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Die verlorene Handschrift

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Knips bereitet sich für seine ersten Stunden vor, indem er zuerst seinen Farbekasten, dann einige Briefsteller und alte Complimentirbücher hervorzog. Mit Hülfe des Farbekastens malte er einige Wappen, aus den Büchern schrieb er die ehrfurchtsvollen Redewendungen ab, welche unsere demüthige Kanzleisprache im Verkehr mit den Großen eingeführt hat, und lernte alle auswendig. Zur Stunde stellte er sich dem Kammerherrn vor, glatt und duftend, einer Blume gleich, welcher durch den Strahl hoher Sonne die Kraft des Stengels genommen ist. So wurde er vor die Augen des Prinzen geführt, welkte auch vor diesem eine Weile dahin, bis er durch einen Stuhl Halt erhielt, und begann seinen Vortrag, indem er das fürstliche Hauswappen und das Wappen des Kammerherrn aus einer kleinen Mappe zog, in tiefster Ehrfurcht zu Füßen legte und daran die ersten Erklärungen knüpfte.

Sein Vortrag war nach den eigenen Worten des Kammerherrn ganz magnifique, seine unterthänigen Arabesken drehten sich zwar wunderlich und weitschweifig, aber durchaus nicht unangenehm, sie waren possierlich und sie paßten sehr zu dem schnörkelhaften Inhalt seiner Vorträge. Er brachte häufig kleine Zeichnungen, Wappenbücher und Kupferwerke von der Bibliothek zum Ansehen und erwies sich gründlicher unterrichtet als vielleicht nothwendig gewesen wäre. Wenn er sich ja einmal auf geschichtliche Erörterungen einließ, die ihm anmuthiger waren als seinen Zuhörern, so hob der Kammerherr nur den Finger und Knips flatterte ehrerbietig auf die Fahrstraße zurück. Die Herren fanden mehr Gefallen an seinem Vortrage als an manchem andern, den des Magisters hohe Gönner hielten. Die Stunden wurden über das ganze Halbjahr ausgedehnt, denn zufällig fand sich, daß Knips auch in Turnieren, Ringelrennen, Faquins und anderen ritterlichen Ergötzlichkeiten Bescheid wußte. Er erzählte dem Prinzen von alten Schaufesten des eigenen hohen Hauses, beschrieb genau das Ceremoniell und wußte sogar die Namen der mitwirkenden Cavaliere anzugeben. Den Zuhörern erschien dies Wissen staunenswerth, ihn kostete wenig Mühe, die Notizen aus Büchern zusammen zu tragen. Und als er am Ende reichlich belohnt von dannen schied, war seinen Hörern leid, daß die lustige Gestalt nicht mehr ihre altfränkische und verkrauste Weisheit vortragen sollte.

»Mutter, sieh her,« rief Knips, in seine Stube tretend, und holte eine kleine Geldrolle aus der Tasche, »das ist die größte Summe, die ich je bei einem Geschäft verdient«. Die Mutter schlug mit den Händen auf die Schürze. »Da lobe ich mir die vornehmen Leute, die wissen meinen Sohn doch zu schätzen.«

»Zu schätzen?« versetzte Knips verächtlich, »die wissen gar nichts von mir und von dem, was ich verstehe. Und je weniger man ihnen beibringt, desto lieber ist es ihnen. Es macht ihnen Mühe, das nur aufzuschlagen, was schon für alle Welt zugerichtet ist, und was in hundert Folianten steht, war ihnen noch neu. Ich habe sie behandelt wie kleine Jungen, und sie haben es nicht gemerkt. Nein, Mutter, sie verstehen noch schlechter, mich zu benutzen als hier das Professorenvolk. Mich ehren nach meinem Wissen thut Niemand.«

»Einer weiß es,« murmelte er vor sich hin, »aber der ist hochmüthiger als der Kammerherr. Der Kammerherr thut, als wollte er über die alten Carrousels und Maskeraden sich selbst unterrichten. Ich will ihm den kleinen Rohr zum Andenken schenken. Es steht gerade so wenig darin, daß es für ihn gut genug ist. Ich habe das Buch um vier Groschen gekauft, das Schweinsleder ist noch ziemlich weiß, ich wasche es mit Salmiak und klebe sein Wappen hinein. Wer weiß, wozu es nützen kann.«

Er wusch ab und fuhr mit dem Pinsel in seinen Muscheln umher. »Die Welt ist voll Schwindel, Mutter. Wer hätte gedacht, daß ich mit dem alten schlottrigen Unsinn dieser Wappenzeichen ein Capital verdienen würde?« Und er zeichnete und tuschte über dem Wappen: »Ich habe selten Gold in das Haus getragen, und dann war es immer für schlechtes Zeug, das mir keine Ehre gemacht hat.« – Hier brach er ab. »Noch einmal ziehe ich meine Lohndienerkleidung an, wenn ich ihnen das Buch überreiche, dann schaff sie mir aus den Augen.«

In der Gegend von Rossau steckten Wegebauer Meßstangen auf und in der Universitätsstadt legte Magister Knips den weißen Schweinslederband in die Hände seines hochgeneigten Gönners. Ilse freute sich, daß der Weg zum Gut ihres Vaters für Jedermann leicht fahrbar sein würde, und der Professor hörte mit Antheil, daß der Mann, den er empfohlen, sich gut anschickte, und er lächelte wohlwollend über die Danksagungen des Magisters. Aber für den Kunstbau der neuen Straße und für die erprobte Kunstfertigkeit des kleinen Mannes sollte den beiden Glücklichen, welche die Empfehlung an die rechte Stelle gebracht, noch Dank werden, den sie sich nicht begehrten.

3.
Vielliebchen

Ilse stellte eines Abends die letzten Süßigkeiten der Weihnachtszeit auf den Tisch. Laura klapperte mit einer Knackmandel und frug den Doctor ernsthaft, woher der ehrwürdige Gebrauch der Vielliebchen komme. Der Doctor bestritt das Ehrwürdige, wußte aber im Augenblick den Ursprung des Spiels nicht anzugeben und war über diese Unsicherheit sichtlich betroffen. Er vergaß deshalb seine Pflicht, zum gemeinsamen Genuß der Doppelmandel aufzufordern. Laura öffnete die Schale und legte nachlässig zwei Mandeln zwischen ihn und sich. »Da sind sie.«

»Soll’s gelten?« rief der Doctor erheitert.

»Meinetwegen,« erwiederte Laura, »mit Geben und Nehmen, wie recht ist. Aber es darf nur Scherz sein,« fügte sie, des Vaters gedenkend hinzu, »und kein Geschenk.« Beide aßen mit dem rühmlichen Entschluß, das Spiel zu verlieren. Die Folge war, daß das Geschäft nicht vorwärts gehen wollte. Laura überreichte dem Doctor in den nächsten Wochen Bücher, Theetassen, Teller mit aufgeschnittenem Braten, er war wie ein Stock, niemals sagte er: »Ich denke dran.« Hatte er den Vertrag vergessen, oder war’s gewöhnliche Ritterlichkeit? Laura aber durfte ihm seine Vergeßlichkeit gar nicht zu Gemüth führen, sonst gewann sie das Vielliebchen. Sie wurde wieder einmal zornig auf ihn. »Mir reicht der gelehrte Herr gar nichts,« sagte sie zu Ilse, »er behandelt mich, als wäre ich eine Nessel.«

»Das ist Zufall,« versetzte Ilse, »er hat’s längst vergessen.«

»Natürlich,« rief Laura, »für einen hübschen Scherz mit einer unbedeutenden Person hat er kein Gedächtniß.«

»Mach’ ein Ende,« mahnte Ilse, »erinnere du ihn daran.«

Es fügte sich, daß der Doctor einmal nicht vermeiden konnte, ihr eine Schere aufzuheben und in die Hand zu reichen. »Ich denke dran,« sagte Laura schnippisch, »besser als Sie.«

Darauf bot sie dem Doctor die Zuckerbüchse, der Doctor holte sich ehrbar ein Stück Zucker heraus und schwieg. »Guten Morgen, Vielliebchen,« rief sie verächtlich. Der Doctor lachte und erklärte sich für überwunden. »Es ist gar nicht schön,« fuhr Laura eifrig fort, »daß Sie sich so wenig um Ihr Vielliebchen bekümmert haben, ich werde nie wieder eines mit Ihnen essen; gegen Herren, die so zerstreut sind, ist es keine Ehre zu gewinnen.«

Kurz darauf überreichte ihr der Doctor ein winziges gedrucktes Büchel in zierlichem Einband. Auf dem ersten Blatte stand: »Für Fräulein Laura,« und auf dem zweiten: »Die Entstehung der Vielliebchen, ein Märchen.« Es war die Geschichte der schönen Königstochter, welche sehr gern Knackmandeln aß, aber nicht heiraten wollte. Deshalb erfand sie Folgendes. Sie ließ jedem Prinzen, der um ihre Hand warb – und es waren unzählige – die Hälfte einer Doppelmandel darbieten und sie speiste den andern Zwilling. »Und wenn Ew. Liebden mich von jetzt ab zwingen können, daß ich etwas aus Dero Hand nehme, ohne die Worte zu sprechen: ich denke dran, so bin ich zu jeder Vermählung bereit; wenn ich aber Ew. Liebden verleiten kann, etwas aus meiner Hand zu nehmen, ohne daß Ihnen die klugen Worte einfallen, so werden Dieselben an Dero fürstlichem Haupte unbedingt kahl geschoren und verlassen sofort meine Länder.« Es war aber eine Tücke bei diesem Vertrage. Nämlich der schönen Prinzessin durfte nach Hofsitte überhaupt Niemand etwas in die Hand reichen, bei Todesstrafe, sondern er reichte es der Staatsdame und diese reichte es der Königstochter. Wenn aber die Königstochter selbst etwas wegnehmen oder überreichen wollte, wer konnte ihr das wehren? Es war also für die Freiwerber ein bitteres Vergnügen. Denn wie sie sich auch mühten, die Prinzessin zu verleiten, daß sie ohne Angebot etwas aus ihrer Hand nahm, immer fuhr die Staatsdame dazwischen und verdarb die besten Pläne. Wenn aber die Königstochter einen Freier abschaffen wollte, that sie einen Tag holdselig gegen ihn, bis er ganz bezaubert war, und sobald er neben ihr saß und bereits vor Freude taumelte, dann ergriff sie wie von ungefähr etwas in ihrer Nähe, einen Granatapfel oder ein Ei, und sagte leise: »Behalten Sie dies zu meinem Angedenken.« Sobald nun der Prinz das Stück in die Hand nahm und vielleicht noch der rettenden Worte ein wenig gedachte, sprang das Ding auseinander und ein Frosch, eine Hornisse oder Fledermaus fuhr gegen seine Locken, daß er zurückschreckte und im Schrecken die Worte vergaß. Und dann auf der Stelle geschoren und fort mit ihm.

Das war durch Jahre gegangen, und in allen Königshäusern trugen die Prinzen Perücken – auch diese sind seitdem bräuchlich geworden –, da traf sich’s, daß ein fremder Königssohn zugereist kam in eigenen Geschäften und aus Zufall die Mandelkönigin sah. Er fand sie schön, und er merkte die Tücke. Aber ihm hatte ein befreundetes graues Männchen einen Apfel geschenkt, an den durfte er alle Jahre einmal riechen, dann kam ihm ein kluger Einfall. Und er war wegen der klugen Einfälle schon unter allen Königen sehr berühmt geworden. Jetzt war gerade die Zeit des Apfels gekommen, er roch und da fiel ihm ein: wenn du das Spiel mit Nehmen und Geben gewinnen willst, darfst du ihr niemals und unter keinen Umständen etwas geben oder nehmen. Er ließ sich also die Hände fest in den Gürtel binden, ging mit seinem Marschall zu Hofe und sagte, er wollte auch gern seine Mandel essen. Der Prinzessin gefiel er sehr und sie ließ ihm die Mandel reichen. Die nahm sein Marschall und steckte sie ihm in den Mund. Da fragte die Königstochter, was denn das vorstelle, und überhaupt, warum er die Hände immer im Gürtel trage. Und er antwortete, bei seinem Hofe sei der Brauch noch viel strenger als bei ihrem, er dürfe mit seinen Händen gar nichts nehmen und geben, höchstens mit den Füßen oder dem Kopfe. Da lachte die Prinzessin und sagte: »Auf die Weise können wir ja niemals in unserm Spiel zusammenkommen.« Er zuckte die Achseln und antwortete: »Nur wenn Sie geruhen wollten, etwas von meinen Stiefeln zu nehmen.« »Das kann nie geschehen,« rief der ganze Hofstaat. »Wozu sind Sie hergekommen,« frug die Prinzessin ärgerlich, »wenn Sie so dumme Gewohnheiten haben?« »Weil Sie sehr schön sind,« sagte der Prinz, »wenn ich Sie auch nicht gewinnen kann, ich will Sie doch ansehen.« »Dagegen kann ich nichts haben,« versetzte die Königstochter. Der Prinz blieb also am Hofe und gefiel ihr immer besser. Weil sie aber auch ihre Bosheit hatte, suchte sie ihn auf alle Art zu verführen, daß er die Hand aus dem Gürtel zog und doch etwas von ihr nahm. Sie unterhielt sich immer mit ihm und schenkte ihm Blumen, Bonbons und Riechfläschchen, und zuletzt gar ihr Armband, auch zuckte es ihm mehrmals in den Händen, aber da fühlte er die Bande und kam zur Besinnung, nickte dem Marschall und der sammelte ein und sagte: »Wir denken schon dran.« Dabei wurde endlich die Prinzessin ungeduldig und sie begann: »Mir ist mein Taschentuch heruntergefallen, Ew. Liebden könnten mir es aufheben.« Der Prinz faßte das Tuch mit der Fußspitze und schwenkte es gleichgültig, und die Prinzessin beugte sich nieder, nahm das Tuch von seinem Fuß und rief zornig: »Ich denke dran.« Darüber war ein Jahr vergangen und die Königstochter sagte zu sich selbst: So kann das nicht bleiben, hier muß Schicht gemacht werden, so oder so. Sie begann also zum Prinzen: »Ich habe den besten Garten der Welt, den will ich morgen Euer Liebden zeigen.« Aber der Prinz roch wieder an seinem Apfel. Und als sie in den Garten kamen, fing der Prinz an: »Hier ist’s wunderschön. Damit wir aber in rechtem Frieden neben einander gehen und durchaus nicht durch unser Spiel gestört werden, bitte ich meine Herrin, daß dieselbe nur auf eine Stunde meine Hofsitte annehme und sich auch die Hände festbinden lasse. Dann sind wir eines des andern sicher und uns kann nichts Aergerliches begegnen.« Der Prinzessin war dies nicht recht, aber er bat und sie wollte ihm doch die Kleinigkeit nicht abschlagen. So gingen sie allein mit einander, die Hände im Gürtel gebunden. Die Vögel sangen, die Sonne schien warm und vom Baum hingen die rothen Kirschen bis auf die Wangen herunter. Die Prinzessin sah auf die Kirschen und rief: »Wie schade, daß Ew. Liebden mir keine davon pflücken können!« Der Prinz antwortete: »Noth kennt kein Gebot,« er nahm eine Kirsche mit dem Munde und bot sie der Königstochter. Der Prinzessin blieb nichts übrig, sie mußte ihren Mund an den seinigen bringen, um die Kirsche zu fassen, und da sie die Frucht zwischen den Lippen hatte und seinen Kuß dazu, vermochte sie nicht im Augenblick zu sprechen: »Ich denke dran.« Da rief er laut: »Guten Morgen, Vielliebchen!« zog die Hände aus dem Gürtel und fiel ihr um den Hals. Und wenn sie nicht gestorben sind u.s.w. Diese Geschichte hatte der Doctor lustig ausgeführt und eigens für Laura drucken lassen, so daß Niemand dies Büchel haben konnte, als sie allein.

 

Laura trug das Märchen in ihr Geheimzimmer, sah mit Stolz auf ihren gedruckten Namen und las immer wieder die kleine dumme Geschichte. Und sie ging nachdenkend auf und ab. Wenn sie sich so den ganzen Fritz Hahn überlegte, konnte sie doch kein recht gutes Gewissen haben. Von klein auf hatte er sie zu Dank verpflichtet, er war stets lieb und gut gegen sie gewesen, und sie, und ach noch mehr der Vater, hatten ihm immer wieder weh gethan. Reuevoll überdachte sie alle Vergangenheit bis zu den Katzenpfoten, was ihr schon bei dem Vielliebchen in der Seele gelegen hatte, das wurde ihr jetzt deutlich, sie konnte nicht unbefangen sein, wie sie doch sollte, und nicht gleichgültig, wie ihr ganz recht gewesen wäre, weil sie immer von ihm in den eisernen Banden einer Verpflichtung lag. »Ich muß mit ihm auf’s Reine kommen!« Ach, aber zwischen ihm und ihr stand als trennende Mauer das Verbot des Vaters. Sie überlegte, wie sie, ohne jenem Befehl entgegen zu handeln, doch dem Doctor etwas Angenehmes erweisen könne. Aehnliches hatte sie schon einmal mit der Orange gewagt; wenn drüben Niemand wußte, daß der Scherz von ihr kam, dann war keine Gefahr, es entstand kein zartes Verhältniß und keine Freundschaft, die der Vater doch nur vermeiden wollte. Sie eilte zu Ilse hinunter. »Die Verpflichtungen gegen den Doctor drücken mich mehr, als ich sagen kann, es ist unerträglich, immer in seiner Schuld zu sein. Jetzt habe ich etwas ausgedacht, was dies Verhältniß zum Ende bringt.«

»Nimm dich nur in Acht,« versetzte Ilse, »daß die Sache auch gründlich abgemacht wird.«

Darauf schlüpfte Laura in das Arbeitszimmer des Professors und bat: »Helfen Sie mir zu einem Scherz gegen den Mann von drüben, er sammelt ja allerlei alte Sachen, ich möchte etwas Seltenes für ihn erwerben, was ihm lieb wäre. Aber keine Seele darf wissen, daß ich dabei im Spiele bin, und er am wenigsten.«

Der Professor versprach, auf etwas zu denken.

Einige Zeit darauf legte er in Laura’s Hände einen kleinen zerrissenen Band, der jämmerlich herabgekommen aussah. »Es sind Einzeldrucke alter Volkslieder,« sagte er, »die irgend einmal zusammengebunden sind, ich stieß durch einen glücklichen Zufall darauf. Das Büchlein ist theuer, für den Liebhaber ist sein Werth unverhältnißmäßig größer als der Preis. Nehmen Sie keinen Anstoß an dem schlechten Kleide, Fritz wird doch die einzelnen Lieder voneinander lösen und in seine Sammlung ordnen. Ich bin überzeugt. Sie können ihm kein lieberes Geschenk machen.«

»Er soll es erhalten,« sagte Laura vergnügt, »aber er soll gequält werden.«

Es war eine schöne Sammlung, sehr seltene Stücke darunter, ein ganz unbekannter Druck des Liedes vom Ritter Tanhäuser, das Lied vom Räuber Stürzebecher und andere erfreuliche Blätter. Laura trug das Buch herauf und schnitt die gebundenen Bogen sorgfältig von dem Bindfaden, der sie locker zusammenhielt. Darauf setzte sie sich an den Schreibtisch und fuhr in der anonymen Briefstellerei fort, welche ihr die Tyrannei des Vaters aufgenöthigt hatte, indem sie mit verstellter Hand Folgendes schrieb: »Lieber Herr Doctor, ein Unbekannter sendet Ihnen dies Lied für Ihre Sammlung, er hat noch dreißig ähnliche, welche Ihnen bestimmt sind, doch unter Bedingungen. Erstens: Sie bewahren gegen Jedermann, wer es auch sei, unverbrüchliches Schweigen. Zweitens: Sie senden für jedes Gedicht ein anderes, das Sie selbst gemacht haben, worüber es auch sei, unter Adresse O.W. auf die Stadtpost. Drittens: Wenn Sie bereit sind, in diesen Vertrag zu willigen, so gehen Sie an einem der drei nächsten Tage Nachmittags um drei Uhr an No. zehn der Parkstraße vorüber, etwas Blühendes am Knopfloch. Der Absender wird sich innig freuen, wenn Sie auf diesen kleinen Scherz eingehen. Ihr ergebener N.N.« Diesem Briefe lag das Lied vom Stürzebecher bei.

Die Taschenuhr des Doctors zeigte, wie durch spätere Nachforschungen festgestellt wurde, neun Uhr fünf Minuten, als dieser Brief in sein Zimmer gebracht wurde; das Barometer war im Steigen, am Himmel leichtes Federgewölk, dazwischen die bleiche Mondsichel erkennbar. Der Doctor öffnete, ein alter Druckbogen stach gelblich vom grünen Postpapier eines Briefes ab. Er entfaltete hastig die gelben Blätter und las: »Stortebecker und Godeke Michael, de rowten alle beede.« Kein Zweifel, der niederdeutsche Urext des berühmten Liedes, den die Welt bis dahin vermißt hatte, lag leibhaftig vor ihm. Ihm wurde so wohl zu Muthe, wie dem Kinde vor der Einbescherung. Darauf las er den Brief, und als er am Ende angekommen war, las er ihn noch einmal. Er lachte. Offenbar war das Ganze eine Schelmerei. Aber von wem? Seine Gedanken flogen um Laura, aber sie hatte ihn erst gestern Abend durch kalte Nichtachtung verletzt. An Ilse war gar nicht zu denken, und dem Professor sah solch spielender Unfug vollends nicht ähnlich. Und was sollte das Haus No. zehn? Die junge Schauspielerin, welche dort wohnte, galt sehr dafür, eine liebenswürdige und unternehmende Dame zu sein. War es möglich, daß sie ein Verständniß für Volkslieder hatte, und, das konnte der Doctor sich nicht verbergen, auch ein zartes Verständniß für ihn selbst? Dem ehrlichen Fritz begegnete, daß er einen Augenblick vor den Spiegel trat, aber er widersprach sogleich innerlich und zog sich lachend zu dem Schreibtische und dem Volksliede zurück. Er konnte auf den Scherz nicht eingehen, das war klar, aber es war sehr schade. Er legte den Stürzebecher bei Seite und ergriff seine Arbeit. Aber nach einer Weile nahm er ihn wieder zur Hand. Dieses Prachtstück wenigstens war ihm ohne demüthigende Bedingung gesandt, vielleicht mochte er doch dies eine behalten. Er öffnete eine Mappe seiner alten Volkslieder und suchte die Stelle, wo das Gedicht eingereiht werden mußte, wenn es in der That sein Eigenthum wurde. Er legte den Schatz in die Reihe, stellte die Mappe wieder in den Bücherschrank und dachte, es ist ja gleichgültig, wo der Bogen liegt.

In dieser Weise kämpfte der Doctor bis nach dem Mittagessen. Kurz vor drei Uhr war er zu einer ruhigen Auffassung gelangt. War es nur ein Scherz eines nahen Bekannten, so wollte er kein Spaßverderber sein; hatte die Sendung irgendeinen anderen Grund, so mußte auch das zu Tage kommen. Unterdeß mochte er die seltenen Drucke wohl aufbewahren, aber er durfte sie nicht als sein Eigenthum behandeln, bis das Recht des Absenders daran und der Zweck der Sendung deutlich war. Dies Bedenken mußte er dem Unbekannten zuerst mittheilen. Nachdem er diesen nothdürftigen Vergleich zwischen seinem Gewissen und seinem Sammeltrieb zu Stande gebracht, holte er aus der Blumenstube des Vaters etwas Blühendes, steckte es in sein Knopfloch und trat auf die Straße. Unsicher blickte er nach den Fenstern des feindlichen Hauses, aber Laura war nirgend zu finden, denn sie lauschte hinter der Gardine und schnippte, als sie die Blumen im Knopfloch sah, mit den Fingern über den gelungenen Scherz. Der Doctor wurde verlegen, als er in die Nähe der vorgeschriebenen Hausnummer kam. Die Lage war doch demüthigend und ihn reute seine Begehrlichkeit. Er sah in die Fenster des Unterstocks, und sieh! die junge Schauspielerin stand gerade an den Scheiben. Er blickte auf ein gescheidtes Gesicht mit einnehmenden Zügen, zog verbindlich seinen Hut, nicht ohne schwaches Erröthen; und das Fräulein dankte artig dem wohlbekannten Sohn des Nachbarhauses. Der Doctor ging noch ein wenig auf der Promenade umher, ihm erschien dies Abenteuer unheimlich. Es war doch nicht zufällig, daß die Künstlerin am Fenster stand und grüßte. Er wurde mit seinen Quergedanken nicht fertig, nur Eines war ihm ganz klar geworden, er behielt vorläufig den Stürzebecher.

Da seine Gewissensbisse nicht aufhörten, so rang er zwei Tage mit sich selbst, ob er sich auf weiteren Briefwechsel einlassen dürfe. Am dritten waren die letzten Bedenken zum Schweigen gebracht. Dreißig Volkslieder, sehr alte Drucke, die Versuchung war übermächtig! Er holte seine eigenen Verse heraus, Ergüsse seiner lyrischen Periode, musterte und verwarf; endlich fand er eine unschuldige Romanze, welche ihn in keiner Weise bloßstellte; sie wurde abgeschrieben und von einigen Zeilen begleitet, worin auch er seine Bedingung aussprach, daß er sich nur als Bewahrer der Lieder betrachten könne.

Einige Tage darauf erhielt er eine zweite Sendung, es war ein werthes Mönchslied, worin die gebratene Martinsgans gefeiert wurde, dabei lag ein Zettel, welcher die ermunternden Worte enthielt: »Nicht übel, fahren Sie fort.«

Und wieder erhob sich Laura’s Gestalt vor seinen Augen und er lachte die Martinsgans recht herzlich an. Das war auch ein alter Druck, der noch nirgend verzeichnet war! Er zog also diesmal eine Ode auf den Frühling aus seinen Poesien und gab diese mit den befohlenen Buchstaben O.W. zur Post.

Der Professor wunderte sich, daß der Doctor über das Liederbuch schwieg, und äußerte dies gegen Ilse, welche ein wenig im Geheimniß war. »Er darf nicht sprechen,« sagte diese, »sie behandelt ihn schlecht. Da er es ist, hat der Scherz für das kecke Mädchen keine Gefahr.«

Laura aber war selig über dies Schachspiel mit verdeckten Zügen. Sie hob die Gedichte des Doctors sorgfältig in ihrem Geheimbuch auf und sie fand, daß die Poesie der Hahns gar nicht so schlecht war, ja sie war ausgezeichnet. Aber fast noch lockender als der Schriftwechsel wurde ihrem Uebermuth der Gedanke, dem Doctor ein kleines artiges Verhältniß zu der Schauspielerin aufzuzwingen. Als sie wieder mit ihm bei Ilse zusammentraf und einer der Anwesenden das Talent der jungen Dame rühmte, erzählte sie unbefangen und gar nicht zum Doctor gewandt, was die Straße von bizarren Einfällen der Schauspielerin wußte, daß sie einst ihr Hündchen mit einer Nachthaube ans Fenster gesetzt, als ihr ein widerwärtiger Verehrer ein Ständchen angekündigt hatte, und daß sie eine Vorliebe für bettelnde Handwerksburschen habe und sich mit ihnen meisterhaft in der Mundart ihrer Landschaft zu unterhalten wisse.

 

Der arglose Doctor wurde nachdenklich. Sollte in der That die Schauspielerin mit ihm in brieflichem Verkehr stehen, ohne daß er es wußte? Und Fritz begann der Dame eine gewisse ruhige Beachtung zu gönnen.

Als Laura einst auf dem abonnirten Platz ihrer Mutter saß und einer Rolle der Künstlerin zusah, erkannte sie in der Loge gegenüber Fritz Hahn, sie beobachtete, daß er durch sein Opernglas angestrengt auf die Bühne starrte und einige Mal lebhaften Beifall zu erkennen gab. – Nun, der war glücklich auf falsche Fährte gebracht.

Indeß er mußte doch auch erfahren, daß der unbekannte Briefsender mehr verstand, als Adressen zu schreiben. Laura durchsuchte die Lieder, dachte lange nach über den Text des alten Gedichtes vom Ritter Tanhäuser, der bei Frau Venus im Berge verweilt, und sandte das Lied mit folgenden Zeilen:

»Während ich das Gedicht durchlese, überkommt mich Rührung und Schreck vor dem Sinn dieser alten Poesie. Was wird nach der Meinung des Dichters aus der Seele des armen Tanhäuser? Er hat sich von Frau Venus losgerissen und kehrt reuig zum Christenglauben zurück, und als ihm der harte Papst sagt: ›so wenig der Stock, den ich in der Hand halte, grün werden kann, so wenig kannst du noch selig werden,‹ da wankt er aus trotziger Verzweiflung zur Venus in den Berg zurück. Darauf erst ergrünt der Stab in der Hand des Papstes und vergebens sendet dieser seine Boten, den Ritter zurückzuholen. Wie versteht der Sänger den Rückfall des Tanhäuser? Wird die ewige Liebe und Barmherzigkeit dem Armen auch jetzt noch verzeihen, obgleich er sich der Teufelin zum zweiten Mal ergibt? Ist also dieser alte Dichter so frei und groß gesinnt, daß er auch noch die Rückkehr zur Heidenfrau für verzeihlich hält? Oder ist Tanhäuser jetzt in seinen Augen für ewig verloren und soll der grünende Stab nur anzeigen, daß der Papst die Schuld trägt? Es würde mich freuen, darüber von Ihnen Aufklärung zu erhalten. Das Gedicht finde ich sehr schön und ergreifend, und in den einfachen Worten, wenn man sich erst hineingelesen hat, gewaltige Poesie. Aber ich habe Angst um das Schicksal des Tanhäuser. Ihr N.N.«

Der Doctor antwortete sogleich: »Es ist zuweilen schwer, aus der tiefen Empfindung und dem knappen Ausdruck alter Gedichte die Grundidee des Dichters zu verstehen. Am schwersten vor einem Gedichte, welches, durch Jahrhunderte vom Volksmunde fortgetragen, zuverlässig in Wortlaut und Inhalt Aenderungen erfahren hat. Das erste Motiv des Liedes, daß Sterbliche bei den alten Heidengöttern im Innern der Berge weilen, beruht auf einer Anschauung, die noch aus der Heidenzeit stammt. Die Idee, daß der Christengott milder ist als sein Stellvertreter auf Erden, wurde seit der Hohenstaufenzeit in Deutschland heimisch. Man darf den Ursprung des Gedichtes wohl auf diese Zeit zurückführen. In den uns überlieferten Formen mag es etwa aus der Mitte des fünfzehnten Jahrhunderts stammen, wo die Unzufriedenheit mit der Hierarchie in Deutschland bei hoch und Niedrig allgemein war. Der hohe Gedanke dieser Auflehnung gegen die Macht der Geistlichen war: nicht der Priester kann die Sünden vergeben, nur Reue, Buße, Erhebung des eigenen Herzens. Der Druck, welchen Ihre Güte mir übersandt hat, stammt aus der ersten Zeit Luthers, aber wir wissen, daß das Lied älter ist, und wir besitzen verschiedene Texte, von denen einige noch stärker hervorheben, daß Tanhäuser auch nach seinem Rückfall der göttlichen Gnade vertrauen dürfe. Zuverlässig hielt der Sänger des übersandten Textes den armen Tanhäuser für verloren, wenn dieser sich nicht wieder von Frau Venus freimachte. In diesem Fall nicht. Der Volkssage nach ist Tanhäuser bei ihr geblieben. Aber den großen Gedanken, der auch unser Leben adelt, daß der Mensch, solange Geist und Gemüth ihm nicht ausgebrannt sind, in sich selbst die Kraft zur Erhebung über begangenes Unrecht trage, dürfen wir auch in diesem Gedicht erkennen, dessen poetischen Werth ich würdige wie Sie.«

Als Laura diese Antwort erhielt – Gabriel war auch hier der vertraute Bote – sprang sie vor Freude von ihrem Arbeitstisch hoch auf. Sie hatte mit Ilse die Leiden Tanhäusers beklagt und der Freundin eine Abschrift des Gedichtes gegeben, jetzt lief sie mit den Zeilen des Doctors hinunter, stolz, daß sie durch den kindischen Scherz, über welchen Ilse den Kopf geschüttelt hatte, zu einer geheimen wissenschaftlichen Erörterung gekommen war. Von diesem Tage erhielt der geheime Briefwechsel für Laura und Fritz eine Bedeutung, an welche keines von beiden im Anfang gedacht hatte. Denn Laura wagte jetzt, wenn sie über etwas nicht mit sich auf’s Reine kommen konnte, oder wenn ein stilles Interesse sie beschäftigte, ihre Gedanken, die bis dahin im Schreibtisch verschlossen wurden, dem Nachbar mitzutheilen, und der Doctor sah mit Erstaunen und Freude ein weibliches Gemüth von kräftigem und eigenartigem Empfinden, das bei ihm Klarheit suchte und mit ungewöhnlichem Vertrauen sich aufschloß. Diese Stimmung war auch aus seinen Gedichten zu erkennen, sie waren nicht mehr aus der Mappe herausgeholt, sondern erhielten einen gewissermaßen persönlichen Charakter. Und Laura wurden die Augen feucht, als sie ein Blatt in der Hand hielt, welches in Versen seine Spannung und Ungeduld aussprach, den unbekannten Briefsteller kennen zu lernen. Es war so reine Empfindung in den Zeilen, und man sah daraus so deutlich den guten und feinen Mann, daß man ein recht herzliches Zurtrauen zu ihm haben mußte. Die alten Volkslieder, zuerst die Hauptsache, wurden allmählich nur die Begleiter des stillen Briefwechsels, und Laura’s begeisterte Seele schwebte beflügelt über goldumsäumte Wolken, während unten Herr Hummel grollte und Herr Hahn mißtrauisch neue Angriffe des Feindes erwartete.

Aber dies poetische Verhältniß zum Nachbarsohn, welches Laura’s Unternehmungsgeist geschaffen hatte, litt an derselben Gefahr, welche allen poetischen Stimmungen droht, die rauhe Wirklichkeit konnte es jeden Augenblick zerstören. Niemals durfte der Doctor wissen, daß sie es war, die Tochter der Feinde, sein alltäglicher Anblick, das kindische Mädchen, das in Ilse’s Zimmer mit ihm um Butterbrote und Knackmandeln zankte. Wenn sie mit ihm Auge gegen Auge zusammentraf, war er ihr der Doctor mit der Brille von sonst und sie die kleine borstige Hummel, welche mehr von der Unart ihres Vaters hatte als Gabriel zugeben wollte. Das Schmollen und die Neckerei des Tages lief zwischen beiden fort wie früher. Dennoch war unvermeidlich, daß zuweilen aus Laura’s Augen ein Strahl warmer Empfindung brach, und daß sich der freundliche Humor, mit dem sie den Doctor im Innern betrachtete, einmal durch flüchtige Worte verrieth. Fritz wandelte deshalb in einer Unsicherheit dahin, über die er im Stillen lachte, und die ihn doch quälte. Immer sah er Laura vor sich, wenn er einige Zeilen der gut verstellten Hand auf seinem Zimmer las, doch sobald er die Nachbarin beim Freunde traf, sorgte sie durch eine spöttische Bemerkung und durch spröde Zurückhaltung dafür, daß er wieder unsicher wurde. Sie zwang die Noth zu solcher Koketterie, er aber wurde immer auf’s Neue kühl davon angeweht, und dann fiel ihm auf’s Herz: sie ist es doch nicht, kann es denn die Schauspielerin sein?