Kostenlos

Die Ahnen

Text
iOSAndroidWindows Phone
Wohin soll der Link zur App geschickt werden?
Schließen Sie dieses Fenster erst, wenn Sie den Code auf Ihrem Mobilgerät eingegeben haben
Erneut versuchenLink gesendet

Auf Wunsch des Urheberrechtsinhabers steht dieses Buch nicht als Datei zum Download zur Verfügung.

Sie können es jedoch in unseren mobilen Anwendungen (auch ohne Verbindung zum Internet) und online auf der LitRes-Website lesen.

Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Ach, Herr Einnehmer,« klagte der Kaffeewirt, »mit dem Zucker steht es noch schlechter. Den Kaffee bringen die Schmuggler zuweilen über die Grenze, aber der Zucker ist unerschwinglich.«

»Sie können hier schönen Heidehonig ziehen«, sagte Herr Köhler. »Unterdes rate ich Ihnen, die französische Sperre dadurch zu betrügen, daß Sie die Stücke Zucker dreimal so klein schlagen als sonst. – Sie haben recht, es geht uns schlechter als vor dem letzten Kriege. Alles klagt und schreit; da aber niemand mehr den Schreiern ihren Mund zuhält, so wird ihnen zuletzt durch lautes Klagen das Herz leichter und sie denken wieder an künftige, bessere Zeiten. – Wer fährt da heran? Beim Styx! Das ist die Kutsche der Bellerwitze.«

Der Diener öffnete den Schlag und die gnädige Frau stieg aus mit ihren beiden Fräulein, die in der Zeit hübsch in die Höhe geschossen waren und vornehm in das Getümmel der Bürger hineinstarrten. Als der Doktor herankam, die Dame zu begrüßen, hielt sie ihm einen Brief entgegen. »Dies brachte ein Bote aus dem Hause des Seniors auf unsern Hof und fragte, ob wir Gelegenheit nach der Kreisstadt hätten. Da ich selbst in der Stadt zu tun hatte und da der Brief für Sie bestimmt war, übernahm ich die Besorgung. Demoiselle Henriette soll krank sein. Leider ist das arme Mädchen übel daran; diese alte unglückliche Geschichte mit dem Franzosen bringt sie und die ganze Familie in eine falsche Stellung.« Der Doktor bestätigte durch eine stumme Verneigung, winkte seinen Vetter herzu und stellte den Einnehmer vor. Die gnädige Frau war erfreut, endlich dem Herrn persönlich bekannt zu werden, von dem der Kammerherr so viel Liebes erzählt hatte.

»Ich habe die Ehre, Ihren Herrn Gemahl seit der Zeit zu kennen, wo er eine kleine Guillotine als Berlocke trug«, sagte der Einnehmer mit artiger Verbeugung. Unterdes nahm der kleine Doktor behend die jungen Fräulein in Anspruch und die Gesellschaft bewegte sich schwatzend und lachend zwischen den Bänken. Als die Kammerherrin sich aber nach ihrem großen Günstling umsah, war dieser verschwunden. »Er ist zu einem Kranken gerufen«, entschuldigte der Vetter.

In dem Schreiben bat der Senior um einen Besuch, da seine Tochter erkrankt sei. Die Pferde rannten in gestrecktem Trabe, aber dem Liebenden dehnte sich der Weg zu unerträglicher Länge. Seine Briefe waren seither immer den regelmäßigen Weg gegangen, und seit Wochen hatte er Henriette nicht gesehen; doch schon beim letzten Zusammentreffen war sie bleich und still gewesen, und er kannte wohl den Gram, den sie trug. Von jenem Fremden war keine Antwort gekommen, seit Jahr und Tag keine Nachricht, das Harren und Bangen des Mädchens wurde unruhiger, sie hatte ihm gestanden, daß sie jedesmal beim Eintritt eines Besuches zusammenschrecke, denn sie fürchte, es müsse der Franzose sein. Heut ahnte der Doktor Unheil für sie und sich und bereitete sich vor, den Feind selbst zu finden.

Es war Abend, als er im Pfarrhofe aus dem Wagen sprang, er fühlte sich fast erleichtert, daß er den Senior allein ohne den argen Gast in der Stube traf. Wie vor Jahren stand er dem Vater gegenüber. Was war seitdem alles draußen in der Welt geschehen, – und hier in dem stillen Hause immer die alte Angst und Not!

»Meine Tochter hat gewünscht, daß wir Sie zu Rate ziehen«, begann der Pastor bekümmert und verlegen. »Es ist derselbe Zustand und dasselbe Leiden wie damals, als Sie zuletzt hier waren.«

»Ist es durch eine äußere Veranlassung hervorgerufen?« fragte der Arzt, doch er wußte die Antwort voraus.

»Ich habe Ihnen erzählt, wie es uns im Kriege ergangen ist«, antwortete der Senior zögernd; »auch das Weitere will ich nicht verbergen. Ich fürchte, ein Brief, den ich erhalten, hat ihr den Weinkrampf und das Fieber veranlaßt.« Er überreichte ihm ein Schreiben. »Es ist fast ein halbes Jahr alt,« sagte er, »die Stadt, welche darin angegeben ist, liegt ja wohl an der portugiesischen Grenze.« In dem Briefe stand:

Ehrwürdiger Herr! Ich kann es Ihnen und Fräulein Henriette nicht verdenken, wenn Ihnen ein Bräutigam zuwenig und zuviel ist, der seine Pflichten so völlig vernachlässigt. Ich habe keine andere Entschuldigung als den Dienst meines Kaisers, der mich seither ohne Unterbrechung von Ihnen ferngehalten hat. Ich vermag aber ungeachtet der Mitteilungen Ihres Briefes auf ein Verhältnis nicht zu verzichten, welches mir verhängnisvoll geworden ist und an welches sich für mich teure Hoffnungen knüpfen. Deshalb werden Sie vergeben, wenn ich den Ring, den ich jetzt am Finger trage, nicht zurücksende; ich bitte Sie vielmehr, mir zu gestatten, daß ich in nächster Zeit mich selbst bei Ihnen einfinde und persönlich um die Neigung Ihrer Tochter werbe. – Oberst Dessalle.

»Dies ist mehr, als ich für möglich hielt«, rief der Doktor empört und warf das Papier auf den Tisch. »Darf ich Fräulein Henriette sehen?«

Als er an das Bett der Kranken trat, wandte sie ihm ihr heißes Antlitz zu mit einem verzweiflungsvollen Blick, der ihm in das Herz schnitt. Er nahm ihre Hand und fühlte ein Zucken, als ob sie ihm die Hand entziehen wollte. Er saß lange am Bett und zwang sich, in leichtem Tone mit der Mutter von Gleichgültigem zu reden. Er konnte der Geliebten so, daß sie allein ihn verstand, nur sagen, daß er die Ursache der Krankheit kenne. Beim Abschied warf er in ihrer Gegenwart hin: »Ich habe im Marktflecken Kranke und übernachte dort bei Bekannten; ich kann morgen früh wieder herankommen.«

Eine schwere Krankheit brach aus. Nur der Doktor verstand die Größe der Gefahr und die Ohnmacht des Arztes, sie zu besiegen, und während ihm geheime Angst die Wangen entfärbte, mußte er sich sicher und überlegen stellen, um der Kranken und den Eltern den Mut zu erhalten. Aber wenn er allein war, rang er die Hände gegen den Himmel und flehte fassungslos um Erbarmen. Weit anders erging es in lichten Augenblicken der Geliebten; wenn sie zu ihm aufsah, die ermutigenden Worte vernahm und die treue, zärtliche Sorge erkannte, dann erschien ihr seine Gegenwart wie eine Arznei, die ein Engel ihr zutrug. Als er mit bewegter Stimme und feuchten Augen sagen konnte, daß die Macht der Krankheit gebrochen sei und Genesung zu hoffen, sprach sie leise: »Ich will wieder beherzt sein um Ihretwillen.«

Der Doktor hatte in diesen Wochen wenig darauf geachtet, daß auch in der Stadt eine fieberhafte Erwartung in die Menschen gekommen war. Endlich durfte er zu seiner Kranken von einer neuen großen Hoffnung reden. Zwischen Napoleon und Rußland war der Krieg unvermeidlich geworden, für Preußen der Tag der Erhebung nahe gerückt. Und er berichtete, wie sich‘s in der Kreisstadt und auf dem Lande wieder heimlich rühre, und wie es nur eines königlichen Wortes bedürfe, um die Arme von vielen Tausenden zum Verzweiflungskampf zu bewaffnen.

Als das Mädchen ihm mit leuchtenden Augen zuhörte, fuhr er heiter fort: »Ich habe bis jetzt gehorsam nach Ihrem Willen getan und meine Liebe still vor aller Welt geborgen. Jener Brief aus fernem Lande aber veranlaßt mich, das lange Schweigen zu brechen, und ich erflehe von Ihnen, Geliebte, die Erlaubnis, bei den Eltern um Ihre Hand zu bitten.«

Da aber schlug Henriette die Hände vor das Angesicht und rief in heißem Schmerz: »Das war die Angst, welche mich krank gemacht hat. Wenn Sie bei den Eltern um mich anhalten, so verliere ich alles, was mir noch den Mut gibt zu leben; denn ich müßte auf Ihre Werbung mit nein antworten.« Sie brach in Schluchzen aus. Er mühte sich, erschreckt durch den Anfall, sie mit zärtlichen Worten zu beruhigen, aber auch als sie aufgehört hatte zu weinen, saß sie in sich gekehrt auf ihrem Lager. »Unablässig quält mich der Gedanke,« rief sie endlich, »wie unglücklich Sie durch Ihre Neigung zu mir geworden sind. Ihnen vergehen die Jahre im einsamen Haushalt und diese Abhängigkeit von dem Belieben eines Fremden ist Ihrer unwürdig.«

»Sie wird es nicht sein,« antwortete bittend der Doktor, »wenn Sie mir sagen, weshalb sie nötig ist.«

Aber Henriette schüttelte das Haupt und weinte von neuem.

Wieder mühte er sich, sie zu trösten und sprach leise zu ihr von seiner Liebe und seinem Vertrauen, bis sie ihm schwermütig die Hand hinhielt. »Wollen Sie mich noch ertragen, wie ich bin, so bitte ich Sie: Lassen Sie es zwischen uns bleiben, wie es bisher war.« Und als er ihr dies versprach, neigte sich das Mädchen über seine Hand und küßte sie.

Er aber fuhr in stürmischer Bewegung heimwärts. Was war der Grund ihrer Angst und was schloß ihr den Mund? War es zu hoch gespanntes Pflichtgefühl gegenüber einer nichtigen Verlobung, oder war es geheime Sorge, daß er selbst mit dem Fremden in tödlichen Streit geraten könne? Was es auch war, gegen den Franzosen sammelte sich in seinem ehrlichen Gemüt ein bitterer Haß, und der letzte Trost, den er fand, war der, daß auch für ihr und sein Geschick die Entscheidung kommen werde durch den bevorstehenden Krieg.

Als mit der fortschreitenden Genesung seine Besuche seltener wurden und endlich ganz aufhörten, da sagte die Mutter verwundert zum Senior: »Der Doktor hat doch so vielen Anteil an dem Mädchen gezeigt und die weite Reise so oft gemacht, daß es mir manchmal auffällig war, und jetzt läßt er sich nicht mehr blicken.«

»Ich fürchte, er hat im Grunde etwas gegen uns«, antwortete der Pfarrer bedrückt.

Aber das erlösende Wort, welches die Waffen in die Hände des zornigen Volkes drücken sollte, wurde nicht vernommen, zum dritten Male war die Hoffnung auf Erhebung und auf Rache vergeblich gewesen. Zu der alten Schmach kam eine neue, die größte, greulichste. Als Bundesgenosse des höhnenden Tyrannen mußte das preußische Volk gezwungen seine Söhne in den neuen Krieg senden. Jetzt erst zahlten König und Staat die schwerste Buße für die Sünde, daß sie vor der großen Niederlage zehn Jahre lang preußisches Land und treue Herzen ausgetauscht und weggegeben hatten wie eine Ware, und daß sie ihre Grenzsteine herausgerissen und eingesetzt nach dem Gefallen des fremden Kaisers. Damals war der alte Stolz und die Ehre, welche die Ahnen um den Thron gesammelt, verloren worden, und darum zwang jetzt ein Übermächtiger das gedemütigte Volk in Sklavenketten hinter ihm herzuziehen als ein Teil seines reisigen Trosses. Sobald dieser furchtbare Zwang dem Volke deutlich wurde, da schwand auch wackeren Männern das Zutrauen zu dem Willen und der Kraft der Führer, an welche sie sich in öden Jahren gehalten. Die Heftigsten dachten daran, sich von ihrem Vaterlande loszusagen, die Besonnenen trugen finster und schweigend ein unerhörtes Geschick. Und einer von ihnen, welcher den Schmerz wie eine brennende Wunde fühlte, schrieb an seine Geliebte: »Jetzt habe ich nichts mehr, was mir dies Dasein wert macht, als den Gedanken an Sie, Henriette. Ich weiß, daß dieses Reich des Antichrists nicht dauern kann, und ich weiß, daß wir seiner ledig werden müssen, so wahr eine göttliche Vernunft über dem Leben der Völker und der Menschen waltet; aber ich vermag aus dem Abgrund, in den sie uns wirft, den Weg zur Rettung nicht zu erspähen und ich fühle mich in meinem Volke so schwach und der Ehre bar, daß ich auf den letzten Anspruch Unglücklicher verzichte, auf das Mitleid anderer Nationen mit unserem Geschick.«

 

Doch während die Klugen und Scharfsinnigen verzweifeln wollten, hatte eine höhere Gewalt, welche das Schicksal der Menschen und der Völker mit furchtbarer Genauigkeit abwägt nach ihren Gedanken und Werken, bereits dem Tyrannen den Pfad gewiesen, auf dem er verderben sollte, unerhört, abenteuerlich, wie sein Leben gewesen war. Die Geister der Zerstörung arbeiteten geschäftig in ihm selbst. Daß er schlecht war und ein Bösewicht im Purpur, das wußten Millionen, aber während auch seine Gegner in ihm noch den starken überlegenen Geist bewunderten, war er in der Tat bereits ein berückter Träumer, dem Wahngebilde das Hirn betäubten. Einst hatten ihn phantastische Ideen seiner Jugend zu den Sanddünen der Pyramiden geführt, die grünen Fluren am Nil sollten damals eine Station werden für seinen Alexanderzug nach Osten, weit über Syrien hinaus ins unermeßliche Blaue. Seitdem hatte er unter schwachen Dynastien und verrotteten Staatswesen aufgeräumt, und bei dieser Arbeit eines Totengräbers alles eingebüßt, was die Seele des Mannes festigt gegen unsinnige Einfälle. Die Menschen und Völker waren ihm geworden wie Brettsteine, die er hin und her setzte. Achtung vor menschlicher Tugend, vor Leben und Glück der Nationen war ihm verloren, und verloren war ihm zugleich die Fähigkeit, sich selbst zu beschränken, Zeit und Raum abzuwägen und eigene und fremde Kraft verständig zu berechnen. Und in dem verwüsteten Geist erhob sich aufs neue der Unsinn aus seiner Leutnantszeit; den Blick nach Osten gewandt, träumte er wieder sich und sein Heer über Steppen und Ströme hinaus Tausende von Meilen bis an die Fluten des Ganges und darüber ins unermeßliche Leere. Mancher aus seiner Umgebung erschrak, wenn er einmal wie ein Trunkener von seinen Plänen sprach, keiner wußte, wie sehr der Wurm in ihm bereits das Mark des Lebens zerfressen hatte. Die Klugen wußten es nicht, aber der einfältige Sinn des Volkes ahnte, daß unsichtbare Gewalten gegen ihn geschäftig waren.

Henriette stand auf dem Ringwall und blickte hinaus nach der fernen Heerstraße, auf der sich die Kolonnenzüge bewegten. Seitwärts bei den Dornen arbeitete der alte Christian emsig mit Haue und Schaufel, hieb in die Erde und rodete das Gestrüpp. »Was tut Ihr dort, Schäfer?« fragte das Mädchen. Der Alte trocknete sich mit dem Ärmel die Stirn. »Es muß alles heraus,« sagte er, »seine Zeit ist gekommen. Denn jedem auf Erden ist der Tag bestimmt, wo es hinweg muß, dem Dornholz hier und den Menschen dort.«

»Es will kein Ende nehmen mit dem Heereszuge und dem reisigen Fuhrwerk,« klagte Henriette, »seit acht Tagen fährt es dahin von früh bis zur Nacht, zahllos sind die Menschen, Tiere und Wagen; es ist, als ob ein ganzes Volk auswandert in ein anderes Land.«

Der Schäfer trat zu ihr. »Je mehr ihrer hinziehen, um so besser. Die dort oben in der Luft ziehen auch mit.«

»Was wollt Ihr damit sagen, Christian?«

»Haben Sie jemals so viele Krähen und Raben gesehen?« fragte der Alte, und er hatte recht, in ungeheuren Schwärmen flogen und schrien die dunklen Vögel.

»Sie finden Futter an toten Pferden und Abfällen, wo die Soldaten lagern.« Der Schäfer schüttelte, seiner Überlegenheit bewußt, den Kopf, dann sagte er leise: »Haben Sie heut nacht nichts gemerkt? Das Schwedenvolk, das hier herum und auf dem Kirchhofe liegt, ist aus der Erde gestiegen, einer nach dem andern, alle in grauen Mänteln, und die Gesellschaft breitete sich aus über die Felder und wälzte sich in der Luft nach derselben Richtung, in der diese fahren. Reiter und Fußvolk ziehen unten und die Grauen und ihre Vögel fliegen oben, und die oben sind mächtiger.«

Nachdem der wilde Schwall vorübergerauscht war, kam Bärbel nach der Pfarre mit geringem Lebensmut. »Unser Hof ist leer«, klagte sie; »es war eine schreckliche Woche, jeden Tag und jede Nacht rohes Volk im Hause, und das wüste Lärmen und Fordern in fremden Sprachen, nichts war ihnen gut genug, und wenn einmal ein Offizier sich unser erbarmte und die Leute schalt, so verhöhnten sie ihn und drohten. Ein Alter unter ihnen, der mit deutscher Sprache umzugehen wußte, sagte meinem Manne: ›Trage auf, Bauer, was du hast; wir wollen‘s genießen, weil wir leben, denn wir ziehen zu Grabe.‹ An einem Abend, wo die ganze Stube voll war, hatten sie geschrien und getrunken, daß uns Angst wurde, und mit einem Male fing ein junger Bursche an laut zu weinen, redete auf französisch zu den anderen und alle wurden still und ließen die Köpfe hängen. Die ganze Zeit über haben wir, Karl und ich, die Nacht über auf der Ofenbank gesessen, ich legte mich an die Schulter des Mannes, wenn mir die Augen zufielen, die Kleinen hatte ich in der Wiege vor mir. Wie sollten wir dieses Jahr durchmachen?«

»Dein Karl soll mit dem Wagen kommen; was die Pfarre entbehren kann, erhaltet ihr vor andern, ich will‘s beim Vater ausmachen.«

Auch in der Kreisstadt gab es bedächtige Männer, welche eine große Entscheidung voraussahen. »Ich frage gern in schweren Zeiten meinen Schuster um Rat,« sagte der Einnehmer zu seinem Freunde, »er ist kein großer Redner, aber er sieht die Dinge mit einem Mutterwitz an, den mancher Klügere nicht hat.« Schuster Schilling pochte lustig am Leder herum, als sein Kunde ihn begrüßte: »Nun, Meister, was wird aus diesem Kriegszuge des Kaisers herauskommen?«

Schilling schüttelte lange den Kopf und sagte gewichtig: »Der Mann ist niemals als Schustergeselle bei den Moskowitern gewesen, wie ich damals von Südpreußen aus, sonst würde er jetzt nicht zu ihnen gehen. Wie weit, glauben Sie, wird seinen Leuten auf dem langen Wege das Schuhwerk vorhalten? – Es ist alles zerrissen, bevor er zu den eigentlichen Moskows kommt, und wer soll dort für so vieles Volk neue Stiefeln machen? Das Land ist zu groß und mit zu wenig Menschheit besetzt, und es fehlt dort auch an anderem. Von Birkenrinde können sie nicht leben.«

»Die Stiefel läßt er aus Ihrem Laden holen, Meister, und die Speckseiten aus dem Rauchfange unserer Bauern, alles wird ihm ins Russische nachgeschafft.« Schilling lächelte: »Dann müßte er sein Heer zurückführen und sich alles selber holen, sonst wird das wenigste bis zu ihm durchdringen; die Russen können das durchaus nicht leiden. Nämlich die Russen sind gutmütig, aber sie haben diese Eigenschaft: Ist einer artig, so sind sie grob und nehmen ihm mit Gewalt, was er hat; und ist einer grob, so sind sie ins Gesicht artig und mausen ihm das Seine hinter seinem Rücken. Nehmen tun sie in jedem Falle. Jetzt geht Bonaparte grimmig gegen sie vor; folglich werden sie sich zurückziehen und über alles hinter seinem Rücken herfallen, und er wird mit dem einen Arm nach vorn und mit dem andern nach hinten hauen müssen. Diese Art Prügelei hält niemand auf die Länge aus.«

»Gut, Meister. Was aber soll mit uns werden? Wir sind seine Verbündeten geworden.«

»Das ist mir ganz recht,« erklärte der Schuster, »wir halten uns hübsch zurück und immer mehr zurück, lassen ihn vorwärts, und machen hinter der großen Ratte die Falle zu.«

»Meister,« rief der Einnehmer, »wenn Sie mir nicht für mein Schuhwerk unentbehrlich wären, würde ich Sie unserm König zum Minister empfehlen.«

»Ich habe nie großen Ehrgeiz gehabt«, sagte der Meister bescheiden.

Der Sommer kam und der Herbst, der Handwerker nähte und pochte in seiner Werkstatt und der Landmann tengelte seine Sense, um die Brotfrucht einzubringen. Der Bürger hielt zuweilen in der Arbeit an und lauschte, und der Mäher ließ die Sense sinken und sah hinauf in die Luft, als ob von dort etwas Neues heranziehe. Gedanken und Träume der Leute irrten umher in weiter Ferne und heimliche Erwartung schärfte jedem Auge und Ohr.

Die Frühstücksstube war lange verödet gewesen, jetzt traten die Herren wieder ein; sie saßen aber nicht wie sonst am Tische, sondern standen und gingen auf und ab, während sie von den neuen Siegen des Kaisers erzählten. Da sagte einst im Spätherbst der jüdische Weinwirt geheimnisvoll zum Einnehmer: »Einer von unsern Leuten ist aus Warschau zugereist, dort hat er sichere Nachricht erhalten von der großen Armee; das große Heer ist klein geworden, an den Landstraßen liegen überall tote Pferde und umgeworfene Karren, alle Städte sind angefüllt mit Kranken und Sterbenden, niemand will sie mehr begraben; alles, was der Kaiser über seine Siege schreiben läßt, ist erlogen.«

Seitdem folgte eine Botschaft der andern, von einer endlosen Heerreise in Wüsteneien, von Siegen, die so mörderisch waren wie Niederlagen, von Hunger, Elend und Untergang. Die Kunde klang zuerst undeutlich aus der Ferne wie Weheschrei eines Nachtvogels. Aber als der Wintersturm über die kahlen Felder fegte und die letzten Blätter von den Bäumen riß, wurde der Schicksalsruf lauter und lauter, bis er wie Posaunenschall in die Ohren drang. Mancher wackere Städter, der während des Sommers gedrückt seines Weges gegangen war, hob jetzt trotzig das Haupt, und die, welche einst bei der Freikompanie gewesen waren, griffen nach dem Gewehr, das lange verstäubt im Winkel gestanden, und prüften die Schlagfeder. Die Zeit war nicht danach, daß sich die Leute ohne Not neue Ware kauften, aber Schuster Schilling hatte große Kundschaft, und seine Werkstatt wurde der Unterhaltung wegen von vielen besucht, denn er hatte zuerst alles vorausgesagt. Eine Freude, wilde, grimmige Freude, wie die Leute niemals gefühlt, brach in Gebärde und Worten heraus. Als Beblow erfuhr, daß die Flucht der Franzosen begonnen, stieß er seinen Stahl dem gefällten Rinde bis an den Griff in den Leib, sprang in den Laden und fiel seiner Frau vor allen Leuten um den Hals; wo Bekannte zusammenstießen, schüttelten sie einander die Hände, lachten und weinten in einem Atem.

Draußen heulte der Wind, kalter Regen wandelte den gefallenen Schnee in mißfarbigen Schlamm und machte das Verweilen auf der Straße unbehaglich. Die Bürger saßen mit ihren Hausgenossen nahe am Ofen. Doch so oft draußen ein Karren rasselte, wenn der Sturm Dachziegel herunter warf oder ein starker Tritt auf dem Pflaster erklang, liefen die Leute an die Fenster; um jeden Wagen, um jeden Reiter, der mit seinem Pferde anhielt, sammelte sich im Augenblick ein neugieriger Haufe, dann gab es kurze Zeit ein Gewühl, niemand wußte warum, bis jung und alt sich wieder in den Häusern verlor. Als der Einnehmer in sein Amtslokal ging, fand er vor der Posthalterei einen gedrängten Haufen; da dies nicht die Stunde war, wo die ordentliche Post erschien, und da Herr Köhler jeder Sache auf den Grund ging, so trat er näher und schritt durch den Kreis, welcher einen Schlitten umgab. In dem Schlitten saßen zwei Männer, in große Pelze gehüllt. Der Posthalter kam eilig heraus und reichte dem Postillion Papiere, und als der Einnehmer ihn fragend ansah, sagte er leise: »Es ist ein französischer Herzog, durch Staffette angekündigt, er hat‘s eilig, weiterzukommen.« Da stellte sich Herr Köhler zurecht, um diesen Herzog zu betrachten. Von den beiden Männern saß der größere aufrecht und blickte finster um sich. »Du bist der Herzog nicht,« sagte sich der Beobachter, »dann also der andere.« Der Kleinere saß müde zurückgelehnt in seinem Pelze verborgen.

Endlich gelang es dem Einnehmer, bei einer ungeduldigen Bewegung des Verhüllten den Kopf zu sehen; er erkannte in dem trüben Tageslicht ein fahles, gelbliches Angesicht und fing einen harten Blick aus stechenden Augen auf, so daß er unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. Der Postillion schwang sich auf seinen Sitz und hob die Lederpeitsche, da griff Herr Köhler entschlossen in seine Brusttasche, zog den Hut, trat mit tiefer Verneigung an den Schlitten und legte etwas auf die Decke. Die Peitsche knallte, und der Einnehmer schritt, immer noch mit entblößtem Haupt, nach rückwärts, während die Pferde anzogen; dann setzte er seinen Hut gemütlich auf und schritt zu seinen Tabellen. Als er zur Mittagsstunde mit dem Doktor über den Markt kam, trat der Bürgermeister zu ihm. »Dies Buch ist auf der Gasse gefunden worden, der Ratsdiener sagt, daß Sie es dem Fremden heut früh überreicht haben.«

 

»Ha, in der Tat!« rief Herr Köhler, und betrachtete mitleidig den Band, welcher durch den Schlamm des Weges traurig verdorben war, »es ist das meinige. Ich will Ihnen sagen, wie die Sache zusammenhängt. Dieser Fremde, der heut morgen als Flüchtling hier durchkam, war der Kaiser Napoleon. Ich wollte ihm etwas Lektüre auf den Weg geben, aber der undankbare Kerl versteht Gutes nicht zu schätzen«, und er wies das Buch; es war von seinem Lieblingsdichter und hatte den Titel: Katzenbergers Badereise.