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Soll und Haben

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Anton ergriff das Buch, eilte in die Schreibstube von Feroni, schrieb auf einen Zettel: »Fink hat einige Blätter gelesen, er wird schweigen, sonst niemand eine Zeile«, siegelte Zettel und Buch in ein Kuvert und sandte dies durch einen von Feronis Leuten am späten Abend nach dem Hause der Komteß Lara mit dem ausdrücklichen und durch eine Kette von Versprechungen verstärkten Befehl, der Bote müsse unter allen Umständen durch Nachtwächter und Pförtner in das Haus und bis an die Grenzen des Schlafzimmers dringen, wo, wie er mit Grund annahm, Theone jetzt ihre schwarzen Locken durch Ströme von Tränen in träufelnde Bindfaden verwandelte.

Das Gelage nahm seinen Verlauf. Das heiße Zimmer, der starke Trank und ein gewisses nachdenkliches Wesen der meisten Herren machten der Sitzung früher ein Ende, als Finks Absicht war. Endlich brach er auf, weckte den verschlafenen Küfer und sagte zu Anton: »Bezahle die Rechnung.« Als Fink mit nach Hause ging, begann er: »Sei ruhig, Tony, natürlich war alles gelogen, was ich aus dem Buch erzählt habe. In Wahrheit war alle Bosheit darin angesammelt, deren eine Gesellschaft Turteltauben fähig ist.«

»Ich hab’s gemerkt«, sagte Anton vergnügt, »in der nächsten Stunde werden deine Herren schön den Hof machen.«

»Einer oder der andere soll die Geliebte, die ich ihm heut zugeteilt habe, noch heiraten, ich will mich jetzt aufs Kuppeln legen.«

Anton schwieg gekränkt. »Sei ruhig«, fuhr Fink behaglich fort, »auch du sollst deine Einwilligung zu den Partien geben. Sprich, wie gefallen dir meine Herren?«

»Sieh«, sagte Anton, »was sie sagen, erscheint mir oft gewöhnlich, aber sie haben Selbstvertrauen und eine sichere Haltung, die sie auch dann nicht verlieren, wenn sie sich gehen lassen.«

»Na«, sagte Fink, »es geht; sie sind in ihrer Clique, in dem müßigen Umherlaufen mit Cousinen und Sporen an den Beinen verkümmert, sie sollen im ganzen genommen ein Beispiel sein, wie man nicht sein muß, wenn man amüsant sein will. Ihre Liederlichkeit ist nicht lustig, und ihre Lustigkeit ist kläglich, in ein paar Jahren sind sie schal und ungenießbar wie schlechter Most. Dieses Tönnchen wird schon säuerlich. Ich habe große Lust, sie dir nächstens betrunken zu zeigen.«

»Sprich nicht so liederlich«, bat Anton.

»Ach, du armer Junge«, sagte Fink. »Schließ die Tür auf und gib mir meine Geldbörse zurück.«

»Du hast heut wieder eine große Rechnung bezahlt«, sagte Anton. »Ich bitte dich, sei nicht so freigebig, du demütigst ja die andern.«

»Sei ruhig, Anton«, erwiderte Fink, »ich halte mich über sie auf, folglich ist es auch billig, daß ich für sie bezahle.«

»Ich hoffe, du wirst niemals für mich bezahlen«, sagte Anton.

»Nein«, entgegnete Fink, »du sollst das Privilegium haben, dein eigener Kassierer zu sein; ich bin zufrieden, daß du mir den Hausschlüssel trägst und bei mir noch deine Zigarre rauchst, während ich mich ausziehe. – Welche Stunde ist’s?«

»Es ist gegen zwei Uhr«, erwiderte Anton vorwurfsvoll.

»Dann sind wir sicher die letzten. Da ich herkam, konnte das alte Haus solche Exzesse nicht vertragen. Als ich das erstemal beim Frühlicht diesen Riesenschlüssel ins Schloß steckte, fürchtete ich, die alten Mauern würden über mir zusammenbrechen. Jetzt sind sie daran gewöhnt, der Hund, die Hausknechte und der Prinzipal. Oft bleibe ich nur deshalb länger aus, um diese schauderhafte philiströse Hausordnung umzudrehen.«

Als Hildegard Salt nach einer feuchten Tränennacht gegen Morgen die ersten Anstalten zum Schlafen machte, wurde sie durch einen Brief von Theone Lara geweckt, in dessen vorderem Teile Theone mit schwarzer Krähenfeder die Ansicht aussprach, daß für sie auf dieser Welt kein Raum mehr sei, und in der zweiten Hälfte diese Ansicht dahin berichtigte, daß sie Hildegard und Lenore für nächsten Nachmittag zur Schokolade einlud, um wegen der glücklichen Rettung des Buches eine vertrauliche Festfeier zu begehen.

Auf dieser Konferenz der Braunen wurde die Entweihung des Buches durch Männeraugen lebhaft besprochen. Schrecklich war, daß Fink hineingesehen hatte. Aber auch Wohlfart hatte das Buch in Händen gehabt, und es war sehr zu fürchten, daß auch er es durchgelesen hatte. Lenore war überzeugt, Wohlfart habe nicht darin gelesen. Hildegard dagegen behauptete, er sei ein Mann, und kein Mann, auch der beste nicht, sei einer solchen Diskretion fähig. Nach längerer Debatte wurde beschlossen, ihn auf eine Probe zu stellen. »Wenn er hineingesehen hat«, sagte Lenore, »so hat er doch zuerst das Titelblatt angesehen.«

»Das Titelblatt durfte er ansehen«, warf ein brauner Vogel ein.

»Ich hatte ihm verboten, das Buch zu öffnen«, sprach Lenore, »und ich weiß, er hat keine Seite angesehen. Ihr alle sollt zuhören, wie er meine Fragen beantwortet.«

Als Anton in der nächsten Tanzstunde erschien, trat ihm Lenore an der Spitze der Partei entgegen, ihre Miene war bekümmert, und alle Braunen bemühten sich, die Köpfe zu hängen und ebenso traurig auszusehen: »Ach, Herr Wohlfart, was haben Sie gemacht! Das Buch, welches Sie an Theone geschickt haben, war ja nicht ihr Tagebuch, es war das Notizbuch eines Herrn, aus einer fremden Brieftasche.«

»Wie ist das möglich?« rief Anton bestürzt.

»Gleich auf der ersten Seite war eine Rechnung vom 29. über einen Frack, vom 30. eine Flasche Rotwein und zwei neue Sporen. Das Buch konnte uns nichts helfen.« Alle Braunen schüttelten den Kopf und sahen betrübt zur Erde.

Anton suchte sich zu entschuldigen. »Fink zog das rote Buch aus der Westentasche und gab es in meine Hand, ich sandte es sogleich versiegelt ab.«

»Dann muß Herr von Fink das Buch vertauscht haben«, fuhr Lenore fort. »Warum haben Sie denn nicht hineingesehen?« fragte sie vorwurfsvoll. »Wenigstens auf das Titelblatt.«

»Das durfte ich ja nicht«, rief Anton, »ich hatte Ihnen ja versprochen, keinen Blick hineinzuwerfen. Ich rufe Fink.«

»Halt«, rief Lenore, »noch einen Augenblick! Hat er hineingesehen oder nicht?« fragte sie siegreich, zu ihrer Schar gewandt.

Ein bewunderndes »Nein« kam von aller Lippen. »Bleiben Sie, Herr Wohlfart, es ist das rechte Buch, das Sie zurückgesandt haben. Einige von uns bezweifelten, ob ein Mann, ob selbst Sie das Tagebuch ungelesen aus der Hand geben könnten; ich sagte, Sie wären das imstande, und habe meinen Freundinnen das soeben bewiesen.«

»Ich danke Ihnen für das gute Zutrauen«, rief Anton erfreut.

»Alles traue ich Ihnen zu, was brav und ehrlich ist«, sagte Lenore und blickte ihn mit herzlichem Vertrauen an.

Das war ein großer Abend im Kränzchen. Anton war bis zum Kotillon von einem Kreis junger Damen umgeben, welche ihn mit rührender Vertraulichkeit behandelten, und als der Augenblick kam, in welchem farbige Schleifen an die Herren ausgeteilt wurden, da wurden die Klappen seines Fracks von oben bis unten besteckt, und er sah aus wie der bunteste Hofmarschall des Kontinents.

Aber noch Größeres begab sich. Die Partei der Grünen drohte zu zerfallen. Zernitz, Georg Werner und der kleine Lanzau tanzten heut nur mit den Braunen. Hildegard Salt verlebte eine schreckliche halbe Stunde an der Seite des Nußknackers, welcher sie während eines Walzers mit ritterlicher Artigkeit, ja man muß sagen, mit Gefühl behandelte und dadurch in die allergrößte Verlegenheit setzte; Lenore hatte gar von den ehrerbietigen Angriffen des Laubfrosches, des Georg Werner und des kleinen Lanzau zu leiden, welche sämtlich auf einmal zu der Überzeugung gekommen waren, daß Lenore ihrer ernsthaften Huldigung nicht unwürdig sei. Eugenie selbst war heut gegen die Braunen von aufrichtiger Herzlichkeit, sie hing sich an Lenorens Arm und küßte beim Abschied Theone im überströmenden Gefühl auf beide Wangen. Und Frau von Werner setzte sich neben die Baronin Rothsattel, kündigte für die nächsten Tage ihren und ihrer Töchter Besuch an, bat um die Erlaubnis, ihren Georg mitzubringen, und sprach unaufhörlich davon, wie glücklich ihre Kinder noch im nächsten Sommer darüber sein würden, daß die Tanzstunde sie in ein so intimes Verhältnis zu Lenore gebracht habe. Kurz, das ganze Aussehen der Tanzstunde war verändert. Mit Ausnahme der grünen Damen, welche über die Untreue ihrer Herren zürnten, war alles in einer gemütvollen, von Menschenliebe gleichsam überfließenden Stimmung, deren Gegenstand die Damen des braunen Bundes waren. Verlegen erkannten diese die Veränderung ihrer Stellung, die Herzlichkeit der Baldereck, die ernsthaften Huldigungen aller feindlichen Herren; ach, aber zu einem Genuß ihres Glückes konnten sie nicht kommen, in ihrer Brust fühlten sie die Nadelstiche des bösen Gewissens, und um sie herum bewegte sich in weitem Kreise die furchtbare Gestalt Finks, des Wissenden. Durch ein Wort konnte er den unbegreiflichen Zauber zerstören, der sie umgab. – Den ganzen Abend hielt er sich fern von allen Teilnehmern am Tagebuch, erst am Ende der Stunde trat er zu Lenore: »Ist Fräulein Eugenie heut nicht allerliebst? Ich gebe Ihnen zu, daß sie gefühllos ist, aber diese kleine Unart wird sich möglicherweise im Laufe der Jahre in eine ganz entgegengesetzte Eigenschaft verwandeln.«

Lenore sah ihn verlegen an. »Kommen Sie mit zu Theone Lara«, sagte sie endlich. »Herr von Fink hat ein Recht auf unsern Dank«, rief sie dort, »wir alle wollen ihn bitten, daß er über das Buch schweigt, wie er es bis jetzt getan.«

»Ich will mich dazu verpflichten«, versetzte Fink, »unter einer Bedingung. Ein Opfer muß ich haben. Ich muß die Dame erfahren, welche den Vers unter einen gewissen Weinstock geschrieben hat. Ich muß jemanden haben, den ich hassen kann, von dem ich bei Gelegenheit alles Schlechte rede, jemanden, der dafür bezahlt, daß Sie so leichtsinnig waren, die Dokumente Ihres scharfen Witzes in meine Hände fallen zu lassen. Nennen Sie mir die eine, und ich gebe Ihnen freiwillig das Versprechen, daß ich gegen Fremde nie ein Wort aus dem Tagebuch zitieren werde.«

 

In der Gruppe entstand eine ängstliche Bewegung, jede fürchtete, die Beute des rachsüchtigen Indianers zu werden. Lenore sah auf Hildegard, welche vor Schrecken erblich, und sagte eifrig: »Ich habe die Zeichnung gemacht, und ich habe die Verse darunter meiner Freundin diktiert; da Sie’s gesehen haben, so bitte ich Sie um Verzeihung. Mehr kann ich nicht tun; und wenn Sie jetzt die Absicht haben, sich an mir zu rächen, so werde ich Ihren Haß zu ertragen suchen.«

»Schön«, sagte Fink lächelnd, »ich werde mich rächen, ich werde Sie von heute ab hassen. Übrigens ist mir angenehm, zu erfahren, daß auch das vergänglichste aller Gefühle, Mädchenfreundschaft, die Unglücklichen, welche davon betroffen werden, zu heldenmütigen Opfern begeistern kann. – Ah, Fräulein Hildegard, finden Sie nicht, daß Benno Tönnchen ein herzensgutes Kind ist? Auch seine Gestalt ist nicht schlecht. Etwas zu voll, werden Sie sagen, aber gerade dies volle Wesen macht ihn und seine Familie so ansprechend.«

Die letzte Folge dieses glücklichen Abends war, daß auf einer neuen Konferenz der Braunen beschlossen wurde, den treuen Ritterdienst Wohlfarts in außerordentlicher Weise zu belohnen. Nach längerer Überlegung wurde man einig, daß Theone gemeinschaftlich mit ihren Freundinnen eine prachtvolle Börse zu häkeln habe. Gleich am nächsten Morgen wurden Seide und Perlen gekauft. Lenore wollte, um sich nicht auszuschließen, die Kunst des Häkelns eigens erlernen. Auch strahlte bereits die erste Kappe der Börse in Braun und Gold, als Ereignisse eintraten, welche die Vollendung hinderten.

3

Es ist eine traurige Erfahrung, daß die überirdischen Gewalten dem Menschenkind das Glück einer hochgespannten Empfindung nicht lange unverkümmert lassen. Sie haben die Sache so schlau eingerichtet, daß sich fast immer eine Saite unseres Innern abspannt, sooft sie den Wirbel einer anderen zur Höhe herumdrehen. Natürlich entsteht daraus ein Mißklang. Diese schlechte Behandlung erfuhr auch Antons Seele.

Zunächst ereignete sich, daß das Kontor fortfuhr, die Veränderung in Antons Leben mit kritischem Blick zu beobachten. Jede Art von Befremden herrschte in den verschiedenen Zimmern des Hinterhauses, in allen aber war man einig, daß sich Anton, seit er die Tanzstunde besuche, sehr auffällig und nicht zu seinem Vorteil verändere. In Wirklichkeit war diese Veränderung nicht groß. Es ist wahr, Anton war in den Freistunden weniger mit seinen Kollegen zusammen als sonst, er brachte viele Abende außer dem Hause zu, und wenn er einmal in Gesellschaft der Hausgenossen aushielt, so war er wohl zerstreuter, ja vielleicht übte er auch geringere Nachsicht gegen die ihm wohlbekannten kleinen Schwächen der anderen Herren. Sein Verstand bewahrte ihn davor, sich wegen der plötzlichen gesellschaftlichen Erfolge zu überheben und die Kollegen durch Erzählung seiner Abenteuer zu langweilen; aber er konnte sich doch nicht enthalten, zuweilen Vergleiche anzustellen zwischen dem Ton und Benehmen seiner Umgebung, die er übersah, weil er sie genau kannte, und dem Ton und Benehmen im Salon der gnädigen Frau, der ihm imponierte, weil er ihm neu war. Das Kontor erklärte seine größere Schweigsamkeit für Stolz, seine häufige Abwesenheit für unziemlichen Leichtsinn, und er, der sonst ein Liebling des Hauses gewesen war, kam gerade deshalb in die Lage, jetzt sehr streng beurteilt zu werden. Er selbst empfand die kühlere Haltung der Gemäßigten, die auffallende Kälte der Entschiedenen als lieblose Behandlung. So kam es, daß er die Abende, an denen er keine Veranlassung hatte auszugehen, fast nur mit Fink verlebte und daß beide zusammen nach wenigen Wochen als aristokratische Koterie den andern Herren gegenüberstanden.

Anton wurde durch dieses Verhältnis mehr gedrückt, als er sich selbst gestehen wollte; er fühlte es an seinem Arbeitspult, auf seinem Zimmer, sogar beim Mittagessen im Vorderhause. Seltener redete ihn einer seiner Kollegen an; wenn Jordan eine Auskunft forderte, wandte er sich nicht mehr an ihn, sondern an Baumann; wenn der Kassierer zur Frühstücksstunde in das vordere Kontor kam, so trat er nicht mehr an Antons Sitz; und wenn Specht sich von seinem Platze umwandte und mitten in den kaufmännischen Korrespondenzen eine auffallende Frage an die Umsitzenden tat, so wandte er sich zwar öfter als sonst an Anton, aber es erschien diesem als keine Verbesserung seiner Situation, wenn Specht ihm flüsternd ins Ohr schrie: »Ist es wahr, daß Herr von Berg Apfelschimmel hat?« oder: »Muß man bei Frau von Baldereck lackierte Stiefel oder Schuhe tragen?« Am gewalttätigsten wurde Anton von seinem alten Gönner Pix behandelt. Übergroße Toleranz hatte niemals die Energie dieses Herrn geschwächt, und aus einem nicht recht verständlichen Grunde sah er in dem gegenwärtigen Anton eine Art Verräter am Kontor, an der großen Waage und am Solo. Es war seine Gewohnheit, den eigenen Geburtstag so feierlich als möglich zu begehen. Er lud dann seine Vertrauten, in deren erster Reihe Anton stand, zum Abend auf sein Zimmer und setzte ihnen an diesem Tage ausnahmsweise Wein auf den Tisch und einen Napfkuchen, den er eigens beim Bäcker bestellte und den er in immer größeren Verhältnissen zu liefern bemüht war. In diesen Wochen kam wieder sein Geburtstag heran, und Anton war, obgleich Herr Pix sich in der letzten Zeit sehr schweigsam gegen ihn verhalten hatte, doch vorbereitet, den Abend bei ihm zuzubringen, er hatte deshalb eine Einladung des Herrn von Zernitz bereits abgelehnt. Früh vor der Kontorstunde ging er auf das Zimmer des Herrn Pix und gratulierte diesem. Herr Pix nahm den Glückwunsch sehr kühl auf und gönnte ihm keine Einladung für den Abend. Nach Tische begegnete Anton dem kolossalen Napfkuchen, welcher mit Hilfe eines Bäckerlehrlings mühsam die Treppe des Hinterhauses hinaufstieg, im Kontor merkte er aus einer Äußerung des Herrn Specht, daß diesmal sämtliche Kollegen aufgefordert waren, den Tag festlich zu begehen, an welchem Herr Pix durch sein Erscheinen eine Lücke der Schöpfung ausgefüllt hatte. Alle waren geladen, nur Anton und Fink nicht.

Mit Recht empfand Anton diese Zurücksetzung als eine Unart. Er empfand sie aber tiefer, als wohl nötig gewesen wäre. Und zum Überfluß teilte ihm Specht im Vertrauen mit, daß Pix die Erklärung abgegeben habe, ein junger Herr, der mit Leutnants umgehe und bei Feroni am liederlichen Tische sitze, sei kein passender Gesellschafter für einen soliden Kaufmann. Als er an diesem Abend einsam auf seiner Stube saß und unter sich die lustige Unterhaltung der Kollegen hörte, da überkam ihn eine bange und gedrückte Stimmung, und keins von den glänzenden Bildern, welche in der letzten Zeit seine Mußestunden ausgefüllt hatten, auch das holdeste nicht, war mächtig genug, durch die dichte Wolke des Mißmuts durchzudringen, welche ihn umhüllte.

Er selbst war nicht zufrieden mit sich und suchte selbstquälerische Anklagen gegen sich zusammen. Er war ein anderer geworden. Er war nicht gerade nachlässig in den Arbeitsstunden, aber seine Tätigkeit machte ihm wenig Freude, sie war ihm oft eine Last. Es war ihm begegnet, daß er in seinen Briefen Wichtiges vergessen hatte, ja er hatte sich ein paarmal in den Preisen verschrieben, und Jordan hatte ihm mit einer kurzen Bemerkung die Briefe zurückgegeben. Es fiel ihm ein, daß der Prinzipal sich in der letzten Zeit gar nicht um ihn gekümmert und daß Sabine ihn vor einigen Tagen auf der Treppe kälter gegrüßt hatte als gewöhnlich. Und neulich, als die Tante über Störung ihrer Nachtruhe klagte, weil jemand so spät und geräuschvoll die Haustür geöffnet, da hatten alle Kollegen vorwurfsvoll auf ihn gesehen. Sogar der treue Karl hatte ihn vor der letzten Tanzstunde, wie Anton jetzt meinte, ironisch gefragt, ob er auch seinen Hausschlüssel bei sich habe. In solcher Stimmung ging Anton an seinen Schreibtisch und fing an, sein kleines Kassenbuch durchzusehen. Er hatte in den letzten Wochen keine Ausgaben eingeschrieben, ängstlich faßte er die Feder und suchte Rechnungen und Erinnerungen zusammen, um das Versäumte nachzuholen. Mit Schrecken entdeckte er, daß seine Schulden zusammen eine Summe ausmachten, welche er nicht tilgen konnte, ohne die kleine Hinterlassenschaft seiner Eltern anzugreifen. Er fühlte sich sehr unglücklich. Hohe Töne hatten lange Zeit in ihm geklungen. Das Schicksal hatte ihm auf einer Saite die feinste Melodie gespielt, jetzt schnurrte die andere. Der Mißton sollte noch größer werden.

An demselben Abend kam der Kaufmann verstimmt aus der Ressource nach Hause, er beantwortete kurz Sabinens Gruß und ging mit starken Schritten im Zimmer auf und ab.

»Was hast du, Traugott?« fragte die Schwester.

Der Bruder trat an ihren Stuhl. »Willst du wissen, wie Fink seinen Schützling bei Frau von Baldereck eingeführt hat? Du warst so bereit, dich über seine Freundschaft zu freuen. Er hat ein System von Lügen gesponnen und hat den unerfahrenen Wohlfart zu einem ruchlosen Abenteurer gemacht.« Er erzählte darauf, daß ihn ein älterer Offizier nach den Verhältnissen Antons gefragt hatte und was dabei zutage gekommen war.

»Ist denn auch gewiß, daß Fink diese abgeschmackten Märchen erfunden und daß Wohlfart darum gewußt hat?« fragte Sabine schüchtern.

»An Finks Beteiligung ist kein Zweifel. Der Streich sieht ihm zu ähnlich. Das ist der leichtsinnige, frevelhafte Sinn, der nichts achtet, nicht einmal den Ruf des Freundes.«

Sabine lehnte sich an den Stuhl und nickte mechanisch mit dem Haupt. Ja, so war er. Wieder einmal empörte sich ihr Herz gegen ihn. »O wie traurig!« sagte sie vor sich hin. »Aber Wohlfart ist unschuldig, Traugott, das weiß ich bestimmt. Eine solche Lüge ist nicht in seinem Wesen.«

»Ich werde es morgen erfahren«, sagte der Kaufmann. »Um seinetwillen wünsche ich, daß du recht hast.«

Am folgenden Morgen ging der Prinzipal durch das vordere Kontor und rief Anton zu sich in die kleine Hinterstube. Da dies selten geschah, so folgte Anton mit der Ahnung, daß irgend etwas Unheimliches heranziehe. Der Prinzipal schloß hinter ihm die Tür, setzte sich recht ernsthaft vor ihm auf den Lederstuhl und begann mit strenger Miene: »Lieber Wohlfart, ich halte es für meine Pflicht, mit Ihnen über einige Gerüchte zu sprechen, die sich in der Stadt verbreitet haben. Man hält Sie für einen reichen jungen Mann von geheimnisvoller Herkunft, erzählt sich, daß Sie große Besitzungen in Amerika haben und daß vornehme Personen sich im stillen lebhaft für Sie interessieren. Ich setze voraus, daß auch Ihnen diese Gerüchte zu Ohren gekommen sind, und wünsche zu wissen, was Sie getan haben, diese zu widerlegen.«

Anton erwiderte erstaunt, aber mit Entschlossenheit: »Ich weiß nichts von einem solchen Gerücht, ich habe einige Male von Fremden sonderbare Anspielungen auf mein Vermögen gehört, ich habe stets widersprochen.«

»Haben Sie mit der nötigen Entschiedenheit widersprochen?« fragte der Kaufmann streng.

»Ich glaube, ja«, antwortete Anton ehrlich.

»Es wäre an dem müßigen Geschwätz wenig gelegen«, fuhr der Prinzipal fort, »wenn nicht Ihr eigener Charakter dadurch verdächtigt würde. Denn die Welt wird geneigt sein, anzunehmen, daß Sie selbst aus irgendeinem Grunde bei der Verbreitung dieses Gerüchts tätig gewesen sind; für den Ruf eines Kaufmanns aber gibt es keinen schlimmeren Argwohn als den, daß er durch niedrige Mittel sich einen Kredit geben will, den zu beanspruchen er kein Recht hat.«

Anton stand starr.

Der Kaufmann fuhr fort: »Außerdem wird durch dieses Geschwätz auch der gute Ruf Ihrer Eltern angegriffen, denn man will wissen, daß Sie der heimliche Sohn eines sehr vornehmen Mannes sind.«

»O meine Mutter!« rief Anton, rang die Hände, und die Tränen rollten aus seinen Augen. Er war so ergriffen, daß ihm der Prinzipal Zeit lassen mußte, sich zu beruhigen, und endlich begütigend sagte: »Fassen Sie sich, lieber Wohlfart, Sie haben jetzt die Aufgabe, die Unwahrheit dieser Erzählungen nachzuweisen. Sie werden Ruhe und männliche Haltung dazu brauchen.«

»Am schrecklichsten ist für mich der Gedanke«, rief Anton, noch immer außer sich, »daß Sie selbst vielleicht glauben, ich hätte diese Unwahrheiten hervorgerufen oder ich hätte sie mir gefallen lassen, um mich wichtig zu machen. Ich bitte Sie, mir zu glauben, ich habe bis zu dieser Stunde nichts davon gewußt.«

»Ich glaube Ihnen gern«, sagte der Kaufmann freundlich, »aber Sie haben doch manches getan, um solchen Erzählungen Raum zu geben. Sie sind fortwährend in einem Kreise gesehen worden, welcher sich sonst gegen junge Männer in Ihrer Stellung sehr spröde verhält. Sie haben hier und da Ausgaben gemacht, welche Ihre Mittel offenbar übersteigen und jedenfalls unpassend für Sie waren.«

Anton hatte die dunkle Empfindung, daß er sich im Mittelpunkt der Erde viel behaglicher befinden würde als auf der Oberfläche. »Ja«, sagte er endlich verzweifelnd, »Sie haben recht, ich habe sehr unrecht getan, über meine Verhältnisse hinauszugehen, ich habe es während der ganzen Zeit empfunden; seit einigen Tagen, wo ich Kasse gemacht habe und gesehen, daß ich in Schulden gekommen bin« – hier lächelte der Kaufmann fast unmerklich –, »ist mir’s klargeworden, daß ich auf unrechtem Wege bin, ich habe nur nicht gewußt, wie ich zurück soll. Jetzt werde ich nicht mehr zaudern«, fuhr er sehr traurig fort, »und Sie mögen die Güte haben, zu entscheiden, ob ich mich jetzt verständig benehme.«

 

»Nicht wahr, Fink hat Sie in die Gesellschaft der Frau von Baldereck eingeführt? Ich dachte es«, sagte der Prinzipal lächelnd, »Vielleicht weiß er mehr von den Gerüchten, welche Sie gegenwärtig so beunruhigen.«

»Erlauben Sie, daß ich in Ihrer Gegenwart sein Zeugnis fordere, daß ich nichts von allen diesen Nachreden gewußt habe und daß ich selbst wohl leichtsinnig gewesen bin, aber nicht niedrig. Fink ist mein Freund und kennt mein ganzes Verhalten.«

»Wenn es Sie beruhigt«, sagte der Prinzipal und ließ Herrn von Fink rufen.

Fink sah im Eintreten verwundert auf den aufgeregten Anton und fragte, ohne die Gegenwart des Prinzipals sonderlich zu beachten: »Was Teufel, du hast geweint?«

»Über Verleumdungen«, sprach der Kaufmann ernst, »welche seine Solidität als Geschäftsmann und die Respektabilität seiner Familie angegriffen haben.« Darauf sagte er kurz, worum es sich handle.

Fink lachte und rief: »Er ist ein Kind; wozu sich um das müßige Geschwätz der Leute kümmern?«

»Er hat kein Recht, dies Geschwätz zu verachten, denn er hat es durch seinen Verkehr in den Kreisen, in die Sie ihn einführten, genährt.«

»Vor allem bitte ich dich, mir hier vor Herrn Schröter zu bezeugen, daß ich keine Ahnung von alledem gehabt habe; du kennst mich genug, um zu wissen, daß ich keinen Fuß in die Gesellschaft der Frau von Baldereck gesetzt hätte, wenn ich für möglich gehalten, daß so etwas von mir gesagt werden kann.«

»Er ist ganz unschuldig«, sagte Fink mit überzeugender Gutmütigkeit zum Prinzipal, »unschuldig und harmlos wie das Veilchen, das still im verborgenen blüht; wenn irgend jemand schuld hat bei dieser lächerlichen Geschichte, so bin ich es und außerdem die törichten Menschen, welche so etwas verbreitet haben. Gib dich zufrieden, Anton; wenn dir die Sache leid ist, so wollen wir sie bald wieder in Ordnung bringen.«

»Ich werde noch einmal zu Frau von Baldereck gehen und ihr mitteilen, daß ich die Tanzstunden nicht mehr besuchen kann.«

»Auch ich halte das für das beste Mittel«, sagte der Kaufmann.

»Ich fürchte, es wird nicht viel helfen«, bemerkte Fink weise.

»Dann habe ich wenigstens das Meinige getan«, rief Anton.

»Wie du willst«, sagte Fink. »Tanzen hast du doch gelernt, und deinen Hut verstehst du auch mit Anstand zu bewegen.«

Gegen Mittag sagte der Kaufmann zu seiner Schwester: »Du hast recht gehabt: Wohlfart war in der Hauptsache unschuldig, Fink hat in seinem Übermut die ganze Intrige angezettelt.«

»Ich wußte es«, rief Sabine und fuhr heftig mit der Nadel in ihre Strickerei. – »Wenn es möglich ist, Traugott, so verhüte jetzt eine neue Unbesonnenheit.«

»Sie müssen die Geschichte selbst abmachen«, antwortete der Kaufmann, »ich bin neugierig, wie sie das zustande bringen werden.«

Anton arbeitete den Tag über wie einer, der sich betäuben will, sprach nur das Nötige und ging am Abend trotzig die drei Treppen hinauf, sich anzukleiden, als ein Mann, der seinen Entschluß gefaßt hat.

Fink sah ihn den ganzen Tag über mißtrauisch an und fragte sich selbst: ›Was hat der Junge vor? Er gebärdet sich, als sollte er das erste Duell abmachen.‹ Und hätte er in Antons Seele sehen können, vielleicht hätte auch ihn erschüttert, den Schmerz zu erkennen, der in dem jungen Herzen fraß. Es war nicht verletzter Stolz allein, nicht die Scham, wie ein Abenteurer und Betrüger zu erscheinen, denn diese beiden Empfindungen gingen unter in einem größeren Weh, in dem Gedanken an den Abschied von seiner geliebten Tänzerin.

Fink sprang die drei Treppen hinauf in Antons Zimmer, den er bereits angekleidet fand, sah das bleiche Gesicht des Freundes, das heute um ein paar Jahre älter aussah als gewöhnlich, und fragte, seine Hand ergreifend: »Bist du böse auf mich?«

»Nicht auf dich und auf keinen andern«, sagte Anton aufgeregt. »Höre mich an; wie das Gerücht entstanden ist, will ich nicht wissen. Es ist möglich, daß du dir einen Scherz mit mir und den Leuten gemacht hast!«

»Mit dir nicht, mein Kind«, sagte Fink.

»Jedenfalls hast du um das Geschwätz gewußt und mir nichts davon gesagt; das war nicht recht von dir, ich sage dir das jetzt und werde dir’s nicht nachtragen, und wir wollen miteinander über diese Geschichte niemals wieder reden.«

»Höre«, sagte Fink, »ich habe die Ansicht, du nimmst das Geschwätz viel zu tragisch.«

»Laß mich«, fuhr Anton fort, »nur heut in meiner Weise handeln.«

»Was willst du denn tun?«

»Frage mich nicht, ich empfinde sehr deutlich, was ich tun muß. Laß uns gehen.«

»So tu, was du nicht lassen kannst«, sagte Fink gutmütig, »aber vergiß nur eines nicht, daß jede Art von Szene, die du vor den Leuten auffährst, sie nur amüsieren wird, um so mehr, je aufgeregter du dich zeigst.«

»Vertraue mir«; sagte Anton, »ich werde ruhig sein.«

Es war große Gesellschaft in den erleuchteten Zimmern, kleine Balltoilette, viel Lichterglanz, sämtliche Familienmütter und mehrere Väter; einige eingeübte Tänze sollten zum besten gegeben werden. Im Eintreten blickte Fink besorgt auf seinen Freund. Anton sah verstört aus, aber er schritt mit großer Energie vorwärts. Er machte sich von Fink los und trat sogleich zu Lenore, mit der er sich zum ersten Tanz bereits engagiert hatte. Das Fräulein sah heute so reizend aus als möglich, sie hatte ihr erstes Ballkleid an, und die großen Augen strahlten vor Lust; sie kam ihrem Tänzer einige Schritte entgegen und sagte ihm mit freundlichem Vorwurf: »Sie kommen so spät, der Ball wird gleich anfangen, und ich hatte gehofft, mit Ihnen vorher noch eine Weile zu plaudern. Papa ist auch hier. Ich werde Sie ihm vorstellen. – Aber was haben Sie? – Sie sehen ja so feierlich aus!«

»Gnädiges Fräulein«, erwiderte Anton mit einer Verbeugung, »Mir ist heut sehr traurig zumute, ich kann nicht die Ehre haben, den nächsten Tanz mit Ihnen zu tanzen.«

»Und warum nicht?« fragte die junge Dame erschrocken.

»Hören Sie mich an, ich werde nicht lange in dieser Gesellschaft bleiben und komme heute nur, mich bei Ihnen und der Dame vom Hause wegen meines Weggehens zu entschuldigen.«

»Aber Herr Wohlfart«, rief Lenore, die Hände zusammenschlagend.

»Viel mehr als an der Meinung der übrigen liegt mir an Ihrer guten Meinung«, sagte Anton errötend, »und vor Ihnen will ich mich zuerst rechtfertigen.«

»Sie sollen sich aber nicht rechtfertigen, ich verstehe Sie nicht«, rief die junge Dame.

Anton aber erzählte ihr mit fliegenden Worten, was er heute von seinem Prinzipal gehört, und versicherte sie eifrig, daß er von dem Gerücht nichts gewußt habe. »Das glaube ich Ihnen gern«, sagte Lenore vertrauensvoll, »Papa hat auch gesagt, daß es wahrscheinlich ein müßiges Geschwätz sei.« – Sie hielt inne, denn sie dachte in dem Augenblick daran, daß ihr Vater hinzugesetzt hatte, dieser Herr Wohlfart möge ein recht guter Mann sein, aber er passe doch nicht in die Gesellschaft. »Und weil Sie erfahren haben, was man über Sie erzählt, wollen Sie ganz aus der Tanzstunde ausscheiden?«

»Ja, ich will«, sagte Anton, »denn wenn ich hierbliebe, würde ich mich der Gefahr aussetzen, für einen Eindringling oder gar für einen Betrüger gehalten zu werden.«