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Die Ahnen

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Das Dunkel der Nacht lag auf den Gassen, doch in der Stadt blieb es unruhig, die Schenken waren überfüllt, und wenn sich eine Tür öffnete, drang mit dem Lichtschein lautes Geräusch der Stimmen auf die Straße, häufiger als sonst schritten Ratsherren und ansehnliche Bürger mit ihren Dienern, welche die Laterne trugen, über den Markt; am lautesten schwirrten die Stimmen in der Nähe des Kerkertores zwischen alter und neuer Stadt. Dort erhob sich über dem Tore ein festes Haus mit dicken Mauern, zur Seite mit einem runden Turm, der wie viele andere über die Fluchtlinie der Stadtmauer ragte. Georg saß in dem Herrengelaß des Turmes, welches man im Spott die Artuskammer nannte. Es war ein kahler Raum mit hoher, schmaler Lichtöffnung, er enthielt einen alten Tisch und eine Lagerbank, die Wände waren bis zur halben Höhe verkleidet, nicht mit Holz, sondern mit Eisenplatten, an welche in regelmäßigen Zwischenräumen starke eiserne Ringe geschmiedet waren, um Ketten daran zu befestigen. Als vom Turme zu St. Johannes die Abendglocke läutete, zog eine Schar bewaffneter Polen vor das Kerkerhaus, geführt von dem Kastellan des Königs, geleitet vom Bürgermeister selbst. Hutfeld betrat mit dem Kastellan das Haus, rief den Schließer und gebot: »Weist dem edlen Herrn bei Lichte den gefangenen Mann, schließt die Tür vor seinen Augen und hängt das Schlüsselbund an den Haken. Das Gelaß gehört innen der Stadt, draußen den Wächtern des Königs.«

»Wenn ich gutstehen soll für den Gefangenen,« sagte der Kastellan, »so begehre ich auch die Treppe zu hüten, den Wächter und seine Schlüssel.«

»Es sei für diesmal,« versetzte Hutfeld, »doch daß es kein Beispiel gebe gegen die Rechte der Stadt.«

Der Kastellan ließ das Gefängnis öffnen, trat ein und sah, ohne den Gefangenen zu beachten, mit dem Grauen, welches auch ein wackerer Krieger in verschlossenen Mauern fühlt, die furchtbare eiserne Rüstung an der Wand. Er nahm das Licht und untersuchte die Wände, alles war fest gefügt. Er blickte nach der Höhe. »Durch das Luftloch könnte sich vielleicht ein schlanker Leib zwängen.«

»Es hat‘s nie jemand versucht«, antwortete der Schließer kopfschüttelnd. Das Gefängnis wurde verschlossen, zwei Bewaffnete auf die Stufen der Treppe gestellt, zwei andere in das Zimmer des Schließers vor das aufgehängte Schlüsselbund, und diese sahen lachend zu, wie der Schließer sich mit untergeschlagenen Armen niedersetzte und murrte: »Es geschieht zum erstenmal, daß der Schließer von Thorn durch polnische Säbel seines Amtes enthoben wird.«

In zwei Haufen lagen die Polen vor dem Gefängnis und bewachten von der Altstadt und Neustadt die geschlossenen Pforten, sie zündeten große Feuer auf der Straße an, und die rote Flamme erhellte die kleinen Fenster des Baues und die Mauer, so daß man selbst ein Wiesel erkannt hätte, welches auf der Höhe lief.

So verging Stunde auf Stunde; die Polen um das Gefängnis tranken, schrien und erhoben wilden Gesang, der die Bürger der benachbarten Häuser tief kränkte. Oben in der eisernen Kammer lag Georg auf der Bank. Von den Feuern drang ein rötlicher Schein durch die Fensterluke, zuweilen trieb der Wind eine Rauchwolke herein, dann starrte Georg in der Dämmerung auf die Wirbel des Dampfes. Er wußte wohl, daß er in üblem Handel war, aber die Größe seiner Gefahr kannte er nicht. Ihn wunderte, daß er den ganzen Tag ohne Zuspruch aus dem Vaterhause geblieben war, auch der trübe Ernst des Schließers hatte ihn für kurze Zeit nachdenklich gemacht, und als am Abend der Kastellan eindrang und das Gefängnis untersuchte, ohne ihn selbst zu grüßen oder wie einen Lebenden zu beachten, da fiel größere Sorge auf sein Herz, und das Geschrei der Wächter wie der Feuerschein wurden ihm unheimlich. Aber immer tröstete er sich damit, daß er ein junger Bruder des Artushofes sei und daß auch diesmal, wie bei allen früheren Händeln, die er mit der Stadt gehabt, das Drohen ärger sein werde als die Strafe. »Sie sagen, ich bin ein Sonntagskind,« sprach er endlich müde, »diesen kommt das Glück im Schlafe. Wenn ich nur wissen könnte, wie es ihr ergangen ist, ich wollte das harte Lager mir ganz vergnüglich gefallen lassen.« So entschlief er. Im Traume kam ihm vor, als ob er in seiner Kammer läge und Dobise mit der Leuchte hereinschliche, um ihn zu wecken, wie er jeden Morgen tat. Er weigerte sich, zu erwachen, und murmelte: »Tölpel, noch ist es nicht Zeit.« Aber die Leuchte fuhr fort zu flackern, er öffnete die Augen und sah in Wahrheit den Dobise mit einer kleinen Blendlaterne vor sich stehen. Erstaunt richtete er sich auf und rieb die Augen. »Nehmt hier dies in Eure Hand«, flüsterte Dobise mit heiserer Stimme und hielt ihm ein kleines Kruzifix hin. »Der Alte schickt es Euch, daß Ihr darauf schwört bei dem Manne am Kreuz und bei den vier großen Stadtheiligen, das Geheimnis dieser Kammer niemals zu verraten, auch nicht, um Euer Leben vom Tode zu retten. Schwört, denn morgen mittag faßt Hans Buck Euren Hals, wenn Ihr nicht vorher entrinnen könnt. Auch Euer Großvater saß hier, bevor er gerichtet wurde; ihm aber hatten die Herren vom Hofe den Ausgang gesperrt.«

Georg sprang auf: »Steht es so, dann schaffe mich fort, wenn du kannst. Wo ist dein Schwanz, du Teufel?« Hastig sprach er den Eid, Dobise steckte das Kreuz ein. »Harret noch ein wenig,« flüsterte er, »erst muß ich den wilden Polen etwas vormachen.« Er schlang einen Strick in einen der Eisenringe an der Wand und warf das andere Ende, welches durch ein Gewicht beschwert war, aus der Fensterluke, das Seil zog sich straff. »Dort hinaus kann nur ein Kater, aber nicht wir beide. Mögen sie sich darüber die Köpfe zerbrechen,« raunte er mit schlauer Miene, »Ihr aber folgt mir.« Er ergriff an der andern Seite der Wand einen Ring, drückte und zog, ein Feld des eisernen Tafelwerks sperrte sich auf, und eine dunkle Öffnung, der niedrige Zugang zu einer engen Treppe, wurde sichtbar. Dobise wies in die schwarze Tiefe und lachte: »Nur die drei Ältesten der Bruderschaft kennen das Geheimnis, und der vierte bin ich, denn die Herren müssen einen haben, der mit dem Eisenwerk umzugehen weiß und der seinen Hals für sie wagt. Nehmt die Leuchte und kriecht voran, damit ich hinter Euch zusperre. Sie sagen, dies Kunstwerk wurde von einem Schlosser aus Nürnberg erfunden. Auch wer guten Witz hat, wird von der Kammer aus die Tür nicht erraten.«

»Fort«, mahnte Georg flüsternd; er tauchte in die dunkle Wölbung hinab und hielt auf der Treppe kniend die Leuchte, während Dobise die eiserne Tür von außen zuzog, verriegelte und noch durch eine hölzerne Tür verschloß. Tief gebückt strichen die Flüchtigen in einem schmalen Mauergang, die dumpfe Luft machte das Atmen schwer, und der Weg wollte kein Ende nehmen, zuweilen stiegen sie Stufen hinab, dann ging es wieder eine Weile eben fort. Zuletzt war der Gang durch eine Wand geschlossen, Georg fühlte an den kalten Stein. »Der Weg hat ein Ende.«

»Fallt auf die Knie und kriecht durch das Loch«, riet Dobise. Eine Maueröffnung, durch Entfernung einiger Steine gebildet, gewährte gerade Raum zum Durchkriechen. Georg schob die Leuchte voran und schlüpfte hindurch. Als er sich erhob, stand er in einem Gewölbe, das zum Aufbewahren von altem Gerät diente, Dobise kauerte am Boden, schichtete die herausgezogenen Steine wieder in das Loch, strich einen dunklen Kitt in die Fugen und häufte Holzbündel davor. »Dies ist Dobises Tür, niemand versteht sie zu öffnen als ich. Ihr aber gebraucht dies Bündel, es ist ein polnischer Mantel darin, Mütze und Stiefel, denn als Pole müßt Ihr entweichen.« Ohne Freude öffnete Georg den Pack und wechselte die Kleidung. »In dem einen Stiefelschaft ist das Leder doppelt, ich habe Geld eingenäht; der Alte schickt Euch außerdem zur Reise diesen Beutel. Es ist Gold darin«, sagte er mit lüsternen Augen.

»Das Siegel des Beutels ist erbrochen«, versetzte Georg befremdet.

»Ich mußte ihn doch öffnen, um Euch den Notpfennig in die Stiefel zu nähen; und wenn ein und das andere Stück dabei verlorenging, so werdet Ihr es dem Alten nicht klagen, denn ich habe noch manches bei Euch gut und muß mich bezahlt machen deswegen und wegen meiner Lebensgefahr. Jetzt aber rate ich Euch, Euer Gebet zu sprechen, wir sind hier über dem Graben auf der Neustädter Seite; diese Tür führt bei den Predigermönchen heraus, und Ihr müßt an dem Polenvolke vorüberstreichen.«

»Wo führst du mich hin?«

»In die Trümmer des Ordensschlosses, den Weg, welchen Ihr von der Musik her kennt; an der gelben Weichsel liegt unser Kahn im Versteck, Ihr sollt mit dem wilden Wasser abwärts treiben. Es wird Zeit, der Morgen ist nahe.«

»Schnell hinaus«, gebot Georg und lüftete den polnischen Säbel in der Scheide. Dobise schloß die Tür auf, löschte die Leuchte, und Georg atmete die frische Nachtluft. Er warf einen Blick zur Seite, die Polen lagen und saßen in einiger Entfernung müde um die niedergebrannten Feuer, die Flüchtigen glitten längs der Mauer des Klosters dahin, hielten eine Weile im Schatten der Klosterpforte und gingen von da mit festerem Schritt unangefochten durch die leeren Straßen. Stürmisch schlug das Herz des Jünglings, als er in der Dämmerung undeutlich die Schule erkannte, und er hielt an, aber Dobise rief ängstlich: »Vorwärts! Es ist nicht das erstemal, daß Ihr den Weg über die Burgmauer findet, hinweg, wenn Euch Euer Leben lieb ist.«

Sie kletterten auf den Steinhaufen der Ordensburg. »Heut könnt Ihr nicht weilen, um eine Musika zu beginnen, Ihr müßt auf der Flußseite wieder hinaus, die Mauer hinab. Folgt vorsichtig, denn die Steine sind locker, aber der Graben unten hat eine trockene Furt.« Dobise kletterte wie ein Kater voran, mühselig folgte Georg, indem er murmelte: »Du weißt hier gut Bescheid, bin ich erst Bürgermeister, so frage ich dich, wozu du diese Kenntnis gebraucht hast.«

»Ihr seid just auf dem Wege, Bürgermeister zu werden«, spottete Dobise. »Reicht mir die Hand«, und er half ihm vom Grabenrand ins Freie. »Haltet Euch fern vom Fährtor, bei der Färberei soll der Kahn liegen.«

 

Georg trat an den Strom, laut rauschte das Wasser, auf der geschwollenen Flut schwammen kleine Eisschollen. Der Schiffer erhob sich aus dem Fahrzeug: »Dies wird üble Fahrt zwischen treibenden Baumstämmen und Schollen, das Wasser reißt und kocht in den Strudeln wie in einem Topfe.« Sie bestiegen den Kahn, der Schiffer löste das Seil, und Georg trieb, dem Tode entronnen, von der Heimat geschieden, auf dem wilden Strom hinein in die unsichere Dämmerung.

Als am Morgen der polnische Kastellan die Zelle des Gefangenen betrat, fand er nur das Seil, welches über die Stadtmauer hinabhing. Da erhob sich großer Lärm, die Polen schrien Verrat, ihre Boten ritten über die Brücke zum Könige, das Gefängnis wurde wiederholt untersucht, aber nichts Unrechtes gefunden, die Wächter sämtlich verhört, doch es war auf niemanden etwas zu bringen, am wenigsten auf den Schließer und die Beamten der Stadt. Der Zorn des Königs legte sich erst, als am Nachmittag der Bürgermeister Hutfeld allein vor seinem Angesicht gestanden hatte. Die Thorner und die Polen stritten darüber, ob es einem Manne möglich sei, seinen Leib durch die Lichtöffnung des Kerkers zu zwängen, die Abergläubischen neigten zu der Annahme, daß der Teufel aus dem Hause des Marcus dabei wieder im Spiele gewesen sei, und die Klugen wunderten sich, daß die Verfolgung nicht eifriger betrieben wurde, denn der Wächter über dem Fährtore hatte Männer auf einem Kahne gesehen, der gegen Morgen stromab gewirbelt war.

Die Mönche aber hatten von ihrem feurigen Werk schlechten Gewinn. Viele unter ihnen waren durch Steinwürfe getroffen, dem hochwürdigen Legaten selbst war ein Stein an das Bein geflogen, und er ächzte, als er am nächsten Morgen in aller Frühe auf das Maultier gehoben wurde, damit er der zornigen Stadt entweiche. Ihre Absicht hatten die Eiferer vollends nicht erreicht. Zwar die Teufelspuppe fand man halb verbrannt im Grase, aber der Ballen des Buchführers war nur an den Rändern gesengt und verkohlt, die frommen Väter hatten vergessen, daß festgepackte Bücher der Flamme lange widerstehen. Hannus erhielt von seinem Krame kaum ein einzelnes Stück zurück, denn als das Volk den Holzstoß auseinanderwarf und den Inhalt des Ballens zerstreute, wurden die angesengten und gebräunten Büchlein wie eine wertvolle Beute aufgegriffen und in die Häuser getragen. Wer sich bis dahin um den Inhalt der neuen Lehre nicht gekümmert hatte, der las jetzt neugierig davon, es war wohl keine Familie, in welche nicht gerettete Bogen gelangten, und der Stadtschreiber Seifried hatte Grund, zu spotten, daß gerade durch den Scheiterhaufen jener Nacht die neue Lehre in Thorn eingebürgert worden sei.

7. Unter den Landsknechten

Während Georg im Kerkerturm lag, verließ der Magister mit seiner Tochter die Stadt.

Auf dem Deck des Elbingers war in der Eile eine Hütte errichtet, welche den Verbannten mit seinem Haushalt beherbergen sollte, bis er das Gebiet der Stadt Thorn geräumt hätte, dann mochte er auf dem Bordschiff weiterfahren oder aussteigen, wie es ihm gefiel. Die Hütte hatte Philipps Eske durch seinen Vater dem Schiffer anbefohlen, und der treue Knabe wich den Flüchtigen in den letzten Stunden ihres Aufenthalts nicht von der Seite. Doch nicht er allein war der Pflichten eingedenk, welche dem lateinischen Schüler gegen seinen Lehrer oblagen, auch ein Haufe der kleinen Schützen trug sich mit dem Reisegepäck des Vaters, und vor andern die Armen, welche an seinem Tische Kost und freundlichen Zuspruch gefunden hatten. Lips machte sich auf dem Schiffe bei dem Gepäck und den Schiffsleuten zu tun, um der Unterhaltung mit den Scheidenden auszuweichen, denn ihm war das Herz schwer und er fürchtete wegen des Gefangenen ausgefragt zu werden. Er hatte dem Ratsdiener und dessen Frau ernsthaft geboten, die Traurigen nicht durch Reden über die Gefahr des Freundes noch tiefer zu kränken. Aber seine Vorsicht nützte wenig, denn wenn auch der Magister für seinen Schüler noch Gutes von der vornehmen Freundschaft hoffte, Anna erkannte deutlich aus den Mienen ihrer Wirte und aus den zögernden Antworten des Pylades, daß Georg in furchtbarer Bedrängnis zurückblieb. Sie saß stumm und teilnahmlos auf dem Verdeck, hielt das Hündlein in ihrem Schoß und blickte unverwandt nach den Türmen der Stadt, welche sie in Feindschaft verlassen sollte. Nur einmal, als Philipps vorüberging, fragte sie: »Wo weilt er jetzt?« Da vergaß der Gefragte selbst die Behutsamkeit und antwortete traurig: »Ihr könnt von hier den Turm nicht sehen«, sie aber senkte das Haupt und fragte nicht mehr. Als in den letzten Stunden des Nachmittags der Schiffer alle Fremden aufforderte, das Deck zu verlassen, bot Lips dem Magister und Anna die Hand und vermochte nichts vorzubringen als: »Ich danke für alles Gute, Herr Vater; laßt mich in kurzem wissen, wohin ich Euch Nachricht senden soll;« dem Schiffer raunte er noch zu: »Sorgt für meinen Herrn Vater, wenn Euch an dem guten Willen der Thorner gelegen ist«, und schwang sich ans Land. Die Schützen aber standen gedrängt am Rande des Ufers, und als der Magister ihnen vom Deck den Scheidegruß zurief und sie aufforderte, guter Lehre eingedenk zu sein, da schrien die größeren ihre lateinischen Abschiedsworte mit heiseren Stimmen und die Kleinen schluchzten. Der Elbinger rief seine Schiffskinder zusammen, sprach die Reisebitte zur heiligen Jungfrau und drückte das Schiff vom Ufer in die Strömung. »Es ist gegen Schifferbrauch, bei sinkender Sonne an das Steuer zu treten,« sagte er im Vorübergehen zum Magister, »aber die Herren von Thorn haben es diesmal geboten.« Das Fahrzeug glitt schnell stromab, in grauem Nebel schwanden die Türme und Mauern der Stadt, die Gebannten saßen in trübem Schweigen vor ihrer Hütte und starrten hinab auf das Wasser und in die Ferne, welche undeutlich vor ihnen lag, wie ihre eigene Zukunft.

Als Anna am nächsten Morgen aus der Hütte auf das Deck trat, lag das Fahrzeug an der deutschen Uferseite und der Schiffer wies ihr eine Steinsäule auf der Höhe: »Dort ist die Grenze des Stadtgebietes.« Sie stand lange, die Augen zum Himmel gerichtet; ach, heut war bei ihren heißen Bitten das Antlitz verstört, die Augenlider vom Weinen gerötet, aber hätte Georg sie gesehen, sie wäre ihm noch ehrwürdiger erschienen als damals in der Kirche; sie dachte nur an ihn und bat für ihn. Bei dem stillen Flehen wurde ihr das Herz mutiger, und sie bot dem Vater, als er zutage kam, einen herzlichen Morgengruß.

»Wir treiben auf öder Flut, hier und dort unwirtliches Gestade, Scylla und Charybdis; aber ich bin besser daran als der alte Grieche Ulysses, denn ich habe mein liebes Kind bei mir und ich denke doch, daß wir in diesem gelben Wasser nicht auf Menschenfresser stoßen werden.« Und gegen seine eigenen reuigen Gedanken ankämpfend fuhr er fort: »Bei alledem kann ich nicht bedauern, daß ich den Obskuranten am Holzstoß meines Herzens Meinung deutlich gemacht habe.« Aber Anna, die noch in ihrer andächtigen Stimmung war, antwortete: »Ich aber, Herr Vater, habe an dem Unglückstage zu wenig daran gedacht, alles vertrauend dem lieben Gott zu überlassen, denn hätte ich mich vorher mit herzlicher Bitte an ihn gewandt, so würde ich bessere Ruhe und Bedacht genommen haben; ich hätte Euch nicht durch die Nachricht von dem Vorsatz der Feinde erschreckt, und es wäre Euch und der Schule leichter geworden, dem Feuer fernzubleiben. Jetzt sind wir beide der Gefahr entronnen, aber einer ist darin zurückgeblieben.« Da schlug der Magister die Hände zusammen und setzte sich stöhnend auf ein Faß. »Mein armer Regulus! Der römische Name, den ich ihm gegeben, ist für ihn von übler Vorbedeutung geworden. Denn wie jenen Konsul halten ihn die Feinde gefangen und wollen über ihn in scharfem Gericht erkennen. Wahrlich, auch dies war ein seltsamer Zufall: die letzte Oration, die ich ihm aufgegeben, war die hochherzige Rede, welche Regulus im römischen Senat halten mußte, da er als Gefangener der Karthager mit Urlaub nach Rom zurückkehrte; er mahnte seine Landsleute, nicht seinetwegen mit den Fremden Frieden zu machen, sondern ihn zum Tode zurückzuliefern. Georg war mit Lust bei der Arbeit, er forderte mit Begeisterung, in die Gefangenschaft zurückzukehren, und ich freute mich innig über den Vortrag.« Bei dem Gedanken verlor der Magister die Fassung und suchte in den Taschen nach seinem Tuche.

Da wagte das Hündlein zum erstenmal wieder zu bellen und eine feierliche Stimme klang hinter den Traurigen: »Adsum, patres conscripti, adsum captivus et aegre e vinculis solutus. Ich bin da, Herr Magister, dem Gefängnis entronnen, aber ich habe gar keine Lust, dahin zurückzukehren. Guten Morgen, Herr Vater, guten Morgen, liebe Jungfer Anna.« Der Redner sprang über den Bord in das Schiff, aber er vermochte nicht weiterzusprechen, denn Anna wankte, im nächsten Augenblick hielt er sie fest in seinen Armen, er fühlte ihr Haupt auf seiner Brust und zwei Arme, die sich an ihn klammerten, und er küßte sie zum erstenmal auf den bleichen Mund. Der Magister aber saß unterdes wie betäubt auf dem Tönnlein, er hörte eine vertraute Stimme, aber er sah einen wilden Polen in das Schiff klettern, und griff krampfhaft nach seiner Brille, bis er den festen Händedruck seines Schülers fühlte und die heiteren Worte vernahm: »Jetzt ist die Schule wieder beisammen, Herr Magister, und ich denke, der Rat von Thorn soll die Lektionen nicht mehr stören.« Da ging auch dem Magister alle Würde verloren und er umschloß, wie ein Kind weinend, den Geretteten.

Drei Heimatlose saßen zusammen in kalter Morgenluft über dem ungastlichen Wasser, aber sie dachten jetzt wenig an alles, was sie verloren hatten, und die Schule stimmte vergnügt bei, als Georg vorschlug: »Ist‘s Euch recht, Herr Magister, so bleiben wir beieinander; mein Vater will, daß ich zuerst nach Danzig fahre, von dort schreibe ich ihm und erwarte sein Gebot; Ihr aber werdet überall Schüler finden und bessere Dankbarkeit, als in unserer Stadt.« So machten sie in gutem Vertrauen Pläne für die Zukunft; nur Georg sah zuweilen mißtrauisch nach rückwärts und auf die Wege am Ufer, ob er verfolgt würde.

Es war keine mühelose Reise. Das große Fahrzeug trieb bald mit reißender Strömung, bald langsam in seichtem Wasser zwischen angeschwemmten Inseln und zwischen kahlen Dämmen und Lehmhügeln dahin; hier kreiste die Flut in gefährlichem Strudel, dort streifte ein Baumstamm, welcher dahinschwamm oder im Grunde festgerannt war, die Seiten und den Boden. Unablässig arbeiteten die Schiffer mit Stangen und Haken, sich die Fahrt freizuhalten, sie ließen sich gern gefallen, daß Georg Hand anlegte wie einer von ihnen. Sogar der Magister stemmte Hände und Schultern gegen das Ruderholz. Wenn der Abend kam, wurde die Reise unterbrochen, der Schiffer suchte eine Stelle in der Nähe des Ufers, wo er das Tageslicht abwarten konnte, auch in der Nacht mußte ein Wächter Ausguck halten gegen Schollen und treibendes Holz. Der Magister mit seiner Tochter fand zuweilen Herberge am Lande, Georg vermied auf dem Schiffe die Augen der Späher.

So waren sie einige Tage ohne Abenteuer gefahren und trieben mit der Strömung am Ufer eines Landstrichs, welcher im Kriege zwischen dem Hochmeister und den Polen streitig gewesen war. Am Abend kamen sie an einen Ladeplatz, zu welchem von hohem Deiche zwei Wege hinabführten; dort stand am Wasser eine Schenke und Hütten für die Schiffer. Der Elbinger sah unruhig auf die öde Stätte: »Dies gehört noch zum Land des Bischofs von Pomesanien,« sagte er zu Georg, »Polen und Ordensleute sind hier widerwärtig und beide wagen zuweilen Zoll zu fordern.« Georg sprang mit dem Schiffer ans Land, sie fragten in der Schenke, suchten in den Schoppen, bestiegen die Dämme und spähten in die dunkle Landschaft, es war nirgends etwas Unrechtes zu entdecken. Da legte der Elbinger an, der Magister und sein Kind suchten Unterkunft in der Schenke, Georg blieb mit einem Schiffsknecht als Wächter auf dem Fahrzeuge; er stand in der hellen Mondnacht lange auf dem Deck, stieg wiederholt hinab an das Ufer, umschritt die Hütten und sah von der Höhe in das Land, aber alles lag friedlich in grauem Dämmer. Als der Morgen nahte, hüllte er sich in einen Schiffermantel und legte sich in die Hütte zu kurzem Schlummer. Er erwachte von heftigem Gebell des Hundes, der bei ihm zurückgeblieben war, vernahm auf dem Lande das wilde Geschrei Zankender und erkannte in der Dämmerung auf jedem der beiden Wege, welche an den Deichen hinabliefen, Bewaffnete und Gespanne. »Wir waren die ersten,« schrie eine gebietende Stimme, »und wenn ihr nicht zurückweicht, so werfen wir euch zu den Fischen ins Wasser.«

Im nächsten Augenblick hörte er einen Angstruf Annas und sah die Jungfrau aus der Herberge dem Schiff zueilen. Da warf er sich in mächtigem Satze auf das Land und sprang mit geschwungenem Säbel einigen dunklen Gestalten entgegen, welche die Flüchtige verfolgten. Er schlug kräftig auf die Verfolger ein und schleuderte den ersten, welcher den Arm nach der Geliebten ausstreckte, durch einen Streich des Säbels zur Seite. Gleich darauf war er im Kampf gegen mehrere Feinde, aber wie wild er um sich schlug, er wurde im Rücken gepackt, entwaffnet und an den Händen gebunden. So blieb er mit Anna am Ufer unter Obhut eines finsteren Gesellen, der ihn mit der Hellebarde niederzuschlagen drohte, wenn er sich noch weiter rege. Unterdes dauerte um die Hütten der Zank und das Geschrei fort. Nicht lange, so sprangen Bewaffnete auf das Schiff, die Äxte krachten an Deck und Planken, Wagen rasselten vom Deich herunter an die Ladestelle, Laufbretter und Leitern wurden an den Schiffsbord gelegt und ein Haufe von Männern und Weibern begann die Ladung auszuräumen, welche zum größten Teil in Getreide und in einigem Kaufmannsgut bestand. Beim aufgehenden Frühlicht sah Georg, daß eine ansehnliche Zahl ausgestellter Wachen die Beraubung deckte und daß sie Tracht und Waffen deutscher Landsknechte trugen. Zuletzt vernahm er wieder die Stimme, welche herrisch in dem Tumult gerufen hatte. Ein hoher, breitschultriger Mann mit großem rundem Kopf und grauem Bart trat auf ihn zu und rief befehlend: »Potz Velten, Ihr habt‘s uns sauer gemacht, Mann; schüttet aus, was Ihr in der Tasche habt, denn das ist unser Recht.« Er warf seinen Hut auf die Erde. »Ihr mögt selber Eure Tasche leeren, da Ihr Euch redlich gewehrt habt. Wollt Ihr Euch ergeben und Friede geloben, so steht es bei Euch, sonst schlagen meine Gesellen Euch nieder.«

 

»Ihr seid die Stärkeren«, versetzte Georg grimmig. »Löst mir die Bande, so will ich Euch für heut Frieden geloben.« Der Landsknecht winkte dem Wächter, Georg sprach das Gelöbnis und schleuderte sein Säcklein mit Geld in den Hut. Der Führer kniete nieder, zählte und teilte in mehrere Häuflein, das größte steckte er mit dem Beutel selbst in die Tasche. »Und jetzt antwortet auf meine Frage, aber wahrhaft, wenn Ihr Leib und Seele zusammenhalten wollt: wer seid Ihr und woher kommt Ihr?«

Georg nannte Namen und Heimat und fragte trotzig dagegen: »Und wer seid Ihr, daß Ihr es wagt, an Reisenden Gewalttat zu üben?«

»Holla,« entgegnete der andere, »Ihr seid der Gefangene, Ihr habt zu antworten und ich zu fragen, denn das Eisen hängt über Eurem Haupte. Doch da Ihr Frieden gelobt habt, sollt Ihr wissen, wem die Herrschaft über Euren Leib zugefallen ist. Ihr seid in der Hand freier Knechte aus dem Reich, und ich bin Hans Stehfest, ihr Hauptmann. Führt die Gefangenen das Ufer hinauf,« gebot er seinen Begleitern, »und haltet sie unter Wache, doch getrennt, damit sie sich nicht miteinander bereden. Zu der Frau setzt zwei von den Weibern, die ihr das Weglaufen wehren.«

Auf der Landseite des Deiches schritt Georg die kurze Strecke, welche ihm sein Wächter freigab, in heißem Zorne auf und ab. In der Ferne sah er Anna zwischen Weibern der Bande, und ihn tröstete ein wenig, daß diese der Gefangenen gegen den Morgenfrost ein Tuch um die Glieder schlugen. Ajax kam ängstlich von der Höhe gelaufen, der Landsknecht schlug mit dem Spieße nach ihm. »Der Hund gehört der Jungfrau dort«, herrschte Georg den Wächter so gebieterisch an, daß dieser dem Kleinen den Weg freiließ. So verging Stunde um Stunde, vom Wasser her klang unablässig Geschrei und mahnender Zuruf. Endlich kamen die Wagen mit dem Raube beladen über den Deich und fuhren in Reihe auf. Auf einem lag der verwundete Landsknecht, mit welchem Georg zusammengestoßen war. Als dieser den Gefangenen sah, hob er die geballte Faust und stieß einen schweren Fluch gegen ihn aus. Georg zuckte verächtlich die Achseln. Darauf stieg ein Trupp der Bewaffneten von der Höhe herab, der Hauptmann blies in ein kleines Horn, das er am Halse trug, struppige Pferde wurden vom Grunde herangeführt, die Knechte warfen sich unbehilflich über die Rücken der Gäule und der Hauptmann befahl: »Auf die Wagen mit den Weibern,« und nach Georg und einem leeren Pferde deutend: »Fort, wir haben Eile.« Der wilde Zug setzte sich, von den Landsknechten geleitet, in Bewegung; der Hauptmann ritt an den Wagen auf und nieder, unter Antreiben und Fluchen ging es vom Flusse ab in das Land hinein.

Georg, der hinter dem Hauptmann ritt, erkannte Anna auf einem Getreidewagen vor sich und er sah, daß sie sich nach ihm umwandte. »Die Jungfrau begehrt uns«, rief er befehlend dem Hauptmann zu, und bevor dieser ihn hindern konnte, jagte er an den Wagen. Anna rang die Hände gegen ihn: »Wo ist der Vater?« Er suchte vom Pferde den Zug entlang, der Magister war nirgend zu finden. Da rief er den alten Landsknecht an: »Hochgebietender Befehlshaber, ist eine Frage an Eure Ehrbarkeit erlaubt? Wir waren drei Reisende auf dem Schiff, hier sind nur zwei, was ist aus dem dritten geworden?«

»Ich denke, er reitet ebenso gemächlich nach anderer Seite im polnischen Haufen, wie Ihr mit uns deutschen Knechten, und Ihr werdet ihn schwerlich so bald wiedersehen.«

»Mein Vater«, klagte Anna, und in dem Schrecken über ihre Hilflosigkeit sank ihr das Haupt auf die Brust.

»Also Ihr seid die Tochter jenes Mannes,« fragte der Landsknecht, »und gehört zu der Freundschaft meines Gefangenen?«

Anna antwortete nicht, doch Georg versetzte ungeduldig: »Die Jungfrau und ihr Vater sind mir wohlbekannt, und ich sage Euch, an ihrem Wohl ist mehr gelegen als an uns allen.«

»Dies also ist eine Jungfer, welche von ihrem Vater abgekommen ist«, wiederholte der Kriegsmann bedächtig, und betrachtete die gebrochene Gestalt von der Seite. »Ihr könnt gemerkt haben,« fuhr er gegen Georg mitteilsamer fort, »daß wir es nicht allein waren, welche die Beute erwarteten, denn ein polnischer Haufe, bei welchem mein alter Gesell Heinzelmann mit seinen Knechten dient, lauerte gleich uns auf das Schiff und wir stießen am Ufer mit ihnen zusammen. Doch wurde der Streit gütlich vertragen, sie haben sich einen Teil der Ladung genommen und auch einen Gefangenen gefordert. Den Polen gefiel der Mann, weil er sie lateinisch anrief, sie halten jeden für vornehm, der dieser Sprache mächtig ist, und sie werden ihn nicht schlechter behandeln, als sie müssen, denn sie hoffen von ihm gutes Lösegeld.«

Anna verbarg ihr Antlitz in den Händen. »Denkt daran, liebe Jungfer,« bat Georg, hingerissen von ihrem Weh, »daß Euch ein treues Herz geblieben ist. Solange ich den Arm rühren kann, sollen sie Euch kein Leid tun.«

»Versprecht nicht mehr, als Ihr halten könnt«, warnte der Hauptmann. »Heda, wer trabt dort über das Feld?« Er wies auf einen entfernten Reiter und gebot den Bewaffneten: »Treibt den Fremden mit Euren Spießen ab. Doch halt,« verbesserte er sich unwillig, »den langen Gesellen kenne ich. Ich dachte es wohl, das Junkervolk spürt auf Meilen, wo eine Beute zu nehmen ist. Dies ist einer von den Reitern unseres Ordenspflegers. Der Pfleger gedenkt nach seiner Art sich einen Anteil von der Mahlzeit zu holen, die er nicht kochen half.«

Der Reiter kam näher, der Tatarenmantel und die weiße Feder auf der Mütze gehörten einem Adligen im Dienste des Ordens. »Gutes Glück, Hauptmann,« rief er mit rauher Stimme, »Ihr versteht das Wild schnell auszuweiden.« Sein Blick flog begehrlich über die lange Reihe der Wagen. »Hui, auch Gefangene.« Aber im nächsten Augenblick begann er hell aufzulachen, sein Pferd sprang mit allen vieren in die Höhe und schlug darauf mit den Hinterbeinen aus, gleich einem ungezogenen Knaben, der sich über fremden Schaden freut. »Ihr seid es, Jörge, in den Fäusten der Landsknechte? Wo habt Ihr Euren vergoldeten Wagen und wo sind Eure stolzen Artusbrüder? Doch ich sehe, wenigstens die Jungfer führt Ihr mit Euch über die Heide.«