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Soll und Haben

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2

Seit diesem großen Abend hatte die Tanzstunde regelmäßigen Verlauf. Als Anton das Fegefeuer der Einführung bestanden hatte, fühlte er sich unter den Florkleidern, den vornehmen Namen und den Sofakissen mit gestickten Wappen bald heimisch. Er selbst wurde ein nützliches Mitglied des Kränzchens, und zwar durch die bürgerlichsten aller Tugenden, durch Ordnung und Pflichttreue. Und das ging so zu. Das Kränzchen war keine gewöhnliche Tanzstunde, denn bei sämtlichen Teilnehmern wurden die ersten Anfänge der Kunst vorausgesetzt; es hatte vielmehr den Zweck, einige neue Tänze einzuüben und nebenbei eine Vereinigung der befreundeten Familien in bequemer Fasson hervorzubringen. Nun ergab sich bald, daß die bequeme Fasson allerdings nach Finks Herzen war, das Einstudieren neuer Tänze aber von ihm und mehreren seiner Kameraden mit einer sträflichen Lauheit betrieben wurde. Er kam oft gegen Ende der Tanzstunde, er betrachtete den Salon nur als eine Gelegenheit, die jüngeren Damen zu necken und sich mit den reiferen Schönheiten eine Stunde zu unterhalten; er vertrat zum Entsetzen des Tanzmeisters den Grundsatz, wo man im Tanz nicht mit dem gewöhnlichen Schritt fortkomme, sei der einfache Pas des Galopps für alle Fälle gut genug, und das einzige Vergnügen bei unsern Tänzen sei, regelmäßig aus dem Takt und wieder hineinzukommen. »Aber, Herr von Fink«, klagte der Tanzmeister, »das heißt nicht mehr tanzen; dabei ist keine Kunst.«

»Es soll auch keine dabei sein«, sagte Fink, »was hat die Kunst mit unserm Tanzen zu tun? Was Sie die Jugend lehren, ist weiter nichts als eine gesellschaftliche Rotation um einen imaginären Mittelpunkt. Mir ist das langweilig, ich gehe deshalb in Kometenbahn.« Und er blieb dieser Ansicht getreu, er zwang die unglücklichen Opfer, welche er zu engagieren sich herabließ, sich quer durch die Reihen der Tanzenden zu stürzen, aus einer Ecke des Saals in die andere, aus dem Takt, wieder in den Takt, wie es seiner Laune passend schien.

Gegenüber dieser exzentrischen Auffassung, welche leider in dem Kränzchen zahlreiche Anhänger fand, zeigte Wohlfart die Regelmäßigkeit eines Mannes, der mit Entzücken seine Pflicht tut, er erschien pünktlich, er machte jeden Pas, er tanzte jeden Tanz, er war immer in guter Laune und fand eine Freude darin, vernachlässigte junge Damen zu engagieren. Da bei der Sorglosigkeit Finks und seiner Genossen schnell Mangel an Tänzern eintrat, wurde Anton in kurzem eine anspruchslose Hauptstütze des Salons, Liebling des Tanzmeisters und ein Vertrauter der jungen Damen, durch welchen heimliche Wünsche von den hellen Rändern des Saals zu der dunklen Mitte getragen wurden. Er selbst war in diesen Stunden ein seliger Mann, und die freudige Verklärung, welche auf ihm lag, fiel jungen wie älteren Damen als etwas Ungewöhnliches auf. Die einen wurden in der Überzeugung bestärkt, daß er ein guter Junge, und die letzteren in der keineswegs entgegengesetzten Überzeugung, daß er ein unbekannter Prinz sei. Er selbst wußte am besten, warum er so glücklich war. Alle seine Gedanken und Bewegungen bezogen sich im stillen auf sie, die unbestrittene Herrin seines Herzens. Alle andern Tänze und jede Unterhaltung mit einer Dritten betrachtete er nur als gesellschaftliche Schnörkel, die er mit der Feder seines Herzens um den einen Namen beschrieb. Und er diente nicht ohne Erhörung. Er wurde von ihr wie ein alter Freund unter Freunden behandelt. Sie bat ihn leise, einen oder den andern Tanz mit ihr zu tanzen, ja sie bat ihn sogar einmal, zugunsten eines neu angekommenen Vetters auf seine Rechte zu verzichten. Und sie freute sich, als Anton über dies Ereignis grenzenlos betrübt war, keine andere Dame aufforderte, sondern still den Tanzenden zusah. Niemals entfernte er sich, bevor sie den Saal verlassen hatte, dann stand er unweit der Tür, um noch die letzten Aufträge, einen Gruß, einen Blick ihres glänzenden Auges zu erhalten. Und auch ihr Auge flog, sooft sie in den Saal trat, suchend in den Kreis der schwarzröckigen Herren, bis sie Antons braunen Kopf erkannt hatte; dann erst fühlte sie sich heimisch in dem erleuchteten Raum.

Auch mit vielen der Herren kam Anton in ein freundliches Verhältnis. Fink beeilte sich, ihn bei Feroni einzuführen. Zwar gefiel ihm manches an seinen neuen Bekannten nicht, ihre Urteile waren zuweilen roher, als ihm behaglich war, und er hatte mehrere von ihnen bald im Verdacht, herzlich ungebildet zu sein. Aber ihre Art zu sprechen und sich zu gebärden imponierte ihm doch, vor allem eine gewisse ritterliche Atmosphäre, die sie umgab, etwas Salonduft, etwas Stalluft und viel von dem Aroma der Weinstube. Da Anton eine harmlose Laune bewies, der nächste Bekannte des mächtigen Fink war und zuweilen eigenen Willen zeigte, wenn er nach Mitternacht gegen eine vorgeschlagene letzte Flasche protestierte oder die abwesenden Damen gegen eine übermütige Kritik mit frommem Ernst verteidigte, so erhielt er unter den andern Herren der Tanzstunde den Ruf eines guten Kerls.

Gleich in den ersten Wochen hatte Anton Gelegenheit, seine angebetete Tänzerin in einer Situation zu sehen, welche die gewaltigsten menschlichen Leidenschaften aufregte. Die jüngeren Damen des Kränzchens waren natürlich alle ein Herz und eine Seele, jedoch verstand sich von selbst, daß einige in der Stille andere nicht recht leiden konnten. So entstanden Parteien. Bald bildeten sich zwei große Bundesgenossenschaften, zwischen denen einzelne hin und her schwankten, die aber im ganzen fest zusammenhielten und im geheimen starke Antipathien gegen die Gegenpartei nährten. Es kam so weit, daß an einem Abend sämtliche Damen der einen Partei eine weiße Kamelie in der Mitte des Ballstraußes trugen und ein sehr auffallendes hellbraunes Band von dem Strauß herunterhängen ließen; dies hatte zur notwendigen Folge, daß die Gegenpartei am nächsten Abend mit roten Kamelien im Strauß erschien und ein grünes Band darum wand. An der Spitze der Braunen stand Lenore, das Haupt der Grünen war Eugenie, die Tochter des Hauses. Im Vertrauen gesagt, die Grünen waren unerträglich. Sie machten Ansprüche ohne Berechtigung, sie waren mokant, sie gaben sich das Air, älter zu sein als die Braunen. Weil Hulda Werner und Mechthild Fiorelli den Winter zuvor in der Residenz gewesen waren und auf den Hofbällen getanzt hatten und weil Fanni Mareschalk bei einem lebenden Bild die Genoveva dargestellt hatte, mit ihrem kleinen Bruder und einem Rehkalb zur Seite, die durch Bänder an die hölzerne Rasenbank festgebunden waren, deshalb erhoben sie solche Ansprüche. Zu den Braunen gehörten Theone Lara und die reizende Hildegard Salt, zwei innige Freundinnen, die immer Arm in Arm gingen, gleiche Ballroben trugen und im Anfange des Winters geschworen hatten, einander nie zu verlassen, ein Schwur, gegen dessen Erfüllung sich die einzige Schwierigkeit erhob, daß ihre Eltern den Sommer über in den beiden entgegengesetzten Ecken der Provinz wohnten. Beide waren schwärmerische Naturen, die alle Gefühle miteinander teilten, beide sangen, beide spielten den Flügel, beide liebten dieselben Dichter, beide hatten einen unüberwindlichen Abscheu gegen Herren mit Kinnbärten, beide saßen wie zwei Sympathievögel zusammen und fanden ihr höchstes Glück darin, einander die Gefühle ins Ohr zu flüstern, die ihnen das Benehmen eines Herrn erregte oder das melancholische Vorspiel eines Walzers. Diese beiden schlossen sich bald innig an Lenore Rothsattel; sie, Valeska Panin und Hortense Leloup bildeten den Mittelpunkt der braunen Partei; Lenores stattliche Größe ragte aus dem Kreise dieser Getreuen hervor wie die Gestalt eines Häuptlings unter seinen Kriegern. Wenn ein Tanz beendet war, machte sich’s von selbst, daß die Braunen zusammentrafen; wenn sie in der tanzten, so erhoben sie unmerklich ihren Strauß und grüßten einander.

Natürlich war Anton braun, braun vom Kopf bis zum Fuß, und als er über seine Gemütsstimmung ein offenes Bekenntnis ablegte, indem er an einem Abend in braun und weiß gestreifter Ballweste erschien, wurde er in der ersten Tour des Kotillons von allen Damen der Partei auf Verabredung geholt, ein Ereignis, welches sogar bei den Ehrendamen am Rande des Salons große Aufregung hervorbrachte. Es tut dem wahrhaftigen Geschichtsschreiber leid zu melden, daß Fink unter die Grünen gerechnet wurde, nicht unbedingt, denn er behandelte, wie die Braunen behaupteten, seine grünen Tänzerinnen sehr nachlässig; aber da Eugenie Baldereck seine Dienste vorzugsweise in Anspruch nahm, so war es, wie Anton entschuldigend sagte, seinem Freunde nicht möglich, sich dem Einfluß dieser Farbe ganz zu entziehen. Nun begab sich folgendes.

Theone Lara hatte ein Tagebuch, in das sie ihre Empfindungen mit einer schwarzen Krähenfeder durch winzig kleine Buchstaben einzeichnete. Außer der bereits früher erwähnten Geschichte von den zwei Molchen stand alles andere darin, was ihr Herz jemals erregt hatte, ihre Ansichten über die Natur, die Menschen und das Kränzchen. Es war ihr höchster Schatz. In einer himmlischen Stunde hatte sie Hildegard Salt in die Geheimnisse dieses Buches eingeweiht, beide hatten einander geküßt und viel geweint und über diesem Buche ewige Freundschaft geschworen. Von da ab führten beide das Tagebuch gemeinschaftlich. Ihre vertrautesten Gefühle, die allergeheimsten Bemerkungen waren darin aufgezeichnet. Nach einem Kränzchenabend, wo Lenore sehr nett gegen sie gewesen war, schlossen sie ihr Herz auch gegen diese auf und zeigten ihr wenigstens einige Blätter des Buches. Seit der Zeit hatte auch Lenore zuweilen den Vorzug gehabt, etwas hineinzuschreiben. Da aber ihre Stärke nicht nur war, Gefühle aufzuzeichnen, als vielmehr Gesichter und lächerliche Männchen zu malen, so hatte sie einige Karikaturen hineingesetzt, und Hildegard, welche Gedichte machen konnte, hatte zu jedem Bilde einige Zeilen gedichtet. In dieses teure Buch durfte kein fremdes Auge blicken, niemand durfte das Heiligtum sehen und berühren. Theone trennte sich niemals davon. Am Tage und in der Nacht trug sie es bei sich. Bei Nacht lag es unter ihrem Kopfkissen, und während die Kammerjungfer sie anzog, steckte sie es heimlich oben in den Schnürleib hinein und trug es an ihrem warmen unschuldigen Herzen. Es war ein ganz kleines dünnes Buch, in karmesinrote Seide gebunden. Wenn Hildegard sie zärtlich ansah oder Lenore sie mit dem Ballstrauß auf den Arm schlug, so deutete sie mit dem Finger heimlich auf ihre Brust. An diesem Abend hatte sie das Buch wieder an seine Stelle geschoben, während der ersten Tänze hatte sie es deutlich gefühlt. Nach einer Quadrille fühlte sie danach, das Buch war verschwunden.

 

Es war verschwunden, es war nicht mehr an ihr, es mußte während des Tanzes hinausgesprungen oder hinabgeglitten sein bis auf den Fußboden. Wie so etwas möglich war, ist ihr selbst und allen Beteiligten ewig ein finsteres Rätsel geblieben. – Sie war einer Ohnmacht nahe; kaum vermochte sie Hildegard beiseite zu ziehen und ihr das Schreckliche zu klagen. Hildegard rief Lenoren, vernichtet standen die drei nebeneinander. Das Bundesheiligtum war verloren, es war in fremde Hände gefallen, ja, entsetzlich zu denken, vielleicht sogar in die Hände der Grünen. Auf jeder der letzten Seiten waren schelmische Bemerkungen, sämtliche Herren waren darin aufgeführt, mit fremden Namen zwar, Fink hieß Zeisig, Tönnchen Nußknacker, aber wer konnte dafür stehen, daß sie nicht diese Chiffresprache herausbrachten? Und was mußte dann geschehen! Es war Untergang, Ruin der Tanzstunde, Familienzwist, Auflösung aller menschlichen Bande. Theone saß verstört, sie dachte einen Augenblick an Gift, dann wieder an Flucht, weit hinweg aus allen Ländern, in denen man tanzte. Lenore faßte sich zuerst. »Laßt uns suchen«, rief sie, Hildegard am Arm fassend, »vielleicht liegt’s noch irgendwo im Saale. Ich sehe nach der Mitte, den Herren unter die Füße, du unter die Sitze der Damen.«

So zogen sie miteinander durch den Saal, äußerlich lustwandelnd, in dem Herzen die Hölle, scheinbar miteinander plaudernd, innerlich weinend. Zuweilen redete ein langweiliger Herr sie an und zwang sie, stillzustehen und zu antworten, während die fliegende Angst in ihrem Haupte umherraste. ›Jetzt vielleicht findet’s ein anderer.‹ Sie kamen durch die Gruppe der Grünen, wo sie nach allen Seiten anhalten mußten, um zu lächeln und Freundliches zu sagen, sie kamen zu Eugenie Baldereck, die sie fragte, ob es nicht zweckmäßig sei, noch einen Tanz anzuhängen, während sie daran denken mußten, daß in dem Buch ein unverkennbares Porträt zu sehen war mit der Unterschrift: ›Naseweis, gefühllos, keck ist E… B…‹; sie kamen, wehe, wehe, sogar in Finks Nähe, von dem eine schreckliche Zeichnung war, wie er mit Herrn von Tönnchen in einem Rebenstock saß, mit der Unterschrift:

 
Ein Zeisig und ein Nußknacker tranken sich voll;
Der Zeisig sang: Mein Schnabel ist spitz,
Grün sind meine Federn und grün mein Witz;
Der Nußknacker seufzte: Ich bin so hohl,
Ich weiß nicht, was das bedeuten soll.
 

So zogen sie zweimal durch den Saal; ein drittes Mal wagten sie’s nicht mehr, sie hatten nichts gefunden. Trostlos kamen sie zu Theone zurück.

»Es gibt nur ein Mittel«, rief Lenore. »Wo ist Herr Wohlfart?«

Hildegard hielt sie zurück. »Du wirst doch nicht einem Herrn –«

»Ich übernehme die Bürgschaft«, sagte Lenore stolz, »er ist treu, wo steht er?«

»Dort spricht er mit Frau von Baldereck.« Die beiden Suchenden gingen langsam an Anton vorüber, er drehte ihnen zwar den Rücken zu, aber als sie näher kamen, zog es ihn unwiderstehlich, nach der Musik zu sehen. Er wandte sich um, Lenore stand vor ihm, sie sah ihn bedeutsam an, er löste die Unterhaltung mit Frau von Baldereck, er sprach zu ihnen, sie hatten ihn. »Herr Wohlfart, ein kleines Buch in roter Seide, so groß, ist hier im Saale von Theone Lara verloren. Es ist uns unendlich viel daran gelegen, bitte, bitte, schaffen Sie es uns zurück.«

»Ist es gedruckt?«

»Nein, geschrieben, auch Sie dürfen nicht hineinsehen, es sind unsere Geheimnisse darin. Schwören Sie mir, daß Sie mit keinem Auge hineinsehen, wenn Sie es finden.«

»Ich schwöre es Ihnen zu«, antwortete Anton feierlich.

»Ich danke Ihnen, bitte, seien Sie vorsichtig.«

Anton eilte in das Gewühl und beschäftigte sich die nächste Viertelstunde mit Suchen. Nichts lag auf dem Boden, nichts auf den Plätzen, keiner von den Dienern hatte etwas gefunden, das Buch war verschwunden. In tiefstem Mitgefühl brachte er den Damen die traurige Nachricht. Der Tanz begann. Theone vermochte vor Kopfschmerz sich nicht zu erheben, der innerste Schrein ihres Herzens war geöffnet, sein Inhalt auf den Markt geworfen, alle ihre Gefühle lagen nackt vor jedermanns Auge, alle ihre Geheimnisse wurden Gemeingut einer rohen Außenwelt. Lenore fühlte das Unglück mehr vom Parteistandpunkte. Die Braunen waren in Gefahr, eine Niederlage zu erleiden, von der sie sich niemals erholen konnten. Und jetzt tanzen! Es war ein Tanz wie auf einem Vulkan, der Boden war glühende Lava, jeden Augenblick konnte die Explosion erfolgen. Je länger die Verbündeten über ihr Schicksal nachdachten, desto schrecklicher wurden die Aussichten; denn immer noch fielen ihnen neue Gräßlichkeiten ein, die in dem Buche standen.

Als der Tanz beendet war, begab es sich, daß Fink im Vorbeigehen vor Hildegard mit dem Fuß auf dem Boden wippte und zu ihr gewandt sagte: »Dieser Boden klingt so hohl, ich weiß nicht, was das bedeuten soll, vielleicht liegt ein verlorener Schatz unter den Füßen.«

Hildegard stürzte zu Lenore und dem kranken Sympathievogel und rief außer sich: »Herr von Fink weiß es.« Die braunen Bänder flatterten in eine Ecke, die Mädchenköpfe fuhren zusammen und hielten Beratung. Endlich wurde entschieden, daß diese Äußerung sehr beunruhigend sei, aber keine Gewißheit des Unglücks gebe.

Doch auch diese letzte Unsicherheit sollte verschwinden, denn Finks Benehmen wurde auffallend. Er vernachlässigte heute seine Partei, er suchte alle Braunen auf, er setzte sich zu Theone, welche die Greuel von Juliens Sterbeszene und den Untergang des Hauses Capulet bereits dreimal durchgekostet hatte und ihre Tränen gar nicht mehr zurückhalten konnte; er fing ein Gespräch mit ihr an, er zwang sie zu antworten, er beklagte ihr bleiches Aussehen und schalt auf das heiße Zimmer. Er quälte sie bis zur Ohnmacht und schloß endlich seine teuflische Rache damit, daß er sie auf Hulda Werner aufmerksam machte und fragte: »Wie gefällt Ihnen das grüne Kleid? Sieht sie nicht aus wie ein Zeisig?« – Sein nächstes Opfer war Lenore. Sie stand unter ihrer Schar noch immer mit dem Stolz einer Fürstin, aber einer entthronten. Vor allen ihren Getreuen redete Fink sie an. Sie war artiger gegen ihn als je in ihrem Leben, sie preßte ihr Taschentuch zusammen, daß die Spitze riß, um sein Lächeln ruhig auszuhalten. Alles ging gut bis zu dem Augenblick, wo er dem vorübergehenden Herrn von Tönnchen mitten im Gespräch zurief: »Benno, knacken Sie gern Nüsse?«

Benno Tönnchen, der auch ein Grüner war, sagte verwundert: »Nein, wenn Fräulein Lenore uns eine aufgegeben hat, so fürchte ich, wird sie für mich zu hart sein.«

Jetzt war es entschieden, kein Zweifel mehr möglich, Fink hatte das Buch. Die braunen Bänder rauschten auseinander, die Partei glich einem Schwarm entsetzter Küchlein, unter welche der Habicht stößt. Nur Lenore nahm sich zusammen und trat entschlossen auf Fink zu. »Sie haben das Buch, Herr von Fink, eine meiner Freundinnen hat es verloren und ist sehr unglücklich darüber. Sein Inhalt ist nicht für fremde Augen, er kann in dieser Gesellschaft großen Ärger verursachen. Ich bitte, daß Sie mir das Buch zurückgeben.«

»Ein Buch?« fragte Fink neugierig. »Was für ein Buch?«

»Verstellen Sie sich nicht«, sagte Lenore, »es ist uns allen deutlich, daß Sie es haben. Ich kann nicht glauben, daß Sie es nach dem, was ich Ihnen über die Folgen gesagt habe, noch einen Augenblick behalten können.«

»Ich könnte es behalten«, nickte Fink. »Sie sind zu gütig, wenn Sie mir ein solches Zartgefühl zutrauen.«

»Das wäre mehr als unartig«, rief Lenore.

»Es würde mir das größte Vergnügen machen, mehr als unartig zu sein, wenn ich das Buch hätte. Ein Buch, das Ihnen oder einer Ihrer Freundinnen gehört, das möglicherweise Ihre Handschrift oder eine andere Erinnerung an Sie enthält, das werde ich Ihnen in keinem Falle zurückgeben, wenn ich es finde; und wenn ich erfahre, wo es liegt, werde ich es Zeile für Zeile auswendig lernen. Ich werde ihnen dadurch zu gefallen suchen, daß ich Ihnen einige Stellen daraus vortrage, sooft ich die Freude habe, Sie zu sehen.«

Lenore trat ihm einen Schritt näher, und ihre Augen flammten.

»Wenn Sie das tun, Herr von Fink«, rief sie, »so werden Sie als ein Unwürdiger handeln.«

Fink nickte ihr freundlich zu. »Der Eifer steht Ihnen allerliebst, Fräulein; aber wie können Sie Würde von einem lustigen Vogel verlangen, wie ich bin? Die Natur hat ihre Gaben verschieden ausgeteilt, manchem hat sie verliehen, Verse zu machen, andere zeichnen kleine Bilder, ich habe von ihr einen spitzen Schnabel erhalten, den gebrauche ich. Haben Sie je einen würdigen Zeisig gesehen?« Er wandte sich lachend ab, faßte Benno Tönnchen beim Arm und ging mit ihm nach der Tür.

Lenore eilte zu Anton: »Herr von Fink hat das Buch, ich flehe Sie an, schaffen Sie es uns zurück, er hat sich geweigert. Er darf nicht weiter darin lesen, es wäre Theonens Tod.«

Anton ergriff hastig seinen Paletot und sprang dem Freunde nach, der bereits auf der Straße war. »Zu Feroni, Anton!« rief ihm Fink am Arm des Benno Tönnchen zu.

»Ich muß etwas im Vertrauen mit dir besprechen«, sagte Anton an seiner anderen Seite.

»Jetzt nicht, du brauner Gesandter«, rief Fink, »ich will nichts mit dir zu tun haben.«

»Ich bitte dich, Fritz«, bat Anton, sich an ihn drückend, »gib das Buch heraus, die Mädchen ängstigen sich bis zum Vergehen.«

»Nur zu!« sagte Fink.

»Keine tut heute nacht ein Auge zu«, rief Anton.

»Um so besser, wir wollen’s auch nicht tun. Sie können sämtlich zu Feroni kommen, wenn’s ihnen zu Hause zu bangsam wird. Wir bleiben bis zum Morgen zusammen. Und du, Anton, wirst dich heute nacht nicht ohne mich nach Hause schleichen, sondern du wirst aushalten, und zwar in stiller Todesangst.«

»Was ist das für eine Geschichte mit dem Buch?« fragte Tönnchen am andern Arme.

»Sage nichts«, bat Anton leise.

»Eine tolle Konfusion«, erwiderte Fink, »Sie sollen alles erfahren.«

»Um Gottes willen, schweig«, bat Anton.

»Ich werde mich nach deinem Benehmen richten«, sagte Fink, »läufst du weg, so lese ich den andern das ganze Buch vor.«

So kamen sie bei Feroni an. Anton überlegte, ob er sich auf Fink werfen und diesem mit Gewalt das Buch entreißen sollte. Aber der Erfolg war unsicher. Mit Ernst und Bitten war heut vollends nichts auszurichten. Nur List konnte helfen. Während er darüber nachsann, ließen sich die Herren in dem kleinen Hinterzimmer nieder, ihrer gewöhnlichen Trinkstube. Es waren außer Anton und Fink noch Zernitz und Tönnchen, der kleine Lanzau, ein Werner, ein Cousin Baldereck (dieser ein junger Herr mit hervorstechenden Augen, der in dem Buch unter dem Namen Laubfrosch angedeutet war) und zwei Tronka, nicht von den Tronka-Hams, sondern aus der andern Linie, in welcher das Majorat ist, Söhne des alten Majoratsherrn.

»Was trinken wir?« fragte Fink.

»Jeder seine Flasche«, erwiderte Zernitz.

»Warum nicht gar?« rief Fink.

»Nur nicht Ihren furchtbaren weißen Burgunder«, rief Guido Tronka. »Von unserer letzten Sitzung sind mir noch heute die Adern geschwollen wie Stränge.«

»Dann also Sekt und Porter, ein ehrliches Halb und Halb«, schlug Fink vor.

»Superbos!« rief der kleine Lanzau.

»Das ist ebenso ein Höllengetränk«, klagte Zernitz.

»Küfer, Schenk, herbei!« riefen die Herren, und die Bestellung wurde gemacht.

Unterdes verfiel Anton auf ein verzweifeltes Mittel. Er ging hinaus, gab dem Aufwärter einen Taler und den Auftrag, den Ofen der kleinen Hinterstube zu überheizen und ohne Rücksicht auf die Klagen der Herren immerfort Kohlen nachzuwerfen. Er selbst setzte sich so weit vom Ofen, als irgend möglich war, und sah mit Freude, daß Fink sich dicht an den eisernen Zylinder gedrückt hatte. Bald mußte ihm die Wärme unbequem werden, dann zog er seinen Rock aus, wie er stets in solchen Fällen tat, dann war es möglich, das rote Buch vor seinen Augen aus der Rocktasche zu ziehen.

»Ich nehme mir die Freiheit, Sie von einem großen Ereignis in Kenntnis zu setzen«, begann Tönnchen. »Haben Sie Tronkas Alice gesehen, Fink?«

»Nein«, sagte Fink eingießend, »ist’s ein Pferd oder ein Frauenzimmer?«

»Natürlich ein Pferd!« rief Tönnchen.

 

»Bah, laßt heut die Stalljacke zu Haus«, sagte Fink.

»Es ist aber verdammter Ernst!« rief Tönnchen. »Guido hat zum Herrenreiten eingesetzt.«

»Zahlen Sie Reugeld«, sprach Fink zu Guido Tronka, »und bleiben Sie zu Haus. Den Ajax schlägt kein Traber in diesem Erdenwinkel.«

»Sehen Sie sich morgen meine Alice an«, bat Tronka wieder, »ich möchte Ihr Urteil hören.«

»Haben Sie die neue Liebhaberin gesehen?« sprach Zernitz zu Anton. »Sie hat brillante Augen.«

»Sie trägt magnifik«, rief der andere Tronka zu Fink herüber.

»Sie hat ja eine Hasenscharte«, rief der Laubfrosch verächtlich dazwischen.

»Wer ist nun das wieder?« fragte Fink.

»Die Seppi, ein grünäugiges Scheusal«, schrie wieder der Laubfrosch Baldereck. »Gehen Sie denn gar nicht mehr ins Theater?«

»Nein«, versetzte Fink, »aber ich schicke meinen Reitknecht hinein. Wenn Sie Gefühle haben, bei denen er Sie unterstützen kann, so wenden Sie sich nur an ihn.«

Es wurde warm. Anton fühlte die Verpflichtung, die Herren zu beschäftigen. Er bat Herrn von Zernitz um eine komische Geschichte im Volksdialekt, die ihm der Leutnant neulich anvertraut hatte, er stimmte laut in das Lachen des Laubfrosches ein, er verführte den ältesten Tronka, ein Abenteuer mitzuteilen, welches den Tod eines Hasen und einer Schnepfe verursacht hatte. Er griff nach der Kelle und goß die Gläser voll.

Es wurde wärmer. Die Herren rückten unzufrieden mit ihren Stühlen und riefen nach dem Aufwärter.

»Es verfliegt sogleich«, tröstete dieser.

»Ich finde es gar nicht warm«, sagte Fink ruhig, »im Gegenteil. Sie können noch einlegen.«

Aber die Hitze wurde unerträglich, die Herren gerieten in Zorn, Feroni selbst wurde gerufen. Anton protestierte gegen das Öffnen des Fensters, weil man vom Tanze noch zu warm sei, Fink erklärte die Temperatur für behaglich und behielt seinen Rock an.

Anton war in Verzweiflung. Endlich ergriff er das letzte Mittel, er zog seinen eigenen Rock aus, um den Freund zu gleichem Entschluß anzuregen. Sofort tat Fink dasselbe, legte den Rock sorgfältig über seinem Stuhl zusammen und sah lächelnd auf Anton, der mit großer Aufmerksamkeit seine Bewegungen beobachtete.

»Das Buch steckt nicht im Rock«, nickte Fink ihm zu, »die Mühe war umsonst, denke auf etwas anderes.«

Anton öffnete das Fenster. »Ich versuche nichts mehr«, sagte er resigniert, »du bist mir zu schlau.«

»Halt aus«, sagte Fink. Zernitz machte niedliche Witze, Tönnchen erzählte lügenhafte Geschichten von Tänzerinnen, der kleine Lanzau betrank sich. Endlich pochte Fink auf den Tisch. »Jetzt merkt auf. Ich wollte es verbergen, aber es ist nicht möglich, es schreit zum Himmel.«

Anton fuhr auf: »Ich bitte dich, Fritz.«

»Ruhig, Ofenheizer!« rief Fink. »Hört, ihr Herren, ich habe heut ein geheimes Tagebuch der Braunen gefunden und habe es durchgeblättert.«

»Hurra, heraus damit!« riefen sämtliche Herren.

»Es sind gewiß Verse darin«, rief Zernitz.

»Es mag ein schöner Unsinn darin stehen!« rief Tönnchen. »Phantasie und Bosheit Unmündiger.«

Anton war wütend.

»Allerdings steht Unsinn darin, und die Verse scheinen mir schlecht. Hören Sie, Zernitz, was haben Sie mit der kleinen Lara gehabt?«

»Nichts«, sagte der Leutnant befremdet, »ich habe ein paarmal mit ihr getanzt, das ist alles.«

»So muß es gekommen sein«, fuhr Fink nachdenkend fort. »Die arme Theone! Ich habe ein Lied gelesen, das die Komteß auf Sie gemacht hat. Na, zuletzt sind Sie kein übler Bursch, aber ich hätte es niemals für möglich gehalten, daß man mit solcher Schwärmerei von einem Mann sprechen kann.«

»Zeigen Sie her«, bat Zernitz angelegentlich.

»Hier?« fragte Fink vorwurfsvoll. »Vor dieser wilden Bande? Wenn Sie auch die Lara, die mir heute in ihrer Angst allerliebst vorkam, nicht gerade begünstigen, so haben Sie doch gar keinen Grund, die reine Leidenschaft des armen Mädchens hier zu profanieren.«

»Sie haben recht«, sagte Zernitz. »Aber unter vier Augen werden Sie mir’s zeigen.«

»Gewiß«, versetzte Fink. »Ihr wißt, ich habe kein Gefühl für alle Kreatur, welche ihren Rock länger trägt als bis zum Knie, und wenn es etwas auf der Welt gibt, was mich kalt läßt, so sind es Backfische in Butter und in Kleidern. Aber der Wahrheit soll ihr Recht werden, die Mädchen, welche das Tagebuch miteinander geführt haben, sind seelengute Dinger, es ist auch nicht eine einzige boshafte Bemerkung darin.«

Er wandte sich zum Cousin Baldereck: »Von Ihrer Cousine ist auf jeder Seite mit einer Liebe und Herzlichkeit gesprochen, die ebenso verdient als rührend genannt werden muß. – Das strengste Urteil wird über mich gefällt, ich werde ein Zeisig genannt.«

»Auf die Art ist das Heft ziemlich langweilig«, sagte Benno Tönnchen.

»Ja«, erwiderte Fink, »wenn Sie nicht interessiert, was Hildegard Salt über Sie hineingeschrieben hat.«

»Viel Gutes wird’s nicht sein«, versetzte Benno neugierig.

»Nein«, sagte Fink, »Sie spricht von Ihnen in einem Ton, der Ihren Bekannten wahrhaft betrübend vorkommen muß. Sie werden groß und still genannt, Ihr Gesicht ein Muster männlicher Kraft; die Dichterin findet Sie voll Kenntnisse, voll Geist und voll Witz; sie fragt, ob ein solcher Mensch nicht zu bedeutend sei, um sich zu einem weichen Mädchen hinabzuneigen. Nun frage ich alle, wie kann ein gescheites Kind wie Hildegard Salt sich so weit verirren, Sie in der Stille anzubeten? Denn Sie sind bei der letzten Flasche ein ziemlich kurzweiliger Gesell, Benno, aber wenn ich ein Mädchen wäre und mir ein Ideal aussuchte, ich würde lieber einen Nußknacker zu meinem Götzen machen als Sie.«

Tönnchen verzog den Mund.

»Ist von uns auch etwas darin?« fragte Herr von Werner, auch einer der Grünen, ein Bruder von vier schönen Schwestern, Nachbar der Rothsattel, von jungem Adel, aber reich, in Familieneifersucht aufgewachsen.

»Von Ihnen wenig«, versetzte Fink, »nur zwei Zeilen.« Er nahm das Buch hervor und sah hinein und suchte. – Anton ballte die Hände unter dem Tisch. – »Schmerzliche Fügung des Himmels, Lenore liebt und sucht vergebens ihr Herz zu verhüllen. Und der Geliebte gehört den Feinden an. Oh, Georg W. Jetzt kommen Punkte und drei Ausrufezeichen.« Fink steckte das Buch wieder ein. Anton beruhigte sich, das konnte nicht in dem Buche stehen, auch sah er, daß die Nasenflügel Finks sich heftig bewegten, ein untrügliches Zeichen, daß er Schelmerei trieb.

Zernitz schob das Glas weg und rief: »Es ist indiskret, daß wir uns in diesem Raume über das unterhalten, was die Mädchen gefühlt haben.«

»Ich bin derselben Meinung«, rief Benno Tönnchen eifrig.

»Ich auch«, sagte Georg Werner.

»Sie müssen das Buch versiegeln und zurückschicken«, sprach der Frosch.

»Oh, ihr gemütvollen Zettel«, rief Fink in der glücklichsten Stimmung, »weil eure haarigen Köpfe von feinen Händen gekrault werden, wird euer Herz zartfühlend. Ich möchte eure Gesichter sehen, wenn ich aus dem Buche das Gegenteil herausgelesen hätte. Ei, ei! Und keiner kennt den Shakespeare!«

»Komteß Lara und Hildegard sind zu feinfühlend, um das hineinzusetzen, was Ihre Bosheit gern gesehen hätte«, rief Zernitz.

»Die Rothsattel ist zwar stolz«, rief Werner, »aber sie hat keinen Grund, von mir etwas anderes zu sagen, als was wahr ist. Ich habe sie immer im stillen für ein tüchtiges Mädchen gehalten, das wohl verdient, einmal die Frau eines ehrlichen Jungen zu werden.«

Fink nickte ihm billigend zu, dann erhob er das Buch und blickte hinauf an die Decke. »Warum werde ich nicht auf der Stelle von dieser sündigen Erde unter bessere Geschöpfe versetzt? Ich bin ein Seraph, und niemand merkt es, und niemand wird es glauben, am wenigsten die Weiber. Hier, Anton, empfange das Buch! Nicht durch Ofenwärme, nicht durch Überredung oder Zwang ist es erobert; durch freiwilligen Entschluß der tanzenden Herren wird es ungelesen zurückgeschickt.«