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Soll und Haben

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Lenore warf das Köpfchen zurück und sagte gekränkt und heftig. »So gehen Sie, mein Herr!«

Dies war das beste Mittel, das Gehen unsers Anton zu verhindern, er blieb stehen und sah seine Tänzerin flehend an.

»Warum gehen Sie nicht?« fragte das Fräulein noch heftiger.

Anton wurde sehr bleich; er sah mit tiefem Schmerz in das Gesicht seiner zornigen Dame und sagte mit zitternder Stimme: »Sagen Sie mir wenigstens, daß Sie nicht schlecht von mir denken wollen.«

»Ich werde gar nicht an Sie denken«, rief Lenore mit schneidender Kälte und wandte sich ab.

Der arme Anton stand einen Augenblick wie vernichtet, es war ein bitterer Schmerz, der seine unerfahrene Seele durchbebte. Wäre er zehn Jahre älter gewesen, so hätte er sich diesen heftigen Zorn vielleicht günstiger ausgelegt. Der Gedanke, daß er noch nicht fertig war, gab ihm seine Kraft wieder, er ging aufgerichtet, ja mit stolzem Schritt zu dem Kreise, in welchem Frau von Baldereck die Honneurs machte. Da waren alle die auserwähltesten Damen der Gesellschaft, die lange, hagere Gräfin, eine Tasse Tee trinkend, Eugeniens Mutter und neben ihr eine große Männergestalt; Anton wußte, ohne daß es ihm jemand gesagt hatte, daß der stattliche Herr Lenorens Vater sein müsse. In dem Augenblick, wo er vor die Frau des Hauses trat, seine Verbeugung zu machen, flog sein Blick über die ganze Gesellschaft. Noch viele Jahre nachher lebte der Augenblick in seinem Gedächtnis, noch viele Jahre nachher wußte er die Farbe von jedem Kleide, er konnte noch die Blumen aufzählen, welche in dem Strauß der Baronin Rothsattel waren, ja er erinnerte sich noch an das Bild der gemalten Tasse, aus welcher die Gräfin trank. Die Hausfrau empfing die Verbeugung unseres Helden mit herablassendem Lächeln und war im Begriff, ihm etwas Freundliches zu sagen, als Anton sie unterbrach und mit einer Stimme, die vor Bewegung zitterte, aber laut durch den ganzen Saal tönte, seine Rede begann, so daß nach den ersten Worten eine allgemeine Stille entstand: »Gnädige Frau, ich habe heut erfahren, daß in der Stadt erzählt wird, ich sei reich, ich besitze Güter in Amerika und vornehme Herrschaften nehmen im geheimen ein Interesse an mir. Ich erkläre dies alles für Unwahrheit, ich bin der Sohn des verstorbenen Kalkulators Wohlfart aus Ostrau; ich habe von meinen Eltern fast nichts geerbt als einen ehrlichen, unbescholtenen Namen. Ich bin dem Andenken an meine guten Eltern und mir selbst schuldig, das hier öffentlich zu erklären. Sie, gnädige Frau, haben die hohe Güte gehabt, einen fremden und unbedeutenden Menschen so freundlich in Ihrem Hause aufzunehmen und mich zur Teilnahme an den Tanzstunden dieses Winters aufzufordern. Ich darf nach dem, was ich heute gehört habe, nicht mehr daran teilnehmen, weil mein fernerer Besuch der Tanzstunde den Unwahrheiten, welche man über mich verbreitet hat, Nahrung geben würde und weil ich gar in den Verdacht kommen könnte, ein Betrüger zu sein, welcher die Gastfreundschaft Ihres Hauses mißbraucht. Deshalb sage ich Ihnen meinen innigen Dank für Ihre Güte und bitte Sie, mir ein freundliches Gedächtnis zu bewahren.«

Die Rede war etwas zu pathetisch für den Kreis, in welchem sie wirken sollte, aber sie wirkte doch. Es entstand für einige Augenblicke tiefes Stillschweigen; die Gräfin hielt wie erstarrt ihre Tasse in der Luft zwischen Schoß und Mund, und die Frau vom Hause sah verlegen vor sich nieder.

Anton machte eine tiefe Verbeugung und ging zur Tür.

Da eilte aus der starren Gruppe mit beflügeltem Schritte eine helle Gestalt dem Scheidenden nach, faßte mit ihren Händen seine beiden Hände; Anton sah in Lenorens weinende Augen und hörte noch, wie sie mit weicher Stimme unter Tränen zu ihm sagte: »Leben Sie wohl!« Dann schloß sich die Tür hinter ihm, und alles war vorbei.

Anton ging langsam nach Hause. Es war so ruhig und still in seiner Seele, als wäre er nie in dem Hause hinter ihm gewesen, er sah auf die großen Schneeflocken, welche vor ihm herunterfielen, und freute sich über die Spur, welche die Fußgänger in den weichen Schnee gedrückt hatten. Wenn er Schmerzen fühlte, so waren sie doch ohne Bitterkeit. Er trug sein Haupt stolz und dachte an alles mögliche, woran ein unbefangener Spaziergänger denkt, an seinen Prinzipal und auch an den närrischen Tinkeles, den Fink heut wieder zum Kontor hinausgewiesen. Aber in seinem Ohr klang fortwährend eine Melodie, die neben allen Gedanken forttönte, es waren die Worte Lenorens: ›Leben Sie wohl!‹

In den Salon der gnädigen Frau kehrte das Leben zurück, als er das Zimmer verlassen hatte. Das erste Wort, welches gehört wurde, war der strafende Ruf der Mutter, die ihre Tochter zu sich forderte, welche in der vergangenen Szene eine so auffallende Rolle improvisiert hatte. »Lenore, du hast dich vergessen!« sagte die Mutter leise und bekümmert.

»Laß sie«, sagte der Freiherr mit Geistesgegenwart laut, »die Tochter hat getan, was der Vater hätte tun sollen; der junge Mann hat sich brav gehalten, und wir werden ihm unsere Achtung nicht versagen.«

Unter den übrigen Gruppen aber erhob sich ein Gemurmel, die Einleitung zu lebhafter Unterhaltung. »Das war ja eine wahre Theaterszene«, sagte die Dame vom Hause mit ganz natürlichem Lächeln. »Aber, wer hat uns denn gesagt –«

»Ja, wer hat denn gesagt?« fiel Herr von Tönnchen ein.

Aller Augen richteten sich auf Fink.

»Sie sagten doch, Herr von Fink –«, fing Frau von Baldereck wieder an, sich majestätisch erhebend.

»Jawohl«, fiel Herr von Zernitz ein, »und es ist doch etwas an dem Gerücht, mein Wort darauf! Ich selbst habe bei einem notariellen Akt als Zeuge gedient«, fuhr er unvorsichtig heraus.

»Erklären Sie doch, Fink.«

»Auch ich muß um Erklärung bitten, Herr von Fink«, fuhr die Hausfrau gereizt fort.

»Mich, gnädige Frau?« sagte Fink mit der Ruhe eines Gerechten, dem ein Unrecht geschieht. »Was soll ich von diesem Gerücht wissen? Ich selbst habe ihm widersprochen, soviel ich nur konnte.«

»Ja, das haben Sie«, ließen einzelne Stimmen sich hören, »aber Sie ließen merken –«

»Sie sagten doch –«, fiel Frau von Baldereck ein.

»Was, gnädige Frau?« fragte kalt der unerschütterliche Fink.

»– daß dieser Herr Wohlfart auf geheimnisvolle Weise mit dem – dem Kaiser – in Verbindung stehe.«

»Das ist unmöglich«, antwortete Fink mit größtem Ernst. »Das ist ein arges Mißverständnis! Ich habe Ihnen die Person des Herrn beschrieben, der Ihnen damals noch unbekannt war; es ist möglich, daß ich dabei eine zufällige Ähnlichkeit erwähnt habe.«

»Aber was ist das mit den Gütern«, fiel Herr von Tönnchen ein, »Sie selbst haben ja die Herrschaft an ihn zediert, und dieser Verkauf war von auffallenden Umständen begleitet. Sie forderten von uns, die Sache als tiefes Geheimnis zu bewahren.«

»Da Sie mein Geheimnis so gut bewahrt haben, daß Sie es überall und jetzt hier vor der ganzen Gesellschaft erzählen«, entgegnete Fink lachend, »so tragen Sie und Zernitz offenbar die Schuld, wenn sich dies törichte Gerücht verbreitet hat. Merken Sie auf, meine teuren Herren. Mein Freund Wohlfart hatte einmal in fröhlicher Stimmung geäußert, er wünsche wohl, Grundbesitz in Amerika zu haben. Ich machte mir einen Scherz und schenkte ihm zu Weihnachten eine Besitzung, die ich auf Long-Island bei New York hatte. Diese Besitzung, meine Herren, besteht in einer Sandgrube, welche mit Gesträuch bewachsen ist und in welcher eine bretterne Vogelhütte zum Schießen von Strandvögeln steht. Wenn ich Sie gebeten habe, nicht davon zu sprechen, so war das ganz in Ordnung; daß Sie aber aus dieser Kleinigkeit ein Tau gesponnen haben, welches einen liebenswürdigen Mann von unserer Gesellschaft scheiden soll, tut mir sehr leid.« Ein kalter Hohn legte sich auf sein Gesicht, als er fortfuhr: »Mit Freuden sehe ich, wie sehr Sie alle dies Bedauern teilen und wie stark Sie den gemeinen Bedientensinn verachten, welcher einen Mann deswegen für salonfähig hält, weil irgendein fremder Potentat sich um ihn gekümmert haben soll. Da wir aber den heutigen Ball mit Erklärungen angefangen haben, so will auch ich die Erklärung abgeben, daß Herr Anton Wohlfart legitimer Sohn des verstorbenen Herrn Kalkulator Wohlfart aus Ostrau ist und daß ich jede fernere Erwähnung dieser Mißverständnisse für eine Beleidigung meines nächsten Freundes halten werde. – Und jetzt, gnädige Frau, schenken Sie mir aufs neue Ihre Huld, ich bin mit Fräulein Eugenie zur ersten Quadrille engagiert und fühle mich außerstande, länger zu warten.«

In Frau von Baldereck kämpften eine Weile verletztes Selbstgefühl und mütterliche Sorgfalt, endlich siegte, wie bei einer guten Natur zu erwarten war, die letztere; sie sagte, Fink vorwurfsvoll anblickend, leise: »Ich fürchte, Sie haben Ihr Spiel mit uns getrieben!« – Fink aber schüttelte den Kopf und erwiderte mit großer Aufrichtigkeit: »Man spielt nicht, wo man fühlt.« Darauf führte er Fräulein Eugenie zum Tanze.

Beim Antreten sagte ihm Leutnant von Zernitz: »Sie haben Ihr Spiel mit uns getrieben, Fink, ich bedaure, darüber noch eine Erklärung von Ihnen fordern zu müssen.«

»Seien Sie verständig und fordern Sie nichts«, entgegnete Fink, »wir haben so oft miteinander um die Wette geschossen, daß es sehr töricht wäre, wenn wir einer auf den andern zielen wollten.«

Da Fink bei weitem der beste Schütze in der Gesellschaft war, so sah Herr von Zernitz doch zuletzt ein, daß Fink recht hatte. Und eine kleine Spannung von einigen Wochen abgerechnet, welche an einem stillen Abend bei der zweiten Flasche Burgunder durch Händeschütteln ausgeglichen wurde, hatte die Sache keine weitern Folgen. – Doch erkaltete seit dem Abgange Antons das Interesse, welches Fink an der Tanzstunde genommen, und weder Theone Lara noch Lenore hatten Ursache, seine Anspielungen zu fürchten, denn wenn er im Salon erschien, so begnügte er sich, der Tochter vom Hause und einigen erfahrenen Frauen seine Huldigung darzubringen, um die aufstrebende Jugend kümmerte er sich nicht mehr.

 

Anton aber war wie ein erlöschender Stern aus der Gesellschaft geschieden. Er wurde nicht wieder darin gesehen. Frau von Baldereck erkannte etwas spät, daß es passend sei, den jungen Mann, der doch einmal in ihrem Hause aufgenommen war, gelegentlich wieder einzuladen, um ihm und andern zu zeigen, daß man seine Gegenwart nicht bloß deshalb für anständig halte, weil er – sondern auch um seiner selbst willen. Und einige andere Familien des Landadels dachten ebenso; da aber, wie bemerkt, alle diese Einladungen etwas spät kamen und Anton sein Nichterscheinen entschuldigte, so geschah ihm in kurzem, was viel bedeutenderen Größen der Gesellschaft zu begegnen pflegt, er wurde vergessen. Die früheren Eideshelfer bei der großen Urkunde, Herr von Zernitz und Herr von Tönnchen, redeten ihn noch eine Weile auf der Straße an, wenn er ihnen begegnete, dann grüßten sie ihn noch ein Jahr, und endlich kannten auch sie ihn nicht mehr.

Unserm Anton kam wenig darauf an. Er stürzte sich jetzt mit Leidenschaft in die Arbeiten des Geschäfts. Gleich am andern Morgen klopfte er an die Tür des kleinen Kontors und trat in das Allerheiligste des Prinzipals ein. Er erzählte ihm, was er gestern zu Frau von Baldereck gesagt habe, und fügte hinzu: »Ich werde nicht mehr in die Gesellschaft gehen, und ich bitte Sie, mir zu verzeihen, wenn ich in der letzten Zeit meine Pflicht nicht vollständig getan habe, ich werde von heut an sorgfältiger sein.«

»Ich habe keinen Grund, über Sie zu klagen«, erwiderte der Kaufmann freundlich. »Geben Sie mir die Summe an, welcher Sie bedürfen, um Ihre Verhältnisse in Ordnung zu bringen.« Anton zog einen Zettel aus der Tasche, auf dem er gewissenhaft sein Debet aufgezeichnet hatte, Herr Schröter rief den Kassierer, ließ die Summe an Anton zahlen und diesem zur Last schreiben, und auch das war abgemacht.

Fink sagte am nächsten Tage zu Anton: »Du bist mit einem Knalleffekt aufgetreten und hast von den älteren Herren der Gesellschaft das Zeugnis bekommen, daß du dich angemessen benommen hast.«

»Wer hat das gesagt?« Fink erzählte ihm die Äußerungen des Freiherrn von Rothsattel und tat, als bemerke er nicht, daß Antons Gesicht eine tiefe Röte überflog. »Indes wäre doch klüger gewesen«, fuhr Fink fort, »wenn du die Angelegenheit nicht so auf die Spitze getrieben hättest. Wozu die ganze Gesellschaft meiden, in der doch einige sind, die dich persönlich liebgewonnen haben?«

»Ich habe gehandelt«, sprach Anton, »wie mir mein Gefühl eingab, ein anderer, der älter ist und mehr Welt hat, wird es vielleicht geschickter anfangen. Du kannst mir nicht zürnen, daß ich in dieser Sache nicht deinem Rat gefolgt bin.«

Es ist merkwürdig, dachte Fink, die Treppe hinuntersteigend, bei welchen Gelegenheiten die verschiedenen Menschen lernen, den eigenen Willen zu gebrauchen. Dieser Knabe ist über Nacht selbständig geworden, und was ihm das Schicksal jetzt von größeren Dingen bringt, er wird sicher alles anständig durchmachen.

Für Anton sowohl als seinen Freund war es ein gutes Zeichen, daß ihr Verhältnis durch diese Szene nicht gestört wurde. Ja es gewann an innerem Wert. Fink behandelte seinen jüngeren Freund mit größerer Achtung, und Anton bewegte sich mit mehr Freiheit und bemühte sich, auch Fink gegenüber einen eigenen Willen zu haben. Und das richtige Urteil des Jüngeren trug allmählich dazu bei, den Älteren von manchem losen Streich abzuhalten und seinen Übermut zu bändigen. Anton erfüllte seine Pflichten im Kontor mit der größten Pünktlichkeit, sein Diensteifer war unendlich und seine Zuvorkommenheit gegen seine Kollegen größer als jemals. Fink gewöhnte sich dadurch, ohne daß er es selbst merkte, auch seinerseits regelmäßiger im Geschäft zu erscheinen und die Arbeitsstunden besser auszuhalten. Nur einen Gegenstand gab es, über den er mit seinem Freunde nie sprach, obgleich er wußte, daß Anton immer an ihn dachte, das war die junge Dame der Tanzstunde, welche so viel Herz und Mut gezeigt hatte.

4

Nie hatten die Blumen so reichlich geblüht und nie die Vögel so lustig gesungen als in diesem Sommer auf dem Gute des Freiherrn. Die Wintersaison hatte die Familie mit einem großen Teil des Landadels verbunden, und die Bekanntschaften des Teetisches und Ballsaales spannen sich jetzt unter blauem Himmel weiter. Fast immer war Besuch auf dem Schlosse. Aus der Stadt kam Frau von Baldereck mit Eugenie, zuweilen auch der Laubfrosch, Zernitz und Benno Tönnchen, von ihrem Gut Frau Werner mit einem Sohn und vier Töchtern. Theone und Hildegard waren wochenlang die Gäste Lenorens, sie hatten kein Mittel gefunden, ihren Schwur zu halten, und trafen jetzt wenigstens auf befreundetem Gebiet wieder zusammen. Das Haus schien manchmal zu klein, die Gäste zu fassen. In allen Zimmern des Schlosses und auf dem runden Rasenplatz tummelten sich die zierlichen Gestalten der Mädchen. Sie lasen Theaterstücke mit verteilten Rollen, sie fühlten miteinander die zartesten und höchsten Gefühle durch, sie tanzten, sie schlugen den Dritten ab oder ließen sich vom wilden Mann jagen. Und wenn die jungen Herren je einmal langweilig wurden und die Stimmung der Mädchen nicht verstanden, so bestiegen diese den Kahn, ergriffen Streichruder und zogen sich vom Festlande zurück in eine unangreifbare Stellung mitten auf dem Wasser. Wie süß wurde dort geschwärmt, wenn das Ruder leise in der Flut plätscherte und der Mond über den Bäumen des Parks heraufzog. Um den Kahn hoben die Seerosen ihr weißes Haupt aus dem Wasser, erfreut, daß ihre Feinde, die Schwäne, zur Ruhe gegangen waren, das Bild des Mondes zitterte auf dem Kamm kleiner Kreiswellen, die Nachtigall schmetterte im Busch, und ein warmer Windhauch trieb den Duft blühender Sträucher über den See. Dann sangen Theone und Hildegard zweistimmige Lieder, oder Hulda Werner gestand eine holde Erinnerung aus der Residenz, oder Eugenie machte spöttische Bemerkungen über die unglücklichen Herren, welche am Uferrand auf und ab liefen und vergeblich durch List und Gewalt in den Besitz des Kahnes zu kommen suchten.

Aber die prächtigsten Stunden waren am Sonntag abends; dann wurde das Winterkränzchen fortgesetzt, der Reihe nach im Schloß der Rothsattel, bei Werners, bei Balderecks. Wenn man nicht tanzte, trieb man schelmische Possen. Man verkleidete sich. Mit Mänteln, Schals und Tüchern drapierte sich die junge Gesellschaft in der lächerlichsten Weise, dann stellte Zernitz, der in solchen Dingen ein Meister war, schnell ein Tableau, und die Väter und Mütter mußten als Publikum zusehen. Oder man führte Scharaden in dramatischen Szenen auf, entweder aus dem Stegreif oder so, daß die Rollen der einzelnen auf kleine Zettel geschrieben wurden, die man während der Aufführung in der Hand hielt. Die ganze Woche hindurch dachten die Mädchen auf hübsche Wörter und wie man sie darstellen könnte. Klassische Wörter wurden dort aufgeführt, zum Beispiel ›Referendarius‹ als Reh, als Fee, als Wettrennen und als König Darius, wo Benno Tönnchen als toter Darius auf dem Boden lag und die schöne Hulda Werner als Alexander der Große mit gerungenen Händen hinter ihm stand, worauf Lenore als Ganzes mit einer Brille auf der Nase und Akten unter dem Arm erschien und über den Laubfrosch, welcher ein Verbrechen begangen hatte, ihr Protokoll aufnahm.

Und erst, als das treffliche Wort Parthenia dargestellt wurde! Zuerst ein feierliches Ehepaar aus der alten Zeit; dann ein langweiliger Tee, dann ein schüchterner Liebhaber, welcher täglich seiner Dame einen Liebesantrag machen will und niemals damit zustande kommt, sondern immer sitzenbleibt, so daß die Dame zuletzt mit einem Seufzer die Erklärung ausrufen kann: »Nie, nie!«, und dann eine andere Brautwerbung, bei der ein verschämtes Bauernmädchen ihrem Liebhaber, dem Otto Tronka, zuletzt ein leises Ja zuflüstern muß. – Theone Lara war als Bauernmädchen bezaubernd, nur das Ja sprach sie nicht aus, sie schämte sich. – Und am Schluß erschien Lenore wieder als ein Ganzes, als eine griechische Jungfrau, und der Laubfrosch, der Nußknacker und der kleine Lanzau saßen als Wilde in schwarzhaarigen Schlittendecken um sie herum und wurden von ihr ach so schlecht behandelt.

Wie glücklich war Lenore in dieser Zeit! Zwar ein wenig Original war sie geblieben, und die Mutter schüttelte zuweilen den Kopf über einen kecken Einfall oder einen kräftigen Ausruf, der den Lippen des schönen Mädchens entschlüpfte. Natürlich tanzte Lenore immer als Herr, sooft es an Herren fehlte; sie war die Anführerin bei einigen entschlossenen Taten, welche die Mädchen verübten, sie trieb ihre ganze Gesellschaft einmal wohl eine Meile weit auf einen Punkt, wo eine gute Aussicht sein sollte, sie zwang sie dann, in die Schenke des nächsten Dorfes einzukehren und Milch und Schwarzbrot als Abendkost zu genießen, und brachte die Todmüden am späten Abend auf einem Leiterwagen zurück, den sie gemietet hatte und auf dem sie stand und selbst kutschierte. Sie behandelte die jüngeren Herren fortwährend gönnerhaft wie kleine Jungen, die ein Butterbrot in der Hand halten, sie ließ sich von ihnen Pferdegeschichten erzählen und trat bei einer dramatischen Szene zum Schrecken der Mutter sogar selbst als Herr auf, mit einer Reitpeitsche und einem kleinen Bart von Wolle, den sie allerliebst zu drehen wußte. Dabei sah sie aber so wunderhübsch aus, daß die Baronin nicht im Ernst zürnen konnte.

Wenn jemand auf dem Gute mit dem neuen Leben der Familie nicht ganz zufrieden war, so war’s die Baronin. Über ihren Gemahl war Zerstreuung und Geschäftigkeit gekommen, die wolkenlose ruhige Heiterkeit früherer Jahre schien aus seiner Seele verschwunden. Auch jetzt im Sommer fuhr er oft nach der Stadt, manchen Abend brachte er in der Ressource zu, und lustige Regimentskameraden, welche eine Frau zu nehmen vermieden hatten, zogen ihn häufig aus den Zimmern der Hausfrau in ihre Rauchstuben. Er verhandelte mit Ehrenthal und gefiel sich in lauter Gesellschaft, von der er sonst wenig gehalten hatte. Es war eine sehr geringe Veränderung des Freiherrn, nur für das Auge der Gattin erkennbar. Und auch die Baronin sah ein, daß sie unrecht tue, über diese Veränderungen zu trauern.

Aber auch ihr wurde in dieser Zeit große Freude. Eugen bestand sein Offiziersexamen und kündigte seinen Besuch an, um die Schnüre auf seinen Achseln zu zeigen. Die Mutter ließ ihm sein Zimmer neu einrichten, und der Vater stellte einen Gewehrschrank und eine neue Jagdausrüstung hinein, die er ihm zum Geschenk bestimmte. Als die Stunde kam, wo Eugen eintreffen sollte, konnte der Freiherr die Ankunft gar nicht erwarten, er ließ satteln und ritt dem Sohn bis zum nächsten Dorf entgegen. Und als eine kleine Staubwolke auf der Landstraße das Nahen des Reiters verkündete und der Vater die schlanke Gestalt des Husarenleutnants vor sich erblickte, das Gesicht, welches der geliebten Frau so ähnlich sah, da sprang er wie ein Jüngling vom Pferde, der Sohn tat im Nu dasselbe, und es war ein guter Anblick, als die beiden ritterlichen Gestalten einander auf der Heerstraße umarmten. Und stattlich anzusehen war’s, als sie nebeneinander dem Schlosse zutrabten.

»Ich bringe dir auch gute Nachricht vom Regiment«, begann Eugen nach dem ersten Austausch freudiger Fragen und Antworten. »Zuerst läßt dich der Oberst grüßen.«

»Er war seinerzeit ein toller Junge«, sagte der Vater.

»Jetzt ist er ein Brummbär«, sagte der Sohn. – »Unser Avancement wird magnifik. Waldorf wird ausscheiden müssen, weil seine Brust immer schlechter wird; Balduin Tronka will sich versetzen lassen, er hat mit dem Rittmeister einen famosen Streit gehabt, die Geschichte muß ich dir noch erzählen, und Stallinger bekommt das Majorat seines Onkels, der auf dem Tode liegt. Er wird ein fanatisch reicher Kerl. Man sagt, zwanzigtausend Revenuen.«

»Das ist sehr übertrieben«, sagte der Vater, »das Majorat ist wenig größer als unser Gut.«

»Jedenfalls wird er seinen Wallach dem Wachtmeister schenken«, sagte der Sohn. »Er hat dem Tisch einen superben Satz versprochen. – Wie gefällt dir mein Brauner, Vater?« Sie hielten vor dem Hofe an, der Leutnant ritt das Pferd vor. Der Freiherr untersuchte als Kenner und sprach im allgemeinen seine Billigung aus. Vor dem Pferdestall hielten sie noch einmal an. »Wir wollen die Frauen überraschen«, sagte der Freiherr. Als der Reitknecht die Pferde abnahm, konnten Vater und Sohn sich nicht enthalten, auf einen Augenblick in den Stall zu treten. Zuerst prüften sie die Reitpferde des Freiherrn, dann gingen sie die Reihe der Ackergäule durch. Mit Gönnermiene schlug der Leutnant das eine oder andere, einen persönlichen Bekannten, an den Hals und sprach zur Freude des Vaters mit militärischer Kürze entschiedene Urteile über die Tüchtigkeit aus. Die Knechte standen ehrerbietig herum, Vater und Sohn gerieten in Eifer und teilten einander nicht aufzuschiebende Sportanekdoten mit, der Freiherr mit der Ruhe eines alten Roßbändigers, der Leutnant mit jugendlichem Feuer, seelenvergnügt, vor der erprobten Weisheit des Vaters auch seine lustig grünende Wissenschaft zu zeigen. Bei Lenorens Pony erinnerten sich Vater und Sohn zu gleicher Zeit an die Frauen des Hauses und eilten schnell aus dem Stall nach dem Schlosse.

 

In der Rosenlaube hielt die Baronin ihren Sohn umschlungen, während Lenore ihm liebkosend auf die Schultern klopfte. – Jetzt erst begann die rechte Freude auf dem Schloß. – Die Augen der Eltern glänzten, sooft sie auf die hohe Gestalt des Reiters sahen. Wenn einzelne seiner Ausdrücke und Gebärden noch an die Reitbahn erinnerten, so ertrug auch die Baronin das mit freundlichem Lächeln. Denn seit alter Zeit ist der Stall die Vorhalle, durch welche der Kavalier zu den gefälligen Formen des Salons hinaufsteigt. Im Kreise der Mädchen eroberte sich Eugen sofort die Herrschaft, wenigstens in allen lustigen Stunden wurde er ihr bevorzugter Gefährte. Er machte seine Besuche in der Umgegend, man lud ein und wurde geladen, ein fröhliches Fest folgte dem andern.

Das Behagen an diesem bunten Treiben wurde dem Freiherrn durch einen Umstand beeinträchtigt: er konnte durchaus nicht mehr mit seinem Gelde auskommen. Was zwanzig Jahre hindurch möglich gewesen war, erwies sich jetzt als völlig unmöglich. Das Winterquartier in der Stadt, die größere Ausdehnung seiner gesellschaftlichen Verbindungen, die Epauletten seines Sohnes, die Florkleider und Spitzen Lenorens, sogar die Zuschüsse, welche er zu den jährlichen Zinsen seiner Pfandbriefe machen mußte, um die Interessen an die Landschaft zu zahlen, das alles zusammen wurde ihm unbequem. Die Erträge des Gutes wurden zuweilen ungeduldig erwartet und schnell in Anspruch genommen, sie wurden dadurch nicht größer und nicht sicherer; und mancher verständige Vorsatz früherer Zeiten blieb unausgeführt. Der Freiherr hatte den Plan gefaßt, eine sterile Sandfläche an der Grenze seines Gutes mit Kiefern zu besäen, sogar die unbedeutenden Kosten dieser Verbesserung wurden ihm lästig, und der gelbe Sand glänzte ungefurcht das ganze Jahr in der Sonne. Wieder war er mehr als einmal in die Lage gekommen, die zierliche Kassette, welche seine geliebten Pfandbriefe beherbergte, zu öffnen und einzelne Nummern des schönen Pergaments herauszunehmen; wieder umwölkte sich seine Stirn, und wieder durchfuhr eine fliegende Unruhe sein in der Regel so würdig gehaltenes Wesen. Aber es war nicht mehr die quälende Angst einer früheren Zeit, er hatte bereits eine kleine Praxis in Geschäften erworben und sah die Sache ein wenig kaltblütiger an. Es mußte einen Weg geben, aus diesen Verlegenheiten herauszukommen, im schlimmsten Fall lebte er noch einen, höchstens zwei Winter in der Stadt, bis Lenorens Erziehung vollendet war, und zog sich dann mit Energie in seine Landwirtschaft zurück. Er fühlte, daß ihn das kein großes Opfer kosten würde. Und dann führte er seine industriellen Projekte aus, als guter Wirt nur auf die Zukunft der Kinder bedacht. Unterdes beschloß er, sich gelegentlich bei Ehrenthal Rat zu holen. Der Mann war im ganzen doch wohl ein ehrlicher Mann, soweit ein Händler einem Edelmann gegenüber so etwas sein kann; und was die Hauptsache war, er kannte die Verhältnisse des Freiherrn ziemlich genau, und der Herr fühlte ihm gegenüber nicht die Scheu, welche ihn abhalten mußte, einem Fremden Bekenntnisse zu machen.

Wie immer, erschien auch diesmal der Händler zu rechter Zeit. Seine diamantene Busennadel blitzte, seine unterwürfigen Komplimente gegen die Baronin waren lächerlicher als je, und seine Bewunderung des Gutes zeigte sich wahrhaft grenzenlos. Der Freiherr führte ihn in guter Laune durch die Wirtschaft und sagte endlich: »Sie sollen mir einen Rat geben, Ehrenthal.«

Ehrenthal zuckte mit den Augen und sah den Freiherrn schlau an.

Es waren nur wenige Jahre vergangen, seit sie einen ähnlichen Gang durch die Gebäude des Hofes gemacht hatten, und sehr hatten sich die Zeiten geändert! Damals mußte der Händler seinen guten Rat dem stolzen Baron so vorsichtig und in Süßigkeiten eingehüllt anbieten, wie man dem unartigen Kinde eine Arznei einflößt, und jetzt kam derselbe Herr bereits hilfesuchend zu ihm.

Der Freiherr fuhr mit möglichst leichtem Tone fort: »Ich habe in diesem Jahre größere Ausgaben gehabt als früher, selbst die Pfandbriefe verlangen Zuschüsse, ich muß daran denken, meine Einnahmen zu vermehren. Was ist nach Ihrer Meinung für diesen Zweck am besten zu tun?«

Die Augen des Händlers glänzten, aber er erwiderte mit gebührender Demut: »Was zu tun ist, werden der Herr Baron besser wissen als ich.«

»Nur keins von Ihren Geschäften, Ehrenthal«, warf der Freiherr vorsichtig ein. »Ich werde mit ihnen nicht wieder in Kompanie treten.«

Kopfschüttelnd antwortete Ehrenthal: »Es ist auch nicht immer zu machen ein solches Geschäft, welches ich mit gutem Gewissen dem Herrn Baron empfehlen kann. Der gnädige Herr hat fünfundvierzigtausend Taler liegen in Pfandbriefen. Wozu sich halten die Pfandbriefe, welche so wenig Zinsen geben? Wenn Sie dafür kaufen eine sichere Hypothek zu fünf Prozent, so werden Sie davon zahlen vier Prozent an die Landschaft, und ein Taler vom Hundert bleibt Ihnen als Vorteil, ein jährlicher Vorteil von vierhundertfünfzig Talern für Ihre Kasse. Und Sie können dabei haben noch einen größeren Vorteil. Manche sichere Hypothek zu fünf Prozent wird angeboten zum Kauf mit großem Profit für den Käufer, welcher bar Geld bezahlen kann. Sie werden vielleicht vierzigtausend Taler zahlen, vielleicht noch weniger, und eine gute Hypothek erhalten, welche Ihnen bringt fünf Prozent Zinsen von fünfundvierzigtausend Talern.«

Der Freiherr antwortete: »So war auch mein Gedanke, aber mit der Sicherheit solcher Hypotheken, welche auf dem Markt in den Händen von euch Händlern sind, sieht es schlecht aus, und ich kann mich darauf nicht einlassen.«

Ehrenthal wälzte durch eine Handbewegung jeden Bruchteil dieses Vorwurfs, welcher ihn persönlich hätte treffen können, von sich ab und sagte ärgerlich über den unsoliden Schacher mit solchen Instrumenten: »Ich mache nicht gern Geschäfte mit Hypotheken; was so ist auf dem Markt in den Händen der Händler, das ist nichts für den Herrn Baron; Sie müssen sich wenden an einen zuverlässigen Mann. Sie haben einen Rechtsanwalt, welcher gute Geschäftskenntnisse hat, vielleicht kann der Ihnen schaffen eine sichere Hypothek.«

»Sie wissen also keine?« fragte der Freiherr prüfend und doch mit dem stillen Wunsche, daß Ehrenthal ihm die Mühe erleichtern möchte.

»Ich weiß keine«, sagte der Händler mit größter Entschiedenheit. »Aber wenn Sie wünschen, will ich mich erkundigen unter der Hand; es sind immer welche zu haben. Auch Ihr Rechtsanwalt wird Ihnen sagen, was er für sicher hält. Solche Herren geben sich nur keine Mühe bei den Verhandlungen vor dem Kauf, und Sie werden beim Rechtsanwalt voll einzahlen müssen die ganze Summe für dieselbe Hypothek, welche Sie durch einen Geschäftsmann können erhalten mit einem Vorteil von einigen Tausend.«

Da in der Seele des Freiherrn dieser Vorteil bereits die größte Wichtigkeit erlangt hatte, so faßte er in der Stille seinen Entschluß. Er wollte sehr vorsichtig sein, aber womöglich lieber eine bereits vorhandene Hypothek kaufen als durch seinen Rechtsfreund das Geld anlegen lassen. Und dem Händler sagte er. »Es eilt nicht; falls Sie etwas Passendes finden, benachrichtigen Sie mich.«