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Die verlorene Handschrift

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Schweigend und eifrig verrichtete Jeder sein Werk, am oberen Ende des Tisches wurde Unterhaltung geführt. Die Freunde sprachen dem Landwirth ihre Freude über Haus und Umgebung aus, und der Hausherr lachte spöttisch, als der Doctor die dicken Wände des Hauses rühmend hervorhob. Dann schweifte das Gespräch auf die Umgegend hinaus, auf den Dialekt und die Art des Landvolks.

»Wieder ist mir in diesen Tagen aufgefallen,« sagte der Professor, »wie fremd und mißtrauisch die Landleute hier uns Städter beobachten. Unsere Sprache, Sitte, Gewohnheit betrachten sie wie die eines anderen Volkes. Und wenn ich zusehe, was der Feldarbeiter mit den sogenannten Gebildeten gemein hat, so empfinde ich schmerzlich, daß es viel zu wenig ist.«

»Wer ist daran schuld,« entgegnete der Landwirth, »als die Gebildeten selbst. Nehmen Sie mir nicht übel, wenn ich Ihnen als einfacher Mann sage, daß mir diese Bildung ebensowenig gefällt als die Unwissenheit und Störrigkeit, welche Sie an unsern Landleuten in Erstaunen setzt. Sie selbst z.B. machen eine weite Reise, um alte vergessene Schriften zu finden, die einst ein gebildeter Mann in einem untergegangenen Volke geschrieben hat. Ich aber frage, was haben Millionen Menschen, die mit Ihnen eine Sprache sprechen, Ihres Stammes sind und neben Ihnen leben, von all der Gelehrsamkeit, die Sie für sich und eine kleine Zahl wohlhabender und müßiger Leute erwerben? Wenn Sie zu meinen Arbeitern reden, die Leute verstehen Sie nicht. Wenn Sie von Ihrer Wissenschaft etwas erzählen wollten, meine Knechte würden vor Ihnen stehen wie Neger. Ist das ein gesunder Zustand? Und ich sage Ihnen, solange dieser Zustand dauert, sind wir noch kein rechtes Volk.«

»Wenn Ihre Worte einen Vorwurf gegen meinen Beruf enthalten,« erwiederte der Professor, »so sind sie ungerecht. Gerade jetzt ist man eifrig bemüht, was in der Arbeitstube der Gelehrten gefunden wird, auch dem Volke zugänglich zu machen. Daß dafür nach mancher Richtung noch mehr geschehen sollte, leugne ich nicht. Aber zu allen Zeiten hat ernste wissenschaftliche Forschung, selbst wenn sie zunächst nur einem sehr kleinen Kreise verständlich ist, ganz unsichtbar und in der Stille Seele und Leben des gesammten Volkes beherrscht. Sie bildet die Sprache, sie richtet die Gedanken, sie formt allmählich Sitte, Rechtsgefühl und Gesetz nach den Bedürfnissen jeder Zeit. Nicht nur die praktischen Erfindungen und der steigende Wohlstand werden durch sie möglich, auch, was Ihnen nicht weniger wichtig erscheinen wird, die Gedanken des Menschen über sein eigenes Leben, die Art, wie er seine Pflichten gegen Andere übt, der Sinn, in welchem er Wahrheit und Lüge auffaßt, das alles verdankt jeder von uns der Gelehrsamkeit seines Volkes, wie wenig er sich auch um die einzelnen Forschungen kümmern möge. Und lassen Sie mich einen alten Vergleich gebrauchen. Die Wissenschaft ist wie ein großes Feuer, das in einem Volke unablässig unterhalten werden muß, weil ihm Stahl und Stein unbekannt sind. Ich gehöre zu denen, welche die Pflicht haben, immer neue Scheite in das große Feuer zu werfen. Andere haben die Aufgabe, die heilige Flamme durch das Land, in Dörfer und Hütten zu tragen. Jeder, der an der Verbreitung des Lichtes arbeitet, hat sein Recht, und keiner soll von dem Andern gering denken.«

»Darin liegt Wahrheit,« sagte der Landwirth aufmerksam.

»Wenn das große Feuer nicht brennt,« fuhr der Professor fort, »werden die einzelnen Flammen sich auch nicht verbreiten können. Und glauben Sie mir, was einen ehrlichen Gelehrten bei den schwierigsten Untersuchungen, unter denen ihm das Leben dahinschwindet, immer erhebt und stärkt, das ist gerade die unerschütterliche Ueberzeugung, welche durch lange Erfahrung tausendfach bestätigt ist, daß seine Arbeit zuletzt doch der ganzen Menschheit zu Gute kommt; sie hilft nicht immer neue Maschinen erfinden und neue Culturpflanzen entdecken, sie ist deshalb nicht weniger wirksam für Alle, auch wo sie lehrt, was wahr und unwahr, was schön und häßlich, was gut und schlecht ist. In diesem Sinne macht sie Millionen freier und dadurch besser.«

»Ich sehe wenigstens aus Ihren Worten,« sprach der Landwirth, »daß Sie Ihren Beruf hoch halten. Und das freut mich überall, denn das ist die Art eines tüchtigen Mannes.«

Bei dieser Unterredung wurde beiden Männern behaglicher zu Muthe. Der Inspector erhob sich, und im Nu rückten sämmtliche Stühle der Würdenträger und der Kinder, die Mehrzahl der Tischgäste verließ das Zimmer. Nur der Wirth, Ilse und die Gäste saßen noch einige Minuten beieinander, jetzt in ruhiger fortrollender Unterhaltung. Dann ging man in das Nebenzimmer zu dem angerichteten Kaffetisch, Ilse schenkte ein und der Landwirth betrachtete von seinem Sitze die unerwarteten Gäste.

Der Professor setzte die leere Tasse hin und begann: »Unsere Aufgabe hier ist beendigt, wir haben Ihnen für die gastliche Aufnahme zu danken. Ich möchte aber nicht scheiden, ohne Sie noch einmal an das zu erinnern –«

»Warum wollen Sie jetzt fort?« unterbrach ihn der Landwirth. »Sie haben heut schon einen längern Weg gemacht, Sie finden weder in der Stadt noch in den Dörfern dahinter ein erträgliches Unterkommen und in dem Drang der Ernte vielleicht nicht einmal eine Fuhre. Lassen Sie sich’s zur Nacht hier gefallen, wir haben ohnedies noch unser Gespräch von heut Morgen aufzunehmen,« fügte er mit Laune hinzu, »und mir liegt daran, daß wir in gutem Einvernehmen scheiden. Sie begleiten mich ein Stück in das Feld, wo ich allerdings nöthig bin. Wenn ich auf das Vorwerk reite, mag Ilse wieder meine Stelle vertreten. Am Abend sprechen wir dann ein verständiges Wort miteinander.«

Die Freunde waren bereit, auf diesen Vorschlag einzugehen. In gutem Einvernehmen schritten die Männer durch das Erntefeld. Der Professor freute sich über die großen Aehren einer neuen Art Gerste, welche noch ungemäht, dicht wie Rohr vor ihnen stand, und der Landwirth sprach bedächtige Worte über diese anspruchsvolle Halmfrucht des deutschen Landmanns. Sie blieben stehen, wo gerade die Arbeiter beschäftigt waren. Dann trat zuerst der Beamte, der die Aufsicht führte, dem Gutsherrn entgegen und berichtete, darauf schritten sie über die Stoppeln zu den Garben; der schnelle Blick des Landwirths übersah die zusammengelegten Mandeln, die emsigen Leute und die harrenden Rosse am Erntewagen; die Freunde aber betrachteten mit Antheil, wie der Herr des Gutes mit seinen Beamten und Arbeitern verkehrte, kurze Befehle und beflissene Antworten, Eifer der schaffenden Leute und frohe Mienen, wenn sie die Zahl der Garben meldeten, überall ein wohlgefügtes Wesen, sichere Kraft, ein wackeres Zusammengreifen. Sie kehrten zurück mit Achtung vor dem Manne, der in seinem kleinen Reiche so fest herrschte. Auf dem Rückwege blieben sie bei den Füllen stehen, welche sich hinter der Scheuer auf eingezäuntem Raum tummelten, und als der Doctor vor andern zwei galoppirende Braune rühmte, fand sich’s, daß er richtig die besten Pferde gelobt hatte, und der Landwirth lächelte ihm wohlwollend zu. Am Eingang des Hofes führte ein Knecht das Reitpferd, einen mächtigen Rappen von starken Gliedern und breiter Brust, der Doctor klopfte den Hals des Thieres, der Landwirth sah nach dem Riemzeug. »Ich bin ein schwerer Reiter,« sagte er, »und habe Noth, ein dauerhaftes Thier zu finden.« Er schwang sich wuchtig in den Sattel und griff an seine Mütze: »Auf Wiedersehn heut Abend.« Und sehr stattlich sahen Roß und Reiter aus, als sie den Feldweg entlang trabten.

»Das Fräulein erwartet Sie,« sagte der Reitknecht, »ich soll Sie zu ihr führen.«

»Haben wir Fortschritte gemacht oder nicht?« frug der Doctor lachend, den Arm des Freundes fassend.

»Ein Kampf hat begonnen,« erwiederte der Freund ernsthaft, »wer mag sagen, wie der Ausgang sein wird.«

Ilse saß von den Kindern umgeben in einer Gaisblattlaube des Gartens. Es war ein herzerfreuender Anblick, das junge blondhaarige Geschlecht beieinander zu sehen. Die Mädchen saßen neben der Schwester, die Knaben trieben spielend um die Laube, große Vesperbrote in der Hand. Sieben frische, wohlgeformte Gesichter, einander ähnlich wie Blüthen desselben Baumes und doch jedes Leben in einem andern Zeitraum seiner Entfaltung, von Franz, dessen runder Kinderkopf einer lustigen Knospe glich, bis zu der schönen Fülle in Antlitz und Gliedern, welche in der Mitte saß, am hellsten durch das gebrochene Licht der Sonne beleuchtet. Wieder erregte den Freunden das Aussehen des Mädchens, der Klang ihrer Worte das Herz, als sie den kleinen Franz zärtlich schalt, weil er dem Bruder das Butterbrot aus der Hand geschlagen hatte. Wieder starrten die Kinder mißtrauisch auf die Fremden, aber der Doctor beseitigte das Ceremoniel der ersten Bekanntschaft, indem er Franz bei den Beinen nahm, auf seine Schultern setzte und sich mit seinem Reiter in der Laube niederließ. Der kleine Bursch saß einige Augenblicke betroffen auf seiner Höhe und die Kinder lachten laut, daß er so erschrocken aus runden Augen auf den fremden Kopf zwischen seinen Beinchen herabsah. Aber das Gelächter der Andern machte ihm Muth, er begann lustig mit den Beinen zu baumeln und schwenkte sein Vesperbrot triumphirend um die Locken des Fremden. So war die Bekanntschaft gemacht, wenige Minuten darauf fuhr der Doctor mit den Kindern durch den Garten, ließ sich jagen und suchte die Jauchzenden zwischen den Beeten zu fangen.

»Ist’s Ihnen recht, so möchte ich Sie an eine Stelle führen, wo wir am liebsten auf unser Haus hinsehen,« sagte Ilse zum Professor. Von den Kindern umschwärmt, schritten die Großen den Weg hinab, der zur Kirche führte, und bogen um den Friedhof herum. Der Fels, auf welchem die Gebäude des Gutes lagen, senkte sich hier steil in ein schmales Thal, das von der andern Seite durch einen höheren Bergrücken eingeengt wurde. Ein gewundener Fußpfad lief in den Grund hinab, dort umsäumte ein Wiesenstreif das strudelnde Wasser des Baches. Aus dieser Tiefe zog sich der Pfad auf der andern Seite wieder in den Laubwald hinein, unter Goldweiden und Erlen stiegen sie einige hundert Schritt hinan. Vor ihnen erhob sich aus dem Geröll und Gebüsch ein Felsblock: sie traten um die Ecke und standen an einer Steingrotte. Der Felsen bildete Portal und Wände einer Höhle, welche etwa zehn Schritt in den Berg hineinreichte. Der Boden war eben, mit weißem Sand bedeckt, Brombeeren und wilde Rosen hingen von oben über den Eingang herab, gerade in der Mitte hatte sich ein großer Busch Weidenröschen angesiedelt, er stand mit seinen dichten Blüthenrispen wie ein rother Federschmuck über dem Felsbogen der Grotte. Die Spur einer alten Mauer an der Seite verrieth, daß die Höhle wohl einmal in arger Zeit die Zuflucht Bedrängter oder Gesetzloser gewesen war; am Eingange lag ein Stein, dessen Oberfläche zu einem Sitze geebnet war, in der Dämmerung des Hintergrundes stand eine steinerne Bank.

 

»Dort ist unser Haus,« sagte Ilse und zeigte über das Thal nach der Höhe, wo hinter den Obstbäumen des Gartens das Giebelhaus emporstieg. »Hier sind wir im Gebirge. Sie sehen, der Hof ist so nahe, daß man einen lauten Ruf von drüben bei stiller Luft hören kann.«

Aus dem Dämmerlicht der Höhle sahen die Freunde in das helle Licht des Tages, auf das Steinhaus und auf die Bäume, welche seinen Fuß umgrenzten. »Jetzt ist es still im Walde,« fuhr Ilse fort, »die Vögel sind fast alle verstummt, die kleinen fliegen am Rande des Holzes und suchen reifen Samen, denn ihr Hauswesen ist zu Ende, sie leben jetzt in der großen Gesellschaft. Auch die im Garten zahm waren, werden ausgelassen und kümmern sich wenig um den Menschen und sein Futter.«

»Dort rauscht es leise, wie gurgelndes Wasser,«sagte der Professor.

»Ein Quell fließt nebenbei über Steine herab,« erklärte Ilse. »Jetzt ist er schwach, aber im Frühjahr strömt vieles Wasser von dem Berge zusammen. Dann ist das Rauschen laut und der Bach im Thale fährt wild über die Steine; dann überdeckt er auch die Wiesen dort unten, er füllt den ganzen Grund und steigt bis an das Gebüsch. – Hier aber ist für uns alle in warmen Tagen ein lieber Aufenthalt. Als der Vater das Gut kaufte, war die Höhle verwachsen, der Eingang mit Steinen und Erde verschüttet und die Eulen wohnten darin. Und der Vater hat den Platz gesäubert.«

Der Professor trat neugierig in den Raum und schlug mit dem Stock an den röthlichen Felsen. Ilse sah ihn von der Seite an. Jetzt bekommt auch er das Suchen, dachte sie bekümmert. »Es ist alles altes Gestein,« sagte sie beruhigend.

Der Doctor war mit den Kindern um die Höhle herumgeklettert, er machte sich von Hans los, der ihm gerade anvertraute, daß er weiter unten in dichtem Erlengestrüpp das leere Nest einer Beutelmeise wisse.

»Das ist ein wundervoller Ort für die Sagen der Gegend,« rief er bewundernd, »es gibt keine schönere Heimat für die Geister des Thales.«

»Die Leute reden dummes Zeug davon,« entgegnete Ilse abweisend. »Hier sollen kleine Zwerge wohnen, und sie sagen, man kann ihre Fußtapfen im Sande erkennen, und Vater hat den Sand doch erst hineinfahren lassen. Aber die Leute fürchten sich doch, und wenn der Abend kommt, gehen die Frauen und Kinder der Arbeiter nicht gern vorüber. Uns aber verbergen sie’s, denn der Vater leidet den Aberglauben nicht.«

»Ich sehe, die Zwerge stehen hier nicht in Gunst,« erwiederte der Doctor.

»Da es keine gibt, soll man nicht daran glauben,« versetzte Ilse eifrig. »Unsre Leute möchten es wohl noch gern thun. Der Mensch soll an das glauben, was die Bibel lehrt, nicht an wildes Zeug, das, wie sie im Dorfe sagen, durch den Wald und die Nacht dahinfährt. Neulich war eine alte Frau im nächsten Dorfe krank, kein Mensch trug ihr Essen, recht häßlich haben sie sich über ihre Niederlage gefreut, weil sie meinten, das arme Weib könne sich in eine schwarze Katze verwandeln und dem Vieh schaden. Als wir es erfuhren, drohte der Frau die Gefahr, in Einsamkeit umzukommen. Und deshalb ist es häßliches Geschwätz.«

Der Doctor hatte sich unterdeß die Zwerge in der Brieftasche angemerkt, sah aber jetzt ohne Freude auf Ilse, die aus dem Hintergrund der Höhle sprach, in dem gebrochenen Scheine zwischen Fels und Licht selbst einem Sagenbilde ähnlich. »Der alte Scheich Abraham und der Gauner Jacob, der seinen blinden Vater mit dem Bocksfell an den Aermeln betrügt, sind ihr ganz recht, aber unser Schneewittchen gilt ihr für häßliches Zeug.« Er steckte die Brieftafel ein und ging mit Hans zur Behausung der Beutelmeise.

Der Professor hatte mit Ergötzen den stillen Aerger des Freundes beobachtet, aber Ilse wandte sich auch zu ihm: »Mich wundert, daß Ihr Freund solche Geschichten aufschreibt, das ist nicht gut, dergleichen muß in Vergessenheit kommen.«

»Sie wissen, daß er selbst nicht daran glaubt,« erwiederte der Professor entschuldigend, »was er aber darin findet, das sind nur alte Ueberlieferungen des Volkes. Denn diese Sagen sind in einer Zeit entstanden, wo noch unser ganzes Volk an diese Geister ebenso glaubte, wie jetzt an die Lehren der Bibel. Er sammelt solche Erinnerungen, um zu erkennen, wie Glaube und Poesie unserer Vorfahren war.«

Das Mädchen schwieg. »Das gehört also auch zu dem, was Sie heut Mittag von Ihrer Arbeit sagten,« begann sie nach einer Weile.

»Es gehört auch dazu.«

»Es hörte sich gut an,« fuhr Ilse fort, »denn Sie sprechen anders als wir. Sonst, wenn man von Einem sagte, er spricht wie gedruckt, meinte ich immer, es sei ein Vorwurf, aber es ist das richtige Wort,« setzte sie leiser hinzu, »und es macht Freude zu hören.« Dabei sah sie aus der Tiefe der Grotte mit ihren großen Augen auf den Gelehrten, der am Eingange stand, an den Stein gelehnt, hell von den Strahlen der Sonne beschienen.

»Es gibt aber auch sehr viele Bücher, welche schlecht schwatzen,« antwortete der Professor lachend, »und nichts ermüdet so sehr, als lange Buchweisheit aus lebendigem Munde.«

»Ja, ja,« bestätigte Ilse, »wir haben auch eine Bekannte, welche eine gelehrte Frau ist. Wenn die Frau Oberamtmann Rollmaus uns des Sonntags besucht, so setzt sie sich auf dem Sopha zurecht und greift mit einem Gespräch den Vater an. Der Vater mag sich winden, wie er will, um ihr zu entgehen, sie weiß ihn fest zu halten, über Engländer und Tscherkessen, über Kometen und die Dichter. Aber die Kinder sind dahinter gekommen, daß sie ein Lexikon für Conversation hat, daraus nimmt sie Alles. Und wenn sich in einem Lande etwas ereignet oder die Zeitung von etwas Lärm macht, so liest sie im Lexikon darüber nach. Wir haben dasselbe Buch angeschafft, und wenn ihr Besuch bevorsteht, so wird überlegt, welcher Name gerade an der Zeit ist. Dann schlagen die Kinder vorher am Sonnabend Abend diese Sache auf und lesen vor, was nicht gar zu lang ist. Und auch der Vater hört zu und sieht auch wohl noch selbst in das Buch. Und am andern Tage haben die Kinder ihre Freude daran, wenn der Vater die Frau Oberamtmann mit ihrem eigenen Buche überwindet. Denn unser Buch ist neuer, ihres ist schon alt und die neuen Begebenheiten stehen nicht darin, von diesen weiß sie wenig.«

»Also der Sonntag ist die Zeit, wo man hier Ehre einlegen könnte,« sagte der Professor.

»Im Winter sieht man sich auch manchmal in der Woche,« fuhr Ilse fort. »Aber es ist nicht viel Verkehr in der Umgegend. Und wenn einmal ein Besuch kommt, der uns gute Gedanken zurückläßt, so sind wir dankbar und wir bewahren sie in treuem Herzen.«

»Die besten Gedanken sind doch, welche dem Menschen aus seiner eigenen Thätigkeit aufsteigen,« sagte der Professor rücksichtsvoll. »Das Wenige, was ich von dem Gute hier gesehen, mahnt, wie schön das Leben gedeihen kann, auch wenn es weit von dem lauten Geräusch des Tages abliegt.«

»Das war ein freundliches Wort,« rief Ilse. »Und einsam ist es hier auch nicht, und wir kümmern uns auch um die Landsleute draußen und um die große Welt. Wenn die Herren Landwirthe zum Besuch kommen, wird nicht immer von der Wirthschaft gesprochen, und es fällt wohl etwas für uns jüngere ab. Und dann ist unser lieber Herr Pastor, der uns auch zuweilen aus der Fremde erzählt und mit uns zusammen die Zeitungen liest, welche der Vater hält. Und wenn darin zu Beiträgen für einen guten Zweck aufgefordert wird, dann sind die Kinder am schnellsten bei der Hand und jedes gibt sein Scherflein vom Ersparten, der Vater aber reichlich. Und Hans als der älteste sammelt und hat das Recht solches Geld einzupacken, und in den Brief setzt er die Anfangsbuchstaben eines Jeden, der dazu gegeben hat. Kommt dann später im Gedruckten eine Quittung, so sucht jedes zuerst seinen Buchstaben. Mehrmals war einer falsch gedruckt, dann sind die Kinder ärgerlich.«

Aus der Ferne hörte man Ruf und Lachen der Kinder, welche mit dem Doctor von ihrem Ausflug zurückkehrten. Das Mädchen erhob sich, der Professor trat zu ihr und sagte mit warmer Empfindung: »Sooft mir einst die Bilder dieses Tages lebendig werden, wird mein Herz voll Dank dieser Stunde gedenken, wo Sie zu einem Fremden so ehrlich über Ihr glückliches Leben gesprochen haben.«

Ilse sah ihn mit unschuldigem Vertrauen an. »Sie sind mir nicht fremd, ich sah Sie ja am Grabe des Kindes.«

Der fröhliche Schwarm schloß beide in die Mitte und zog weiter das Thal hinauf.

Es war Abend, als sie zum Hause zurückkehrten, wo der Landwirth sie bereits erwartete. Nach dem Abendbrot saßen die Erwachsenen noch eine Stunde zusammen. Die Fremden erzählten von ihrer Stadt und Neuigkeiten aus der Welt, dann wurde, wie Männern ziemt, auch über Politik gesprochen, und Ilse freute sich, daß ihr Vater und die Fremden sich darin vortrefflich verstanden. Als der Kuckuck über der Hausuhr die zehnte Stunde ausrief, trennte man sich mit freundlichem Nachtgruß.

Das Hausmädchen hatte den Fremden zur Ruhe geleuchtet, Ilse saß auf dem Stuhl, die Hände im Schoß gefaltet, und sah schweigend vor sich hin. Der Gutsherr kam aus seinem Zimmer und nahm den Nachtleuchter vom Tisch. »Bist noch wach, Ilse? Nun, wie gefallen dir die Fremden?«

»Gut, Vater,« sagte das Mädchen leise.

»Sie sind nicht so dumm als sie aussehen,« sagte der Wirth auf und abgehend. »Das von dem großen Feuer war recht,« wiederholte er, »und das über unsere kleinen Regierungen war auch recht. Der Jüngere wäre ein guter Schullehrer geworden, und der Große, es ist beim Himmel schade, daß er nicht ein vier Jahr Wasserstiefeln getragen hat, er wäre ein gescheidter Inspektor. Gute Nacht, Ilse.«

»Gute Nacht, Vater.«

Die Tochter erhob sich und folgte dem Vater an die Thür. »Bleiben die Fremden morgen hier, Vater?«

»Hm,« sagte der Wirth nachdenkend. »Ueber Mittag bleiben sie jedenfalls, ich will ihnen doch das Vorwerk zeigen. Sorge für etwas Ordentliches zum Essen.«

»Vater, der Professor hat noch nie in seinem Leben ein Spanferkel gegessen,« sagte die Tochter.

»Ilse, wo denkst du hin, meine Ferkel wegen des Tacitus!« rief der Landwirth. »Nein, damit komm mir nicht, bleibe bei deinem Federvieh! Halt! noch eins, reiche mir den Band T aus dem Schranke, ich will doch einmal über den Burschen nachlesen.«

»Hier, Vater, ich weiß, wo es steht.«

»Sieh doch!« sagte der Vater, »Frau Oberamtmann Rollmaus! gute Nacht.«

Der Doctor sah durch das Fenster in den dunklen Hof. Schlaf und Frieden lag über dem weiten Raum, aus der Ferne klang der Schritt des Wächters, der die Hofstätte umkreiste, dann bellte halblaut der Hofhund. »Da stehen wir,« sagte er endlich, »zwei echte Abenteurer in der feindlichen Burg. Ob wir etwas daraus forttragen, ist sehr zweifelhaft,« fügte er hinzu, seinen Freund bedenklich anlächelnd.

»Es ist zweifelhaft,« sagte der Professor, mit großen Schritten die Stube durchmessend.

»Was hast du, Felix?« frug Fritz besorgt nach einer Pause, »du bist zerstreut, das ist sonst nicht deine Art.«

Der Professor blieb stehen. »Ich habe dir nichts zu sagen. Es sind starke, aber unklare Empfindungen, welche ich zu bewältigen suche. Ich fürchte, dieser Tag hat eine Bedeutung gewonnen, gegen welche ein vernünftiger Mann sich zu wehren hat. Frage mich nicht weiter, Fritz,« fuhr er fort und drückte diesem kräftig die Hand, »ich fühle mich nicht unglücklich.«

Fritz versank in Bekümmerniß, setzte sich zu seinem Bett und spähte nach einem Stiefelknecht. »Wie gefällt dir unser Wirth?« fragte er kleinlaut und ließ, um sorglos zu erscheinen, den Stiefel im Holze knarren.

»Ein tüchtiger Mann,« erwiederte der Professor, wieder stehenbleibend, »seine Art ist anders, als wir’s gewöhnt sind.«

»Es ist altsächsischer Stamm,« setzte der Doctor das Gespräch fort, »breite Schultern, Hünenwuchs, offene Züge, Wucht in jeder Bewegung. Auch die Kinder sind von derselben Art,« fuhr er fort, »die Tochter hat etwas von einer Thusnelda.«

»Der Vergleich paßt nicht,« entgegnete der Professor rauh und setzte seinen Marsch fort.

 

Fritz spannte den zweiten Stiefel in das Joch und knarrte in den leisen Mißklang hinein. »Wie gefällt dir der älteste Knabe? Er hat ganz das helle Haar seiner Schwester.«

»Das ist gar nicht zu vergleichen,« sagte der Professor wieder kurz.

Fritz setzte die beiden Stiefeln vor das Bett, sich selbst auf den Bettrand und begann entschlossen: »Ich bin bereit, deine Stimmung zu achten, auch wenn sie mir nicht ganz verständlich ist, aber ich bitte dich doch daran zu denken, daß wir diese Gastfreundschaft uns eigentlich erzwungen haben, und daß wir sie nicht über die Frühstunden des nächsten Tages in Anspruch nehmen dürfen.«

»Fritz,« rief der Professor mit tiefer Empfindung, »du bist mein zartfühlender lieber Freund, habe heut Geduld mit mir,« und dabei wandte er sich wieder um und trat, das Gespräch abbrechend, an das Fenster.

Fritz gerieth vor Sorgen ganz außer sich; dieser großartige Mann, sicher in allem, was er schrieb, voll von Rath und festem Entschluß vor den dunkelsten Textstellen – und jetzt arbeitete in ihm, was sein ganzes Wesen erschütterte. Wie durfte dieser Mann so gestört werden! Er sah mit majestätischer Klarheit in eine Vergangenheit von mehren tausend Jahren zurück, und jetzt stand er am Fenster einem Kuhstall gegenüber, und ein Ton klang durch das Zimmer wie Seufzen. Was sollte daraus werden? Diesen Gedanken wälzte der Doctor unablässig hin und her.

Lange ging der Professor mit großen Schritten auf und ab, Fritz stellte sich schlafend, sah aber unter der Bettdecke hervor immer wieder auf den kämpfenden Freund. Endlich löschte der Professor das Licht und warf sich auf das Lager. Bald verriethen seine tiefen Athemzüge, daß die wohlthätige Natur auch dies pochende Herz für einige Stunden zu leisem Schlage gebändigt hatte. Aber der Kummer des Doctors hielt hartnäckiger Stand. Von Zeit zu Zeit erhob er den Oberleib aus den Kissen, suchte tastend seine Brille vom nächsten Stuhle, ohne die er den Professor nicht ersehen konnte, und spähte durch die runden Gläser nach dem andern Bette hinüber, nahm die Brille wieder in leisem Seufzen ab und legte sich in die Kissen zurück. Diesen Act der Freundschaft wiederholte er mehre Male, bis auch er in festen Schlaf verfiel, kurz bevor die Sperlinge im Rebenlaub ihren Morgengesang anstimmten.