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Soll und Haben

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Er war manchmal unzufrieden auch mit ihr. Gleich in den ersten Tagen fragte sie ihn dringend, wie sie sich dem Hause nützlich machen könnte. Er sagte ihr, daß die Aufsicht über den Haushalt und die genaue Führung der Hausrechnung eine sehr nützliche Arbeit sei. Er liniierte ihr ein Rechenbuch, und da sie Mangel an Übung zeigte, die gezogenen Linien zweckmäßig zu benutzen, so hatte er die Freude, sie das zu lehren. Sie warf sich mit Eifer auf die neue Tätigkeit und lief den Tag zehnmal zu Babette in die Küche, um sich Auskunft zu holen. Aber ihre Rechnung erwies sich unsicher und die mysteriösen Striche Babettens immer noch zuverlässiger. Und wenn sie eine Woche die Bücher gewissenhaft geführt hatte, kamen einige Tage, wo die Sonne lustig schien: dann konnte sie sich nicht enthalten, mit dem Förster schon am Morgen auf die Jagd zu gehen oder auf ihrem kleinen Pferde weit über die Grenzen des Gutes hinauszustreifen, dann vergaß sie den Stadtboten, die Köchin und ihre Buchführung. – Sie wollte Geschichte treiben und unter Antons Leitung etwas Englisch lernen. Anton war glücklich über den Einfall. Aber die Jahreszahlen konnte sie nicht behalten, die Vokabeln waren ihr schrecklich, sie entlief diesen Hieroglyphen und ging in den Pferdestall oder wohl gar in die Stube des Amtmanns, dessen mechanischen Kunstarbeiten sie stundenlang mit großem Interesse zusah. Als Anton sie einst zur englischen Stunde rufen wollte, fand er sie in Karls Stube, einen Hobel in der Hand, eifrig an der Pritsche eines neuen Schlittens arbeitend, und gutmütig sagte sie zu ihm: »Geben Sie sich nicht soviel Mühe mit mir, Wohlfart. Ich lerne nichts, ich habe immer einen harten Kopf gehabt.«

Wieder lag Schnee auf der Erde, und im Sonnenlicht glitzerten Millionen Eiskristalle auf den Bäumen und dem Feld. Karl setzte zwei Schlitten instand, einen alten zweisitzigen und einen Rennschlitten für das Fräulein, den er selbst zusammenschlug und unter dem Beistand Lenorens mit schöner Ölfarbe überzog. Bei der Morgenaudienz sagte Anton der Baronin, daß er heut nachmittag in einer Polizeisache nach Tarow müsse. »Wir kennen die Familie Tarow vom Bade her«, erwiderte die Baronin. »Dort haben wir gern mit Frau von Tarow und ihren Töchtern verkehrt. Ich wünsche lebhaft, daß der Freiherr nicht ganz außer Verbindung mit der Nachbarschaft bleibt, vielleicht vermag ich ihn zu bestimmen, daß er heut mit uns seinen Besuch macht. In jedem Falle wollen wir Frauen diese Gelegenheit benutzen und unter Ihrem Schutz einen Ausflug dorthin wagen.«

Anton erinnerte leise an den verschwundenen Bratzky und seinen Verdacht.

»Es ist ja nur ein Verdacht«, versetzte die Baronin begütigend, »und unsere Verpflichtung, der Familie einen Besuch zu machen, ist unzweifelhaft. Auch kann ich nicht glauben, daß Herr von Tarow selbst an der Entführung Anteil hat.«

Am Nachmittag fuhren die Schlitten vor, die Baronin setzte sich mit dem Freiherrn in den größeren, Lenore bestand darauf, in ihrem neuen Rennschlitten selbst zu fahren. »Wohlfart setzt sich hinter mich auf die Pritsche«, bestimmte sie. Der Freiherr fragte seine Gemahlin leise: »Wohlfart?«

»Ich lasse dich nicht allein fahren«, erwiderte die Baronin ruhig. »Sei ohne Sorge. Außerdem ist er in deinem Dienst, die Inkonvenienz ist nicht groß. Und wir fahren ja miteinander vor.«

Die Glöckchen klangen über die Ebene, Lenore saß selig in ihrer Nußschale und trieb ihr Pferd mit kräftigem Zuruf an. Sie wandte sich oft zurück und zeigte ihr lachendes Antlitz, das unter der dunklen Kappe heut so schön war, daß ihr sein ganzes Herz entgegenflog. Ihr grüner Schleier flatterte im Winde und streifte seine Wange, hing sich an sein Gesicht und verbarg ihm die Aussicht. Dann erblickte er die verhüllte Gestalt vor sich in einem grünen Dämmerlicht wie aus weiter Ferne; und gleich darauf berührte wieder der Hauch seines Mundes die Bandschleife, welche an ihrem Nacken flatterte, und er sah, daß nur die seidene Hülle seine Hand von ihrem goldenen Haar und dem weißen Hals trennte. Anton versenkte sich in diese Betrachtung und widerstand kaum noch dem Gelüst, ihr mit seinem Pelzhandschuh leise über die Kapuze zu fahren, als dicht neben ihm ein Hase aus einem Schneeloch aufsprang. Der Hase winkte drohend mit seinen Löffeln und machte einen bedeutsamen Purzelbaum auf Anton zu. Dieser verstand die freundliche Warnung und zog den Pelzhandschuh zurück; der Hase, vergnügt, eine gute Tat vollbracht zu haben, galoppierte über den Schnee. Anton gab seinen Gedanken eine andere Richtung. Der weiße Weg zeigte keine Spur eines Menschen, kein Gleis, keinen Fußtritt, nirgend ist ein anderes Leben zu sehen als der lautlose Schlaf der Natur. »Wir sind Reisende, welche in ein fremdes Land dringen, das noch niemand vor ihnen betreten. Ein Baum ist wie der andere, die Schneefläche ist endlos, rund herum Grabesstille und oben wieder der lachende Sonnenschein. Ich wollte, es ginge den ganzen Tag so fort.«

»Ich bin glücklich, daß ich Sie einmal fahren kann«, rief Lenore, beugte sich zu ihm zurück und hielt ihm eine Hand hin. Anton vergaß sofort den Hasen, er konnte sich nicht enthalten, einen Kuß auf den Handschuh zu drücken.

»Es ist dänisches Leder«, lachte Lenore, »bemühen Sie sich nicht.«

»Hier ist eine Lücke«, sagte Anton, bereit, den Versuch zu wiederholen.

»Sie sind heut so artig«, rief Lenore, die Hand langsam zurückziehend, »das steht Ihnen hübsch, Wohlfart.«

Der Pelzhandschuh streckte sich aus, um die zurückweichende Hand zu verfolgen. Darüber gerieten zwei Krähen auf den Bäumen in starken Zank, sie schrien um die Wette, flogen auf und schwebten schimpfend über Antons Kopf. Geht zum Teufel, ihr Gesindel, dachte der leidenschaftliche Anton, ihr sollt mich nicht mehr stören. Aber Lenore sah ihn treuherzig an. »Ich weiß doch nicht, ob Ihnen gut steht, so artig gegen mich zu sein«, fuhr sie ernster fort. »Sie dürfen mir die Hand nicht küssen, denn ich habe keine Lust, Ihnen dasselbe zu tun, und was dem einen recht ist, soll dem andern billig sein. Hussa, mein Pferd, vorwärts!«

»Ich bin neugierig, wie uns die Polen empfangen werden«, begann Anton wieder die regelmäßige Unterhaltung.

»Sie können nicht anders als freundlich sein«, sprach Lenore zurück. »Wir haben mit Frau von Tarowska wochenlang in einem Haus gewohnt und alle Partien gemeinschaftlich gemacht. Sie war die eleganteste Dame des ganzen Bades, sie und die Töchter machten Aufsehen durch ihr distinguiertes Wesen; sie sind sehr liebenswürdig und haben beste Manieren.«

»Er aber hat zwei Augen gerade wie der Fuchs des Försters«, sprach Anton, »ich traue ihm nicht über den Weg.«

»Ich habe mich heut sehr schön gemacht«, lachte Lenore, sich wieder umwendend, »denn die Mädchen dort sind reizend, und die Polen sollen nicht sagen, daß wir uns schlecht neben ihnen präsentieren. Wie gefällt Ihnen mein Kleid, Wohlfart?« Sie streifte einen Zipfel ihres Pelzes zurück.

»Sie werden sich darin nicht ganz schlecht ausnehmen«, sagte Anton mit weiser Miene, »es ist etwas Braun dabei, folglich ist es wunderhübsch.«

»Sie treuer Herr Wohlfart!« rief Lenore und reichte ihm wieder die Hand über den Schlittenrand. Ach, jetzt waren die kleinen warnenden Tiere zu schwach, um den Zauber abzuleiten, welcher den Pelzhandschuh zu dem Dänen hinzog; etwas Größeres mußte geschehen. Als Anton zum drittenmal die Hand ausstreckte, bemerkte er, daß seine eigene Hand sich wider seinen Willen immer höher hob und in der Luft einen Kreis beschrieb, während er selbst sich senkte, bis er die Länge nach im Schnee lag. Erstaunt hob er seinen Kopf und sah Lenore einige Schritte weiter neben dem umgestürzten Schlitten sitzen, das Pferd stand ruhig auf dem Wege und lachte in seiner Art laut vor sich hin. Lenore hatte zuviel nach ihrem Gefährten und zuwenig auf den Weg gesehen, so hatten sie umgeworfen. Fröhlich erhoben sich beide, schüttelten den Schnee ab, Anton richtete den Schlitten auf, und im Galopp ging es wieder vorwärts. Aber das Schlittenmärchen war zu Ende, Lenore sah mehr auf den Weg, und Anton stäubte sich den Schnee aus den Ärmeln.

Die Schlitten fuhren in einen weiten Hofraum. Ein langes einstöckiges Lehmhaus, mit Kalk beworfen und mit Schindeln gedeckt, schaute mit seinen blinden Fenstern vertraulich auf die hölzernen Ställe nebenan. Anton sprang ab und fragte einen Mann in Livree nach der Wohnung des gnädigen Herrn. »Hier ist der Palast«, erklärte der polnische Diener mit tiefer Verbeugung und half der Herrschaft aus dem Schlitten. Erstaunt sahen Lenore und die Baronin einander an. Sie traten in einen unsauberen Hausflur, mehrere schnurrbärtige Geister eilten herzu, rissen diensteifrig die Winterhüllen der Gäste ab und eine niedrige Tür auf. In dem großen Wohnzimmer war zahlreiche Gesellschaft versammelt. Eine hohe Gestalt in schwarzer Seide trat den Gästen entgegen und begrüßte sie in der besten Haltung von der Welt. Die Töchter eilten herzu, schlanke Damen mit Augen und Anstand der Mutter. Mehrere Namen der jungen Herren wurden genannt, Herr von, Graf von, alle elegante Männer im Salonkleide. Zuletzt kam auch der Hausherr. Sein schlaues Gesicht strahlte von herziger Freude, und die Fuchsaugen leuchteten von Harmlosigkeit. Der Empfang war tadellos, von allen Seiten die wohltuende Leichtigkeit eines sicheren Selbstgefühls. Der Freiherr und die Frauen wurden als werte Bekannte begrüßt, auch Anton erhielt seinen Teil Zuvorkommenheit. Sein Geschäft war nach wenigen Worten abgemacht, und Herr von Tarow erinnerte ihn lächelnd daran, daß er ihn schon einmal flüchtig gesehen. »Der Schlingel von Inspektor ist Ihnen entsprungen«, sagte er bedauernd, »seien Sie ohne Sorge, er wird seinem Schicksal nicht entgehen.« »Ich hoffe«, erwiderte Anton, »er und seine Helfer.« Die Augen des Herrn von Tarow bemühten sich, Taubenaugen gleich zu werden, als er fortfuhr: »Der Kerl liegt irgendwo versteckt.« »Wahrscheinlich in der Nähe«, sagte Anton und warf einen argwöhnischen Seitenblick auf die schlechten Gebäude des Hofes.

 

Vergebens suchte Anton unter den anwesenden Männern jenen Fremden, den er bereits zweimal gesehen hatte und dem er den Wunsch zutraute, vor deutschen Augen unbekannt zu bleiben. Dagegen war ein anderer Herr von entschiedenem Wesen anwesend, der von den übrigen mit hoher Achtung behandelt wurde. Sie kommen und verschwinden, dachte Anton, sie reiten zusammen und wieder auseinander, wie der Schenkwirt sagt; es sind hier nicht einzelne, mit denen man zu tun hat, sondern eine ganze Gattung. In dem Augenblick trat der Fremde an ihn heran und begann ein artiges Gespräch. So unbefangen er aber auch redete, so merkte Anton doch, daß er bemüht war, das Gespräch zu leiten und ihn, den Deutschen, über Gesinnung und Sympathie auszuholen. Er hielt deswegen vorsichtig zurück, und als der Pole das wahrnahm, verlor er plötzlich das Interesse an dem Gast und wandte sich zu den Damen.

Jetzt hatte Anton Muße, sich im Zimmer umzusehen. Unter den rohen Möbeln des Dorftischlers stand ein Wiener Flügel, die Fensterscheiben waren geflickt, auf dem schwarzen Fußboden lag in der Nähe des Sofas ein zerrissener Teppich. Die Damen saßen auf Samtsesseln um einen abgenutzten Tisch. Die Frau vom Hause und ihre erwachsenen Töchter waren in eleganter Pariser Toilette, aber als sich eine Seitentür öffnete, sah Anton in dem grauen Nebenzimmer einige Kinder mit so mangelhafter Garderobe umherlaufen, daß sie ihn bei der Winterkälte herzlich dauerten. Sie selbst machten sich jedenfalls nicht viel daraus, denn sie balgten sich und lärmten wie Unholde.

Über den wankenden Tisch wurde eine feine Damastdecke gelegt und ein silberner Teekessel aufgesetzt. Die Unterhaltung floß vortrefflich. Leichte französische Bonmots und lebhafte Ausrufe in melodischem Polnisch fuhren durcheinander, dazwischen klang die eintönige deutsche Phrase. An dem schnellen Lachen, den Mienen der Sprechenden und dem Feuer der Unterhaltung merkte Anton, daß er unter Fremden war. Schnell flogen die Worte, in den Augen und auf den Wangen glänzte das flüchtige Feuer der heiteren Erregung. Es war ein bewegliches Volk, elastischer, schwunghafter, leichter ergriffen. Erstaunt sah Anton, wie behaglich Lenore in der Unterhaltung schwamm. Auch ihr Antlitz glänzte in höherem Rot, sie lachte und gebärdete sich wie die andern, und dreist blickten ihre Augen in die verbindlichen Gesichter der anwesenden Herren. Dasselbe Lachen, die herzliche Unbefangenheit, die ihn im Schlitten entzückt hatte, verschwendete sie jetzt an Fremde, die in der Nacht auf der Landstraße zum Schaden ihres Vaters gearbeitet hatten. Das mißfiel ihm höchlich. Dazu das Zimmer so wunderlich ausgeputzt, die Tapeten schmutzig und zerrissen, die Kinder in der Nebenstube barfüßig, und der Hausherr der stille Beschützer eines Schuftes und wahrscheinlich noch etwas Schlimmeres! So begnügte er sich, mit kalter Zurückhaltung die Gesellschaft zu betrachten und nur das Notwendige auf die freundlichen Worte des Hausherrn und seiner Gäste zu erwidern.

Endlich schlug ein junger Herr einige Akkorde auf dem Flügel an, alles sprang auf und wollte tanzen. Die gnädige Frau klingelte, vier wilde Männer stürzten in das Zimmer, ergriffen den großen Flügel und trugen ihn rücksichtslos hinaus. Die Gesellschaft drängte nach über den Hausflur in den gegenüberliegenden Saal. Als Anton eintrat, kam er in Versuchung, sich die Augen zu reiben. Es war ein leerer Raum mit rohem Kalkanstrich, Bänke an den Wänden und in der Ecke ein abscheulicher Ofen. Mitten im Saal hing Wäsche auf Leinen; Anton begriff nicht, wie man hier tanzen wollte. Aber im Hui wurde die Wäsche durch die Fäuste der Diener herabgerissen, einer lief zum Ofen und blies das Feuer an, nach wenigen Augenblicken waren sechs Paare zur Quadrille angetreten. Da der Damen zu wenig waren, band ein junger Graf mit einem schwarzen Samtbärtchen und zwei wunderschönen blauen Augen sein Batisttuch um den Arm und erklärte sich mit einem graziösen Knicks für eine Dame. Sogleich wurde er von einem andern Herrn ritterlich zum Tanze geführt. Selig drehte sich das Völkchen im Takt. Durch die Nachlässigkeit, welche die Mode von den Tänzern des gebildeten Europas verlangt, flatterte zuweilen das Feuer ihres Stammes auf. Lenore trieb mitten darunter. Auch die Baronin war in heiterer Unterhaltung mit dem Hausherrn, und Frau von Tarow machte sich zur Aufgabe, den blinden Freiherrn zu beschäftigen. Das war wieder die vornehme Form, der leichte Genuß des Augenblicks, welchen Anton so oft bewundert hatte; aber heut verzog sich sein Mund zu einem kalten Lächeln. Es schien ihm nicht männlich und nicht würdig, daß die deutsche Familie sich so hingebend unter Gegnern bewegte, welche wahrscheinlich in diesem Augenblicke Feindliches gegen sie und gegen ihr Volk im Sinne hatten. Als Lenore nach dem ersten Tanz bei Anton vorbeiging und ihn leise fragte: »Warum tanzen Sie nicht mit mir?«, erwiderte er: »Ich erwarte jeden Augenblick, das Gesicht des Herrn Bratzky in einem Winkel des Saales zu sehen.«

»Wer wird jetzt daran denken«, rief Lenore und wandte sich gekränkt ab.

Tanz folgte auf Tanz, die Köpfe der jungen Herrschaften glühten, die Locken litten in der großen Hitze. Schnurrbärtige Diener drangen wieder in das Zimmer und boten Champagner in Eis. Stehend, auf dem Sprunge schlürften die Tänzer den kalten Trank, und gleich darauf stürmte von allen Ecken der Ruf nach einem polnischen Nationaltanz zu dem Hauslehrer, welcher am Flügel saß. Jetzt flatterten die Gewänder, die Tänzer schnellten sich wie auf Sprungfedern durch das Zimmer, wie Bälle flogen die Mädchen aus einem Arm in den andern. Ach, und Lenore immer mitten darunter! Anton stand neben dem ansehnlichen Polen in mattem Gespräch und hörte kühl das Lob an, welches dieser der deutschen Tänzerin freigebig erteilte. Was den polnischen Mädchen natürlich stand, die schnellen Bewegungen, die starke Erregung, das machte Lenoren wild und, wie Anton sich mit Mißfallen sagte, unweiblich. Und von ihr weg irrte sein Blick an den rohen Wänden umher auf den bestäubten Ofen, in dem ein großes Scheit Holz loderte, bis zu der Decke, von welcher lange graue Spinnweben herunterhingen.

Es war spät, als die Baronin zum Aufbruch trieb; die Pelze wurden in den Saal gebracht, die Gäste wickelten sich ein, die Schelle läutete, und das Glöckchen klang wieder über die Schneefläche. Aber Anton war es wohl zufrieden, daß jetzt die Tochter mit dem Vater fuhr und daß er selbst hinter der Baronin die Zügel führte. Schweigsam lenkte er den Schlitten, und immer wieder dachte er daran, daß eine andere, die er kannte, sich unter den Spinnweben im Hause der Feinde niemals in der Masurka geschwenkt hätte. – Auch Lenore trug ihm heut den Stahlhelm auf dem weißen Nacken.

4

Herr Itzig war als Geschäftsmann etabliert. Wer ihn besuchte, schritt durch ein vielbetretenes Vorderhaus und erstieg in einem Seitenflügel eine nicht ganz saubere Treppe. Neben der Treppe glänzte die weißlackierte Vortür, auf welcher ein großes Messingschild mit abgeschrägten Ecken den Namen ›V. Itzig‹ zeigte. Der Vorsaal war verschlossen, ein dicker Porzellangriff war auch vorhanden, alles schöner und idealer, als es bei Ehrenthal gewesen war. Durch die Tür konnte der Besuchende in einen leeren Raum gelangen, in welchem sich den Tag über ein verschmitzter Junge aufhielt, halb Portier, halb Laufbursche, außerdem Spion für die Geschäfte, welche sein Brotherr machte. Der Junge unterschied sich von dem ursprünglichen Herrn Veitel durch ein auffälliges Wesen von schäbiger Vornehmheit. Er trug die letzten Überreste des Kleidergeschäfts auf, glänzende Seidenwesten und einen Frack, der ihm nur wenig zu groß war. Er bewies, daß die neue Firma auch in Sachen der Toilette und Bildung anständiger war als das in vielen Dingen gewöhnliche Geschäft des Ehrenthal. Den Eintretenden empfing Herr Itzig in zwei kleinen Geschäftsstuben, von denen die erste wenig Möbel, aber zwei auffallend schöne Lampen enthielt, eine gelegentlich notwendige Übernahme für nicht gezahlte Zinsen eines Solawechsels. Die zweite war das Schlafzimmer, ein einfaches Bett, ein langes Sofa, ein großer runder Spiegel mit breitem Goldrahmen, dieser ein Erwerb aus dem geheimen Lager des ehrlichen Pinkus. Itzig selbst hatte sich auffallend verändert, er war an trüben Tagen bei dem zweifelhaften Lichte, welches aus dem Hofraum in die Stube gelangte, von weitem betrachtet nur noch wenig von einem eleganten Herrn verschieden. Sein schmales Gesicht war voller geworden, die großen Sommersprossen, welche ihn früher getigert hatten, waren verblichen, und sein Haar hatte durch Pomade und kunstvolle Bürstenstriche eine dunklere Farbe und ein anschmiegendes Wesen erhalten. Noch hatte der neue Geschäftsmann eine Vorliebe für schwarze Kleider, aber sie waren neu und saßen nicht mehr schlottrig über seinen Gliedmaßen. Denn Herr Itzig hatte auch zugenommen an äußerer Behaglichkeit, er gönnte sich jetzt gute Kost, ja auf seinem Arbeitsplatz war zuweilen eine leere Weinflasche zu sehen, auf welcher das Wort ›Mosel‹ stand, daneben ein Zuckerbecher und ein silberner Löffel. Wie prächtig aber auch die neuen Räumlichkeiten waren, Itzig benutzte sie doch nur bei Nacht und in seinen Geschäftsstunden. Noch immer trieb ihn sein Herz nach seiner alten Herberge zu Löbel Pinkus. So führte er ein doppeltes Leben, für die große Welt ein feiner Geschäftsmann in den neugestrichenen Stuben unter dem Glanze der Astrallampen, bedient von einem modern gekleideten Gnomen, und ein zweites für sein Gemüt, gerade unter der Karawanserei, ein bescheidenes Leben mit rotbaumwollenen Gardinen und einem viereckigen Kasten als Sofa. Vielleicht machte ihm dieses Asyl am behaglichsten, daß er jetzt eine unbestrittene Herrschaft über den Besitzer des Hauses ausübte. Pinkus war, zu seiner Schande sei es gesagt, herabgesunken zu einem Kommissionär, einem Hilfsarbeiter Veitels. Und Frau Pinkus hing an dem aufstrebenden Geschäftsmann mit einer Verehrung, welche ihren Mann aller Gänsebrüste beraubte, die in dem Hause geschlachtet wurden.

Heut saß Itzig in seinem Geschäftslokal nachlässig auf dem Sofa und rauchte aus einer Bernsteinspitze, er war ganz Gentleman und erwartete vornehmen Besuch. Da hörte man im Vorzimmer schellen, der Diensttuende flog zur Tür, eine scharfe Menschenstimme wurde hörbar. Bald entstand ein Zank im Vorsaale, welcher Veitel bewog, schnell den offenen Kasten seines Schreibpultes zuzuschließen und den Schlüssel in die Tasche zu stecken.

»Nicht zu Hause ist er? Er ist aber hier, du erbärmlicher, grünhaariger Dummkopf«, schrie eine scharfe Stimme den Wache haltenden Jüngling an. Man hörte einen widerstehenden Körper beiseite schieben, Veitel beugte seinen Kopf tief in ein altes Hypothekeninstrument, die Tür wurde geöffnet, und Herr Hippus erschien mit gerötetem Antlitz, schäbig, mit zerrauften Federn, an der Tür. Nie hatte er einem alten Raben ähnlicher gesehen.

»Du läßt dich verleugnen? Du befiehlst dem Wurme dort draußen, alte Freunde abzuweisen? Natürlich, du bist vornehm geworden, du Narr! Hat man je eine solche Unverschämtheit gesehen! Weil der Bengel sich in zwei neue Stuben hineingeschwindelt hat, sind ihm seine alten Freunde nicht mehr gut genug. Du bist aber bei mir an den Unrechten gekommen, mein Söhnchen, ich lasse mich nicht so abspeisen.«

Veitel betrachtete den kleinen Herrn, welcher zornig vor ihm stand, mit Blicken, die nichts weniger als freundschaftlich waren. »Was macht Ihr mit dem jungen Menschen für einen Lärm«, sagte er kalt, »er hat nur seine Schuldigkeit getan. Ich erwarte einen Geschäftsbesuch und habe ihm befohlen, alle Fremden abzuweisen. Wie konnte ich wissen, daß Ihr hierherkommen würdet? Haben wir nicht ausgemacht, daß Ihr mich nur des Abends besuchen sollt? Was kommt Ihr in meinen Geschäftsstunden?«

»Deinen Geschäftsstunden! Du junger Wiedehopf, der seine Eierschalen noch am Steiße herumschleppt«, rief Hippus, immer noch erzürnt, und setzte sich auf das Sofa. »Deine Geschäftsstunden –«, fuhr er mit unendlicher Verachtung fort, »für deine Geschäfte ist jede Stunde gut genug.«

»Ihr seid wieder betrunken, Hippus«, antwortete Veitel in aufrichtigem Ärger. »Wie oft habe ich gesagt, daß ich mit Euch nichts zu tun haben will, wenn Ihr aus der Branntweinstube kommt.«

»So«, rief Herr Hippus, »du Sohn einer Trödelhexe, mein Besuch ist für dich zu allen Zeiten eine Ehre. Ich wäre betrunken?« fuhr er schluckend fort. »Wovon denn, du Hanswurst? Womit soll man sich betrinken«, schrie er, »wenn man kein Geld hat, ein Glas zu bezahlen?«

»Ich wußte, daß er wieder kein Geld hatte«, sagte Veitel mit tiefer Entrüstung. »Erst neulich habe ich Euch zehn Taler gegeben, aber Ihr seid wie ein Schwamm, es ist schade um jeden Groschen, den man auf Euch wendet.«

»Du wirst mir aber heut zeigen, daß es nicht schade ist«, antwortete der Alte höhnisch, »du wirst mir wieder zehn Taler geben, und auf der Stelle.«

 

»Das werde ich nicht«, rief Veitel. »Ich habe satt, Euch zu füttern. Ihr wißt, was wir abgemacht haben; Geld bekommt Ihr nur, wenn Ihr mir dafür etwas tut. Und jetzt seid Ihr nicht in der Verfassung, etwas Ordentliches zu lesen oder zu schreiben.«

»Für dich und deinesgleichen bin ich immer noch gut genug, und wenn ich zehnmal besser gefrühstückt hätte als heut«, sagte der Alte ruhiger. »Gib her, was du für mich zu arbeiten hast. Du bist ein geiziger Filz geworden, aber ich will dir’s nicht nachtragen. Ich will dir auch verzeihen, daß du mich abweisen wolltest, ich will dir auch verzeihen, daß du ein hochmütiger Esel geworden bist und dich mit einer solchen Lampe breitmachst, die für bessere Leute als dich gut genug wäre; und ich will dir meinen Rat nicht entziehen, vorausgesetzt, daß du mich honorierst. Und so wollen wir Frieden machen, mein Sohn. Jetzt rede, welche Teufelei hast du wieder vor?«

Veitel schob ihm ein dickes Hypothekeninstrument hin und sagte: »Zuerst sollt Ihr mir das durchsehen und einen Auszug daraus schreiben, wie ich ihn brauche, und sagen, wie es damit steht. Es ist mir angeboten worden zum Kauf. Jetzt aber erwarte ich jemand. Ihr müßt in die andere Stube gehen, dort setzt Euch an den Tisch und macht die Arbeit. Wenn Ihr fertig seid, dann reden wir über das Geld.«

Herr Hippus schob sich das schwere Aktenstück unter den Arm und steuerte nach der zweiten Stubentür. »Heut tue ich dir noch einmal deinen Willen, weil du’s bist«, sagte er gemütlich und erhob seine Hand, um Veitel auf die Backe zu klopfen.

Veitel ließ sich diese Liebkosung leidend gefallen und wollte die Tür zumachen, als der betrunkene Alte sich noch einmal herandrängte und mit schlauem Blick fragte: »Also du erwartest jemanden, mein Söhnchen? Wen erwartest du, kleiner Itzig? Ist’s ein Männlein oder ein Fräulein?«

»Es ist ein Geldgeschäft«, entgegnete Veitel, die Achseln zuckend.

»Ein Geldgeschäft?« wiederholte der trunkene Herr, mit einer zärtlichen Bewunderung seinen Bundesgenossen betrachtend. »Ja, darin bist du groß. Groß als Mensch und als Schwindler! Wahrhaftig, wer von dir Geld haben will, der ist verloren. Es wäre ihm besser, er spränge ins Wasser, obgleich Wasser auch verächtlich ist. Du kleiner Sackermentsschwindler, du!« Dabei erhob er den Kopf und stierte aus seinen schwimmenden Augen liebevoll auf Veitel.

»Seid Ihr doch selbst gekommen, um Geld von mir zu holen«, antwortete ihm Veitel mit gezwungenem Lächeln.

»Ja, ich bin fest«, lallte Hippus, »ich bin nicht von Fleisch und Blut, ich bin Hippus, ich bin der Tod.« Dabei versuchte er, geistreich zu lachen.

Draußen ertönte die Schelle, Veitel rief: »Verhaltet Euch ruhig!«, schloß die Tür, setzte sich auf das Sofa, faßte die Bernsteinspitze und erwartete seinen Besuch.

In dem Vorzimmer klirrte ein Säbel, ein Husarenoffizier trat ein. Eugen Rothsattel war in dem letzten Winter ein wenig älter geworden, sein feines Gesicht war hagerer, und um den untern Teil seiner Augen zog sich ein bläulicher Ring. Er trat mit einem Schein von Gleichgültigkeit ein, der Herrn Itzig keinen Augenblick zu täuschen vermochte, denn hinter dieser Maske erkannte sein erfahrener Blick deutlich das Fieber, welches bedrängten Schuldnern eigentümlich ist.

»Herr Itzig?« fragte der Offizier von oben herunter.

»So heiße ich«, versetzte Veitel und stand nachlässig vom Sofa auf.

Unruhig sah Eugen in das Gesicht des Geldmanns. Der jetzt seine Anrede erwartete, war derselbe, vor dem schon sein Vater gewarnt war, und jetzt trieb das Schicksal auch ihn in dasselbe Netz. »Ich habe in diesen Tagen eine Schuld an hiesige Agenten zu zahlen«, begann der Leutnant, »an Herren Ihrer Bekanntschaft. Als ich deshalb Rücksprache mit ihnen nehmen wollte, ist mir von beiden mitgeteilt worden, daß sie ihre Forderungen an Sie verkauft haben.«

»Ich habe sie ungern gekauft«, erwiderte Veitel, »ich habe nicht gern zu tun mit den Herren Offizieren. Es sind zwei Schuldscheine über elfhundert und achthundert, zusammen neunzehnhundert Taler.« Er griff in eine Mappe und holte die Dokumente heraus. »Erkennen Sie diese Unterschrift als die Ihrige«, fragte er kalt, »und erkennen Sie diese neunzehnhundert Taler als die Summe an, welche Ihnen geliehen ist?«

»Es mag wohl soviel darin stehen«, antwortete der Leutnant unwillig.

»Ich frage, ob Sie anerkennen, daß Sie mir zu zahlen haben diese Summe auf diese zwei Verschreibungen?« fragte Veitel wieder.

»In Teufels Namen, ja«, rief der Leutnant, »ich erkenne die Schuld an, obgleich ich nicht die Hälfte in Geld erhalten habe.«

Veitel schloß den Solawechsel in sein Pult und sagte, indem er die Achseln zuckte, spöttisch: »Ich habe doch die volle Summe bezahlt bei den Leuten. Ich werde mir also holen bei Ihnen morgen oder übermorgen mein Geld.«

Der Offizier schwieg eine Weile, langsam röteten sich seine eingefallenen Wangen. Endlich nach einem harten Kampfe begann er: »Ich bitte Sie, Herr Itzig, mir noch Frist zu geben.«

Veitel ergriff seine Bernsteinspitze und drehte behaglich daran, als er antwortete: »Ich gebe Ihnen keinen Kredit weiter.«

»Seien Sie verständig, Itzig«, sagte der Offizier mit erzwungener Vertraulichkeit. »Ich bin vielleicht in kurzem in der Lage, Ihnen zu zahlen.«

»Sie werden in einigen Wochen so wenig Geld haben als jetzt«, entgegnete Veitel grob.

»Ich bin bereit, Ihnen eine größere Summe zu verschreiben, wenn Sie sich gedulden.«

»Ich mache niemals solche Geschäfte«, log Veitel.

»Ich schaffe Ihnen eine Anerkennung der Schuld durch meinen Vater.«

»Der Herr von Rothsattel hat geradesoviel Kredit bei mir wie Sie selber.«

Der Leutnant stieß zornig seinen Säbel auf den Boden. »Und wenn ich nicht zahle?« brach er los. »Sie wissen, daß ich gesetzlich dazu nicht verpflichtet bin.«

»Ich weiß«, versetzte Veitel ruhig. »Werden Sie zahlen morgen oder übermorgen?«

»Ich kann nicht«, rief Eugen in aufrichtiger Verzweiflung.

»Dann tragen Sie Sorge für den Rock, den Sie anhaben«, sagte Veitel, sich abwendend.

»Wohlfart hatte recht, mich vor Ihnen zu warnen«, rief Eugen außer sich. »Sie sind ein hartgekochter –«, er drängte das letzte Wort zurück.

»Sprechen Sie ruhig aus«, sagte Itzig, »es hört Sie niemand. Was Sie reden, ist wie das Feuer im Ofen, es knistert, in einer Stunde ist’s Kohle. Was Sie mir hier wollten sagen unter vier Augen, das werden von Ihnen in drei Tagen die Leute auf der Straße sagen, wenn Sie nicht zahlen.«

Eugen wandte sich mit einem Fluche ab, an der Tür blieb er noch einen Augenblick stehen, dann stürzte er zornig hinaus.

Veitel sah im triumphierend nach. »Der Sohn wie der Vater, er sitzt darin, wie er sitzen muß«, sagte er vor sich hin. »Er kann nicht schaffen das Geld. Es geht zu Ende mit den Rothsatteln, und der Wohlfart wird sie nicht halten. – Wenn ich verheiratet bin mit der Rosalie, so sind mein auch Ehrenthals Hypotheken. Dann können die Scheine, die bei dem Schwiegervater verschwunden sind, sich unter seinen Papieren wiederfinden. Dann habe ich den Baron in Händen, und das Gut ist mein.«

Nach diesem Selbstgespräch öffnete er die Tür, welche Herrn Hippus und den vornehmen Besuch, den Versunkenen und den Sinkenden getrennt hatte, und fand den kleinen Advokaten eingeschlafen, den Kopf auf den Händen, die Hände über den Akten. Mit herzlicher Verachtung sah Itzig auf das schwärzliche Bündel und sagte: »Er wird mir lästig. Er sagte, er wäre der Tod, ich wollte, er wäre tot, und ich wäre von ihm frei.« Unsanft rüttelte er den alten Mann auf und schrie ihn an: »Ihr seid zu nichts gut als zum Schlafen, was mußtet Ihr hierherkommen, um zu schnarchen? Geht nach Hause, ich werde Euch die Akten geben, wenn Ihr in besserer Verfassung seid.«