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Die verlorene Handschrift

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»Und unseres ist neuer als das Ihre,« rief der kleine Franz, die Hand schwenkend. Vergebens bemühte sich Ilse durch abweisende Winke diesen Ausbruch des Familienstolzes zu unterdrücken. Hans hielt, das Wort Zigeuner suchend, den letzten Band fest in seinen Händen und eine Niederlage der Frau Oberamtmann war nach menschlichem Dafürhalten nicht mehr abzuwehren. Aber plötzlich sprang Hans auf, hielt den Band in die Höhe und rief: »Hier steht der Herr Professor!« – »Unser Herr Professor steht im Conversationslexikon!« schrieen die Kinder. Familienfehde und Zigeuner waren vergessen, Ilse nahm dem Bruder das Buch aus der Hand, die Oberamtmann stand auf, um die merkwürdige Stelle über Ilse’s Schultern selbst zu lesen, alle Kinderköpfe drängten sich um das Buch, daß sie wieder aussahen wie ein Bündel Knospen am Fruchtbaum, und alle spähten neugierig nach den Zeilen, die für ihren Gast und sie selbst so ruhmvoll waren. In dem Artikel standen die gewöhnlichen kurzen Notizen, welche über lebende Gelehrte gegeben werden, Ort und Tag seiner Geburt und die – meist lateinischen – Titel seiner Schriften. Alle diese Titel wurden trotz der unleserlichen Sprache mit Jahreszahl und Format laut abgelesen. Ilse sah lange in das Buch, dann reichte sie es der erstaunten Frau Oberamtmann, dann zogen die Kinder den Band einander aus den Händen. Das Ereigniß machte auf Groß und Klein einen Eindruck, der in literarischen Kreisen niemals erreicht werden konnte. Am glücklichsten war die Frau Oberamtmann, sie hatte neben einem Manne gesessen, der nicht nur selbst nachschlug, sondern auch nachgeschlagen werden konnte. Er war jetzt für sie berühmt im Allgemeinen, ohne Einschränkung, und sie empfand zum ersten Male in ihrem Leben, daß sich mit solchem gedruckten Mann recht behaglich verkehren ließe. »Welch ein ausgezeichneter Gelehrter!« rief sie. »Wie waren doch die Titel seiner Schöpfungen, liebe Ilse?« Ilse wußte es nicht, Auge und Gedanken waren ihr an den kurzen Bemerkungen über seine Lebensverhältnisse festgeheftet.

Diese Entdeckung hatte die gute Folge, daß Frau Oberamtmann für heut gänzlich die Waffen streckte und sich beschied, keine Kenntnisse zu verrathen, denn sie sah ein, daß heut eine Concurrenz mit dieser Familie unmöglich war, und sie ließ sich zu einer anspruchslosen Unterhaltung über Hausangelegenheiten herab. Die Kinder aber stellten sich in achtungsvoller Entfernung vor dem Professor auf und betrachteten ihn neugierig noch einmal von oben bis unten, und Hans theilte dem Doctor leise die Neuigkeit mit und war sehr betroffen, daß dieser nichts daraus machte.

Nach dem Kaffe schlug der Landwirth seinen Gästen vor, den nahen Berg zu besteigen und den Schaden zu betrachten, welchen der Blitz angerichtet. Ilse belud eine Magd mit dem Abendbrot und einigen Flaschen Wein, und der Zug setzte sich in Bewegung. Vom Felsen ging es in das Thal hinab über den Wiesenstreif und den Bach, dann die Berglehne hinauf durch Unterholz in den Schatten hochstämmiger Fichten. Der Regen hatte die steilen Wege ausgespült und unregelmäßige Wasserrinnen furchten den Kies. Auch die Frauen schritten tapfer über die feuchten Stellen. Wer aber nicht aus Tracht und Haltung des Professors erkannte, daß er in sicherem Gefühl seiner Männlichkeit auftrat, der hätte wohl argwöhnen dürfen, daß zwar die Frau Oberamtmann ein verkleideter Herr sei, der Herr Professor aber eine weichbeschuhte Dame. Denn die Rollmaus umschwebte ihn ehrerbietig und war nicht von seiner Seite zu bringen. Sie machte ihn auf Steine aufmerksam, bezeichnete mit der Spitze ihres Schirmes die trockensten Stellen, blieb zuweilen stehen und sprach die Befürchtung aus, daß ihn der Weg zu sehr angreifen werde. Der Professor ließ sich die Huldigung der kleinen Dame erstaunt gefallen und sah nur einige Male fragend auf Ilse, über deren Gesicht dann ein schalkhaftes Lächeln flog. Auf der Höhe wurde der Pfad bequemer, einzelne Laubbäume unterbrachen das dunkle Grün der Fichten. Der Gipfel selbst war gelichtet, zwischen den Steinen breitete das Haidekraut seine dichten Büschel, an denen in üppiger Fülle die röthlichen Blüthen hingen. Ringsumher übersah man die Landschaft mit ihren Höhen und Thälern, in der Tiefe den Bach und seinen grünen Saum, das Gut mit seinen Feldern, das Thal von Rossau. Auf die sinkende Sonne zu aber hob sich in langgeschwungenen Bogen eine Erdwelle hinter der andern, jede nach der Entfernung anders mit dämmerigem Blau gefärbt, bis in das helle Grau der Gebirgskette am Horizont. Das war unter heiterem Himmel, in reiner Bergluft ein erfrischender Anblick, und die Gesellschaft lagerte vergnügt im Haidekraut, wo es die weichsten Polster bot.

Nach kurzer Rast brach die Gesellschaft, von Hans geführt, zu der Stelle auf, an welcher der Wetterstrahl den Baum gefällt hatte. In einem Schlag hoher Nadelbäume war der Ort der Verwüstung. Eine starke gesunde Fichte war durch den Strahl erschlagen und zerworfen, ein wüstes Durcheinander von Zweigen und riesigen Splittern des weißen Holzes lag im Umkreis des gebrochenen Stammes, der ohne Krone, geschwärzt, bis auf den Grund gespalten noch etwa haushoch über die Trümmer hervorragte. Aus dem Gewirr der Aeste am Boden erkannte man, daß auch der Grund aufgewühlt war bis unter die Wurzeln der nächsten Bäume. Ernsthaft sahen die Erwachsenen auf die Stätte, wo ein Augenblick das kräftige Leben in häßliche Unform verwandelt hatte. Die Kinder aber drangen jauchzend in das Dickicht, griffen nach den schuppigen Zapfen des vergangenen Jahres und schnitten Aeste von dem Gipfel, jeder bemüht, das größte Gehänge der gelben Schuppenfrüchte davon zu tragen.

»Es ist nur einer von Hunderten,« sagte der Landwirth finster, »aber es thut doch weh, solche Verwüstung gegen die gewohnte Ordnung zu betrachten und an das Verderben zu denken, das so nahe über unsern Häuptern dahinfuhr.«

»Macht diese Erinnerung nur Mißbehagen?« frug der Professor, »ist sie nicht auch erhebend?«

»Die Hörner des Widders hängen an den Zweigen,« sprach Ilse leise zum Vater, »er wurde das Opfer, damit wir verschont blieben.«

»Ich meine auch der Mensch, der von solchem Strahl getroffen wird, er sollte, wenn dieser Augenblick noch zu einem letzten Gedanken Zeit läßt, sich selbst sagen: es ist ganz in der Ordnung.«

Der Landwirth sah den Professor fragend an: »Sprechen Sie darüber zu uns einige Worte,« begann er feierlich. »Man hat an diesem Orte einen Wunsch nach einem gemeinsamen Gedanken, der von dem Mißbehagen frei macht.«

»Ich bin nicht geübt in der Sprache erbaulicher Betrachtung,« sagte der Gelehrte, »und ich vermag nur weltliche Worte zu reden. Wir vergessen leicht im Behagen des Tages, was wir immer im fröhlichen Herzen tragen sollten, daß wir nur unter Bedingungen leben, wie alles Andere auf Erden und am Himmel. Zahllose Kräfte, fremdartige Gewalten sind um uns in unaufhörlicher Arbeit, jede nach festen ihr eigenen Gesetzen wirkend, auch unser Leben erhaltend, tragend, beschädigend. Die Kälte, welche den Kreislauf des Blutes hemmt, die einbrechende Woge, in welcher der menschliche Leib versinkt, der schädliche Dampf des Bodens, der den Ahtem vergiftet, sie sind keine zufälligen Erscheinungen, die Gesetze, in deren Zwange sie auf uns eindringen, sind ebenso uralt und ebenso heilig als unser Bedürfniß nach Speise und Trank, nach Schlaf und Licht. Und wenn der Mensch seine Stellung unter den Gewalten der Erde erwägt, so heißt leben nichts Anderes als thätig gegen sie kämpfen und denkend sie verstehen. Wer das Brot schafft, das uns nährt, und das Holz zieht, das uns wärmt, jede nützliche Thätigkeit hat keinen anderen Zweck, als uns zu vertheidigen und stärker zu machen durch freundliche Benutzung oder Ueberwindung dieser Mächte. Schon bei dieser Arbeit merken wir, daß zwischen jeder lebendigen Regung in der Natur und in unserem eigenen Geiste eine geheime Verbindung ist, und daß alles Lebendige, wie feindlich es im Einzelnen sich befehde, doch zusammen eine große, unermeßliche Einheit bildet. Und Ahnung und Gedanke dieser Einheit sind zu allen Zeiten das Herrlichste gewesen, was der Mensch in sich hervorzurufen vermochte. Deshalb ist dem Menschen die zweite Aufgabe geworden, eine unwiderstehliche Sehnsucht und ein unwiderstehlicher Trieb, den innern Zusammenhang dieser Lebensgewalten zu erfassen. Und das ist es, was uns fromm macht. – Nicht bei jedem Menschen ist die Arbeit die gleiche, aber das Ziel ist dasselbe. Die warme Empfindung des einen ahnt ewige Vernunft in Allem, was ihm unbegreiflich erscheint, und er nennt diese in kindlichem Vertrauen mit dem ehrwürdigsten und herzlichsten Namen. Und wieder andere suchen emsig die einzelnen Gesetze und Kräfte des Lebens zu beobachten und ihren großen Zusammenhang ehrfurchtsvoll zu verstehen, und diese sind es, welche der Wissenschaft dienen. Wer glaubt und wer forscht, beide thun im Grunde dasselbe, sie üben die höchste Bescheidenheit, denn sie empfinden, daß alles einzelne Leben, eigenes und fremdes, unendlich klein ist gegen das große Ganze. Und wer, vom Blitzstrahl getroffen, noch zu glauben vermöchte, ich gehe zum Vater, und wer in solchem Augenblick mit Interesse zu beobachten vermöchte, wie sein Nervenleben aufhört, sie haben beide ein gottseliges Ende.«

So sprach der Professor vor der geborstenen Fichte, die letzte Aeußerung Ilse’s im Herzen. Die Kinder hörten dem kräftigen Tonfall seiner Worte ein Weilchen zu, dann wurde ihnen die Sache lang, Hans fuhr den Schwestern mit seinem Nadelzweige in die Aermel, sie schlugen mit ihrer Fichtenruthe nach ihm, die Brüder kamen zu Hilfe, und ein Gefecht mit grünen Zweigen zog sich von dem Stamme abwärts in das Dickicht. Der Oberamtmann sah verwundert auf den Redner und faßte den Verdacht, dieser Mann gehöre zu einer neuen Klasse von Volksaposteln, die zur Zeit hier und da auftauchten. Seine Frau stand, die Hände über dem Sonnenschirm gefaltet, andächtig da und nickte zuweilen bestätigend mit dem Kopfe, bis sie endlich den Gutsherrn leise anstieß und flüsterte: »Das gehört zu der Philosophie, von der wir sprachen.« Der Landwirth jedoch erwiederte nichts, sondern hörte mit geneigtem Haupt, um dem Sinn besser zu folgen. Ilse aber wandte die Augen nicht von dem Sprechenden ab, fremdartig klang seine Rede und Einiges regte ihr geheimes Bangen auf, sie wußte nicht weshalb. Aber sie hätte nichts dagegen sagen können, denn der Quell warmen Lebens, der aus dieser Menschenseele hervorbrach, wirkte wie ein Zauber auf sie. Die Wahl der Worte, die neuen Gedanken, der edle Ausdruck seines festen Antlitzes nahmen sie unwiderstehlich gefangen. Es war nach der Ansicht des Doctors eine seltsam zusammengeladene Gesellschaft für den schwerverständlichen Vortrag eines Professors, und der Redner hatte, an eine einzige denkend, als ein sorgloser Säemann gesäet. Aber wer vermag zu sagen, wie das Saatkorn der Worte in den Hörern haftet und aufblüht, vielleicht verdorrte es auf dem Stein, vielleicht auch entwickelte sich’s in einer Seele zu neuem Leben.

 

Die Gesellschaft kehrte zu dem Lager auf dem Gipfel zurück. Hinter den Bergen sank die Sonne und von ihr her strich der Wind über die Höhen, der milde Abendschein vergoldete zuerst die Spitzen des Haidekrauts und die Gestalten der Menschen, dann stieg er hinauf über ihre Häupter bis zu den Gipfeln der Bäume, und bläulicher Schatten deckte den Boden, die Baumstämme, die Fernsicht. Oben aber am Himmel schwebten die kleinen Lichtwolken aus Gold und Purpur, bis auch dort die glühenden Farben in rosiger Dämmerung erblaßten. Der Nebel stieg aus der Tiefe und im einförmigen Grau schwanden die Farben des Himmels und der Erde.

Lange sah die Gesellschaft in die wechselnden Lichter des Abends, endlich rief der Gutsbesitzer nach dem Inhalt des Korbes, die Kinder waren geschäftig auszupacken und die kalten Speisen in der Runde zu bieten. Der Landwirth goß den Wein in die Gläser, stieß kräftig mit seinen Gästen an und freute sich des guten Abends. Hans lief auf einen Wink des Vaters ins Gebüsch und holte einige Kienfackeln hervor. »Es ist heut keine Gefahr,« sagte der Landwirth zum Oberamtmann, während er die Fackeln anzündete. Die Kinder drängten sich zum Fackeltragen, aber nur Hans wurde mit diesem Ehrenamte betraut, die Herren vom Lande trugen die anderen selbst.

Langsam wand sich der Zug den Bergpfad hinab, die Fackeln warfen ihr grelles Licht auf Nadelbüschel und Steine und auf die Gesichter der Menschen, welche in den Biegungen des Weges rot leuchteten wie der aufgehende Mond und wieder in Finsterniß verschwanden. Die Frau Oberamtmann hatte schon einige Mal versucht, auch den zweiten der großen Fremden zum Gespräch heranzuziehen, jetzt gelang es ihr bei einer schlechten Wegstelle. »Was Ihr Freund sprach,« begann sie, »war sehr schön, denn es war lehrreich. Er hatte ganz Recht, man soll gegen die Gewalten kämpfen und man soll den Zusammenhang suchen. Aber ich versichere Sie, einer Frau wird das schwer. Denn Rollmaus, der doch für mich die erste Naturgewalt ist, hat einen Haß gegen Gründe, er ist immer dafür, daß Alles nach seinem Kopfe geht. Und als ein rechtschaffner Mann hat er darin auch Recht, aber für Wissenschaft ist er nicht sehr, und auch wegen eines Claviers für die Kinder habe ich meine Noth mit ihm. Und ich suche wohl die Gründe und Kräfte, und was man sonst Zusammenhang nennt, und man liest, was man kann, denn man will doch auch wissen, was in der Welt vorgeht, und sich aus dem Gewöhnlichen erheben. Aber manchmal versteht man’s nicht, und wenn man’s auch zweimal liest. Und wenn man’s hat, dann ist’s vielleicht schon veraltet und es gilt nichts mehr, und man möchte gar alles Forschen aufgeben.«

»Thun Sie das doch nicht,« ermahnte der Doctor, »es ist immer eine geheime Freude, wenn man etwas weiß.«

»Nicht wahr,« fuhr die Frau Oberamtmann fort, »wenn ich in der Stadt lebte, ich würde mich ganz in die Wissenschaft vertiefen, aber auf dem Lande ist man zu allein, und dann die große Wirthschaft, und auch der Mann, und man hat zu thun, daß man’s dem recht macht. Denn Sie glauben nicht, was für ein tüchtiger Wirth er ist. – Rollmaus, halt deine Fackel zur Seite, der ganze Rauch schlägt dem Herrn Doctor ins Gesicht.« Rollmaus wandte mit leisem Gebrumm die Fackel ab. Seine Frau drängte sich an ihn, faßte seinen Arm und hob sich zu seinem Ohr: »Ehe wir wegfahren, mußt du die fremden Herren zu uns einladen, damit die Schicklichkeit beobachtet wird.«

»Er ist ein freier Winkelprediger,« antwortete der Oberamtmann mürrisch.

»Um Gotteswillen, Rollmaus, begehe keine Ruchlosigkeit und blasvomire nicht,« fuhr sie fort, ihm den Arm drückend, »er steht ja im Lexikon.«

»In deinem?« frug der Gatte.

»In dem hiesigen,« versetzte die Frau, »was auf eins herauskommt.«

»Es stehen Viele in Büchern, die weniger werth sind als Andere, die nicht darin stehen,« sagte der Mann ungerührt.

»Damit widerlegst du mich nicht,« entschied die Frau, »ich sage dir und ichavertire dich, er ist ein berühmter Mann, und der Anstand verlangt, daß wir darauf Rücksicht nehmen. Und du weißt, was den Anstand betrifft –«

»Sei nur ruhig,« besänftigte Rollmaus; »ich habe ja nichts dagegen, wenn es sein muß. Ich habe deinetwegen schon in ganz andere saure Aepfel gebissen.«

»Meinetwegen?« frug die Oberamtmann gekränkt. »Bin ich unvernünftig, bin ich ein Tyrann, bin ich eine Eva, welche mit ihrem Manne unter dem Baume steht, mit lüderlichem Haar, und nicht einmal mit einem Hemde? Willst du dich und mich mit solchen alten Zuständen vergleichen?«

»Na,« sagte Rollmaus, »gib dich zufrieden, wir wissen ja, wie wir miteinander stehen.«

»Siehst du wohl, daß ich Recht habe?« versetzte besänftigt die Frau Oberamtmann. »Und glaube mir, ich weiß auch, wie Andere miteinander stehen, und ich sage dir, ich habe so eine Ahnung, es spinnt sich etwas an.«

»Wer spinnt?« frug Rollmaus.

»Es ist zwischen Ilse und dem Herrn Professor.«

»Das wäre der Teufel!« rief der Oberamtmann lebhafter, als er den ganzen Tag gewesen war.

»Still, Rollmaus, man hört dich, vernachlässige nicht die Discretion.«

Ilse war zurückgeblieben, sie führte den jüngsten Bruder, dem Ermüdung den Schritt unsicher machte. Ritterlich weilte der Professor neben ihr. Er machte sie aufmerksam, wie gut sich der Zug ausnehme, die Fackeln wie große Glühwürmer an der Spitze, dahinter die scharf beleuchteten Gestalten, der wechselnde Feuerschein an Baumstämmen und grünen Zweigen. Ilse hörte längere Zeit schweigend zu, endlich begann sie: »Und das Liebste am heutigen Tage war, daß Sie so gütig zu unserer Nachbarin sprachen. Als sie neben Ihnen saß, war mir weh zu Muth. Denn mir kam vor, als wäre demüthigend für Sie, die ungeschickten Fragen unserer Freundin zu hören, und auf einmal war mir, als ob Sie auch gegen uns eine immerwährende Nachsicht üben müßten, und das quälte mich. Weil Sie aber so freundlich das Gute anerkannten, das unsere Frau Oberamtmann hat, merkte ich doch, daß es Ihnen keine Ueberwindung kostet, mit uns einfachen Leuten zu verkehren.«

»Liebes Fräulein,« rief der Professor erschrocken, »ich hoffe, Sie sind überzeugt, daß ich der wackern Dame nur sagte, was wahre Herzensmeinung war.«

»Ich weiß es,« fuhr Ilse lebhaft fort, »und die treue Seele vor uns fühlt es auch. Sie war heut den ganzen Tag ruhiger und heiterer als sie sonst ist. Und dafür muß ich Ihnen danken. Ach, von Herzen,« fügte sie leise hinzu.

Da Lob aus geliebtem Munde nicht die kleinste Freude des Menschen ist, sah der Professor glücklich auf seine Nachbarin, welche jetzt im Dunkeln den Bruder zu schnellerem Schritte trieb. Er wagte das Schweigen nicht zu brechen, beiden waren die reinen Herzen geöffnet, und ohne ein Wort zu reden, fühlten sie den Strom warmer Empfindungen, der von einem zum andern zog. »Wer aus seinen Büchern unter andere Menschen tritt,« begann endlich der Professor, »dem macht die pedantische Gewohnheit des Bücherlesens zuweilen leichter, aus einem fremden Leben heraus zu holen, was ihm für das eigene dienlich sein kann. Denn zuletzt ist in jedem Leben etwas Ehrwürdiges, wie oft es auch durch wunderliche Zuthat verdeckt ist.«

»Uns ist geboten, den Nächsten zu lieben,« sagte Ilse, »und wir mühen uns, das zu thun; aber wenn man findet, daß diese Liebe so heiter, so hoch und sicher gegeben wird, ist es doch rührend. Und wo man solche Gesinnung vor sich sieht, wird sie ein Beispiel und erhebt das Herz. – Komm, Franz,« sagte sie zum Bruder gewandt, »es ist nicht mehr weit nach Haus.« Aber Franz stolperte und erklärte schlaftrunken, daß ihn seine Beine schmerzten. »Auf, kleiner Herr,« rief der Professor, »laß dich tragen.«

Aengstlich wehrte Ilse: »Das kann ich nicht zugeben, es ist nur der Schlaf, der ihn träge macht.«

»Bis wir im Thale sind,« sagte der Professor und hob den Knaben an seine Schulter. Franz schlug ihm den Arm um den Hals, drückte sich an ihn und war bald fest entschlafen. Sie kamen an eine steile Biegung des Weges, der Professor bot seiner Gefährtin den freien Arm, sie aber weigerte sich und stützte sich nur ein wenig auf die dargebotene Hand. Und ihre Hand glitt hinab und blieb in der des Mannes liegen. Hand in Hand schritten beide den letzten Theil des Berges abwärts in das Thal, keines sprach ein Wort. Unten löste Ilse leise ihre Hand aus der seinen, er ließ sie los ohne Wort und Druck, aber die wenigen Minuten umfaßten für beide eine Welt von seligen Gefühlen. »Komm herab, Franz,« bat Ilse, und nahm den schlafenden Bruder vom Arm ihres Freundes. Sie beugte sich zu dem Kleinen nieder und sprach ihm Muth ein, und weiter ging es zu der Gesellschaft, welche am Bach die Zurückgebliebenen erwartete.

Der Wagen des Oberamtmanns fuhr vor. Wortreich waren die Abschiedsgrüße der Frau Oberamtmann; auch der Starrsinn des Gatten war durch die Vorstellungen seiner Frau gemildert, und als er die Mütze in der Hand hielt, bequemte er sich mit erträglichem Anstande zum Biß in den erwähnten sauren Apfel. Er trat auf die Schreiberleute aus der Stadt zu und ersuchte sie, auch ihm das Vergnügen ihres Besuches zu schenken, und als er die freundlichen Worte sprach, übte die Einladung selbst auf sein ehrliches Gemüth eine weitere besänftigende Wirkung, er streckte auch noch die Hand aus, und als diese ihm kräftig geschüttelt wurde, näherte er sich der Ansicht, daß die Fremden im Grunde auch nicht so übel wären. Der Gutsherr begleitete die Gäste zu dem Wagen, Hans reichte die Schachtel hinein, und beide Landwirthe beobachteten unter dem letzten Gutnachtruf noch mit Kennerblicken, wie die Braunen anzogen.