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Soll und Haben

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Dieses schnelle Eingreifen bewirkte für den Augenblick mehr, als nach Lage der Dinge zu hoffen stand: das Gesindel, welches der Wirt aus seiner Schenkstube zusammengeholt hatte und welches zunächst in fremdem Interesse handelte, wich zurück, und ein halbes Dutzend Fuhrleute drängte sich mit Radstangen und anderen Angriffswerkzeugen um den Kaufmann und schrie jetzt ebenso laut wie früher die andern, daß dem fremden Herrn und dem Wagen kein Leid geschehen solle. Der Kaufmann rief: »Jagt das fremde Volk hinaus!«, faßte selbst den Säbel, welcher dem liegenden Wirt entfallen war, stürmte an der Spitze der Getreuen auf die Helfer des Wirts ein und trieb diese durch den gepflasterten Hausflur. Die Hartnäckigsten machten noch einen vergeblichen Versuch, sich in der Schenkstube festzuhalten, aber einer nach dem andern ward aus dem Hause geworfen, daß sie brüllend und fluchend davonliefen. Darauf wurde die Haustür geschlossen, und der Kaufmann eilte nach dem Hof zurück, wo Anton noch immer vor dem unverbesserlichen Wirt kniete und diesen am Aufstehen hinderte. Die übrigen Fuhrleute hatten sich scheu zurückgezogen, der Kaufmann rief jetzt alle heran und befahl: »Spannt an!« – Zu Anton sagte er: »Dies Haus müssen wir sogleich verlassen. Besser auf dem Straßenpflaster als in dieser Höhle.«

»Sie bluten«, rief Anton, bestürzt zu dem Arm des Kaufmanns aufblickend.

»Es muß unbedeutend sein, ich kann den Arm bewegen«, antwortete der Kaufmann schnell. »Öffnet das Hintertor, hinaus mit den Wagen! Vorwärts, ihr Männer! – Einer der Fuhrleute wird Ihnen helfen, den Wirt festzuhalten.«

»Und wo sollen wir hin?« fragte Anton in englischer Sprache. »Sollen wir mit den Wagen hinein in das Blutvergießen der Straße?«

»Wir haben einen Passierschein und werden die Stadt verlassen«, erwiderte der Kaufmann hartnäckig.

»Man wird den Paß nicht respektieren«, rief Anton wieder und hielt dem ungeduldigen Wirt die Pistole an die Stirn.

»Im schlimmsten Falle gibt es mehrere Herbergen in diesem Teile der Stadt, jede andere wird eine bessere Zuflucht sein.«

»Aber die Fuhrleute sind nicht vollzählig und haben zum Teil bösen Willen.«

»Den bösen Willen einzelner bezwinge ich«, entgegnete der Kaufmann finster. »Die Gespanne sind vollzählig, es fehlen nur die Knechte. Wer Pferde besaß, blieb bei seiner Pflicht. – Das Tor ist geöffnet, hinaus mit den Wagen!«

Das hintere Tor führte auf einen offenen Platz, der mit Schutt und Bausteinen bedeckt und von einzelnen ärmlichen Häusern umgeben war. Der Kaufmann eilte an das Tor und trieb zur Abfahrt. Ein stämmiger Bursche kam von seinen Pferden zur Unterstützung Antons herbei. Es waren angstvolle Momente. In der Nähe des Hauses rangen Anton und sein Gehilfe mit dem liegenden Mann, und an der Tür heulten die häßliche Frau des Liegenden und die beiden Dienstmädchen. Als der erste Wagen durch das Hoftor hinausfuhr, wurde das Geschrei der Weiber lauter, die Wirtin rief Mord und Hilfe, und die Mädchen ächzten um so herzhafter, je eifriger der junge Fuhrmann ihnen versicherte, dem Herrn Wirt solle kein Leid geschehen, wenn er nur ruhig liegenbleibe; und ihre Zeche würden sie auch bezahlen.

Da donnerten Kolbenschläge an das verschlossene Haustor, die Weiber stürzten hin und öffneten; und so groß war die hoffnungslose Spannung der letzten Augenblicke gewesen, daß Anton mit einer gewissen Befriedigung ein starkes Kommando Bewaffneter in den Hof dringen sah. Er erhob sich vom Boden und ließ den Wirt los. Der Kaufmann aber ging langsam, mit wankendem Schritt, als ein gebrochener Mann den Feinden entgegen, welche im entscheidenden Augenblick seinen Willen hinderten.

Der Anführer des Trupps, einer von den Wächtern, welche der junge Pole am Morgen in die Herberge gerufen hatte, sagte zum Kaufmann: »Sie sind Gefangener der Regierung, Sie und Ihre Waren dürfen die Stadt nicht verlassen.«

»Ich habe einen Passierschein«, antwortete der Kaufmann mit heiserer Stimme und griff nach der Brusttasche.

»Das neue Kommando verbietet Ihnen die Abreise«, wiederholte der Bewaffnete kurz.

»Ich muß mich unterwerfen«, sprach der Kaufmann, er setzte sich matt auf eine Deichsel und faßte mit beiden Händen nach dem Wagenkorbe.

Anton hielt den halb Bewußtlosen in seinen Armen und rief in der tiefsten Empörung: »Wir sind in dieser Herberge zweimal beraubt worden, wir waren in Gefahr, getötet zu werden, mein Begleiter ist verwundet, wenn Ihre Regierung uns und die Wagen zurückhalten will, so schützen Sie wenigstens unser Leben und diese Güter, welche uns gehören. In dieser Herberge können die Wagen nicht bleiben, und wenn Sie uns von den Wagen trennen und fortführen, so wird deren Plünderung und Zerstörung noch schwerer zu verhüten sein.«

Die Bewaffneten traten zusammen und hielten Rat; der Anführer rief endlich nach Anton. Nach langem Verhandeln wurde bestimmt, die Wagen in eine nahe gelegene Herberge von ähnlicher Beschaffenheit, aber etwas besserem Charakter zu geleiten. Anton erhielt die Erlaubnis, mit dem Kaufmann unter Bewachung in demselben Gasthofe zu bleiben, bis Weiteres über sie beschlossen würde. Der Kaufmann hatte unterdes, an die Leinwand des Wagens gelehnt, teilnahmslos dagesessen. Anton teilte ihm schnell das Ergebnis der Unterhandlungen mit.

»Wir müssen es ertragen«, sagte der Prinzipal langsam und versuchte mit Mühe, sich zu erheben. »Fordern Sie unsere Rechnung von dem Wirt.«

»Der Wirt wird seine Bezahlung durch uns erhalten«, sagte der Führer des Trupps und stieß den Besitzer des Hofes unsanft zur Seite. »Denken Sie jetzt an sich selbst«, fügte er teilnehmend hinzu und faßte den Arm des Verwundeten, um ihn zu stützen.

»Bezahlen Sie für uns und die Pferde«, wiederholte der Kaufmann, zu Anton gewandt, »wir dürfen hier nichts schuldig bleiben.«

Anton zog seine Brieftasche hervor, rief die Fuhrleute zusammen, übergab vor ihren Augen dem Wirt ein Kassenbillett und sagte ihm: »So zahle ich Euch, bis Eure Forderung festgestellt ist, vorläufig diese Summe. Ihr Männer seid Zeugen.« Die Fuhrleute nickten respektvoll und eilten zu ihren Wagen.

Der Zug setzte sich in Bewegung. Voran ein Teil der Bewaffneten, dann die Frachtwagen, welche langsam und unbehilflich über die Steine der Ausfahrt rasselten, einige ohne Fuhrmann, nur durch die eingeübten Pferde in der Reihe gehalten. Der Kaufmann stand am Tor, auf Anton gelehnt, und zählte leise wie im Traume, sooft ein Wagen durch das Tor fuhr; da der letzte hinausrollte, sagte er: »Abgemacht!« und ließ sich von Anton und dem Polen hinter den Wagen her führen.

In der nächsten Querstraße fuhr der Zug in den weiten Hofraum einer Herberge ein. Als nach langem Aufenthalt der letzte Wagen abgespannt war und die Wache das Tor von innen verriegelt hatte, sank der Kaufmann ohnmächtig zusammen und wurde in das Haus getragen.

In einem kleinen Zimmer wurde der Verwundete niedergelegt; die Polen stellten eine Wache vor das Zimmer der Reisenden, eine andere in den Hof; Anton blieb mit dem Ohnmächtigen allein. Angstvoll kniete er an dem Lager des Kaufmanns nieder, öffnete ihm die Kleider und benetzte das Gesicht mit kaltem Wasser. Nach einer Weile kehrte Leben in das Gesicht des Prinzipals zurück, er öffnete die Augen, blickte dankend auf Anton und wies auf das Fenster.

Anton sah hinaus und sagte freudig: »Es führt auf den Hof, ich kann die Wagen zählen und übersehen. Hier, glaube ich, sind wir in erträglicher Sicherheit; freilich sind wir Gefangene! Vor allem aber erlauben Sie mir, nach Ihrer Wunde zu sehen, Ihre Kleider sind mit vielem Blut befleckt!«

»Die Schwäche kommt mehr von der Anstrengung als vom Blutverlust«, antwortete der Kaufmann, sich aufrichtend.

Anton öffnete die Tür und bat um einen Wundarzt. Der Wächter war bereit, einen solchen zu holen, und ließ nach Verlauf einer langen ängstlichen Stunde ein schäbiges Subjekt herein, welches eilig ein Barbiermesser und ein schmutziges Taschentuch hervorholte, das Messer an seinem Ärmel strich und das Taschentuch in eine bedenkliche Nähe von Antons Kinn zu bringen wagte. Mit Mühe wurde ihm begreiflich gemacht, weshalb er gerufen sei. Anton schnitt den Rockärmel und das Hemd auf und untersuchte selbst die verwundete Stelle. Es war ein Schnitt in den Oberarm, er schien nicht gerade tief, doch war der Arm steif, und der Kaufmann fühlte heftige Schmerzen. Der Barbier versuchte einen Verband anzulegen und entfernte sich mit dem Versprechen, in den nächsten Tagen wiederzukommen. Der Kaufmann sank, erschöpft durch die Schmerzen des Verbandes, auf das Lager zurück, und Anton saß den Rest des Tages neben ihm, machte dem Arm Umschläge von kaltem Wasser und beobachtete den fieberhaften Schlummer des Kranken.

Bald versank er selbst in einen Zustand von Halbschlaf, eine dumpfe Anspannung, welche ihn gleichgültig gegen alles machte, was außerhalb des Zimmers vorging. So kam der Abend und die Nacht, Anton schlich zuweilen vom Lager des Verwundeten nach dem Fenster, um nach den Wagen zu sehen, oder nach der Tür, um einige halblaute Worte mit der Wache zu wechseln, welche eine gutmütige Teilnahme bewies. Unterdes wütete in der Stadt das Feuer, und vor den Toren donnerte das Geschütz angreifender Truppen. Anton sah gleichgültig auf die glühende Lohe, welche vom Winde getrieben wieder über die unglückliche Stadt flog, er hörte mit einer schwachen Verwunderung, daß der Donner des Geschützes immer stärker rollte und endlich in ein betäubendes Krachen überging, und wenn er Wehgeschrei oder Gebrüll auf der Straße hörte, klang es ihm so unbedeutend wie das Läuten eines Frühglöckchens, das er von seiner Stube im Hause des Prinzipals hören konnte und das niemand aus der Morgenruhe aufzustören vermochte als höchstens einige fromme Mütterchen. Müde griff er die ganze Nacht hindurch mit den Händen in das kalte Wasser und an den Arm des Liegenden und fuhr auf, sooft dieser stöhnte und sich bewegte. Als aber gegen Morgen der Kranke in einen ruhigen Schlummer sank, vergaß auch Anton seine Arbeit, der Kopf fiel ihm schwer auf die Hände, welche er über den Tisch ausgebreitet hatte; er sah und hörte nichts mehr, er war unter dem Angstgeschrei und Kanonendonner, welche die Eroberung einer hartnäckig verteidigten Stadt anzeigten, unter allen Greueln eines blutigen Kampfes fest eingeschlafen wie ein müder Knabe über seinen Schularbeiten.

 

Als er nach einigen Stunden erwachte, war der Morgen längst angebrochen, der Kaufmann lachte ihn von seinem Lager freundlich an und reichte ihm die gesunde Hand. Anton drückte sie erfreut und eilte wieder nach dem Fenster: »Alles in Ordnung!« Darauf öffnete er die Tür, die Wache war verschwunden. Und auf der Straße klang der Trommelwirbel und der regelmäßige Tritt einziehender Regimenter.

3

»Wir gaben Sie bereits verloren«, rief der eintretende Rittmeister dem Kaufmann zu. »Es ist hier arg gewirtschaftet worden, und meine Erkundigung nach Ihnen war ohne Erfolg; ein Glück war es, daß Ihr Brief mich in dem Gewirr auffand.«

»Wir haben unsern Willen durchgesetzt«, sagte der Kaufmann, »wie Sie sehen, nicht ohne Hindernisse –«, er zeigte lächelnd auf seinen verbundenen Arm.

»Vor allem lassen Sie mich wissen, welche Abenteuer Sie erlebt haben«, sagte der Rittmeister, sich zu dem Verwundeten setzend; »Sie haben mehr Spuren des Kampfes aufzuweisen als wir.« Der Kaufmann erzählte. Er verweilte mit Wärme bei Antons Heldentat, dem er seine Rettung zuschrieb, und schloß mit den Worten: »Meine Wunde verhindert mich nicht zu reisen, und meine Rückkehr ist dringend notwendig. Die Wagen will ich bis zur Grenze mit mir nehmen.«

»Morgen früh geht ein Zug unseres Trains nach der Grenze zurück, diesem können Sie Ihre Wagen anschließen. Übrigens ist die große Straße jetzt sicher. Von morgen wird auch der Postenlauf wieder beginnen.«

»Unterdes erbitte ich Ihre Vermittelung, ich will noch heut durch Stafette Briefe nach Hause senden.«

»Ich will sorgen«, versprach der Rittmeister, »daß Ihre Rückkehr morgen keine Verzögerung erleidet.«

Als der Offizier das Zimmer verlassen hatte, sagte der Kaufmann zu Anton: »Ihnen, lieber Wohlfart, muß ich jetzt eine Überraschung bereiten, die Ihnen, wie ich fürchte, wenig willkommen sein wird. Ich wünsche Sie an meiner Stelle hierzulassen.« Erstaunt trat Anton an das Lager des Prinzipals. »Auf unsern Agenten ist in dieser Zeit nicht zu bauen«, fuhr der Kaufmann fort; »ich habe in diesen Tagen mit Freuden erkannt, wie sehr ich mich auf Sie verlassen kann. Was Sie noch nebenbei getan haben zur Rettung meines Kopfes, das bleibt Ihnen unvergessen, solange ich lebe. – Und jetzt setzen Sie sich mit Ihrer Schreibtafel zu mir, wir überlegen noch einmal, was wir zu tun haben.«

Am nächsten Morgen hielt ein Postwagen vor der Herberge, der Kaufmann wurde von Anton hineingehoben und ließ an der Seite der Straße halten, bis die Frachtwagen einer nach dem andern zum Tore hinausgefahren waren. Dann drückte er noch einmal Antons Hand und sagte: »Ihr Aufenthalt wird Wochen, ja er kann Monate dauern. Ihre Arbeit wird sehr unangenehm und zuweilen ohne Erfolg sein. Und ich wiederhole Ihnen, seien Sie nicht zu ängstlich, ich vertraue auf Ihr Urteil wie auf mein eigenes. Fürchten Sie nicht, uns einen Verlust zu bereiten, wenn Sie unsichere Schuldner nicht zur Zahlung bringen können. Dieser Ort ist verwüstet und fortan für uns verloren. Leben Sie wohl, auf ein gutes Wiedersehen zu Hause.«

So blieb Anton allein in der fremden Stadt, in einer Stellung, in welcher großes Vertrauen ihm große Verantwortlichkeit auferlegte. Er rief den Wirt und schloß mit ihm auf der Stelle einen Vertrag über seinen ferneren Aufenthalt. Die Stadt war so angefüllt mit Militär, daß er es vorzog, in der kleinen Wohnung, welche er bereits in Besitz hatte, zu bleiben und die Unbequemlichkeiten des dürftigen Quartiers zu ertragen. Er durfte nicht erwarten, es irgendwo wohnlicher zu finden.

Wohl war es eine verwüstete Stadt, welche Antons Fuß durchschritt. Vor wenig Tagen füllte das Gewühl leidenschaftlicher Menschen die Straßen, jede Art von Unternehmungslust war auf den wilden Gesichtern zu lesen. Wo war jetzt der Trotz, die Kampfgier, die Begeisterung der vielen Tausende? – Die Haufen der Landleute, Schwärme des Pöbels, Krieger des Patriotenheeres waren zerstoben wie Geister, welche der Sturmschlag fremder Trommeln verscheucht hat. Was von Menschen auf den Straßen daherschritt, das waren eingedrungene Soldaten. Aber ihre bunten Uniformen gaben der Stadt kein besseres Aussehen. Zwar das Feuer war gelöscht, dessen Qualm in den letzten Tagen den Himmel verdunkelt hatte. Aber in dem bleichen Herbstlicht standen die Häuser da wie ausgebrannt. Die Türen blieben verschlossen, viele Scheiben zerschlagen, auf den Steinen lag der Unrat, faules Stroh, Trümmer von Hausgerät, hier mit zerbrochenen Rädern ein Karren, dort eine Montur, Waffen, die Leiche eines Pferdes. An einer Straßenecke standen Schränke und Tonnen, die man aus Häusern zusammengeworfen hatte als einen letzten Wall gegen die eindringenden Truppen, und dahinter lagen, mit einem Strohbund nachlässig zugedeckt, die Leiber getöteter Menschen. Anton wandte sich mit Grausen ab, als er die blutlosen Köpfe unter den Halmen erblickte. Auf den Plätzen biwakierten neu eingezogene Truppen, ihre Pferde standen in Haufen zusammengekoppelt, daneben aufgefahrene Geschütze; in allen Straßen dröhnte der Tritt starker Patrouillen, nur selten eilte eine Gestalt in Zivilkleidern über das Pflaster, den Hut tief in die Augen gedrückt, mit furchtsamem Blick von der Seite auf die fremden Krieger sehend, zuweilen wurde ein bleicher Mann von Bewaffneten vorübergeführt, und wenn er zu langsam ging, mit dem Kolben vorwärtsgestoßen. Die Stadt hatte häßlich ausgesehen während der Aufregung, sie erschien noch häßlicher in der Totenruhe, welche jetzt auf ihr lag.

Als Anton mit solchen Eindrücken von seinem ersten Gange zurückkehrte, fand er vor seiner Zimmertür einen Husaren, der wie auf Posten mit dröhnendem Tritt auf und ab ging.

»Herr Wohlfart!« schrie der Husar und stürzte dem Ankommenden entgegen.

»Mein lieber Karl«, rief Anton, »das ist die erste Freude, die ich in dieser traurigen Stadt habe. Aber wie kommen Sie hierher?«

»Sie wissen ja, daß ich jetzt meine Zeit abdiene. Wir stießen zu unseren Kameraden an der Grenze, wenige Stunden nachdem Sie abgereist waren. Vom Wirt, der mich noch aus dem Geschäft kannte, erfuhr ich Ihre Abreise. Sie können denken, in welcher Angst ich war. Erst heut erhielt ich Urlaub, und es war ein Glück, daß ich einen der Fuhrleute in der Haustür fragte, sonst hätte ich Sie noch nicht gefunden. Und jetzt vor allem, Herr Wohlfart, was macht unser Prinzipal, wie steht’s mit unsern Waren?«

»Kommen Sie nur ins Zimmer«, erwiderte Anton. »Sie sollen alles hören.«

»Halt«, rief Karl, »erst muß noch etwas in Ordnung gebracht werden. Sie sprechen Sie zu mir, das leide ich nicht. Tun Sie mir den Gefallen und reden Sie zu mir, als wäre ich noch der Karl im Geschäft.«

»Aber Sie sind’s ja nicht mehr«, sagte Anton lachend.

»Dies hier ist nur Maskerade«, sagte Karl, auf seine Uniform weisend, »in meinem Herzen bin ich immer noch freiwilliger Auflader bei T. O. Schröter. Wenn mir bei Ihnen wohl sein soll, so führen Sie das alte Du wieder ein.«

»Wie du willst, Karl«, erwiderte Anton, »komm herein und laß dir erzählen.«

Karl geriet in den heftigsten Zorn gegen den schlechten Wirt. »Dieser diebische Hundsfott! An unserer Firma, an unserm obersten Chef hat er sich vergriffen. Aber morgen führe ich einen ganzen Beritt unserer Jungen in seine Herberge. Ich lasse ihn in seinen eigenen Hof treiben, er wird als hölzernes Pferd aufgestellt, und wir springen eine Stunde lang über ihn weg, einer nach dem andern, und bei jedem Sprunge geben wir ihm einen Puff auf seinen boshaften Kopf.«

»Herr Schröter hat ihm die Strafe erlassen«, sagte Anton begütigend, »sei du nicht grausamer. – Höre, du bist ein hübscher Junge geworden.«

»Es geht an«, erwiderte Karl geschmeichelt. »Mit der Landwirtschaft habe ich mich ausgesöhnt. Mein Onkel ist ein guter Mann. Wenn Sie sich meinen Alten halb so groß denken, als er ist, und dünn statt dick und mit einer kleinen Stumpfnase statt einer großen Nase und mit einem länglichen Gesicht statt einem runden und mit einem eselsfarbenen Rock und ohne Lederschürze, dafür mit zwei hohen Kniestiefeln, so haben Sie ganz meinen Onkel. Ein prachtvolles kleines Kerlchen. Er meint’s gut mit mir. Am Anfange freilich war mir’s zu still auf dem Lande, dagegen viel wasserpolackisches Volk in der Nähe; aber es ging mit der Zeit. Man sieht bei der Wirtschaft immer, was man schafft, das ist die größte Freude. Daß ich Soldat werden mußte, war meinem grauröckigen Onkel ein Strich durch die Rechnung; mir war’s recht, daß ich einmal im Ernste auf ein Pferd kam und etwas von der Katzbalgerei mitansehen konnte. Elende Wirtschaften hier auf dem Lande, Herr Wohlfart. Und dieser Platz, es ist eine greuliche Verwüstung!« So schwatzte Karl vergnügt fort. Endlich ergriff er seine Mütze: »Wenn Sie jetzt hierbleiben, so erlauben Sie mir, Sie manchmal auf eine Viertelstunde zu besuchen.«

»Du sollst tun wie zu Hause«, sagte Anton. »Wenn du mich einmal nicht triffst, der Wirt hat den Schlüssel, hier stehen die Zigarren.«

So hatte Anton einen alten Freund wiedergefunden. Aber Karl blieb nicht seine einzige Bekanntschaft in Dolman und Schleppsäbel. Der Rittmeister freute sich über den Landsmann, der sich so wacker gegen die Insurgenten gehalten hatte. Er stellte ihn dem Obersten vor, welcher die Truppenabteilung befehligte. Anton mußte diesem seine Abenteuer erzählen und wurde in einem großen Kreise von Epauletten höchlich gelobt, darauf lud ihn der Rittmeister an einem der nächsten Tage zu Tische und stellte ihn den Offizieren seiner Schwadron vor. Antons bescheidene Ruhe machte einen günstigen Eindruck auf die bunten Herren. In der Garnison wären sie wahrscheinlich durch gewisse Ansichten über Menschengröße verhindert worden, mit einem jungen Kaufmann ungezwungen zu verkehren, hier im Felde waren sie selbst tüchtigere Männer als in der geschäftigen Langeweile des Friedens, ihre Vorurteile wurden geringer und ihre Anerkennung eines mutigen Mannes unbefangener. So betrachteten sie den Herrn aus dem Kontor bald als einen verdammt guten Jungen, sie gewöhnten sich, ihn im Scherz bei seinem Vornamen zu nennen, und wenn sie im Kaffeehaus ihre Tasse tranken und eine Partie Domino spielten, so riefen sie Anton unfehlbar in ihren Kreis. Eine dunkle Sage von großem Vermögen und von ungewöhnlichen Verbindungen des Zivilisten tauchte aus dem Dunkel der Jahre jetzt wieder auf, aber, um der Schwadron nicht unrecht zu tun, dies war nicht mehr der Hauptgrund für die rücksichtsvolle Behandlung, die sie ihrem Landsmann gönnten. Anton fühlte sich durch die leichte Verbindung mit den ritterlichen Knaben mehr gehoben, als er sich selbst oder Herrn Pix gestanden hätte. Er genoß jetzt den freien Verkehr mit anspruchsvollen Menschen und erschien sich manchem ebenbürtig, den er bis dahin von seinem Kontor aus mit stillem Respekt betrachtet hatte. Alte Erinnerungen wurden in ihm mächtig, er fühlte sich aufs neue hereingezogen in den Zauber eines Kreises, welcher ihm für frei, glänzend und schön galt. Auch der Leutnant von Rothsattel gehörte bald zu den guten Bekannten Antons. Anton behandelte ihn mit der zartesten Aufmerksamkeit, und der Leutnant, im Grunde ein verzogener, leichtsinniger, gutmütiger Mensch, ließ sich die herzliche Neigung Antons gern gefallen und lohnte ihm durch besondere Vertraulichkeit.

Die Geschäfte Antons sorgten dafür, daß er unter den neuen Bekannten seine Selbständigkeit nicht verlor. Wohl war die Stadt ein verwüsteter Ort, der wilde Rausch war verflogen, jetzt lag die Abspannung auf aller friedlichen Tätigkeit. Die täglichen Lebensbedürfnisse waren teuer, und lohnende Arbeit war nur für wenige vorhanden. Mancher, der sonst Stiefel getragen hatte, ging barfuß, wer in anderer Zeit einen neuen Rock gekauft hätte, ließ jetzt einen Lappen auf den alten setzen, der Schuster und der Schneider verzehrten zum Frühstück Wassersuppe statt Kaffee und Zucker, der Krämer bezahlte seine Schuld beim Kaufmann nicht, und der Kaufmann vermochte nicht seine Verpflichtung gegen andere Handlungshäuser zu erfüllen. Wer in solcher Zeit sein Geld zurückfordert von solchen, welche schwere Verluste mutlos beklagen, der hat eine harte Arbeit. Anton empfand das. Überall hörte er Klagen, die nur zu sehr begründet waren, an vielen Orten versuchte man, seinem Drängen durch allerlei Kunstgriffe zu entgehen. Täglich erlebte er peinliche Szenen, oft mußten beim Advokaten endlose Verhandlungen in polnischer Sprache aufgenommen werden, bei denen er sich wie verkauft vorkam, obgleich der Agent den Dolmetscher machte. Es war ein bunt zusammengewürfelter Handelsstand, in welchem Anton zu verkehren hatte, Männer aus allen Teilen Europas. Der Verkehr hatte vieles, was in deutschen Augen als wild und unregelmäßig galt. Und doch übte die Gewohnheit, Verpflichtungen zu erfüllen, einen so großen Einfluß auch auf mutlose Naturen, daß Antons Beharrlichkeit mehr als einmal den Sieg errang.

 

Die größte Forderung hatte sein Haus an einen Herrn Wendel, einen kleinen trockenen Mann, der stille Geschäfte nach allen Seiten gemacht hatte. Man sagte, er sei reich geworden durch Schmuggel und jetzt in großer Gefahr, zu fallen. Er hatte den Prinzipal selbst mit Trotz empfangen und gebärdete sich gegen Anton lange wie ein Verzweifelter. Anton hatte wieder einmal wohl eine Stunde lang in den mürrischen Alten hineingesprochen, und wie sehr der Mann sich drehte und wand, er war fest geblieben. Da brach Wendel endlich in die Worte aus: »Es ist genug, ich bin ein ruinierter Mann, aber Sie verdienen, zu Ihrem Gelde zu kommen. Ihr Haus ist gegen mich immer großartig gewesen. Sie sollen Deckung erhalten. Schicken Sie mir noch heut Ihren Agenten, holen Sie mich morgen früh ab.«

Als am nächsten Morgen Anton in Begleitung des Agenten bei dem Schuldner eintrat, ergriff Wendel nach finsterem Gruß einen großen rostigen Schlüssel, zog langsam einen verschossenen Mantel an, auf welchem zahlreiche Kragen übereinander lagen wie die Schindelreihen auf dem Dach, und brachte die Gläubiger in einen entlegenen Stadtteil vor ein verfallenes Kloster. Sie schritten durch einen langen Kreuzgang. Anton sah verwundert zu dem kunstvollen Bau der Wölbung auf; die Zeit hatte viele Gurte gesprengt und einige Gewölbekappen ausgebröckelt, die Trümmer lagen auf den großen Steinen des Fußbodens. An der Wand waren die Leichensteine der alten Bewohner eingemauert, verwitterte Inschriften meldeten dem unaufmerksamen Geschlecht der Lebenden, daß einst fromme Slawenmönche in diesen Räumen den Frieden gesucht hatten. In diesem Kreuzgange waren sie täglich, das Brevier in der Hand, auf und ab gegangen, hier hatten sie gebetet und geträumt, bis sie ihre arme Seele der Fürbitte ihres Heiligen übergeben mußten. Im Innern des Gebäudes öffnete Wendel eine verborgene Tür und führte seine Begleiter auf gewundener Steintreppe hinab in ein großes Gewölbe. Einst hatte der Wein des reichen Klosters darin gelegen, und der Bruder Kellermeister war, ach wie oft, dieselben Stufen hinabgegangen; er war zwischen den Reihen der Fässer umhergewandelt, hatte hier und da eine Probe ausgehoben, und wenn das Glöckchen über ihm läutete, hatte er schnell sein Haupt gesenkt und ein kleines Gebet gesprochen und war darauf wieder an das Kosten gegangen oder in behaglicher Stimmung auf und ab spaziert. Die Betglocken des Klosters waren längst eingeschmolzen, die leeren Zellen der Brüder hatten Risse, und Getreide wurde jetzt aufbewahrt, wo ehemals der Prior an der Spitze der Brüder beim ehrbaren Mahle saß. Alles war verschwunden, nur der Keller hatte sich erhalten, und wie vor hundert Jahren lagen noch jetzt die Kufen des feurigen Ungarweins auf ihren schmalen Kentnern. Noch immer schossen die Strahlen der schönen Wölbung zu großen Sternen zusammen, noch immer war der Raum in reinem Weiß getüncht, der Boden mit hellem Sand tief bestreut, noch immer war es Brauch, daß der Kellermeister nur mit einem Wachslicht sich dem edlen Wein nahen durfte. Es waren nicht dieselben Fässer, aus denen die alten Mönche ihren Trunk zogen, aber es war dasselbe Gewächs von den Rebenhügeln der Hegyalla, der rosige Wein von Menes, der Stolz Ödenburgs und der milde Trank der sorgfältigen Lese von Rust.

»Hundertundfünfzig Kufen, die Kufe zu achtzehn, vierundzwanzig, dreißig Dukaten«, sagte der Agent, und die Inventur der Fässer begann. Mit gesenktem Haupt ging Wendel von einem Faß zum andern, die Kerze in der Hand. Vor jedem blieb er stehen und wischte mit einem reinen Leinwandlappen sorgfältig die kleinste Spur des Schimmels ab, der sich an einzelnen Fässern zeigte. »Es war mein liebster Weg hierher«, sagte er zu Anton. »Seit zwanzig Jahren bin ich zu jeder Weinlese hinausgefahren und habe eingekauft. Es waren fröhliche Tage, Herr Wohlfart, das ist jetzt vorbei für immer. Oft bin ich hier auf und ab gegangen und habe mir das Sonnenlicht angesehen, das von oben auf die Fässer fiel, und habe an die gedacht, die vor mir hier gegangen sind. Heut bin ich zum letztenmal in diesem Keller. Was wird jetzt aus dem Wein werden? Sie werden ihn fortschaffen, man wird ihn in der Fremde ohne Verstand austrinken; in den Keller wird ein Branntweinbrenner seinen Spiritus tun oder ein neuer Brauer sein bayrisches Bier. Die alte Zeit geht zu Ende auch für mich! – Das hier ist das edelste Gewächs«, sagte er, zu einem Faß tretend. »Ich hätte es ausnehmen können bei unserer Abmachung. Was soll mir das Faß allein? Austrinken? Ich trinke keinen Wein mehr. Es soll fortgehen mit den übrigen. Nur Abschied will ich noch von ihm nehmen.« Er füllte sein Glas. »Haben Sie je so etwas getrunken?« fragte er und hielt Anton betrübt das Glas hin. Anton verneinte gern.

Langsam stiegen sie wieder die Stufen hinauf. An der Schwelle hielt der Kaufmann noch einmal an und sah in den Keller hinab, eine lange Weile. Dann drehte er sich entschlossen um, schlug die Kellertür zu, zog den Schlüssel ab und legte ihn feierlich in Antons Hand. »Hier ist der Schlüssel zu Ihrem Eigentum, unsere Rechnung ist abgemacht. Leben Sie wohl, meine Herren.« Langsam und mit gesenktem Haupt ging er den verfallenen Kreuzgang hinab; in dem Dämmerlicht des trüben Tages glich er einem der alten Kellermeister des Klosters, der noch als Geist durch die Trümmer der vergangenen Herrlichkeit gleitet. Der Agent rief ihm nach: »Aber das Frühstück, Herr Wendel!«

Der Alte schüttelte den Kopf und winkte abwehrend mit der Hand.

Ja, das Frühstück! Jedes Abkommen an diesem Orte wurde mit Wein überschwemmt. Diese langen Sitzungen im Weinhause, welche auch in der traurigen Zeit nicht ausgesetzt wurden, waren für Anton kein geringes Leiden. Er sah, daß man in dem Land viel weniger arbeite und viel mehr schwatze und trinke als bei ihm daheim. Sooft es ihm gelungen war, etwas ins reine zu bringen, konnte auch er sich dem Frühstück nicht entziehen. Dann setzten sich Käufer und Verkäufer, die Helfer, und wer sonst zu den Bekannten gehörte, in einer Weinhandlung am runden Tisch zusammen, man fing mit Porter an, aß Kaviar nach Pfunden und zechte dann den roten Wein von Bordeaux. Gastfrei wurde nach allen Seiten eingeschenkt; wer ein bekanntes Gesicht hatte, mußte am Gelage teilnehmen, immer zahlreicher wurde die Gesellschaft, oft kam der Abend heran. Unterdes ließen die Hausfrauen der Männer, an solche Ereignisse gewöhnt, das Mittagessen wohl dreimal wieder abtragen und hoben es zuletzt gleichgültig bis zum andern Tage auf. Anton dachte in solcher Zeit an Fink, der ihm, dem Widerstrebenden, wenigstens eine mäßige Fertigkeit beigebracht hatte, dergleichen schwere Geschäfte mit Anstand durchzumachen.

An einem Nachmittag saß Anton beim Domino. Da rief ein älterer Leutnant von seiner Zeitung den spielenden Offizieren zu: »Gestern abend sind einem unserer Husaren zwei Finger der rechten Hand zerschmettert worden. Der Esel, welcher mit ihm einquartiert war, hat an seinem Karabiner gespielt, bevor er die Ladung herausgezogen hatte. Der Doktor hält eine Amputation für unvermeidlich. – Schade um den tüchtigen Mann, er war einer der brauchbarsten Leute in der Schwadron. Solch Malheur trifft immer die Besten.«