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Soll und Haben

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»Was soll er aber mit ihm tun?« fragte Veitel.

»Sorgen muß er ihm machen«, sprach Hippus, im Eifer aufstehend, »Sorgen durch Arbeit. Große Arbeit, immerwährende Unruhe, tägliche Sorgen, die nicht aufhören, das ist das einzige, was der Freiherr nicht aushalten kann. Diese Leute sind gewöhnt, wenig Arbeit zu haben und viel Vergnügen, alles wird ihnen zu leicht gemacht im Leben von klein auf. Es gibt wenige, die den Kopf nicht verlieren, wenn eine große Sorge das ganze Jahr in ihrem Schädel herumbohrt. Das ruiniert sie. Ist so einer höchstens zweimal im Tage durch seine Wirtschaft gelaufen, so denkt er, er hat gearbeitet, während der Amtmann das Beste tut und manchmal noch die Dummheiten des Herrn ausbessern muß. – Will der Ehrenthal den Baron unter sich bringen, so muß er ihn in große Geschäfte verwickeln, er muß selbst etwas wagen, und dazu hat er keine Entschlossenheit und keinen Verstand, er ist nur ein Gimpel, der sein gelerntes Stückchen pfeift und hinterher mit dickem Kopfe dasitzt.«

So lehrte der Advokat, und Veitel verstand die klugen Worte und sah mit einer Mischung von Achtung und Scheu auf den kleinen häßlichen Teufel, welcher heftig vor ihm gestikulierte. Endlich ergriff Herr Hippus die Branntweinflasche, stampfte sie auf den Tisch und rief: »Heut noch eine Füllung extra! Was ich dir jetzt gesagt habe, du junger Galgenvogel, ist mehr als eine Flasche Doppelten wert.«

5

»Ich bin heut achtzehn Jahr«, sagte Karl zu seinem Vater, der an einem Sonntag zufrieden in seiner Stube saß und nicht müde wurde, den stattlichen Jüngling anzusehen.

»Das ist richtig«, erwiderte der Vater, »achtzehn Lichter stehen auf dem Kuchen.«

»Also, Vater«, fuhr Karl fort, »es ist Zeit, daß ich etwas werde.«

»Du?« fragte der Vater verwundert. »Was willst du denn noch anders werden, als du bist? Ein Knirps bist du und wirst in deinem Leben nichts anderes.«

»Sei jetzt einmal still mit deinem ewigen Knirps«, entgegnete Karl. »Ich will Auflader werden.«

»Ei so hört doch«, rief der Alte, »also Auflader! Warum nicht lieber gar Bürgermeister oder König oder so etwas?«

»Ich habe Kräfte genug«, fuhr Karl entschlossen fort. »Ich will mir etwas verdienen. Ich will ein ordentlicher Mann werden. Herr Wohlfart ist jetzt schon seit einem Jahre frei geworden, und ich bin noch immer ein Junge.«

»Du willst etwas verdienen?« wiederholte der Alte und sah mit immer größerem Erstaunen auf seinen Sohn. »Verdiene ich nicht genug und mehr, als wir brauchen? Wozu willst du als Geizhals an uns handeln?«

»Ich kann doch nicht immer an deiner Lederschürze hängen«, sagte Karl, »und wenn du tausend Taler verdientest, würde ich dadurch ein ordentlicher Mensch? Und wenn ich dich einmal verlieren sollte, was soll dann aus mir werden?«

»Du wirst mich verlieren, Junge«, sagte der Riese, mit dem Kopf nickend, »das versteht sich, in einigen Jahren«, setzte er hinzu, »nachher kannst du werden, was du willst, nur nicht Auflader.«

»Aber warum soll ich nicht werden, was du bist? Sei doch nicht so hartnäckig.«

»Das verstehst du nicht. Komm mir nicht mit deinem Ehrgeiz, ehrgeizige Leute kann ich nicht vertragen.«

»Und wenn ich nicht Auflader werden soll«, rief Karl wieder, »so muß ich etwas anderes lernen, sieh das doch ein, Vater.«

»Du willst nichts gelernt haben?« rief der Alte bekümmert. »Ach, du armes Kind, was haben sie dir nicht alles in deinen kleinen Kopf hineingetrieben! Da war die Klippschule, zwei Klassen, und die Stadtschule, vier Klassen, und die Gewerbeschule, zwei Klassen; acht Klassen hast du gelernt und kennst alle Waren so gut wie ein Kommis, ist das nichts? Du bist ein nimmersatter Junge!«

»Ja, ich muß doch etwas Bestimmtes wissen für einen Beruf«, versetzte Karl, »Schuster, Schneider, Kaufmann, Mechanikus.«

»Darum mache dir keine Sorge«, sagte der Vater mit Überlegenheit, »dafür habe ich bei deiner Erziehung gesorgt, du bist praktisch – und ehrlich«, fügte er hinzu.

»Das denke ich«, sagte Karl, »aber kann ich ein Paar Stiefel machen? Kann ich einen Rock zuschneiden?«

»Du kannst’s«, erwiderte der Alte ruhig, »versuch’s, und du wirst’s können.«

»Na warte, du Brummbär, morgen kaufe ich Leder und nähe dir ein Paar Stiefel, du sollst fühlen, wie sie drücken.«

»Weißt du was«, entgegnete der Vater, »ich werde diese Stiefel nicht anziehen, ich werde vielleicht auch die zweiten nicht anziehen, ich werde warten, bis du das dritte Paar gemacht hast, die werden nicht drücken.«

»Mit dir wird man nicht fertig«, sagte Karl ärgerlich, »ich weiß schon, wo ich mir Rat hole. So kann’s mit mir nicht bleiben; ich werde dir jemand auf den Hals schicken, der dir dasselbe sagen soll.«

»Sei nur nicht ehrgeizig, Karl«, sagte der Alte kopfschüttelnd, »und verdirb mir den heutigen Tag nicht. Jetzt gib mir die Bierkanne her und sei ein guter Junge.«

Karl setzte die große Kanne vor den Vater, nahm bald darauf seine Mütze und verließ das Zimmer. Der Vater blieb bei seinem Bier sitzen, aber sein Behagen war gestört, er sah immer wieder nach der Tür, zu welcher Karl hinausgegangen war, er sah sich in der Stube um, die ohne das fröhliche Gesicht seines Sohnes so einsam war. Endlich ging er in die Kammer nebenan, setzte sich dröhnend auf dem Bette nieder und zog unter der Bettstelle einen schweren eisernen Kasten hervor. Er öffnete ihn mit einem Schlüssel, den er aus der Westentasche zog, nahm einen Beutel Geld nach dem andern heraus und stellte eine Kopfrechnung an, dann schob er den Kasten wieder unter das Bett und setzte sich beruhigt zu dem Haustrunk.

Unterdes ging Karl in seinem Sonntagsstaat mit eiligen Schritten in die Stadt und trat in Antons Zimmer. »Guten Morgen, Karl«, rief ihm Anton entgegen, »was bringst du?«

Karl begann feierlich: »Ich komme, Sie um Rat zu fragen, was aus mir werden soll. Mit meinem Vater ist darüber nicht zu reden. Ich will Auflader werden; und der Alte will’s nicht leiden; ich will etwas anderes werden, und er vertröstet mich auf die Zeit, wo er nicht mehr leben wird. Ein schöner Trost! Er ist gerade wie ein rechter Goliath. Ich bin heute achtzehn Jahr, und das Ding muß mit mir anders werden, ich greife hier im Hause überall mit an, aber das ist nirgend etwas Ordentliches.«

»Du hast recht«, sagte Anton verständig. »Vor allem aber gratuliere ich dir zu deinem Geburtstage; und warte, hier ist ein Buch für dich, das nimm zum Angebinde, ich werde dir meinen Namen hineinschreiben.«

»Seinem getreuen Karl, Anton Wohlfart«, las der erfreute Karl. »Ich danke Ihnen, Herr Wohlfart, ich habe schon fünfundsechzig Bücher. Jetzt wird die zweite Reihe voll.«

»Und so setze dich her zu mir und laß uns Rat halten. Vor allem sage, was kann ich dir helfen? Ist’s nicht besser, wenn du mit Herrn Schröter selbst sprichst? Er ist ja dein Pate.«

»Das wird mir zu groß«, entgegnete Karl ernsthaft, »der Vater könnte denken, ich wollte ihn verklagen. Bei Ihnen ist das freundschaftlicher.«

»Gut«, stimmte Anton bei.

»Und so wollte ich Sie bitten, daß Sie gelegentlich mit meinem Vater über mich sprechen. Er hat zu Ihnen ein großes Zutrauen, und er weiß, daß Sie’s gut mit mir meinen.«

»Das will ich gern«, sagte Anton, »aber was gedenkst du zu werden?«

»Das ist mir gleich«, erwiderte Karl, »nur etwas Ordentliches.«

Am nächsten Sonntage ging Anton nach dem Hause des Vater Sturm. Die Wohnung des obersten Aufladers war ein kleines Haus am Flusse, unweit des Packhofes; es war sein Eigentum und zeichnete sich durch die Rosafarbe seines Anstrichs vor den Nachbarhäusern schon von weitem aus. Anton öffnete die niedrige Tür und zweifelte, ob dem Riesen überhaupt möglich sei, sich in einen so kleinen Bau einzupacken. Und als der alte Sturm aufstand, ihn zu begrüßen, da wurde ihm klar, daß eine unaufhörliche Geduld des mächtigen Mannes nötig war, um diese Wohnung zu ertragen. Denn wenn er sich mit aller Kraft ausstreckte, so mußte er unfehlbar Decke und Wände zerreißen und mit Kopf und beiden Fäusten in die freie Luft hineinragen. Der riesige Mann stand vergnügt über den Besuch ohne Rock und Weste vor ihm und hielt ihm grüßend die Hand entgegen, welche wohl imstande war, einen Kürbis von mäßiger Größe zu umspannen.

»Ich freue mich sehr, Sie in meinem Hause zu sehen, Herr Wohlfart«, sagte Sturm und faßte so zierlich, als es ihm möglich war, Antons Hand.

»Es ist etwas klein für Sie, Herr Sturm«, antwortete Anton lachend, »Sie sind mir noch nie so groß vorgekommen als in diesem Zimmer.«

»Mein Vater war noch größer«, antwortete Sturm wohlgefällig und richtete sich hoch auf, so daß sein Kinn auf dem oberen Rande des Ofens ruhte. »So groß war mein Vater«, sagte er und wies auf den bunten Farbensaum längs der Decke, an welchem mehrere Marken mit Bleistift gezeichnet waren. »So groß war er und noch breiter. Er war Ältester der Auflader und der stärkste Mann am Orte, und doch hat ihn ein Faß, nicht halb so hoch wie Sie, zu Tode gebracht. Hier, nehmen Sie Platz, Herr Wohlfart.« Er rückte ihm einen Stuhl von Eichenholz hin, der so schwer war, daß Anton Mühe hatte, ihn von der Stelle zu heben, und setzte sich mit Geräusch auf eine Bank. »Mein Karl hat mir gesagt, daß er Sie besucht hat und daß Sie sehr freundlich gegen ihn waren. Er ist ein guter Junge, und ich habe meine Freude an ihm, aber er ist doch aus der Art geschlagen. Seine Mutter war eine kleine Frau«, setzte Herr Sturm traurig hinzu und griff nach einem Glase Bier, welches mehr als ein Quart faßte, setzte das Glas an und nicht eher wieder auf den Tisch, als bis der letzte Tropfen daraus verschwunden war.

»Es ist Faßbier«, sagte er entschuldigend, »darf ich Ihnen ein Glas anbieten? Es ist Herkommen bei unserm Geschäft, kein andres zu trinken; dies freilich trinkt man den ganzen Tag, denn unsere Arbeit macht warm.«

»Ihr Sohn hat, wie ich höre, Lust, in Ihre Korporation zu treten«, lenkte Anton ein.

 

»Unter die Auflader?« fragte der Riese. »Nein, dies wird er nicht, niemals.« Er legte seine Hand vertraulich auf Antons Knie. »Er wird es nicht, meine Selige hat mich auf den Totenbett darum gebeten. Warum? Darum! Unsere Arbeit ist respektabel, Sie wissen das selbst am besten, Herr Wohlfart. Wir sind Männer, welche ein Vertrauen haben wie wenig andere. Es ist eine Ehre, Auflader der Kaufmannschaft zu werden, um die sich Hunderte bei mir bewerben, und nicht einen lassen wir zu. Es gibt wenige, welche die Kraft haben, und noch weniger, welche etwas anderes haben.«

»Die Ehrlichkeit«, sagte Anton.

»Ganz recht«, nickte Sturm, »daran fehlt’s auch den Starken. Alle Tage jede Art Ware in Tonnen und Kisten in größter Quantität vor sich zu haben und darum zu hantieren, wie um eigentümliche Sachen, und niemals die Hand hineinzustecken, das ist leider nicht jedermanns Gewohnheit. Also Sie wissen, wir halten auf uns. Und die Einnahmen sind nicht schlecht, ja sie sind gut. Meine Selige hielt noch auf Sparbüchsen und Strümpfe und solches Zeug. Als sie starb, fand ich den ganzen Grund ihres Kastens mit zugebundenen Strümpfen zugestopft, die nebeneinander standen wie die fetten Lerchensteiße in der Schachtel. Alles für unsern Karl, und es war nicht nur Silber, es war auch Gold dabei. Sie war eine sparsame Frau und hob alles auf. Das ist nun meine Art nicht. Denn warum? – Wer praktisch ist, braucht um das Geld nicht zu sorgen, und der Karl wird ein praktischer Mensch. Aber nicht als Auflader«, fügte er kopfschüttelnd hinzu, »meine Selige wollte das nicht haben, und sie hat recht.«

»Ihre Arbeit ist anstrengend«, stimmte Anton bei.

»Anstrengend?« lachte Sturm. »Sie mag wohl anstrengend sein für einen, der nicht Kraft hat, so anstrengend, daß ihm der Rücken darüber zerbrechen kann; aber es ist nicht die Anstrengung, es ist noch etwas anderes. Dies ist es!« Bei diesen Worten holte er einen großen Krug aus der Ecke und goß sein Glas voll. »Das Faßbier ist es.«

Anton lächelte. »Ich weiß, Sie und Ihre Kollegen trinken viel von dem dünnen Getränk.«

»Viel«, sagte Sturm mit Selbstgefühl, »es ist bei uns Geschäftsbrauch, es ist Herkommen, es ist von je bei den Aufladern so gehalten worden; sie müssen Kräfte haben, sie müssen treue Männer sein, und sie müssen Faßbier trinken. Es ist Bedürfnis bei unserer Arbeit, wer’s nicht tut, hält’s nicht aus; Wasser trinken macht uns schwach, und Wein und Branntwein gleichfalls; nur Faßbier tut’s, dies und Provenceröl. Sehen Sie, Herr Anton, so –« Der Riese streckte den Arm aus und holte ein Glas von dem Gestell, füllte es zur Hälfte mit feinem Baumöl, zur andern Hälfte mit Bier, tat eine Menge Zucker in die Mischung und trank zu Antons Schrecken die widerwärtige Flüssigkeit aus. »Das macht stark«, sagte er, »es ist ein Geheimnis unserer Zunft, es erhält die Kraft und macht solche Arme«, er legte stolz seinen Arm auf den Tisch und versuchte, ihn mit seiner Hand vergebens zu umspannen. »Aber es ist ein Haken dabei«, fügte er leiser hinzu. »Es wird von uns keiner über fünfzig Jahre alt. Haben Sie schon einen alten Auflader gesehen? Sie haben keinen gesehen, denn es gibt keinen. Fünfzig Jahre ist das höchste, was einer erreicht, länger duldet’s der Biergeist nicht. Mein Vater war fünfzig, als er starb; der, den wir neulich begraben haben – Herr Schröter war auch beim Begräbnis –, der war neunundvierzig. Ich habe noch ein paar Jahre bis dahin«, setzte er wie zur Beruhigung hinzu.

Anton blickte besorgt in das ehrliche Gesicht des Aufladers. »Aber Sturm, wenn Sie das wissen, warum sind Sie nicht mäßiger?«

»Mäßig?« fragte Sturm verwundert. »Was ist mäßig? Es steigt keinem von uns in den Kopf. Vierzig Halbe in einem Tag ist nicht viel, wenn man’s nicht merkt.«

Anton sah den Auflader ungläubig an.

»So viel trinke ich«, sagte Sturm. »Der, den wir neulich begraben haben, konnte noch mehr vertragen; er hatte aber auch Wochen, wo er noch stärker war als ich. Sehen Sie, Herr Wohlfart, deshalb aber soll mein Karl nach dem Willen der Seligen lieber etwas anderes werden. Es ist, unter uns Männern gesagt, mit dem ganzen Alter nur dummes Zeug. Auch von den Menschen, die keine Auflader sind, werden die wenigsten älter als fünfzig. Sie sterben an allen möglichen Krankheiten von den Windeln an fortwährend dahin und an lauter Krankheiten, die wir Auflader nicht kennen. Aber meine Selige hat’s einmal so gewollt, und so mag’s drum sein.«

»Und haben Sie an etwas anderes gedacht?« fragte Anton weiter. »Karl ist zwar im Geschäft sehr nützlich, und wir alle werden ihn vermissen, wenn er im Hause fehlen sollte.«

»Das gerade ist es«, unterbrach ihn der Auflader, »das war das Richtige, was Sie gesagt haben. Sie werden ihn vermissen, ich auch. Ich bin allein im Hause, seit meine Selige tot ist; wenn ich die roten Backen meines Kleinen in diesen Wänden sehe, so bin ich zufrieden; wenn ich in Ihrem Hause seinen kleinen Hammer höre, so fühle ich die Lustigkeit in meinem Herzen. Wenn er weggeht von mir und ich einsam in dieser Stube sitze, ich weiß nicht, wie ich’s ertragen soll.«

Die Züge des Mannes zuckten von innerer Bewegung. »Aber muß er sich denn ganz von Ihnen trennen?« fragte Anton endlich. »Vielleicht kann er noch jahrelang hier wohnen.«

Sturm schüttelte bedeutungsvoll den Kopf. »Ich kenne ihn, er kann’s nicht; wenn er erst einmal etwas anfängt, so ist er hinterher wie ein Teufel, dann denkt er an nichts als an das eine Ding. Aber ich habe mir überlegt in den letzten Tagen. Ich will Ihnen sagen«, fuhr er vertraulich fort, »ich habe unrecht, wenn ich an mich denke. Der Junge hat nicht für mich seinen Kopf in die Welt gesteckt, sondern für sich selber. Er soll etwas werden. Und nun frage ich, was meine Selige für den Jungen wünschen würde, wenn sie noch lebte. Diese Frau hat einen Bruder, welcher mein Schwager ist, und dieser Schwager ist auf dem Lande. Ein Freigut, dort oben, wo das hohe Wasser herkommt; ein gesetzter Mann, er tauscht nicht mit manchem Rittergut. Der besucht mich alle Jahre, wenn sie ihre Wolle geschoren haben. Der kennt mich und kennt den Karl, dem möchte ich meinen Kleinen übergeben, wenn ich ihn nicht behalten soll. Es ist weit von hier«, schloß er traurig, »aber es ist Verwandtschaft.«

»Das ist ein guter Gedanke, Herr Sturm«, sagte Anton, erfreut, auf so wenig Hindernisse zu stoßen, »aber ich habe immer gehört, daß der Landwirt auf eine selbständige Tätigkeit in der Regel nur dann hoffen kann, wenn er nicht ganz ohne Vermögen ist.«

»Das paßt«, sagte der Riese, seinen Finger erhebend, geheimnisvoll, »er ist nicht ganz ohne Vermögen. Von seiner Mutter her und auch etwas von seinem Vater. Er weiß aber von gar nichts, denn ich wollte, er sollte praktisch werden. Und sagen Sie ihm auch nichts.«

»Da Sie so väterlich für Ihren Sohn sorgen«, rief Anton, »so lassen Sie ihn nicht länger in Unsicherheit; es ist brav von ihm, daß er das Ungenügende seiner jetzigen Arbeit empfindet.«

»Er kann es sogleich hören«, sagte der Alte aufstehend, »er steckt im Garten. Sie sollen dabeisein.« Sturm rief mit seiner mächtigen Stimme in den Garten. Karl eilte herbei, begrüßte Anton und sah erwartungsvoll bald auf diesen, bald auf den Vater. Der Alte hatte sich wieder ruhig hingesetzt und fragte in seinem gewöhnlichen Ton: »Kleiner Knirps, willst du Ökonom werden?«

»Landwirt«, rief Karl, »daran habe ich noch gar nicht gedacht. Dann müßte ich ja fort von dir, Vater.«

»Er denkt auch daran«, sagte der Alte, Anton zunickend.

»Ist denn dein Wille, daß ich von dir soll?« fragte Karl erschrocken.

»Allerdings, mein Kleiner«, sagte der Vater. »Widerrede nutzt nichts, die Sache ist abgemacht, natürlich vorausgesetzt, daß dich der Onkel haben will. Du sollst Ökonom werden, du sollst etwas Ordentliches lernen, du sollst deinen Vater verlassen.«

»Vater«, sagte Karl niedergeschlagen, »wenn ich von dir weggehen soll, so ist mir’s nicht recht.«

»Es soll dir aber recht sein, du ehrgeiziger Knirps«, rief der Alte.

»Dann komm mit aufs Land«, sagte der Sohn.

»Ich soll aufs Land kommen? Ho, ho!« Sturm lachte, daß die Stubentür zitterte. »Mein Knirps will mich in die Tasche stecken und mit sich auf dem Lande herumtragen.« Er lachte so lange, bis er mit der Hand über die Augen fuhr. »Komm her, mein Karl«, sagte er endlich, zog den Sohn an sich und hielt dessen Kopf lange zwischen seinen großen Händen. »Du bist mein guter Junge, und Trennung muß sein auf Erden, wenn nicht jetzt, dann in ein paar Jahren.«

So schied Karl aus der Handlung. Vergeblich suchte er in den letzten Tagen seine Bewegung hinter leisem Pfeifen zu verstecken. Er streichelte zärtlich Freund Pluto und die Katze, welche er in das Haus gebracht hatte, er verrichtete seine kleinen Arbeiten mit maßlosem Eifer und hielt sich dabei soviel wie möglich in der Nähe seines Vaters; auch dieser sah den Tag hindurch immer wieder auf seinen Sohn und verließ manchmal seine Tonnen, um langsam auf ihn zuzugehen und ihm die Hand schweigend auf den Kopf zu legen.

»Es ist nicht schwer bei der Landwirtschaft?« sagte Vater Sturm vor der großen Waage zu Anton und blickte ihm fragend ins Gesicht.

»Leicht ist es nicht«, erwiderte Anton, »es ist vielleicht noch mehr dabei zu lernen als bei unserm Geschäft.«

»Lernen!« rief der Alte. »Je mehr er lernen muß, desto lieber ist es ihm, das tut nichts; nur ob es sehr schwer ist?«

»Nein«, sagte Herr Pix, der die Sprache des Riesen besser verstand.

»Schwer ist dort nichts; das schwerste ist der Sack Weizen, hundertundachtzig Pfund, und Bohnen, zweihundert Pfund. Und das braucht er nicht zu heben, das tun die Knechte.«

»Wenn das bei der Landwirtschaft so ist«, rief Sturm verächtlich und richtete sich hoch auf, »so ist es mir ganz egal, ob er das hebt. Zweihundert Pfund trägt auch mein Zwerg.«

6

Anton war jetzt der pflichtgetreueste Korrespondent seines Kontors. Gegen die ritterlichen Künste seines Freundes verhielt er sich kühl. Nur selten überredete ihn Fink, des Sonntags sein Begleiter zu Pferde oder am Pistolenstand zu werden. Dagegen benutzte Anton Finks Bücherschrank mehr als dieser selbst. Es war ihm nach langem Bemühen gelungen, in die Mysterien der englischen Aussprache einzudringen, und eifrig suchte er die Gelegenheit, sein Sprachtalent an Fink zu üben. Da aber dieser den Übelstand hatte, ein sehr unregelmäßiger und gewissenloser Lehrer zu sein, gab Anton seine Zunge in die Zucht eines gebildeten Engländers.

Einst sah er von seinem Platze im Kontor auf, als sich die Tür öffnete, und erkannte mit der größten Verwunderung in dem Eintretenden Veitel Itzig, den Genossen aus der Bürgerschule von Ostrau. Er war bisher nur selten mit ihm zusammengetroffen. Das freche Wesen des Burschen und die Furcht vor dem vertraulichen Du, mit dem dieser ihn leicht anreden mochte, hatten seine Auge auf allerlei andere Gegenstände gelenkt, sooft er Veitels Nasenspitze im Gedränge der Straße erkannte. Noch mehr erstaunte er, als Veitel auf die Frage des Herrn Specht: »Was steht zu Ihren Diensten?« artig erwiderte, er wünsche Herrn Wohlfart zu sprechen.

Anton stieg von seinem Sitze in den freien Raum des Kontors, und Veitel redete ihn an: »Sie werden mich doch noch kennen, obgleich Sie oft an mir vorbeigegangen sind, ohne mich zu grüßen.«

»Wie geht es Ihnen, Itzig?« fragte Anton mit Kälte.

»Schlecht«, antwortete Itzig, die Achseln zuckend, »es ist kein Verdienst im Geschäft. – Ich soll Ihnen diesen Brief vom Sohn des Ehrenthal übergeben und Sie fragen, zu welcher Zeit Ihnen der Bernhard seinen Besuch machen kann.«

»Mir?« fragte Anton und nahm eine Karte und einen Brief aus Veitels Händen. Der Brief war von Antons Sprachlehrer, er enthielt die Anfrage, ob Anton an einer Lehrstunde teilnehmen wolle, in welcher Herr Ehrenthal ältere englische Schriftsteller in einer literarhistorischen Reihenfolge durchzunehmen beabsichtigte.

»Wo wohnt Herr Bernhard Ehrenthal?« fragte Anton.

»Im Hause bei seinem Vater«, erwiderte Veitel und verzog das Gesicht. »Er sitzt den ganzen Tag auf seiner Stube.«

»Ich werde den Herrn selbst aufsuchen«, sagte Anton. – »Guten Morgen, Herr Anton!« – »Guten Morgen, Itzig!«

Anton empfand keine große Neigung, auf den Antrag des Lehrers einzugehen. Der Name Ehrenthal hatte in seinem Kontor keinen guten Klang, und das Erscheinen Itzigs trug nicht dazu bei, ihm das Anerbieten annehmlicher zu machen. Doch die ironische Art, in welcher Itzig vom Sohne seines Brotherrn sprach, und einzelnes, was er auf seine Erkundigungen von Bernhard hörte, bewog ihn, die Sache wenigstens in Erwägung zu ziehen. So suchte er einige Tage darauf nach dem Schluß des Kontors das Haus Ehrenthals auf, entschlossen, sich durch den Eindruck, den der Sohn auf ihn mache, bestimmen zu lassen.

 

Er trat an die weißlackierte Tür, zog den dicken Porzellangriff und wurde durch eine struppige Köchin ohne weitläufige Anmeldung in die Stube des jungen Ehrenthal geführt. Es war ein langes, schmales Zimmer mit alten Möbeln und schmucklosen Büchergerüsten, auf welchen eine Menge großer und kleiner Bücher unordentlich durcheinanderlag. Bernhard saß tief über seine Arbeit gebeugt am Schreibtisch und sah erst auf, als Anton bereits im Zimmer stand. Eilig knöpfte er den Hausrock über seinem Hemd zusammen und trat dem Fremden mit der Unsicherheit entgegen, welche Herren mit kurzem Gesicht bei der Begrüßung Eintretender eigen ist. Neugierig sah Anton auf den Sohn des Händlers. Es waren feine Züge und ein zarter Körper, kastanienbraunes, krauses Haar und zwei graue Augen von freundlichem Ausdruck. Bernhard nötigte seinen Gast auf ein kleines Sofa. Anton erwähnte den Zweck seines Besuches, und Bernhard antwortete schüchtern, daß er sich in allem nach den Wünschen seines Besuches richten wolle. Und als Anton nach dem Preise der Stunden fragte, erstaunte er, daß der Sohn Ehrenthals mit einiger Verlegenheit sagte: »Ich weiß es wirklich in diesem Augenblick nicht; wenn Sie aber darauf bestehen, auch den Lehrer zu bezahlen, so will ich mich sogleich danach erkundigen.« Darauf konnte sich Anton nicht enthalten, zu fragen: »Sind Sie nicht im Geschäft Ihres Herrn Vaters?«

»Ach nein«, erwiderte Bernhard, diesen Übelstand entschuldigend, »ich habe studiert, und da einem jungen Mann von meiner Konfession die Anstellung im Staate nicht leicht wird und ich in meiner Familie leben kann, so beschäftige ich mich mit diesen Büchern.« Dabei warf er einen Blick voll Liebe auf sein Büchergerüst, stand auf und trat in ihre Nähe, als wollte er sie seinem Gast vorstellen. Anton las einige goldene Titel und sagte mit einer Verbeugung: »Das ist für mich zu gelehrt.« Es waren Ausgaben orientalischer Werke.

Bernhard lächelte: »Durch das Hebräische bin ich zu den andern asiatischen Sprachen gekommen. Es ist viel fremdartige Schönheit in dem Leben dieser Sprachen und in den Gedichten der alten Zeit. Ich habe auch Handschriften, wenn es Sie interessiert, diese zu sehen.«

Er schloß einen Schub auf und holte ein Bündel seltsam aussehender Manuskripte heraus. Mit glänzenden Augen öffnete er das oberste, im Einband von grünem Seidenstoff, der mit Goldfaden fremdartig durchwirkt war; er ließ Anton die Schrift betrachten und war vergnügt, als dieser erklärte, er könne nicht einmal angeben, welcher Sprache die Schriftzüge angehören.

»Es ist arabisch, aber freilich ist gerade diese Handschrift sehr schwer zu lesen. – Und hier ist mein Lieblingsdichter, der Perser Firdusi, ich habe aber nur ein kleines Bruchstück seines Gedichtes in der Handschrift.«

Anton sagte ihm: »Es muß viel Gelehrsamkeit dazu gehören, das alles zu verstehen.«

»Nur etwas Geduld«, antwortete Bernhard bescheiden, »wer ein Herz hat für das Schöne, der findet es bald heraus, auch unter dem fremdartigen Kleide, welches die Sänger aus dem Morgenlande tragen. Ich arbeite an einer Übersetzung persischer Gedichte; wenn Sie später einmal Muße haben und Sie so etwas nicht langweilt, möchte ich Sie um Erlaubnis bitten, Ihnen eine kurze Probe vorzulegen.«

Anton hatte die Höflichkeit, sogleich darum zu bitten, der junge Ehrenthal griff nach einem Papier auf seinem Schreibtisch und las schnell und etwas ungelenk ein kleines Liebesgedicht vor. Es war eines von den zahlreichen Gedichten, in denen ein weiser Trinker seine Geliebte mit allerlei hübschen Dingen vergleicht, mit Tieren, Pflanzen, der Sonne und andern Weltkörpern, und daneben einem zelotischen Pfaffen Nasenstüber gibt. Dem ehrlichen Anton imponierte die verschlungene Form und der zugespitzte Ausdruck sehr, aber es war ihm doch komisch, als der Vorleser ausrief: »Nicht wahr, das ist schön? Der Gedanke, meine ich; denn die Schönheit der Sprache im Deutschen wiederzugeben, bin ich zu schwach.« Bei diesen Worten sah er begeistert vor sich wie ein Mann, der alle Tage fünf bis sechs Flaschen Schiraswein trinkt und alle Abende seine Suleika küßt.

»Muß man denn aber trinken, um recht lieben zu können?« sprach Anton. »Das ist bei uns doch auch ohne Wein möglich.«

»Bei uns«, erwiderte Bernhard, »ist das Leben sehr nüchtern«, dabei legte er das Blatt ernsthaft auf den Tisch.

»Ich denke, es ist nicht so«, erwiderte Anton eifrig. »Ich kenne noch wenig vom Leben, aber ich sehe doch, auch wir haben Sonnenschein und Rosen, die Freude am Dasein, große Leidenschaften und merkwürdige Schicksale, welche von den Dichtern besungen werden.«

»Unsere Gegenwart«, erwiderte Bernhard weise, »ist zu kalt und einförmig.«

»Ich habe das schon einige Male in Büchern gelesen, aber ich kann nicht verstehen, warum, und ich glaube es auch gar nicht. Ich meine, wer mit unserm Leben unzufrieden ist, der wird es mit dem Leben in Teheran oder in Kalkutta noch mehr sein, wenn er längere Zeit dort lebt. Es muß dort viel einförmiger und langweiliger sein als bei uns. Ich lese das auch aus Reisebeschreibungen heraus. Was den Reisenden reizt, ist das Neue; wenn das Fremde alltäglich geworden ist, sieht es gewiß anders aus.«

»Wie arm an großen Eindrücken unser zivilisiertes Treiben ist«, entgegnete Bernhard, »das müssen Sie selbst in Ihrem Geschäft manchmal empfinden, es ist so prosaisch, was Sie tun müssen.«

»Da widerspreche ich«, erwiderte Anton eifrig, »ich weiß gar nicht, was so interessant ist als das Geschäft. Wir leben mitten unter einem bunten Gewebe von zahllosen Fäden, die sich von einem Menschen zu dem andern, über Land und Meer, aus einem Weltteil in den andern spinnen. Sie hängen sich an jeden einzelnen und verbinden ihn mit der ganzen Welt. Alles, was wir am Leibe tragen, und alles, was uns umgibt, führt uns die merkwürdigsten Begebenheiten aller fremden Länder und jede menschliche Tätigkeit vor die Augen; dadurch wird alles anziehend. Und da ich das Gefühl habe, daß auch ich mithelfe, und so wenig ich auch vermag, doch dazu beitrage, daß jeder Mensch mit jedem andern Menschen in fortwährender Verbindung erhalten wird, so kann ich wohl vergnügt über meine Tätigkeit sein. Wenn ich einen Sack mit Kaffee auf die Waage setze, so knüpfe ich einen unsichtbaren Faden zwischen der Kolonistentochter in Brasilien, welche die Bohnen abgepflückt hat, und dem jungen Bauernburschen, der sie zum Frühstück trinkt, und wenn ich einen Zimtstengel in die Hand nehme, so sehe ich auf der einen Seite den Malaien kauern, der ihn zubereitet und einpackt, und auf der andern Seite ein altes Mütterchen aus unserer Vaterstadt, das ihn über den Reisbrei reibt.«

»Sie haben eine lebhafte Einbildungskraft und sind glücklich, weil Sie Ihre Arbeit als nützlich empfinden. Aber was der höchste Stoff für die Poesie ist, ein Leben reich an mächtigen Gefühlen und Taten, das ist bei uns doch sehr selten zu finden. Da muß man wie der englische Dichter aus den zivilisierten Ländern hinaus unter Seeräuber gehen.«

»Nein«, versetzte Anton hartnäckig, »der Kaufmann bei uns erlebt ebensoviel Großes, Empfindungen und Taten wie irgendein Reiter unter Arabern und Indern. – Je ausgebreiteter sein Geschäft ist, desto mehr Menschen hat er, deren Glück oder Unglück er mitfühlen muß, und desto öfter ist er selbst in der Lage, sich zu freuen oder Schmerzen zu empfinden. – Neulich hat hier ein großes Haus Bankerott gemacht.«

»Ich weiß es«, sagte Bernhard, »es war ein trauriger Fall.«

»Wenn Sie die Gewitterschwüle empfunden hätten, welche auf dem Geschäft lag, bevor es fiel, die furchtbare Verzweiflung des Mannes, den Schmerz der Familie, die Hochherzigkeit seiner Frau, welche ihr eigenes Vermögen bis zum letzten Taler in die Masse warf, um die Ehre ihres Mannes zu retten, Sie würden nicht sagen, daß unser Geschäft arm an Leidenschaften und großen Gefühlen ist.«