk hatte am letzten Markte in der ganzen Stadt keine neue Sense finden können, und der Förster beklagte sich gegen Anton, daß er neulich in keinem Kaufladen mehr Pulver gefunden hatte, als ihm auf eine Woche reiche. Es schwebte etwas in der Luft, niemand wollte sagen, was es war.

Heut war wieder Markttag zu Rosmin, und Anton fuhr mit einem Knecht nach der Stadt. Es war einer der ersten Frühlingstage, die Sonne schien warm auf den Boden, der noch im winterlichen Schlummer dalag. Anton dachte daran, daß jetzt die ersten Gartenblumen blühen müßten und daß er und die Frauen im Schloß in diesem Jahre keine sehen würden als etwa auf dem Vorwerk im Winkel hinter der Scheuer. Es war auch keine Zeit, sich an Blumen zu freuen, überall waren die Herzen aufgeregt, und alles, was durch so viele Jahre fest gewesen war, schien zu wanken. Über große Länderstrecken zog der politische Sturmwind, die Zeitungen erzählten alle Tage Unerwartetes und Furchtbares, ein großer Krieg schien im Anzuge, aller Besitz, alle Bildung schien in Gefahr. Er dachte an die Verhältnisse des Freiherrn, und welches Unglück für diesen entstehen mußte, wenn das Geld teuer wurde und der Grundbesitz spottwohlfeil. Er dachte auch an die Firma in der Hauptstadt, an seinen Platz im Kontor, den er in der Stille noch immer als sein Eigentum betrachtete, und an den sorgenvollen Brief, den ihm Herr Baumann geschrieben, wie finster der Prinzipal sei und wie zänkisch die Kollegen am Teetisch in Herrn Baumanns Stube.

Aus solchen kummervollen Gedanken weckte ihn ein Geräusch auf der Straße. Eine Reihe von Herrenwagen fuhr vorbei, in dem ersten saß Herr von Tarow, der artig zu Anton herübergrüßte. Anton sah erstaunt, daß er seinen Jäger auf dem Bedientensitz hatte, als zöge er zur Jagd. Noch drei Wagen rollten vorüber, alle mit Herren bis auf das Trittbrett beladen, und hinter dem Wagen jagte ein ganzer Trupp Reiter, der deutsche Inspektor von Tarow mit darunter.

»Jasch«, rief Anton dem Kutscher zu, »was war das, was die im zweiten Wagen zudeckten, als sie vorbeifuhren?«

»Flinten«, antwortete der Kutscher kopfschüttelnd.

Der sonnige Tag nach langem Schnee- und Regenschauer lockte die Leute aus allen Höfen nach der Stadt, in kleinen Haufen zogen sie eilig vorwärts, wenig Frauen darunter, es war ein lautes Anrufen der verschiedenen Gesellschaften und ein Leben auf der Straße wie sonst am Abend bei der Heimkehr. Vor dem ersten Wirtshaus an der Straße ließ Anton halten. Der Kutscher fragte: »Es ist weit von hier nach dem Markte, wie wird es sein mit dem Aufladen des Hafers?«

»Bleib bei den Pferden«, befahl Anton, »und geh nicht nach der Stadt; wenn ich etwas kaufe, lasse ich’s herausschaffen zum Umladen.« Eilig schritt er durchs Tor in das Gewühl der Gassen. Die Stadt war mit Menschen überfüllt, es wogte schon vom Tore an in hellen Haufen, kaum daß die Getreidewagen durchdrangen. Als Anton auf den Marktplatz kam, war er betroffen über das Aussehen der Männer. Überall erhitzte Gesichter, gespannte Züge, es waren nicht wenige in Jägertracht unter dem Volke, und häufig sah man auf den Mützen eine fremde Kokarde. Vor dem Hause des Weinkaufmanns war das Gedränge am größten, dort standen die Leute Kopf an Kopf und sahen hinauf nach den Fenstern; an denen bunte Fahnen hingen, zu oberst polnische Farben, andere ausländische darunter. Noch sah Anton finster auf die Front des Hauses, da öffnete sich die Tür, und auf die steinerne Treppe traten der Herr von Tarow und ein Fremder mit einer Schärpe um den Leib. Anton erkannte in ihm den Polen, der ihn einst mit Standrecht bedroht und vor einigen Monaten nach dem Inspektor gefragt hatte. Ein junger Mann sprang aus dem Haufen auf die unterste Stufe, rief laut etwas in polnischer Sprache und schwenkte die Mütze: ein lautes Geschrei war die Antwort, dann wurde alles still. Der Tarowski sprach einige Worte, von denen Anton nichts verstand, hinter ihm rasselten die Wagen, und die Menge drängte sich hin und her. Darauf begann der Herr mit der Schärpe eine mächtige Rede. Er sprach lange, oft wurde er durch lautes Beifallsgeschrei unterbrochen; als er geendet hatte, erscholl ein betäubender Lärm, wilder polnischer Zuruf. Die Türen des Hauses wurde weit geöffnet, die Menge wogte durcheinander wie ein unruhiges Meer. Ein Haufe stürzte fort und verteilte sich auf dem Markte, andere sprangen in das Haus; wer hineingeeilt war, kam nach wenigen Augenblicken mit einer Kokarde an der Mütze, bewaffnet mit einem Sensenspeer wieder heraus. Im Nu hatten sich ein Haufe Sensenmänner und ein Trupp mit Feuergewehren vor dem Hause aufgestellt. Die Zahl der Bewaffneten wurde größer, kleinere Abteilungen Sensenmänner, von einzelnen Flintenträgern geführt, eilten von dem Hause weg nach allen Richtungen des Marktes. Hinter Anton klang Kommandoruf und Befehl, er wandte sich um und sah einzelne bewaffnete Reiter, welche die aufgefahrenen Wagen mit strengen Worten zur Abfahrt vom Markte trieben. Der Lärm und das Getümmel wurde stürmischer, mit ängstlichem Zuruf hieben die Landleute auf ihre Pferde, die Verkäufer flüchteten mit ihren Waren in die Häuser, die Läden wurden geschlossen. Nach wenigen Augenblicken hatte der Markt ein unheimliches Aussehen. Die Wagen waren entfernt, an den Marktecken standen einzelne Posten von Sensenmännern, ihre langen Spieße blinkten hell in der Morgensonne. Auf dem Platze selbst wogte die unsichere Menge. Betäubt, erschüttert, empört eilte Anton in dem Haufen fort, so kam er auf die andere Seite des Platzes. Dort lag das Steueramt, schon von weitem kenntlich durch das Wappenschild des Staates, das auf Holz gemalt neben dem Fenster hing. Dort drängten sich die Massen wieder; ein Posten von Sensenmännern stand vor dem Hause, aus der Ferne sah Anton, daß ein Mann eine Leiter ansetzte, zu dem Wappen hinaufstieg und mit einem Hammer auf das Schild pochte, bis es herabfiel auf den Boden. Als das Wappen auf die Steine schlug, ging durch die versammelte Menge ein leiser Ton wie ein Seufzen; es war still geworden, daß man jeden Laut hören konnte. Eine Rotte von trunkenem Gesindel stürzte sich mit wildem Jauchzen auf das Schild, ein Strick wurde daran gebunden, und mit Hohngeschrei wurde es in den Rinnstein und über die Straße geschleift.

Anton war außer sich, eine Flut von stürmischen Leidenschaften drängte nach seinem Herzen. »Ihr Schurken!« rief er laut und rannte durch die Umstehenden auf die Bande zu. Da faßte ihn ein starker Arm um den Leib, und eine bebende Stimme sprach: »Nicht weiter, Herr Wohlfart, heut ist ihr Tag, morgen kommt unser Tag.« Anton riß sich los und sah neben sich die große Figur des Schulzen von Neudorf, er sah sich im Augenblick umgeben von einer Anzahl dunkler Männergestalten. Es waren die blauen Röcke deutscher Bauern, Gesichter voll Zorn und Kummer, welche ihn wie mit einem Wall einschlossen. »Laßt mich heraus!« rief Anton, noch immer außer sich. Wieder aber legte sich die schwere Hand des Schulzen auf seine Schulter, und mit nassen Augen sprach der Mann: »Schonen Sie Ihr Leben, Herr Wohlfart, es ist jetzt umsonst, wir haben nichts als unsere Faust und sind die Minderzahl.« Und von der andern Seite wurde seine Hand umfaßt wie von Schrauben, und der alte Förster stand schluchzend neben ihm und stöhnte: »Daß ich diesen Tag erleben muß, o die Schande, die Schande!« Dabei schüttelte er krampfhaft Antons Hand, schlug sich dann mit seinen Fäusten vor die Stirn und weinte laut wie ein Kind. Der wilde Schmerz des Alten gab Anton einen Teil seiner Ruhe wieder, er umschlang den Hals des Försters und hielt ihn fest an sich. Und wieder erscholl in ihrer Nähe mißtönendes Geschrei, und eine Stimme brüllte: »Durchsucht die Deutschen! Nehmt ihnen die Waffen, niemand darf den Markt verlassen!« Anton sah sich hastig in dem Haufen um und rief: »Das dürfen wir nicht leiden, ihr Männer, daß wir hier in der deutschen Stadt umstellt werden wie Gefangene und daß sie unser Wappen beschimpfen, die Schändlichen!«

Von fern wirbelte eine Trommel. »Es ist die Schützentrommel«, sagte der Schulz, »die Bürgerschützen von Rosmin kommen zusammen. Sie haben Gewehre.«

»Vielleicht ist noch nicht alles verloren«, rief Anton wieder. »Ich kenne einige Leute hier, die zuverlässig sind. Faßt Euch, mein Alter«, tröstete er den Förster. »Die Deutschen vom Lande sollen nicht zerstreut bleiben, so weiß niemand, was wir tun können. Wir wollen wenigstens miteinander den Markt verlassen, hier bei dem Brunnen sammeln wir uns. Jeder geht und ruft seine Bekannten zusammen. Und jetzt keine Zeit verloren! Ihr dorthin, Schulz, Ihr kommt mit mir, Schmied von Kunau.« Der Haufe fuhr nach zwei Richtungen auseinander, Anton, von dem Förster und dem Schmied gefolgt, eilte noch einmal über den ganzen Markt. Nie hatte er eifriger gesucht, nie hatte einer den andern schneller verstanden. Wo er einen Deutschen fand, ein Blick des Auges, ein schneller Händedruck, das flüchtige Wort: »Die Deutschen versammeln sich am Brunnen, erwartet uns«, das trieb die Unschlüssigen schnell zu den Landsleuten.

Vor dem Hause des Weinkaufmanns hielt er mit seinen Gefährten in dem dichten Gedränge einen Augenblick an. Etwa fünfzig Sensenmänner standen vor dem Hause, daneben ein Dutzend Gewehre, noch waren die Türen weit geöffnet, und einzelne traten immer noch hinein, sich Waffen zu holen. Die Menge war scheu zurückgewichen, es wogten hier Polen und Deutsche, Städter und Landleute durcheinander. Anton sah, daß auch die polnischen Bauern verstört im Haufen standen und einander zweifelnd ansahen. Vor dem Hause sprachen einige junge Herren in die Masse. Während der Kunauer Schmied und der Förster den Deutschen ihr Zeichen gaben, fuhr Anton auf einen kleinen Mann los, der in seinem Arbeitsrock mit berußtem Gesicht in den Haufen drängte, und faßte ihn am Arm: »Schlosser Grobisch, Sie stehen hier? Warum eilen Sie nicht zum Sammelplatz? Sie sind Schütz und Bürger, wollen Sie diese Schmach ertragen?«

»Ach, Herr Rentmeister«, sagte der Schlosser, Anton beiseite ziehend, »das Unglück! Denken Sie, ich arbeite in meiner Werkstatt mit dem Hammer und höre von gar nichts. Bei unserer Arbeit kann man wenig hören. Da stürzt meine Frau herein –«

 

»Wollen Sie diese Schmach ertragen?« rief Anton und schüttelte den Mann heftig.

»Gott bewahre, Herr Wohlfart«, erwiderte der Schlosser, »ich führe einen Zug bei den Schützen. Während mein Weib den Rock heraussucht, bin ich schnell über den Platz gelaufen, um zu sehen, wieviel ihrer sind. Sie sind größer als ich, wieviel sind’s, die Waffen tragen?«

»Ich rechne fünfzig Sensen«, antwortete Anton schnell.

»Nicht diese Sensen«, sagte der Kleine, »das ist zugelaufenes Volk, nur die Gewehre.«

»Ein Dutzend vor der Tür, ebensoviel mögen wohl noch im Hause sein.«

»Wir sind etwa dreißig Büchsen«, versetzte der Kleine bekümmert, »aber heut ist nicht auf alle zu rechnen.«

»Können Sie uns Gewehre schaffen?« fragte Anton.

»Nur wenige«, sagte kopfschüttelnd der Schlosser.

»Wir sind ein Haufen Deutsche vom Lande«, fuhr Anton in fliegender Eile fort, »wir wollen uns durchschlagen bis in die Vorstadt zum Roten Hirsch, dort halte ich die Leute zusammen, schicken Sie uns um Gottes willen durch eine Patrouille Nachricht heraus und was Sie von Gewehren auftreiben können. Wenn wir die Edelleute hinauswerfen, läuft der andere Haufe von selbst auseinander.«

»Aber diese Rache von diesen Polacken!« klagte der Schlosser mit aufgehobenem Zeigefinger. »Die Stadt wird’s bezahlen müssen.«

»Nichts wird sie bezahlen, Meister, Sie bekommen morgen Militär, wenn Sie heut die Wahnsinnigen hinauswerfen. Nur fort, jeder Augenblick vergrößert die Gefahr.«

Er trieb den Schlosser vorwärts und eilte auf die Brunnenseite. Dort fand er die Deutschen in kleinen Gruppen zusammenstehen, der Schulz von Neudorf kam ihm entgegen.

»Es ist keine Zeit zu verlieren«, rief dieser, »die andern werden aufmerksam, dort stellt sich ein Trupp Sensenmänner gegen uns auf.«

»Folgt mir«, gebot Anton, »schließt euch dicht zusammen, vorwärts, hinaus aus der Stadt!« Der Förster sprang von Haufe zu Haufe und drängte die Leute aneinander, Anton schritt mit dem Schulzen voran. Als sie an die Ecke des Marktes kamen, kreuzten die Sensenmänner ihre Waffen vor der engen Gasse, der Anführer des Postens spannte den Hahn seiner Flinte und rief Anton in phrasenhaftem Tone zu: »Warum wollen Sie fort, mein Herr? Nehmt Waffen, ihr Leute, heut ist der Tag der Freiheit!«

Er sprach nicht weiter, denn der Förster stürzte vor und gab ihm einen ungeheuren Backenstreich, daß er zur Seite taumelte und sein Gewehr im Fallen losging. Auf dem Markt erhob sich ein lautes Geschrei, der Förster ergriff die Flinte, und die beiden Sensenmänner, überrascht und ohne Befehl, wie sie waren, wurden von dem vordringenden Trupp an die Häuser geworfen, die Sensen aus ihrer Hand gerissen und von den zornigen Leuten an dem Steinpflaster zerbrochen. Ohne verfolgt zu werden, drängte der Haufe bis an das Stadttor, auch dort wich der feindliche Posten zurück und ließ die dichte Masse ungehindert durch. So kamen sie beim Gasthof an. Dort trat der Schulz, von Anton aufgefordert, vor die Leute. »Es geht dort drin gegen die Regierung«, sagte er, »es geht gegen uns Deutsche. Der bewaffneten Feinde sind nicht viel, wir haben eben gesehen, wie der Bauer mit ihnen fertig wird. Wer ein ordentlicher Mann ist, der bleibt hier und hilft den Bürgersleuten in der Stadt, die Fremden hinauszujagen. Die Schützen wollen einen zu uns senden und uns sagen, wie wir ihnen helfen können. Deswegen bleibt zusammen, Landsleute.«

Nach diesen Worten riefen viele: »Wir bleiben hier«, manchem auch kam die Sorge und er stahl sich um das Haus und auf das Feld. Wer blieb, suchte eine Waffe, wo er sie fand, schwere Holzknittel, Radstangen, Heugabeln, und was sonst in der Nähe aufzutreiben war.

»Ich kam her, mir Pulver und Schrot zu kaufen«, sagte der Förster zu Anton, »jetzt habe ich eine Flinte, und das letzte Korn soll heut draufgehen, wenn wir uns rächen können für den Schimpf an unserm Vogel.«

Unterdes waren im Schloß die Stunden wie gewöhnlich verlaufen bis gegen Mittag. Der Freiherr ging, von seiner Gemahlin geführt, im Sonnenschein um das Schloß herum; er grollte ein wenig, daß die Maulwurfshügel, an welche sein Fuß stieß, noch immer nicht geebnet waren, und kam zu dem Schluß, daß kein Verlaß auf Beamte und Dienstleute sei und Wohlfart noch vergeßlicher als alle andern. Bei diesem Thema verweilte er mit mürrischem Behagen. Die Baronin versprach ihm nur soviel, als möglich war, ohne seine krankhafte Laune aufzuregen, und so setzte er sich endlich im Freien auf einen Stuhl nieder, den ihm der Bediente nachtrug, und hörte friedlich seiner Tochter zu, welche mit Karl den Plan für eine kleine Baumpflanzung absteckte. Niemand dachte Arges, jeder war mit seiner nächsten Umgebung beschäftigt.

Da flog die schlimme Kunde, daß etwas Schreckliches vorgehe, mit Eulenflügeln über die Erde. Auch zu der Waldinsel des Freiherrn kam sie heran, sie flatterte über die Kiefern und Birnbäume, über Getreidefelder und Anger bis auf das Schloß. Zuerst kam sie undeutlich, wie eine kleine Wolke am sonnigen Himmel, dann wurde sie größer, wie ein ungeheurer Vogel, der die Luft verfinstert, sie schlug mit ihren schwarzen Fittichen die Herzen aller Menschen in Dorf und Schloß, sie machte das Blut in den Adern stocken und trieb heiße Tränen über die Wangen.

Mitten in seiner Arbeit sah Karl plötzlich auf und sagte erschrocken zum Fräulein: »Das war ein Schuß!«

Lenore sah ihn betroffen an, dann lachte sie über ihren eigenen Schreck und erwiderte: »Ich habe nichts gehört; vielleicht war’s der Förster.«

»Der Förster ist in der Stadt«, entgegnete Karl ernst.

»Dann ist’s ein verdammter Wilddieb im Walde«, rief der Freiherr ärgerlich.

»Es war ein Kanonenschuß«, behauptete der hartnäckige Karl.

»Das ist nicht möglich«, sagte der Freiherr, »es steht kein Geschütz auf vielen Meilen in der Runde«, aber er selbst lauschte mit gespanntem Gesicht.

In dem Augenblick rief eine Stimme vom Wirtschaftshofe her: »Es brennt in Rosmin.« Karl sah das Fräulein an, warf sein Grabscheit zu Boden und lief nach dem Hof; Lenore folgte. »Wer hat gesagt, daß Feuer in Rosmin ist?« fragte er die Knechte, welche zu ihrer Mittagskost über den Hof gingen. Keiner hatte gerufen, aber alle liefen erschrocken aus dem Hof auf die Landstraße und versuchten, nach Rosmin hinzusehen, obgleich jeder wußte, daß die Stadt über zwei Meilen entfernt war und keine Aussicht dorthin.

»Es sind vorhin Weiber gelaufen auf dem Weg nach Neudorf wie in der Angst«, sagte der eine Knecht, und ein anderer rief: »Es muß gefährlich zugehen in Rosmin, denn man sieht den Rauch über dem Walde stehen.« Alle glaubten einen dunkeln Schatten über der Stelle zu sehen, wo die Stadt lag, auch Karl. Immer größer wurde die Aufregung, ohne sichern Grund. Die Dorfleute traten auf der Straße zusammen. Alle sahen nach der Richtung von Rosmin und erzählten von dem Unglück, das über die Stadt gekommen sei. »Die Edelleute sind heut darin«, rief der eine, »sie haben die Stadt angezündet«, und sein Nachbar hatte von einem Mann auf dem Felde gehört, daß heut ein Tag sei, an den alle Gutsherren denken sollten. Der Mann sah feindlich auf Karl und fügte hinzu: »Noch kann manches kommen bis auf den Abend.« Der Schenkwirt eilte herzu und rief Karl entgegen: »Wenn nur erst der heutige Tag vorbei wäre«, und Karl entgegnete in derselben Gemütsstimmung: »Ich wollte das auch.« Keiner wußte recht, weshalb.