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Soll und Haben

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3

Die ersten Wochen vergingen den beiden Kolonisten in einer Tätigkeit, welche sie alle Abende bis zum Tode erschöpft auf das Lager warf; langsam setzten sie sich am Orte fest, Karl wurde gleich am nächsten Tage als Amtmann eingeführt und ergriff mit fester Hand, was von Zügeln auf dem Gut noch vorhanden war. Den Haushalt und die Küche übergab Anton einer rüstigen Frau, die er in einem deutschen Dorf der Nachbarschaft warb, sie besorgte die einfache Kost der Schloßbewohner und der Knechte. Die schwerste Aufgabe war, mit dem Dorfe in ein erträgliches Verhältnis zu kommen. Der ruhigen Festigkeit Antons gelang es wenigstens, den Ausbruch der Unzufriedenheit zu verhindern; eine seiner ersten Maßregeln war, daß er bei den Behörden auf Ablösung der gegenseitigen Verpflichtungen antrug. Karls Reitermantel zog einige gediente Männer zu ihm hin, und durch sie, die Weltleute im Dorf, erlangten die Ansiedler einigen Einfluß auf die andern. Zuletzt erboten sich mehrere freiwillig, auf dem Schloß zu dienen oder im Taglohn zu arbeiten.

Anton hatte an die Baronin geschrieben und ihr den Zustand des Gutes, die unfreundliche Umgebung und seine Bedenken gegen eine Übersiedlung der Familie in diesem Winter nicht verschwiegen. Er hatte gefragt, ob sie nicht vorziehen würden, bis zum Frühjahr in der Hauptstadt zu bleiben. Als Antwort kam ein Brief Lenorens, worin sie im Auftrag ihrer Eltern anzeigte, daß sie doch an ihrem Entschlusse festhielten, die Stadt zu verlassen, wo dem Vater und ihnen selbst der Aufenthalt peinlich sei. Sie bat ihn, das Schloß soviel als möglich in wohnlichen Stand zu setzen. Anton rief seinem Getreuen zu: »Sie kommen doch.«

»Alle Wetter!« sagte Karl. »Es ist ein Glück, daß wir uns nach den Handwerkern erkundigt haben, Maurer, Tischler, Schlosser, Töpfer, Glaser. Wenn’s Ihnen recht ist, schicke ich auf der Stelle einen Boten nach Rosmin. Wenn ich nur diesen schändlichen braunen Ölanstrich von den Türen losmachen könnte, er verdeckt das schöne Eichenholz. Aber Lauge nutzt nichts. – Also wieviel Öfen brauchen wir?«

So begann eine eifrige Beratung. »Den ganzen Unterstock lassen wir unausgebaut«, entschied Anton, »die Fenster verschlagen wir mit dicken Brettern, nur an der Türöffnung der Vorhalle machen wir eine starke Tür, weil man dort alle Stunden vorüber muß. Wie die Wände jetzt sind, können sie nicht bleiben, und wir haben hier niemanden als den Maurer von Rosmin.«

»Wenn die Sache so ist«, sagte Karl, »so schlage ich vor, daß wir die Stuben selbst malen, ich bin ein Daus im Marmorieren.«

»Du wärst imstande«, erwiderte Anton, mit einiger Besorgnis auf den Gefährten blickend. »Nein, wir lassen alle Stuben mit gleicher Farbe streichen; was meinst du zu Braun?«

»Hm, hm, nicht übel«, gab Karl zu.

»Ich weiß, Fräulein Lenore liebt diese Farbe vor andern. Es muß aber nicht zu dunkel sein, sondern eine helle Mischung aus Gelb, Grau, Rot und Grün, vielleicht etwas Schwarz.«

»Aha«, sagte Karl verdutzt, »so eine gewisse Farbe.«

»Natürlich«, fuhr Anton eifrig fort und rückte seinen Stuhl näher, »wir wollen dem Tüncher die Farbe selbst mischen.«

»Das ist mein Fall«, stimmte Karl bei, »aber ich sage Ihnen im voraus, diese Kalkfarben sind Racker. Sie streichen Blau auf, und den andern Tag ist’s Weiß; Sie haben das schönste Orange im Pinsel, und wenn es an der Wand getrocknet ist, sieht’s aus wie vergilbte Wäsche.«

»Im Vertrauen gesagt«, versetzte Anton, »wir werden’s den Damen doch nicht recht machen; also denke ich, wir richten’s so ein, daß es billig ist und erträglich aussieht.«

Am nächsten Tage begann im Hause das Hämmern und Streichen. Im untern Stock schlug der Tischler mit seinen Gesellen die Werkstatt auf, im obern fuhr der große Pinsel des Tünchers unermüdlich über die Wände, und weißliche Gestalten mit großen Schürzen trugen die Kalkgefäße treppauf, treppab. Karl war in dieser ganzen Zeit wie ein Mann mit zehn Armen; sooft er sich von der Wirtschaft frei machen konnte, strich er mit jeder Art Pinsel auf Holz und Wände, er lief mit einem Zollstock herum, schlug Nägel und Gardinenhaken ein und war im nächsten Augenblick wieder auf dem Felde und im Pferdestall, überall pfiff er seine Soldatenlieder und trieb die Arbeiter an. Als die Einrichtung des Hauses fortschritt, wurde der Verschönerungstrieb in ihm immer mächtiger. Er hatte einige Zentner Ölfarbe eingekauft, die er vorzüglich fand, und eine große Kunst im Malen entwickelt. Jetzt wagte er sich daran, einer Anzahl Gegenstände, welche ihm zum Anstrich geeignet schienen, das Ansehen von feinem gemasertem Holz zu geben, und es gelang ihm mit Hilfe eines Federbarts und weicher Pinsel, große Wirkungen hervorzubringen. Er trug den Pinsel und seine Verschönerung sogar auf den Wirtschaftshof und bat Anton so lange, bis dieser in einen Abputz der Lehmwände willigte. »Bei diesem Wetter trocknet es wie im Sommer«, rühmte Karl. »Die Strohdächer kann ich nicht überstreichen, das ist mein einziger Kummer.« Dagegen ließ er es sich nicht nehmen, zwei neue Kartoffelwagen, die alte Feuertonne und die besten Pflüge mit schöner blauer Ölfarbe zu überziehen. »Es muß in diesem Hofe doch etwas sein, woran sich das Auge erfreut«, sagte er entschuldigend. »Und es bezahlt sich, denn diese Polen hier gehen mit allem, was bunte Farben hat, besser um.«

Das Schloß war notdürftig eingerichtet; an einem kalten Dezembertage wurde die Ankunft der Gutsherrschaft erwartet. Der Himmel selbst war den Wünschen Karls zu Hilfe gekommen, er hatte sein reines Weiß über die Erde gezogen und vieles Unschöne dem Auge der Ankommenden verhüllt. Der Schnee lag auf Anger und Sand, die Gipfel der Kiefern waren mit weißen Kronen geschmückt, und an den blätterlosen Bäumen blitzten die Zweige von prächtigen Eiskristallen. Die häßlichen Strohdächer der Dorfhäuser waren weiß übermalt; auf dem zerbrochenen Brückengeländer lag die Farbe aus Wolken wie gefrorener Schaum: am Schlosse trug jeder Vorsprung der Mauer, die Zinne des Turmes, der First des Daches eine weiße Festkappe, und kräftig stachen die braunroten Mauern davon ab. Es war für die im Schlosse ein Tag voll Geschäftigkeit und Erwartung. Wagen mit Möbeln und Hausrat wurden abgeladen und alles, so gut es in der Eile ging, aufgestellt. Die Schaffnerin und die Frau des Vogts wanden große Gehänge von Waldzweigen und schmückten die Vorhalle und die Stubentüren. Jetzt ging die Sonne unter, und die Silberfarbe in der Landschaft verwandelte sich in Goldglanz, dann in ein mattes Rot, bis auch dieser Schimmer verblich und der heraufsteigende Mond Flur und Wald mit geisterhaftem bläulichem Schein überzog. Im Hause wurden einige Wandlampen angezündet, in den Zimmern so viel Lichter als möglich aufgestellt, in allen Öfen brannte das Feuer, und die behaglich erwärmten Zimmer füllten sich mit dem kräftigen Harzgeruch der Kiefernnadeln. Nach vielen Versuchen hatte Anton die braune Wandfarbe gefunden, nach der sein Herz strebte. Die bunten Gardinen waren heruntergelassen, und die geöffnete Zimmerreihe sah bei dem Glanz der Lichter heut so wohnlich aus, daß Anton erstaunt fragte, wie die Arbeit weniger Wochen eine so große Veränderung hervorgebracht habe. Karl hatte auf beiden Seiten des Schlosses Pechpfannen aufgestellt, ihr loderndes Licht fiel grell auf den Schnee und färbte in weitem Umkreis die Mauern des Hauses mit warmem Rot.

Unten in der Vorhalle versammelten sich die Würdenträger des Gutes. Der Förster mit neuem grünem Rock, auf seiner Brust die Denkzeichen der Kriegsjahre, einen Hirschfänger an der Seite, stand in kriegerischer Haltung neben dem Vogt und dem Schäfer. Die Schaffnerin und die Frau des Vogts hatten ihre besten Bänder an die Hauben gesteckt und trippelten in unruhiger Erwartung um die Männer herum. Auch Karl trat in seinem Frack zu ihnen. Unterdes schritt Anton noch einmal durch die Zimmer und horchte nach dem Peitschenschlag, der ihm aus der Ferne die Ankunft des Gutsherrn verkünden sollte. Ihm pochte das Herz, auch für ihn sollte mit dem heutigen Tage eine neue Zeit beginnen. So reich an Entbehrungen das Leben der Ansiedler bis heut auch gewesen war, er und sein Gefährte hatten sich als Herren des Schlosses gefühlt, sie hatten in dem stündlichen Verkehr auch sorgenvolle Stunden leicht überwunden. Jetzt war Karl nach dem Wirtschaftshof hinübergegangen, er selbst sollte nach dem Wunsche der Baronin in einem Zimmer des Schlosses bleiben, dadurch kam er mit der Familie in tägliche Verbindung, und er fragte sich, wie diese sein werde. Der Freiherr selbst war ihm fast ganz fremd, nur auf Augenblicke hatte er ihn gesprochen; im Krankenzimmer unter großen Schmerzen hatte der Leidende die Vollmacht für ihn unterschrieben. Seine Tätigkeit und seine Person, wie würden sie dem Freiherrn gefallen? Und dieser Mann war blind. Ja, blind. Lenore hatte geschrieben, daß der Arzt keine Hoffnung habe, den geblendeten Augen des Vaters die Sehkraft wiederzugeben. Aus Schonung hatte man dem Freiherrn dieses Furchtbare verborgen, er selbst tröstete sich in seiner Finsternis noch immer mit der Hoffnung, daß die Zeit und eine geschickte Hand entfernen würden, was wie eine schwarze Wolke über seinen Augen lag. Seinem Vertrauten hatte Anton die Wahrheit nicht verborgen, auch den Gutsleuten hatte er sagen müssen, daß der Herr gegenwärtig an den Augen leide und eine Binde darüber trage. Und auf den Gesichtern von allen hatte er gelesen, wie sehr sie verstanden, daß es ein Unglück sei, wenn dem Gute das Auge des Herrn fehle. Und wieder schlug sein Herz unruhig, wenn er an Lenore dachte, neben der er jetzt als Hausgenosse leben sollte. Wie würde ihr und der Mutter Benehmen gegen ihn sein? Er nahm sich vor, sorgfältig alles zu unterdrücken, was er in dieser Stunde für eitlen Anspruch hielt, er wollte sich gleich im Anfange so zu ihnen stellen, daß sie sein Selbstgefühl nicht demütigen konnten. Und doch fragte er sich, ob sie ihn als Vertrauten und ebenbürtigen Gesellschafter behandeln würden oder ob sie ihm fühlbar machen könnten, daß er Kost und Sold von ihnen als der Herrschaft erhalte. Vergebens sagte er sich, daß sein eigenes Zartgefühl gerade dies letztere fordern müsse. Immer wieder stiegen Traumbilder in ihm auf, wie reizend das Zusammenleben mit Lenore für ihn werden könne.

 

Von dem Dorfe knallten die Peitschen der Knechte, in zwei Wagen fuhr die Herrschaft an ihrem Schlosse vor. Um die Pechpfannen standen die Leute vom Hofe, der Schenkwirt und einige aus dem Dorfe. Diensteifrig öffnete der Vogt das Fenster des geschlossenen Wagens. Und als Lenore ausstieg und ihr Gesicht von dem hellen Licht beschienen wurde, drängten sich die Frauen näher heran, die Männer brachen in lauten Zuruf aus, alles sah erwartungsvoll in den Wagen. Aber die Bereitwilligkeit der Leute, den Gruß des Willkommens entgegenzubringen, wurde durch keinen freundlichen Gegengruß ermuntert. Mühsam wurde der Freiherr aus dem Wagen gehoben, mit gesenktem Haupt schritt er, von der Tochter und den Bedienten gestützt, die Treppe hinauf. Das bleiche Antlitz der Baronin hinter ihm hatte nur einen stummen Blick für die Beamten ihres Gutes, nur einen kurzen Gruß auch für Anton, der voranschritt, sie in die eingerichteten Zimmer zu führen. »Das ist ja alles sehr schön, Herr Wohlfart«, sagte sie zu Anton mit zuckenden Lippen, und als Anton stehenblieb, um ihre ersten Aufträge zu erwarten, verabschiedete sie ihn mit einer leichten Bewegung der Hand und mit den Worten: »Ich danke.« Als sie hinter ihm die Tür geschlossen hatte, stand der Freiherr hilflos zusammengesunken in der fremden Stube, die Baronin brach in lautes Weinen aus. Lenore lehnte am Fenster, sie blickte in den weißen Winter und auf den schwarzen Rand am Horizont, und große Tränen rollten an ihren Wangen herunter. Mit schwerem Herzen trat Anton unter die Leute und sagte ihnen, daß die Herrschaft von der Reise angegriffen sei und die einzelnen erst morgen sprechen wolle. Karl ließ die Wagen abladen, führte die alte Köchin, welche weinte wie ihre Herrschaft, in die untern Räume und zeigte ihr die Küche. Niemand von der Familie wurde an dem Abend weiter gesehen. Bald verschwand das Licht in den Zimmern, nur vor den Türen des finstern Hauses loderte noch das Pech in den Pfannen, im Zugwind fuhr die rote Flamme hin und her, und eine rußige Wolke zog hinauf an das Fenster, wo der Freiherr sein Haupt mit den Händen verbarg.

So war der Einzug der Familie in das neue Gut.

»Wie hübsch Wohlfart alles eingerichtet hat«, sagte Lenore am andern Tage zur Mutter.

»Diese hohen Räume sind fürchterlich«, erwiderte die Baronin und wickelte sich schonend in ihr Tuch, »und das einförmige Braun der Zimmerreihe macht die Wohnung noch öder.«

»Es wird Zeit sein, ihn herüberzubitten«, drängte Lenore kleinlaut.

»Noch ist der Vater nicht in der Stimmung, ihn zu sprechen.«

»Laß den Vater nicht allein mit Wohlfart«, bat die Tochter. »Es wäre schrecklich, wenn der Vater ihn unfreundlich behandelte.«

Die Baronin seufzte. »Wir werden uns gewöhnen müssen, gegen einen Fremden in unserem Hause Rücksichten zu nehmen, die den Vater wie uns Überwindung kosten.«

»Wie willst du es mit der Hausordnung halten?« fragte Lenore wieder. »Wohlfart wird doch mit uns speisen?«

»Das ist unmöglich«, sagte die Baronin fest. »Du weißt, wie traurig unser Mittagstisch vergeht; dein Vater ist noch nicht so ruhig, daß er die tägliche Anwesenheit eines Fremden ertragen könnte.«

»So soll er an den Tisch der Dienstleute?« fragte Lenore bitter.

»Ihm wird auf seinem Zimmer gedeckt werden, wir werden ihn alle Sonntage herüberbitten, und wenn seine Person dem Vater leidlich wird, auch manchmal des Abends. Mehr wäre für alle Teile eine Last. Es ist gut, sich gleich im Anfang eine bequeme Freiheit zu sichern. Der Zustand des Vaters wird das entschuldigen.«

Sie klingelte, Anton wurde herüber geladen. Dem Eintretenden ging Lenore entgegen, sie reichte ihm schweigend mit nassen Augen die Hand. Auch er war bewegt, als er die Spuren des Grams im Gesicht der Mutter sah. Die Baronin bat ihn, Platz zu nehmen, und drückte ihm in gewählten Worten ihren Dank für seine treue Sorge aus. Sie ließ sich von ihm erzählen, was er im Schlosse eingerichtet hatte, sie lobte alles in wohltuender Weise und besprach mit ihm die Einrichtung des Haushalts. Sie zog ihn dabei zu Rate wie einen Freund und ließ ihn selbst vorschlagen, was sie von ihm wollte. Dann fuhr sie fort: »Mein Mann wünscht Sie zu sprechen. Ich bitte Sie herzlich, in jeder Stunde daran zu denken, daß der Freiherr ein Kranker ist. Er hat furchtbar gelitten, seine Seele wie sein Körper. Noch jetzt ist er keinen Tag ohne Schmerzen, und das Ungewohnte seines hilflosen Zustandes peinigt ihn unaufhörlich. Wir selbst vermeiden sorgfältig, was ihn aufregen kann, und doch vermögen wir nicht, Stunden, ja Tage finsterer Verstimmung von ihm fernzuhalten. Auch Sie werden Nachsicht üben, wenn seine düstere Laune Sie unangenehm berührt. Die Zeit soll ja alles heilen, ich hoffe, sie wird auch ihm den Frieden wiedergeben.«

Anton versprach ihr jede Vorsicht.

»Mein Mann wird natürlich wünschen, von allem in Kenntnis gesetzt zu werden, was dem Gutsherrn zur Entscheidung vorgelegt wird. Es ist begreiflich, daß er gerade jetzt in seinen ruhigen Stunden mit einem gewissen Eifer darauf besteht, seine eigene Ansicht geltend zu machen. Und doch bangt mir vor jedem unangenehmen Eindruck, der ihm von außen kommt. Deshalb bitte ich, wenn Sie ihm etwas Wichtiges mitzuteilen haben, suchen Sie es vorher mir begreiflich zu machen, vielleicht gelingt mir, Ihnen manche lästige Stunde zu ersparen. Ich werde meinen Schreibtisch in eines der Zimmer tragen lassen, welche Ihrer Wohnung am nächsten sind, ich will jeden Morgen einige Stunden dort zubringen. Lenore ist der Privatsekretär des Vaters geworden. So wird es möglich sein, Ihnen Ihre Stellung in unserem Hause weniger unangenehm zu machen. – Haben Sie die Güte, mich hier zu erwarten, ich gehe, Ihren Besuch dem Freiherrn anzukündigen.«

Die Baronin verließ das Zimmer. Anton sah ernst vor sich nieder. Lenore lief auf ihn zu und rief, so heiter als sie vermochte: »Alles braun, Wohlfart; wir Braunen wollen auch hier treu zusammenhalten. Es ist Ihnen nicht recht, daß wir hergekommen sind, Sie ungalanter Herr.«

»Nur um Ihretwillen«, erwiderte Anton und wies auf die Schneefläche draußen. »Wenn ich durch die Felder ging, habe ich immer gedacht, wie einsam es Ihnen hier werden muß. Wenn ich des Abends durch die großen Stuben schritt, da sorgte ich, wie langsam Ihnen der Tag hier vergehen wird. Die Kreisstadt ist über zwei Meilen entfernt, auch dort werden Sie wenig finden, die kleine Leihbibliothek ist für Sie gar nicht zu gebrauchen.«

»Ich will zeichnen«, sagte Lenore, »ich will Frauenarbeit machen. Ach, das wird mir sauer werden, Herr Wohlfart, ich bin darin sehr ungeschickt. Ich selbst mache mir nichts aus Kragen und Spitzen, aber Mama, die gewöhnt ist, das alles so reichlich und in Ordnung zu haben. Ach, was mir Mama leid tut.«

Anton versuchte zu trösten.

»Wir mußten fort aus der Hauptstadt«, rief Lenore, »es wäre unser aller Untergang gewesen, wenn wir in der schrecklichen Umgebung geblieben wären. Unser Gut unter fremder Verwaltung, überall verlegene und kalte Gesichter, überall falsche Freunde, gleißende Worte und ein Bedauern, welches das Herz empört. Mir ist wohl, daß wir hier allein sind. Und wenn ich hier frieren und hungern muß, ich will alles lieber ertragen als das Achselzucken der Frau von Werder und ihrer Kinder. Ich habe die Menschen hassen gelernt«, rief sie heftig. – »Wenn Sie bei Papa gewesen sind, komme ich herunter, dann müssen Sie mir das Haus, den Hof und das Dorf zeigen; ich will sehen, wo mein armer Pony steht und wie die Leute hier aussehen.«

Die Baronin kehrte zurück und führte Anton in das Zimmer ihres Gemahls. Verlegen und unbehilflich erhob sich der Freiherr aus seinem Sessel. Als Anton das verfallene Gesicht, die gebeugte Haltung und die schwarze Binde über den Augen sah, fühlte er ein tiefes Bedauern mit dem Unglücklichen. Mit warmem Gefühl sprach er aus, wieviel guten Willen er habe, ihm zu dienen, und wie er um Nachsicht bitte, wenn er in dieser Zeit etwas nicht recht gemacht. Darauf erzählte er ihm noch einmal, wie er die Wirtschaft gefunden und was bis jetzt geschehen war.

Der Freiherr hörte schweigend den Bericht an, nur kurze Bemerkungen kamen aus seinem Munde. Als Anton aber anfing, von den übrigen Geschäften des Freiherrn zu sprechen, als er mit der größten Rücksicht, aber doch mit der Bestimmtheit eines Geschäftsmannes von den Verpflichtungen sprach, die der Freiherr jetzt hatte, und von den unzureichenden Mitteln, sie zu erfüllen: da wand der Edelmann sich auf seinem Stuhl wie ein Angeklagter unter der Folter. Und Anton empfand, während er sprach, wie peinlich es für ihn war, als ein Fremder in die geheimsten Angelegenheiten des Freiherrn eingeweiht zu sein, als ein Fremder, der den andern sehr schonte, aber bei jeder vorsichtigen Wendung verriet, daß er schonen mußte. Die Baronin, welche hinter dem Sessel stand, sah immer ängstlicher auf die Versuche ihres Gemahls, seine Aufregung zu meistern, endlich winkte sie heftig mit der Hand, und Anton mußte mitten in seinem Bericht abbrechen.

Als er das Zimmer verließ, warf sich der Freiherr zornig zu seiner Frau zurück und rief, in innerster Seele empört: »Ihr habt mir einen Vormund gesetzt.« Er war ganz außer sich, und vergebens suchte ihn die Baronin zu beruhigen.

Das war der Eintritt Antons in die Familie.

Auch er ging traurig in sein Zimmer zurück. In diesen ersten Stunden erkannte er, daß zwischen ihm und dem Freiherrn sich schwerlich ein gutes Verhältnis bilden werde. Er war in allen Geschäften an schnelles Verständnis der Beteiligten und an kurze Behandlung gewöhnt und sollte jetzt durch den Mund der Frauen vielleicht nach langen Auseinandersetzungen unzweckmäßigen Entscheid erhalten. Auch seine Stellung zu den Frauen erschien ihm unsicher. Die Baronin hatte ihn sehr rücksichtsvoll behandelt, aber als einen Fremden. Auch sie, so fürchtete er, würde ihm eine vornehme Dame bleiben, die gerade so viel Vertrauen zuteilt, als ihr nützlich scheint, und jedes nähere Verhältnis durch artige Kälte von sich abzuhalten weiß. Selbst Lenorens freundliche Stimme vermochte ihn nicht aufzurichten. Beide schritten durch den Hof, nachdenkend wie zwei Geschäftsleute, die nur die Absicht haben, das Gut abzuschätzen.

Wie in den ersten Tagen ging für Anton das Leben auf dem Gut durch einige Monate fort, ernsthaft, einförmig, nicht ohne Zwang. Er arbeitete und aß allein auf seinem Zimmer, schweigend trug der alte Diener die Speisen auf und wieder ab. Auch wenn er als geladener Gast mit der Familie zusammenkam, war die Unterhaltung wenig erfreulich. Der Freiherr saß wie ein Eisklumpen und störte jedes Aufleben eines lebhaften Gesprächs. Früher hatte Anton die Umgebung der Familie, die Einrichtung ihres Salons, die elegante Dekoration ihres Hauses gern bewundert. Jetzt standen dieselben Möbel in den Besuchszimmern, die kleinen Vögel der Baronin hatten unter sorgfältigem Schutz die Winterreise überstanden, es waren dieselben Teppiche, Stickereien, derselbe Wohlgeruch der Zimmer. Aber jetzt, wo er die fremden Vögel täglich sah, kamen sie ihm langweilig vor, und an den Stuben war ihm bald nichts interessant, als daß er selbst die erste Einrichtung besorgt hatte.

Anton hatte einen tiefen Respekt vor dem gewandten Ton, der leichten Unterhaltung und den geschliffenen Formen des Umgangs in die Familie mitgebracht. Gedrückt, verstimmt und niedergeschlagen, wie die Familie war, konnte er nicht die zierliche Heiterkeit erwarten, die ihm im Tanzsalon der Frau von Baldereck so wohlgetan hatte. Sie waren herausgerissen aus dem gewohnten Kreise, alle die kleinen Beziehungen fehlten, die Anregung fehlte, welche den Geist elastisch erhält und Verstimmung und Schmerz überwinden hilft. Er sagte sich bescheiden, daß er diese nicht geben konnte. Aber noch anderes befremdete ihn. Wenn er nach einem wortkargen Abend in sein Zimmer zurückkehrte, beklagte er oft, daß sie an vielem, was ihm geläufig war, keinen Anteil nahmen, ja daß sie eine völlig andere Bildung besaßen als er. Und bald nahm er sich die Freiheit, zu behaupten, daß ihre Bildung nicht die bessere war. Das meiste, was er gelesen, war der Familie fremd; beim Besprechen der Zeitung, dem gewöhnlichen Unterhaltungsstoff, verwunderte ihn das geringe Verständnis fremder politischer Zustände. Die Tiefen der Geschichte waren dem Freiherrn kein angenehmer Aufenthalt, und wenn er das englische Staatsleben verurteilte, so konnte er seinen Standpunkt mit einigem Recht unbefangen nennen, denn es war ihm ganz fremd. An einem andern Abende ergab sich zu Antons Betrübnis, daß die Familienansichten über die Lage der Insel Ceylon im entschiedenen Widerspruch mit der Weltstellung standen, welche diesem Eilande durch die Seefahrer zugeteilt worden ist. Die Baronin, welche Interesse an unterhaltender Lektüre hatte und viel auf Vorlesen gab, verehrte Chateaubriand und las außer kleinen Modenovellen die Romane blasierter Damen; Anton fand Atala abgeschmackt und die Romane fade. Bald erkannte er, daß seine Hausgenossen alles, was die Welt ihnen entgegentrug, von einem Standpunkte betrachteten, den er nicht hatte. Überall maßen sie, ohne es selbst zu wissen, nach den Interessen ihres Standes. Was diesen schmeichelte, fand Gnade, auch wenn es für andere Menschen unerträglich war; was damit nicht zu stimmen schien, wurde verworfen oder wenigstens still beiseite geschoben. Ihr Urteil war oft mild, zuweilen liberal, immer aber saß ein unsichtbarer Helm mit der Krone auf ihrem Nacken, sie sahen aus der engen Öffnung des Visiers in das Treiben der andern Erdgeborenen hinein, und wenn sie ärgerte, was nicht zu ändern war; so klappten sie schweigend den Helmsturz herunter und schlossen sich ab. Der Freiherr machte das zuweilen ungeschickt, aber seine Gemahlin verstand meisterhaft, durch eine kleine reizende Handbewegung sich von Unwillkommenem abzusperren.

 

Die Familie gehörte zu der deutschen Kirche in Neudorf. Dort war aber kein Chor und keine Loge neben dem Altar, man hätte im Schiff der Kirche neben den Landleuten sitzen müssen. Das war unpassend. Der Freiherr richtete eine Kapelle in seinem Hause ein und ließ den Geistlichen zuweilen nach dem Schloß holen. Anton erschien selten bei dem Hausgottesdienst, er ritt nach Neudorf hinüber und saß dort an der Seite des Schulzen unter der Gemeinde.

Auch seine Tätigkeit war nicht ohne allerlei Störung. Der Reisende einer Weinhandlung drang durch Sand und Kiefernwälder bis in das Arbeitszimmer des Gutsherrn. Er war ein kecker Schlingel mit einer großen Beredsamkeit und einer leidenschaftlichen Neigung zu Wett- und Hindernisrennen. Er brachte eine ganze Tasche von Sportneuigkeiten und betörte dadurch den Freiherrn, ein Oxhoft Rotwein zu bestellen. Anton sah auf die leere Kasse, fluchte dem Oxhoft und eilte in das Arbeitszimmer der Baronin. Es bedurfte einer langen Intrige im Damenzimmer, um diese Bestellung auf ein bescheidenes Maß zurückzuführen.

Der Freiherr war mit seinen Wagenpferden unzufrieden, sie waren nicht mehr jung und waren Füchse. Diese letztere Eigenschaft hätte dem armen Herrn gleichgültig sein können, aber gerade sie bekümmerte ihn schon seit Jahren. Denn der Sinn seiner Familie war von je auf eine besondere Pferdefarbe gerichtet. Nach einer alten Sage hatte ein Ahnherr des Geschlechts auf einem Rotschimmel in einer verschollenen Schlacht ausgezeichnete Taten verrichtet; ja es gab ein schönes Lied von ältlichem Aussehen, in welchem folgender Vers vorkam:

 
Wer ritt durch das Getümmel?
Ein edler Reitersmann,
Das rote Blut vom Schimmel
Und rot vom Sattel rann.
 

Dieses Lied deuteten die Rothsattel auf ihren Vorfahr und schätzten deshalb Rotschimmel vor andern Rossen. Da aber diese Farbe bei guten Pferden ziemlich selten ist, so war dem Freiherrn eine solche Erwerbung noch nie geglückt. Jetzt wollte das Schicksal, daß ein Händler aus der Nachbarschaft ein Paar Rotschimmel vorzuführen wußte. Der blinde Freiherr hatte an den Tieren eine Freude, welche die Frauen zutiefst bewegte; er ließ sich die Pferde immer wieder vorreiten und vorfahren, hörte auf den Schlag ihrer Füße, betastete sie sorgfältig, holte Karls Ansicht ein und vertiefte sich in den Plan, seiner Gemahlin durch ihren Ankauf eine Freude zu machen. Karl lief in der Angst vor einer unnützen Ausgabe zu Anton und vertraute diesem die drohende Gefahr. Anton ging wieder in das Audienzzimmer, aber diesmal fand er auch hier kein geneigtes Gehör. Die Baronin gab zu, daß er nicht unrecht hatte, aber sie bat ihn dringend, nur diesmal ihrem Gemahl seinen Willen zu lassen. Zuletzt wurden die neuen Pferde in aller Stille an die Krippe gebunden, und der Käufer gab außer den Füchsen und allem Geld seiner Privatkasse dem Händler noch das Versprechen, nach der nächsten Ernte zweihundert Scheffel Hafer zu einem übermäßig niedrigen Preis zu liefern. Anton und Karl waren über diese letzte Bedingung, welche ihnen erst nach einigen Monaten zu Ohren kam, im Interesse des Gutes sehr erzürnt.

Der Förster hatte das Unglück, bei der Gutsherrschaft nicht in sonderlicher Gunst zu stehen. Daß Anton sein erstes Zusammentreffen mit dem Waldmenschen in lebhaften Farben schilderte, trug möglicherweise dazu bei, diesen dem Freiherrn zu verleiden. Der Baronin mißfiel das kurze Wesen des Alten, der in seiner Einsamkeit allerdings die Geschmeidigkeit verloren hatte, welche die Herrschaft an ihren Untergebenen wünschte. An einem Teeabend kam der Plan zum Vorschein, den Mann zu entlassen, bevor er durch längeren Dienst Ansprüche auf Unterhalt im hilflosen Alter erwerbe. An seiner Stelle sollte ein jüngerer Förster gesucht werden, der gelegentlich in der Livree des Freiherrn als repräsentierender Jäger zur Bedienung brauchbar wäre. Die Familie war von dem früheren Gute an ein solches Verhältnis gewöhnt. Anton bezwang mit Mühe seinen Unwillen, als er auseinandersetzte, daß bei der wilden und unsicheren Nachbarschaft des Gutes gerade der erfahrene Mann, der von jedem Strauchdieb der Gegend gefürchtet wurde, viel zuverlässiger sei als ein Fremder. Lenore schlug sich auf seine Seite, und unter kaltem Schweigen des Freiherrn und einem resignierten Blick der Baronin wurde der Plan beiseite gelegt. Beide ertrugen fortan mit zugeklapptem Visier und gutem Anstand den verbauerten Alten.

Das waren kleine Verstimmungen, wie sie unvermeidlich sind, wenn Menschen mit verschiedenen Gewohnheiten sich zu gemeinsamem Leben verbinden, aber es war kein Zeichen von Behagen, daß Anton sich dies häufig sagen mußte. Er verstand sich nicht nur mit Karl, auch mit dem Förster und Schäfer in vielen Dingen besser als mit der Herrschaft des Gutes, und er fühlte jetzt zuweilen mit Stolz, daß er anders als sie und einer aus dem Volke war.

Auch Lenore war nicht so, wie er sie geträumt hatte. Immer hatte er in ihr das vornehme Fräulein verehrt und die herzliche Vertraulichkeit, mit der sie ihn behandelte, als einen Vorzug empfunden. Jetzt hörte sie auf, ihm eine vornehme Erscheinung zu sein. Er kannte die Muster ihrer Spitzenärmel persönlich und sah sehr gut einen kleinen Riß im Hauskleide, den die sorglose Lenore lange nicht beachtete. Er hatte die wenigen Bücher, die sie mitgebracht, gelesen und war in der Unterhaltung oft um die Grenzen ihres Wissens herumgegangen. Ihre Aussprüche imponierten ihm nicht mehr, und er hätte jetzt seinen Freund Fink schwerlich wegen der Frage, ob sie auch Geist habe, geprügelt. Er fragte sich das selbst und beantwortete die Frage recht verständig. Sie hatte nicht soviel gelernt wie ein anderes Mädchen, das er kannte, und ihr Empfinden war durchaus nicht so gebildet; aber sie war eine gute, frische Natur, kräftig in ihrem Gefühl und ehrlich in ihrem Urteil. Und sie war schön. Immer hatte er sie dafür gehalten, aber seine zarte Ehrfurcht umgab lange ihr Bild mit einer duftigen Wolke. Jetzt, wo er sie täglich sah, im einfachen Morgenrock, in der gewöhnlichen Stimmung des Arbeitstages, jetzt erst fühlte er den ganzen Zauber ihrer blühenden Jugend.