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Soll und Haben

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»Und fordern Sie von einer Frau denselben Sinn?« fragte Sabine.

»In der Hauptsache, ja«, entgegnete Fink. »Keine deutsche Hausfrau, die nicht in ihre Servietten verliebt ist. Je mehr eine von den Lappen hat, desto glücklicher ist sie. Ich glaube, sie taxieren einander in der Stille wie wir Leute an der Börse: fünfhundert, achthundert Servietten schwer. Die Amerikanerin ist ein schlechteres Weib als die Deutsche, aber sie wird über eine solche Liebhaberei lachen. Sie hat, soviel ihr für den täglichen Gebrauch nötig sind, und kauft neue, wenn die alten zugrunde gehen. Wozu sein Herz an solchen Tand hängen, der dutzendweise für etwa vier bis sechs Taler in jeder Straße zu haben ist?«

»Oh, es ist traurig, das Leben in ein solches Rechenexempel aufzulösen!« erwiderte Sabine. »Was man erwirbt und was man hat, verliert seinen besten Schmuck. Töten Sie die Phantasie und unsere gute Laune, die auch den leblosen Dingen ihre freundlichen Farben verleiht, was bleibt dann dem Leben des Menschen? Nichts bleibt als der betäubende Genuß oder ein egoistisches Prinzip, dem er alles opfert. Treue, Hingebung, die Freude an dem, was man schafft, das alles geht dann verloren. Wer so farblos denkt, der kann vielleicht groß handeln, aber sein Leben wird weder schön noch freudenreich, noch ein Segen für andere.« Unwillkürlich faltete sie die Hände und warf einen Blick voll Trauer auf Fink, dessen Gesicht einen trotzigen und harten Ausdruck erhielt.

Die Kollegen hatten bis jetzt der Unterhaltung in düsterm Schweigen zugehört und nur durch Mimik ihren Abscheu gegen Finks Behauptungen ausgedrückt. Der Geist des gemordeten Sperlings erhob sich vor aller Augen fortwährend über die Tischplatte neben Finks Stuhl, und sie starrten auf den Macbeth des Kontors wie auf einen verlorenen Mann. Anton ergriff begütigend das Wort:

»Vor allem muß ich bemerken, daß Fink selbst ein glänzendes Beispiel gegen seine eigene Theorie ist.«

»Wieso, Herr?« fragte Fink, von der Seite auf Anton sehend.

»Das wird sogleich offenbar werden, ich will nur erst uns alle zusammen loben. Wir alle, die wir hier sitzen und stehen, sind Arbeiter aus einem Geschäft, das nicht uns gehört. Und jeder unter uns verrichtet seine Arbeit in der deutschen Weise, die du soeben verurteilt hast. Keinem von uns fällt ein zu denken, soundso viel Taler erhalte ich von der Firma, folglich ist mir die Firma soundso viel wert. Was etwa gewonnen wird durch die Arbeit, bei der wir geholfen, das freut auch uns und erfüllt uns mit Stolz. Und wenn die Handlung einen Verlust erlitten hat, so ist es allen Herren ärgerlich, vielleicht mehr als dem Prinzipal. Wenn Liebold seine Ziffern ins große Buch schreibt, so sieht er sie mit Genuß an und freut sich über den schönen kalligraphischen Zug, und wenn er Posten einträgt, welche der Handlung besonders vorteilhaft waren, so lacht er in der Stille vor Behagen. Sehen Sie ihn an, wie er’s jetzt tut.«

Liebold sah verlegen aus und rückte an seinem Hemdkragen.

»Da ist ferner Kollege Baumann, welcher in der Stille Neigung zu einem andern Beruf hat. Er brachte mir neulich einen Bericht über die Greuel des Heidentums an der afrikanischen Küste und sagte in tiefster Seele erschüttert: ›Es wird Zeit, Wohlfart, ich muß hin.‹ ›Wer soll die Kalkulation besorgen?‹ fragte ich. ›Und wie soll es mit dem Krappgeschäft werden, das Sie und Balbus so festhalten, daß Sie keinen andern darüber lassen?‹ ›Ja‹, rief Baumann, ›an den Krapp hatte ich nicht gedacht. Ich muß es noch aufschieben.‹«

Die Herren sahen lächelnd auf Baumann, der leise vor sich hin sagte: »Es ist auch unrecht.«

»Und von dem Tyrann Pix will ich gar nicht sprechen, da es selbst in vielen Stunden zweifelhaft ist, ob die Handlung ihm gehört oder Herrn Schröter.«

Alle lachten. Herr Pix steckte wie Napoleon die Hand in seine Brusttasche. – »Du bist ein perfider Advokat«, sagte Fink, »dich leiten persönliche Interessen.«

»Du hast dasselbe getan«, erwiderte Anton. »Und jetzt will ich von dir reden. Vor etwa einem halben Jahr ist dieser Amerikaner zu Herrn Schröter gegangen und hat ihm gesagt: ›Ich wünsche nicht mehr Volontär zu sein, ich bitte um eine feste Stellung im Geschäft.‹ ›Warum?‹ fragte Herr Schröter. Natürlich hatte Fink nur die Absicht, soundso viel Taler festes Gehalt von der Handlung zu beziehen.«

Wieder lächelten alle und sahen auf Fink; aber die Blicke waren nicht mehr feindlich, es war etwas von Achtung und fröhlicher Billigung darin, denn es war allen bekannt, daß Fink gesagt hatte: ›Ich wünsche einen regelmäßigen Anteil an der Arbeit und die Verantwortung, welche bei fester Tätigkeit ist; die Arbeit in meiner Branche macht mir Freude.‹

»Und ferner«, fuhr Anton fort, »wer einmal das Behagen gesehen hat, mit welchem Fink den Schmeie Tinkeles behandelt, der weiß, wieviel von dem schwächlichen deutschen Gemüt auch bei ihm zutage kommt. Es ist so viel drollige Laune in seinem Wesen, daß das Kontor durch solche Stunden entzückt wird, und, was die Hauptsache ist, Tinkeles selbst ist geradezu in ihn verliebt.«

»Weil er malträtiert wird, Herr«, versetzte Fink.

»Nein, sondern weil er hinter deinen kräftigen Worten dasselbe behagliche Wohlwollen bemerkt, mit dem ein anderer sein Hündchen oder seine Vögel liebkost. – Und wenn irgendein Geschäft des Prinzipals glänzenden Erfolg gehabt hat, so ist niemand von uns fröhlicher darüber als Fink selbst. Neulich, als die Krisis im Zinkgeschäft eintrat und Herr Schröter gegen die stille Ansicht des ganzen Kontors, auch gegen Finks Ansicht, noch zu rechter Zeit in Hamburg verkauft und die Handlung dadurch vor einigen tausend Talern Verlust bewahrt hat, da triumphierte derselbe Fink lauter als einer von uns und zwang Jordan und mich, denselben Abend mit ins Weinhaus zu gehen.«

»Weil ich nicht allein trinken wollte, du Narr«, sagte Fink.

»Natürlich«, rief Anton, »deshalb stießest du auch bei dem ersten Glas auf das Wohl der Handlung an und nanntest sie eine glorreiche Firma.«

Fink sah vor sich nieder. Sabine blickte mit leuchtenden Augen auf Anton. Wieder lächelten die Herren freundlich und rückten näher heran, die kleine Spannung war behoben.

»Und«, fuhr Anton siegreich fort, »auch in andern Fällen hat er ganz dieselbe armselige Gemütlichkeit, die er jetzt so angreift. Er liebt, wie wir alle wissen, sein Pferd persönlich, es ist ihm durchaus etwas anderes als die Summe von fünfhundert Dollar, repräsentiert durch soundso viel Zentner Fleisch, mit einer Haut überzogen. Er ist besorgt um das Tier wie um einen Freund.«

»Weil es mir Spaß macht.«

»Versteht sich«, sprach Anton, »die Servietten machen unsern Hausfrauen auch Spaß, das ist’s ja eben. Und seine Kondorflügel, die Pistolen, Reitpeitschen, die rote Rumflasche, das sind alles Dinge, die ihm so viel Spaß machen wie einem deutschen Auswanderer sein Vogelbauer. Ja, er hat mehr grillige Kapricen und Liebhabereien als wir. Um es kurz zu sagen, er ist in Wahrheit ebensosehr ein armer gemütlicher Deutscher als irgendeiner.«

Sabine schüttelte leise den Kopf, aber sie blickte jetzt freundlich auf den Amerikaner. Auch Finks Gesicht hatte sich verwandelt. Er sah ernst vor sich hin, und es lag etwas auf seinen stolzen Zügen, was man bei einem andern Rührung genannt hätte. »Na«, begann er endlich, »das Fräulein und ich, beide haben wir zu sehr auf einer Seite gestanden.« Er wies auf den toten Sperling. »Vor diesem ernsten Fakt strecke ich die Waffen und bekenne, daß ich den Wunsch habe, der kleine Herr wäre noch am Leben und erreichte unter den Kirschen und Kuchen der Firma das höchste Greisenalter. Und so sind Sie mir nicht mehr böse, Fräulein.«

Sabine nickte zu ihm hinüber und sagte herzlich: »Nein.«

»Du aber, Anton, reiche mir deine Hand. Du hast mit Glanz plädiert und von der deutschen Jury ein Nichtschuldig erschwindelt. Nimm die Feder und streiche in unserm Kalender vierzehn Tage aus. Du verstehst mich.« Anton drückte ihm die Hand und legte den Arm um seine Schulter.

Wieder war die Gesellschaft in der besten Stimmung. Herr Schröter kam heran, Zigarren wurden angezündet, jeder bestrebte sich, so unterhaltend als möglich zu sein. Herr Liebold stand auf und erbat sich von dem Fräulein und dem Prinzipal die Erlaubnis, wenn es sie nicht störe und wenn sie an dem schönen Abend nichts Besseres vorzuschlagen hätten, in welchem Falle er ergebenst bitte, seine Worte ungesprochen zu betrachten, so wollten er und einige Kollegen sich die Freiheit nehmen, vierstimmige Lieder zu singen. Da er seit mehreren Jahren an diesem Tage regelmäßig eine solche Mitteilung machte und alles darauf vorbereitet war, so rief ihm Sabine zu: »Das versteht sich, Herr Liebold, wenn das Quartett fehlte, wäre die Freude nur halb.« Die Sänger holten Notenbücher herzu und rückten zusammen, Herr Specht als erster Tenor, Herr Liebold als zweiter, Herr Birnbaum und Herr Balbus als Bässe. Diese vier bildeten den musikalischen Teil des Kontors und hielten trotz kleiner Zwistigkeiten, welche durch ihr musikalisches Naturell hervorgerufen wurden, gegen die übrigen fest zusammen; Herr Specht krähte etwas zu laut, und Herr Liebold sang etwas zu leise, aber ihr Publikum war dankbar, und der Abend war wunderschön. Im farbigen Licht glänzten die großen Blätter des Nußbaums vor dem Gartenhause, die Grillen schwirrten, und die wilden Sänger der Bäume flöteten einzelne Noten herunter, die Natur selbst flüsterte und stimmte an, bis die volle Kraft der Menschenstimmen einfiel und die feinen Laute des Gartens übertönte. Dann schwiegen die Vögel, die Heimchen und Mücken, aber sooft die Sänger anhielten, klang das leise Summen der Natur wie zum Wechselgesange wieder durch. Alle hörten erfreut zu. »Wir danken, wir danken!« rief Sabine, als sie aufhörten, und klatschte in die Hände.

»Es ist eine närrische Sache«, begann Fink, »daß eine gewisse Folge von Tönen das Herz erschüttert und Tränen hervorruft auch bei Menschen, welche sonst für weiche Stimmungen abgestorben sind. Jedes Volk hat solche einfachen Weisen, bei denen sich Landsleute an dem Eindruck erkennen, den die Melodie auf sie macht. Wenn die Auswanderer, von denen wir vorhin sprachen, alles verlieren, die Liebe zu ihrem Vaterlande, selbst den geläufigsten Ausdruck ihrer Muttersprache, die Melodien der Heimat leben unter ihnen länger als alles andere, und mancher Narr, der in der Fremde seinen Stolz darein setzt, ein naturalisierter Fremder zu sein, fühlt sich plötzlich wieder deutsch, wenn er ein paar Takte singen hört, die ihm in seiner Jugend bekannt waren.«

 

Der Kaufmann antwortete: »Sie haben recht. Wer aus seiner Heimat scheidet, ist sich selten bewußt, was er alles aufgibt; er merkt es vielleicht erst dann, wenn die Erinnerung daran eine Freude seines späteren Lebens wird. Diese Erinnerung ist wohl auch dem verwilderten Mann ein Heiligtum, das er oft selbst entehrt und verspottet, das er aber in seinen besten Augenblicken immer wieder aufsucht.«

»Mit einiger Beschämung bekenne ich, daß ich selbst von dieser Freude nur wenig empfinde«, sagte Fink. »Ich weiß nicht recht, wo ich zu Hause bin. Wenn ich die Jahre meines Lebens zusammenzähle, so habe ich freilich den größten Teil in Deutschland verlebt, aber die mächtigsten Eindrücke hat mir die Fremde gegeben. Immer hat mich das Schicksal wieder ausgerissen, bevor ich irgendwo festgewurzelt war. Und jetzt in Deutschland fühlte ich mich zuweilen fremd. Die Dialekte der Landschaften zum Beispiel sind mir fast ganz unverständlich. Ich habe zu Weihnachten immer mehr Geschenke erhalten, als mir gut war, aber der Zauber der deutschen Weihnachtsbäume hat mich nie berührt; von den Volksliedern, die Sie so rühmen, klingen nur wenige in mein Ohr; noch heut bin ich unsicher, wann man Karpfen essen muß und Hörner und Mohnkuchen, und ich gestehe einen entschiedenen Mangel an Empfänglichkeit für die Reize des Bleigießens und Pantoffelwerfens. – Und außer diesen Kleinigkeiten gibt es noch anderes, worin ich mich unter der deutschen Art fremd und arm fühle«, fuhr er ernster fort. »Ich weiß, daß ich zuweilen die Schonung meiner Freunde mehr als billig in Anspruch nehme. Ihrem Hause werde ich zu danken haben«, schloß er, sich gegen den Kaufmann verneigend, »wenn ich von einigen respektablen Seiten der deutschen Natur Kenntnis erhalte.«

Das war ein männliches Bekenntnis, er sprach die letzten Worte mit einem Gefühl, das selten bei ihm durchbrach. Sabine war glücklich, der Sperling war vergessen, sie rief mit überströmendem Gefühl: »Das war edel gesprochen, Herr von Fink.«

Der Diener lud zum Abendessen. Im Saal des Gartenhauses war die Tafel gedeckt. Der Kaufmann nahm in der Mitte Platz, Sabine lächelte, als Fink sich neben sie setzte. »Mir gegenüber, Herr Liebold«, rief der Prinzipal. »Heut muß ich Ihr treues Gesicht vor mir sehen. Heut sind’s fünfundzwanzig Jahre, daß wir miteinander in Verbindung stehen. – Herr Liebold trat wenige Wochen vor dem Tage bei uns ein, an dem ich durch meinen Vater als Associé aufgenommen wurde«, erklärte er den Jüngeren. »Und wenn ich allen Mitgliedern des Kontors Anerkennung schuldig bin, Ihnen bin ich die größte schuldig. Fünfundzwanzig Jahre im Geschäft, zehn Jahre beim Hauptbuch, stets ein treuer, zuverlässiger Gehilfe!« Er hielt ihm sein Glas über die Tafel entgegen: »Stoßen Sie an, mein alter Freund; solange unsere Stühle nebeneinander stehen, nur durch eine dünne Wand getrennt, soll es zwischen uns bleiben wie bisher, ein festes Vertrauen ohne viele Worte.«

Herr Liebold hatte die Anrede des Prinzipals stehend angehört und blieb stehen. Er wollte einen Trinkspruch darbringen, das sah jeder, aber er brachte kein lautes Wort aus seinem Munde, er hielt sein Glas in die Höhe und sah auf den Prinzipal, und seine Lippen bewegten sich ein wenig. Endlich setzte er sich schweigend wieder hin. Statt seiner erhob sich zu aller Erstaunen Fink und sprach in tiefem Ernst: »Trinken Sie mit mir auf das Wohl eines deutschen Geschäfts, wo die Arbeit eine Freude ist, wo die Ehre eine Heimat hat; hoch unser Kontor und unser Prinzipal!«

Ein donnerndes Hoch der Kollegen folgte, Sabine stieß mit allen an, der Kaufmann kam mit seinem Glase dem beredten Fink auf halbem Wege entgegen. – Der Rest des Abends war ungestörte Freude. Das Quartett sang noch einige lustige Trinklieder, und es war lange nach zehn Uhr, als die Gesellschaft in der Stadt ankam.

An der Treppe des Hinterhauses sagte Fink zu Anton: »Heut, mein Junge, darfst du nicht an meiner Stube vorbei. Es ist mir langweilig genug gewesen, dich so lange zu entbehren.« Und bis spät in die Nacht saßen die versöhnten Freunde beieinander, beide bemüht, einander zu zeigen, wie froh sie über die Versöhnung waren. –

Sabine trat in ihr Zimmer. Da überreichte ihr das Mädchen ein Billett von unbekannter Hand. Ein starker Moschusgeruch und die gekritzelten Züge verrieten, daß es von einer Dame kam.

»Wer hat den Brief gebracht?« fragte Sabine.

»Ein fremder Mann«, antwortete das Mädchen, »er wollte den Namen nicht nennen und sagte, Antwort sei nicht nötig.«

Sabine las: ›Mein Fräulein, triumphieren Sie nicht zu früh. Sie haben durch Ihre Koketterie einen Herrn an sich gelockt, welcher gewöhnt ist, zu verführen, zu vergessen und die, welche auf seine Worte hören, unverschämt zu behandeln. Vor kurzem hat er einer andern Geständnisse gemacht, jetzt hat er Sie betört. Er wird auch Ihnen heucheln und Sie verraten.‹

Das Billett hatte keine Unterschrift, es war von Rosalie.

Sabine wußte, wer die Schreiberin war. Sie hielt den Brief an die Kerze und schleuderte das brennende Papier in den Kamin. Schweigend sah sie zu, wie die lodernde Flamme kleiner wurde und verlöschte und wie die glimmenden Punkte auf der verkohlten Fläche umherfuhren, bis auch der letzte verging. Lange stand sie da, ihr Haupt an das Gesims gelehnt, den Blick auf das Häufchen Asche gerichtet. Ohne Tränen, lautlos hielt sie die Hand auf ihr zuckendes Herz.

8

Veitel Itzig war in der größten Aufregung. Er, der Nüchterne, Enthaltsame, glich in allen seinen Freistunden einem Trunkenbold. Seine Lippen bewegten sich in lebhaftem Selbstgespräch, und eine fieberische Röte lag über seinen spitzen Backenknochen. Auf der Straße war er schon von weitem kenntlich durch die allerauffälligste Weise der Fuß- und Armbewegungen, ruhiger Schlaf war etwas, das er kaum dem Namen nach kannte. Und das alles, weil eine verwitwete Geheimrätin ihren Lieblingshund verloren hatte. Dieser Mops war an einem heitern Frühlingsmorgen, verführt durch den Sonnenschein oder durch das Aroma eines Fleischerjungen, mühsam zwei Treppen bis auf die Straße hinabgestiegen. Und dort war er verschwunden, im Wasser ertrunken, von Gaunern gestohlen, von Banditen geschlachtet, kurz, er war verschollen, und keine Zeitungsannonce vermochte die runde Gestalt des Flüchtlings in die Räume zurückzuführen, in denen er so lange als Tyrann geherrscht hatte. Aus Ärger über diesen Verlust war die Rätin gefährlich erkrankt, und Veitel nahm einen so lebhaften Anteil an ihrem Leide, daß er selbst in Gefahr kam, seine Gesundheit einzubüßen. Leider waren Veitels Hoffnungen nicht auf das Leben der würdigen Dame gerichtet. Er hatte ein Riesengeschäft gewagt, er hatte es unternommen nach vielen Verabredungen mit seinem Ratgeber Hippus und nachdem er oft in stillen Nächten seine Brieftasche hervorgeholt und sein Vermögen überrechnet hatte. Die Spekulation war eine der schönsten, welche ein Mann von Veitels Grundsätzen unternehmen konnte, sie war vielleicht ein wenig gewagt, aber so sauber wie ein Wickelkind unter dem Badeschwamm.

Ein armer Teufel von Rittergutsbesitzer hatte schlecht gewirtschaftet und war so lange betrogen worden, bis er sein Gut auf dem traurigen Wege der notwendigen Subhastation verloren hatte. Bei diesem Verkauf war ein Hypothekeninstrument von zwölftausend Talern ausgefallen. Der Gläubiger, dessen Forderung durch die Verkaufssumme des Gutes nicht gedeckt werden konnte, hatte vergebens versucht, sich an die Person des verarmten Gutsbesitzers zu halten. Der Schuldner war ohne alle Mittel, das Gericht fand nichts, was ihm zu nehmen war. Er war frustra excussus, wie unsere Juristen sagen, und empfand das Behagen des Elends, seine Gläubiger nicht mehr zu fürchten; dies verzweifelte Glück war für ihn nach trüben Jahren eine Art grönländischer Sonnenschein. Der Eigentümer der Hypothek aber sah wehmütig auf sein zerschnittenes Dokument, welches unter solchen Umständen für ihn fast nur den Wert von Makulatur hatte. Den Spüraugen Itzigs blieb dies Sachverhältnis nicht unerforscht. Er stand mit dem Gutsbesitzer wohl ein Jahr lang in inniger Verbindung, er hatte die Gefälligkeit, ihm alte Röcke abzukaufen, ja sogar Geld vorzuschießen, und wurde in manches kleine Geheimnis dieses verfehlten Lebens eingeweiht. So hatte er auch erspäht, daß sein Kunde alles Segelwerk seines lecken Fahrzeugs aufspannte, sich in die Gunst und das Testament einer alten Tante zu setzen, und kam allmählich zu der Überzeugung, daß ihm dies gelingen werde. Zwei seidene Halstücher und ein Paar vergoldete Ohrringe mußte Veitel an das Dienstmädchen der Rätin aufwenden, um genaue Nachrichten zu erhalten. Der Neffe las der Tante Mordgeschichten aus den Zeitungen vor, er wurde eingeladen, wenn die Tante ihr Lieblingsgericht kochen ließ, die Tante sprach davon, ihn zu verheiraten, tat es aber nicht, und endlich, als aller Lebensmut der Tante durch einen vierwöchigen Regen fortgeschwemmt worden war, ließ sie Gerichtspersonen kommen, trieb ihren Neffen, der, zum Weinen gerüstet, sein Taschentuch in der Hand hielt, aus dem Zimmer und zwang durch diese auffallenden Maßregeln das Dienstmädchen, an der Kammertür zu erlauschen, daß sie ihr Testament machte und des armen Neffen darin ehrenvoll gedachte. Als Veitel dies erkundschaftet hatte, tat er den zweiten großen Schritt und kaufte dem Besitzer des ausgefallenen Instruments die Urkunde und alle Rechte, welche diese an die Person des Schuldners gab, um vierhundert Taler ab.

Jetzt war der Mops verschwunden, die schwer geärgerte Tante lag zu Bett, acht Tage darauf war sie gestorben, und der Neffe erbte den größten Teil ihrer Hinterlassenschaft. Veitel unterzog sich übermenschlichen Anstrengungen, um zu verhindern, daß sein Schuldner nicht durch eines von den kleinen Manövern, welche Veitel alle persönlich kannte, die Erbschaft unsichtbar machte. Wie ein Gespenst verfolgte er den unglücklichen Erben; kaum hatte dieser sich in die ersten Träume über sein künftiges Glück hineingelebt, so stand Veitel als unerbittlicher Mahner an eine finstere Vergangenheit vor ihm und schlug durch die eisige Kälte seiner Forderungen allen warmen Dampf nieder, welcher aus der hoffnungsvollen Seele des Erben aufstieg. Es war unmöglich, ihm zu entkommen, mit eisernen Zangen hielt er seinen Schuldner fest, und das Gesetz half ihm so energisch, daß der Erbe nach vielen Winkelzügen kapitulieren mußte. Durch achttausend Taler, den größten Teil seiner Erbschaft, kaufte er sich von Veitel frei.

Heut war der glückliche Tag, wo der junge Geschäftsmann sein großes Kapital in der Tasche nach Hause trug. Er flog über die Straße, er flog die Treppe hinauf in seine Hinterstube, ganz unsinnig vor Freude. Der Zwang, den er sich lange angetan, kalt zu scheinen, während ihm sein Herz in Angst und Erwartung wie ein Schmiedehammer pochte, war überwunden, er war wie ein Kind, wenn auch nicht so unerfahren; er sprang in der Stube umher, ja er lachte vor Freuden und fragte Herrn Hippus, der ihn seit einigen Stunden erwartete: »Welche Sorte Wein wollen Sie trinken, Hippus?«

»Wein allein wird’s nicht tun«, erwiderte Hippus vorsichtig. »Indes ist es lange her, daß ich keinen Ungar gekostet habe. Hole eine Flasche alten Oberungar, oder halt, es ist draußen finster genug, ich will sie selbst holen.«

»Was kostet’s?« rief Veitel,

»Zwei Taler«, antwortete Hippus.

»Das ist viel Geld«, sagte Veitel, – »aber es ist einerlei, hier sind sie.« Mit kühner Handbewegung holte er einen Doppeltaler aus der Tasche seines Beinkleides und warf ihn auf den Tisch.

»Schön«, nickte Hippus und griff hastig nach dem Geldstück. »Aber dies allein wird’s nicht tun, mein Sohn. Ich verlange Prozente von deinem Gewinn. In Erwägung, daß wir alte Bekannte sind und daß man seine Freunde nicht drücken soll, will ich zufrieden sein mit fünf vom Hundert des Kapitals, das du heut eingenommen hast.«

Veitel stand starr, sein strahlendes Gesicht wurde plötzlich sehr ernst, mit offenem Munde sah er auf den schwarzen Mann im Sofa.

»Rede nichts«, fuhr Hippus kaltblütig fort und warf über seine Brille hinweg einen bösen Blick auf Veitel, »untersteh dich nicht, auch nur ein Wort von deinem Geschacher gegen mich vorzubringen, wir kennen einander; ich habe gemacht, daß du das Geld gewinnen konntest, ich allein. Du brauchst mich, und du siehst, daß auch ich dich gebrauchen kann. Gib mir auf der Stelle vierhundert von deinen achttausend.«

 

Veitel wollte sprechen.

»Kein Wort«, wiederholte Hippus und schlug mit dem Geldstück im Takt auf den Tisch, »gib her das Geld.«

Veitel sah ihn an, griff endlich schweigend in die Tasche seines Rocks und legte zwei Pergamente vor Hippus auf den Tisch.

»Noch zwei«, fuhr Hippus in demselben Tone fort. Veitel legte hundert Taler dazu. »Und jetzt das letzte, mein Sohn«, nickte er Alte ermunternd und schlug mit dem Taler wieder auf den Tisch.

Veitel zögerte einen Augenblick und sah ängstlich auf den Alten, in welchem eine boshafte Freude mächtig geworden war. Auf diesem Antlitz war nichts Tröstendes zu finden; wieder griff Veitel in die Tasche, schob das vierte Pergament auf den Tisch und sprach mit klangloser Stimme: »Ich habe mich in Euch geirrt, Hippus.« Und darauf holte er sein Taschentuch hervor, wandte sich ab, schneuzte sich und wischte sich die nassen Augen.

Hippus achtete wenig auf die elegische Stimmung seines Schülers. Er befühlte das Pergament, wie man eine Kostbarkeit in der Hand umwendet, die man vor langer Zeit verloren hat und unerwartet wiederfindet. Endlich sagte er, seine Beute einsteckend: »Wenn du dir’s ruhig überlegst, wirst du einsehen, daß ich als guter Freund an dir gehandelt habe. Ich hätte viel mehr fordern können.«

Veitel stand noch immer am Fenster und sah in die Nacht hinaus. Ihm war jämmerlich zumute. Gleich auf dem Heimwege vom Notar hatte er an den Alten gedacht und den Entschluß gefaßt, auch diesem eine Freude zu machen: er hatte ihm eine neue Schnupftabaksdose von Silber kaufen und zehn Dukaten hineinlegen wollen. Und jetzt kam ihm dieser Hippus so!

Da er vor Schmerz über das Benehmen seines Lehrers kein Wort sprach, stand Hippus gemächlich auf und sagte wohlwollend: »Laß dir’s nicht zu Herzen gehen, du Dummkopf; sollte ich eher sterben als du, so mache ich dich zu meinem Erben. Dann wirst du dein Geld wiederbekommen, wenn noch etwas davon übrig ist. Jetzt gehe ich den Wein holen. Auf deine Gesundheit werde ich ihn trinken, gefühlvoller Itzig.« Bei diesen Worten schlich der Alte zur Tür hinaus.

Noch einmal fuhr Veitel nach seinem Taschentuch und wischte eine bittere Träne ab, welche an seiner Wange herunterrann. Seine Freude über den Gewinn war verdorben. Es war eine unklare Empfindung und ein unreines Gefühl, das ihn bewegte, denn es war viel Schmerz um die verlorenen Pergamente dabei. Aber er hatte noch mehr verloren als sein kostbares Geld. Der einzige Mensch auf Erden, gegen den er eine Anhänglichkeit fühlte und von dem er gute Freundschaft erwartete, hatte sich gefühllos, eigennützig, feindselig gegen ihn benommen. Zu allen andern Menschen stand er auf Kriegsfuß und erwartete auch von ihnen nichts anderes als Krieg, nur dem kleinen Mann mit der Brille hatte er sein Herz offengehalten. Und dies warme Gefühl hatte der Alte durch seine rohe Forderung tödlich beschädigt. Es war vorbei zwischen ihm und Hippus, er konnte den Mann nicht entbehren, aber von dieser Stunde ab trug er einen Groll gegen ihn mit sich herum, der Alte hatte ihn einsamer und schlechter gemacht. So erfuhr Veitel den Fluch des Argen, daß sie elend gemacht werden nicht nur durch ihre Missetaten, sondern auch durch ihre bessern Neigungen.

Doch nicht lange dauerte die Schwermut des Geschäftsmannes: bald griff er entschlossen in die Tasche, holte den übriggebliebenen Schatz hervor, untersuchte jedes einzelne Pergament von allen Seiten und notierte die Nummern zuerst in seine Brieftasche und dann auf einen Zettel. Den Zettel versteckte er in einem Ritze der Diele. Diese Beschäftigung tröstete ihn wieder etwas. Und jetzt wandte er seine Gedanken auf die Zukunft. Wieder rannte er in dem Zimmer auf und ab und machte Pläne. Seine Weltstellung war mit einem Schlage geändert. Als Eigentümer von baren achttausend Talern – ach, es waren nur siebentausendsechshundert – stand er unter den Geschäftsleuten seiner Art da als ein kleiner Krösus. Viele andere machten Geschäfte mit Hunderttausenden, ohne so viel Vermögen zu besitzen wie er; die Welt lag widerstandslos vor ihm wie eine Perlmuschel auf dem Teller, es kam nur darauf an, mit welchem Hebel er sie öffnen wollte. Wie sollte er sein Kapital anlegen, verdoppeln, verzehnfachen? Jetzt mußte er wählen, und er mußte dies allein tun. Es gab wohl zehn verschiedene Wege für ihn: er konnte fortfahren, Geld gegen hohe Interessen zu leihen, er konnte in Aktien spekulieren, er konnte das Woll- und Getreidegeschäft betreiben, und mit einem Gefühl von Stolz sagte sich der Schelm, daß er auf jedem von diesen Wegen so gut vorwärtskommen könnte wie der verschlagenste unter seinen Genossen. Aber jede von diesen Tätigkeiten brachte ihm das geliebte Kapital in Gefahr, er konnte dabei ein reicher Mann werden, er konnte aber auch alles verlieren; und dieser Gedanke war ihm so schrecklich, daß er sofort alle diese Pläne beiseite warf. Eine Beschäftigung gab es, bei der ein schlauer Mann viel gewinnen konnte und bei der es wohl möglich war, große Verluste zu vermeiden. Von seiner Heimat aus war er als umherziehender Trödler auf die Höfe der Gutsherren gekommen, zur Zeit des Wollmarktes hatte er in den Straßen der Stadt den vornehmen Herren mit Schnurrbart und Ordensband seine Dienste angeboten, im Kontor seines Brotherrn hatte er sich unaufhörlich mit dem Vermögen und den Geldgeschäften des Landadels beschäftigt. Wie genau kannte er die stille Sehnsucht des alten Ehrenthal, ein gewisses Rittergut zu besitzen, wie oft hatte ihm der Mann mit der Brille in höhnischem Scherz geraten, er solle sich zum Rittergutsbesitzer machen. Und wie kam es doch, daß ihm in seinem Schmerz über den Alten plötzlich sein Schulkamerad Anton einfiel und der Tag, wo er zum letzten Male bei diesem verkehrt hatte? Auch damals, als er zur Stadt zog und mit Anton zusammentraf, war er auf dem Gute des Freiherrn umhergestrichen, hatte vor der Tür des Kuhstalls gestanden und die lange Doppelreihe der gehörnten Rinder abgeschätzt, bis die Großmagd ihn herrisch wegwies. Und wie ein heißer Strahl schoß es in seinen Kopf: er selbst konnte Rittergutsbesitzer werden, so gut wie Ehrenthal, er selbst konnte andere seine weiße Wolle waschen lassen und mit zwei, ja, mit vier Pferden nach der Stadt fahren. Er griff mit beiden Händen heftig in die Tischplatte und rief laut: »Ich werde es tun!« und setzte sich auf dem Stuhle fest und schlug die hagern Arme übereinander. Und von dem Augenblick an wollte er etwas und begann seine Arbeit.

Und er spekulierte schlau. Er hatte nach seiner Meinung ein Recht an das Gut des Freiherrn gewonnen durch seinen Entschluß, er wollte dies Recht auch erwerben durch sein Geld, er wollte für sich eine Hypothek auf dem Gute des Barons. So wollte er sein Kapital sicherstellen auf Jahre, ruhig wollte er arbeiten, bis der große Tag käme, wo er mit seinem Kapital das ganze Gut in seine Hände brächte. Und im schlimmsten Falle, wenn sein Plan nicht gelang, der jetzt der stille Zweck seines Lebens werden sollte, dann war wenigstens sein Geld nicht verloren. Unterdes wollte er Agent und Kommissionär werden, er wollte Käufe und Verkäufe vermitteln, wie so viele andere taten, arme Teufel, die einander die halben Prozente gegenseitig beneideten, und vornehme Herren mit großen Titeln, welche den Güterschacher ins Große treiben und Hunderttausende dabei gewinnen durch List, Bestechung und Schleichwege. Veitel wußte, daß es wenig Wege gab, auf denen er nicht bekannt war. So wollte er anfangen, zunächst mußte er als Faktotum bei Ehrenthal bleiben, solange er den Alten benutzen konnte. Die Rosalie war sein, und sie war reich, denn Bernhard war nicht zu rechnen als Erbe des Vaters. Vielleicht wollte er werden der Schwiegersohn des alten Ehrenthal, vielleicht wollte er auch nicht; dies Geschäft hatte keine Eile. Und noch einer war, mit dem er sich stellen mußte: der kleine schwarze Mann, welcher jetzt drüben in der Gaststube seinen teuren Wein trank. Auch mit ihm mußte er von heut ab Rechnung halten, er wollte ihn bezahlen für jeden Dienst, den ihm der Alte tat, und wollte ihm nur so weit sein Vertrauen geben, als es nötig war.