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Die Ahnen

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So lange er sprach, blickte sie unverwandt auf den Finger ihrer Hand, an welchem der Ring mit dem Vergißmeinnicht fehlte. »Ich lag hilflos am Boden,« begann sie langsam, ohne ihn anzusehen, »gedemütigt, mißhandelt, da hat er mich befreit. Als er den Unhold zwang, zu entweichen, und als er wieder eintrat und mir zurief, daß der andere gefallen sei, da, der Herr verzeihe mir die Sünde, meinte ich die Schmach von mir genommen und mir war auf Augenblicke, als müßte ich fortan dem Manne folgen, der mich gerächt hatte. Zürnen Sie mir, verachten Sie mich, daß ich so fühlte, nicht wie eine Christin und ein ehrbares Mädchen soll, aber es war so, und ich darf die Wahrheit nicht bergen, am wenigsten Ihnen. Und wäre er davongeritten, wie er kam, als ein Fremder, so hätte ich ihm nachgesehen wie meinem Heiligen. Aber eine Demütigung hat er von mir genommen und eine andere hat er mir an den Finger gesteckt. Daß er mich in meiner Erniedrigung gleich einem Nichts behandelte, welches er sich erkaufen und aneignen könne durch ein unwahres Wort, darum empörte sich mein Gemüt wieder gegen ihn wie gegen die Missetäter, und ich vermochte ihm für seine schnelle Hilfe, die mich gerettet, nicht zu danken.«

Auch der Mann, welcher ihr gegenüber saß, starrte finster zur Seite auf die Wellenringe, welche über das Wasser zogen. Und er fragte tonlos: »So war Ihr Gefühl damals; wie wurde es später?«

»Wie es damals war, so ist es noch heut«, antwortete Henriette in derselben Weise. »Um meinetwillen hat er einen Menschen getötet, und daß ich noch unter andern mein Haupt erheben darf, verdanke ich ihm; dies sind feste Bande, ich vermag sie nicht zu lösen; weil aber seine Hand selbst die Kette um mich gelegt hat, mich anzuschließen an sein Geschick, zürne ich ihm noch heut wie damals, denn er hat damit zerstört, was in meinem Leben fröhlich war, unschuldig und glückverheißend.« Jetzt sah sie ihn an und er sie, und aus ihren Augen quollen die Tränen.

»Und wenn er wiederkommt und Ihre Hand für sich fordert?«

Ein finsterer Schatten flog über ihr Antlitz. »Ich würde ihm dasselbe sagen, was ich heut Ihnen sage: Seine Frau kann ich nicht werden, und einem andern darf ich nicht angehören, solange er sein Anrecht behaupten will.«

»Sie nennen es ein Recht des Fremden? Es war ein übermütiger Einfall, ein ruchloses Spiel! Wie kann solche Tat ihm ein Anrecht an Ihr Leben geben?«

»Zuerst war es ein wilder Einfall, mit der Zeit ist es ein Anspruch geworden. Schon das zweite Jahr trage ich die Last, mit jedem Tage sind die Bande fester geworden, welche mich an ihn schnüren, die Leute betrachten mich als seine Braut, die eigenen Eltern möchten gern das Furchtbare sich und mir verhüllen; der Vater vertraut, daß der Himmel alles ohne sein Zutun fügen werde, die Mutter hofft, daß der Fremde ihrem Kinde einmal Schützer und Versorger werden könne. Ich hatte in den ersten Tagen und Wochen niemanden, vor dem ich mein Elend hätte klagen können, damit er mir rate und mich befreie. Gab es damals einen, der mir in seinem Herzen freundlich gesinnt war, so fühlte auch dieser sich mir entfremdet und ging mit höflicher Kälte an mir vorüber.«

»Henriette!« schrie der Doktor entsetzt.

Sie aber zog ihr Tuch um sich und fuhr traurig fort: »In dieser langen Zeit bin ich ruhiger geworden. Die Fessel, die ich trage, wird schwerer, als sie vormals war, aber ich bin gewöhnt, sie zu tragen. In Harren und Leiden ist der Frohsinn untergegangen und die Hoffnung, die einst ein törichtes Mädchen hegte. Ich trage mein Teil still; andere tun es auch.«

»In jenen Monaten bat jemand, der Ihnen von Herzen ergeben ist und der gern sein Leben für Sie hingeben würde, durch Ihren Vater, daß Sie ihm Ihr Vertrauen gewähren.«

»Dem Mitgefühl des Arztes hatte ich nichts zu vertrauen,« antwortete Henriette stolz, »und einem Manne, an dessen Freundschaft ich gern dachte, sah ich bei der Begegnung an seinen Augen an, daß für ihn das Mädchen, welches die fremden Soldaten an sich gerissen hatten, nicht mehr denselben Wert hatte, wie das unschuldige Pfarrkind, das ihm die Kleeblätter pflückte.«

»Henriette!« rief der Mann wieder – »zu dem Leid, das ich trage, fügen Sie ein neues, wenn Sie mich so grausam verkennen. Da ich Sie zuerst sah, wurde ich Ihnen gut, wie ich noch keinem Weibe gewesen, es war in meinem einsamen Leben die erste Liebe, und ich war selig, wenn ich an Sie dachte und mich an Ihre Seite. Da kam die Erzählung des Vaters; aus seinen Worten klang vieles, was mir wie Grabgeläut meines stillen Wunsches erschien. Welches Recht hatte ich auf Ihre Neigung? Was wußte ich davon? Sie hatten sich mir herzlich zugeneigt in froher Stunde, aber zweifelnd fragte ich mich, welchen Wert meine Liebe für Sie haben könne; und die Antwort, die ich mir selbst gab, war: daß ich noch wenig für Ihr Herz bedeuten konnte. Als ich von dem letzten Besuch nach Hause kam, habe ich mit dem Gedanken gerungen, ob ich es wagen dürfe, Ihnen zu schreiben und Sie von meiner Leidenschaft zu unterhalten. Ich war mutlos, Henriette, denn nicht ich hatte Sie an dem Schurken gerächt. Seitdem erst habe ich selbst erkannt, wie heiß und stark das Gefühl ist, das ich in mir herumtrage. Lassen Sie sich gefallen, daß ich Ihnen dies heut sage: Fürchterlich und unerträglich ist mir der Gedanke, daß Sie mir fremd werden können.«

Sie saß aufgerichtet im Kahne und zwang sich, fest zu scheinen, aber die Tränen rollten von ihren Augen.

»Ich wage in dieser Stunde nicht davon zu reden,« fuhr der Liebende fort, »was geschehen muß, um die Last einer unmenschlichen Verpflichtung von Ihnen zu nehmen. Vielleicht vermag ich dies, aber nur mit Ihrer Hilfe. Und darum flehe ich nur um das eine: daß Sie sich meine stille Verehrung gefallen lassen und daß Sie zuweilen daran denken, wie in Ihrer Nähe ein Mann lebt, dem Ihr Glück weit teurer ist als sein Leben, und dessen höchster Lebenswunsch ist, Ihre Liebe und Ihre Hand für sich zu erringen.«

Sie bewegte abweisend das Haupt, als sie traurig sagte: »Es ist an meinem Unglück genug; vergessen Sie mich.« Aber als sie ihn einen Augenblick ansah, drang ein heller Strahl ihm in die Seele. Dann blickte sie wieder abwärts und weinte still vor sich hin, er aber bewegte leise das Ruder und führte den Kahn dem Lande zu, wo die Hausfrau sie bereits erwartete.

Als der Doktor nach Hause fuhr, lag die Landschaft vor ihm im Zauberglanze der Nacht. Sein alter, sanfter Freund blickte vom dunklen Nachthimmel traulich über die schlafende Erde. Lichter und Schatten zogen in schnellem Wechsel vorüber, jeder Hof und jede Baumgruppe standen geheimnisvoll in farbigem Scheine, der doch keine Farbe war. Nur in leisen Tönen klang das Leben der Natur, die Grillen zirpten im Korn und eine große Nachtmotte schwirrte an seinem Hut: so weich und mild die Luft und so schön die träumende Welt rings um ihn her! Er aber achtete wenig darauf; ihm selbst war sein Dasein aus dem Dämmerschein sehnsüchtiger Erwartung hineingeworfen in scharfes Tageslicht und in die heiße Leidenschaft der Wirklichkeit. Wie sie vor ihm saß im Kahne, da war sie dasselbe Mädchen gewesen, das er geküßt hatte, und zugleich eine andere, ein stolzes und kräftiges Weib; es waren die Umrisse des Angesichtes, welches ihn einst in mädchenhafter Zärtlichkeit angesehen hatte, aber etwas anderes war in ihr Wesen gekommen: die Brauen zusammengezogen, das ganze Antlitz größer, die Gestalt fester, sogar die Stimme klang ihm tiefer und ernster in das Ohr. Ihren Willen setzte sie gegen den seinen und fest wehrte sie sein Bitten und Drängen ab. Sie hatten die Rollen gewechselt, er war der sehnsuchtsvoll Harrende geworden, und sie hatte in überlegener Haltung von dem gesprochen, was sie für Pflicht hielt. Dennoch empfand er, daß sie ihm noch nie so lieb gewesen wie in dieser Stunde. – Und er sollte ihr entsagen! Aber als sie das forderte, war sie weich geworden und ihr innerer Kampf wohl erkennbar. In dem Augenblick lag in ihren Augen und dem Ton der Stimme so viel Schmerz und Liebe, daß nicht die strengen Worte in ihm hafteten, sondern die tiefe Empfindung, welche sie dahinter verbarg.

Er strich sich über die heiße Schläfe und mahnte sich zu bedächtiger Überlegung. Was mußte er tun, um sie dem andern zu entreißen und für sich zu gewinnen? Schmachvoll dünkte ihn zu ertragen, daß der übermütige Franzose durch wildes Spiel mit dem eigenen und fremden Leben ein Recht gewonnen hatte über die Tage der Jungfrau und über die Zukunft eines deutschen Mannes; und ganz unleidlich, daß im günstigsten Fall das Glück redlicher Menschen abhängen sollte von Laune und Entscheidung eines Rivalen. Wilde Gedanken zogen wie Nachtvögel durch sein Hirn: War von zweien einer zuviel auf Erden? Aber er scheuchte die finstere Versuchung hinweg. Vergossenes Blut hatte dies unheimliche Bündnis gefestigt, neuer Tod vermochte den Überlebenden ein reines Glück nicht zu verschaffen. Was hier not tat vor allem, war das eine, daß er selbst sich ihr wert machte. Nur die Neigung zu ihm konnte ihr den Entschluß geben, sich von dem andern zu lösen trotz allem, was sie jetzt ihre Pflicht nannte und was sie ihm wie einen Schild zur Abwehr entgegenhielt. Ja, er selbst mußte Buße zahlen dafür, daß ihn bei der letzten Begegnung im Pfarrhause allzusehr der eigene Schmerz beschäftigt hatte und zuwenig ihre Leiden. Er wollte sie wiedersehen, sooft das möglich war, ohne daß er sich aufdrängte, er wollte ihre Zurückhaltung ehren und seine Rede behüten, aber wissen mußte sie fortan zu jeder Stunde, daß ein treues Herz ihr angehörte und daß er ein sicherer Berater sein konnte, wenn sie das Vertrauen gewann, das sie nicht zu ihm gehabt. Und er sann darüber, wie er sich ihr auch aus der Ferne vertraulich machen könnte und so lieb, daß ihr Gemüt sich gegen ihn öffnete.

Als er nach Haus kam, setzte er sich zur Stelle nieder und schrieb an sie: »Teures Fräulein! Fürchten Sie nicht, daß ich Ihnen von einer Leidenschaft vorklagen werde, welche meine Seele erfüllt. Nur darum flehe ich, daß Sie mir gestatten, Ihnen zuweilen so zu schreiben, wie ein Freund dem andern schreibt, auch über mich selbst und mein eigenes Leben. Lassen Sie sich leidend gefallen, wenn ich so weit Ihren Anteil in Anspruch nehme. Können Sie mir einmal auf meine Briefe eine Antwort geben, so wird dies für mich eine Seligkeit sein; aber auch, wenn Sie das nicht tun wollen, erlauben Sie mir, zu Ihnen zu reden, wie der Unglückliche zu seinem Beichtiger spricht.« Darauf schrieb er über seine Erlebnisse in den vergangenen Jahren und über vieles, was er dabei gedacht hatte.

 

Mit diesem Brief fuhr er nach dem Marktflecken zu Henriettens Gespielin und bat, den Brief sicher in die Hände des Fräuleins zu liefern.

»Sie ist noch bei der Bellerwitz; ich trage das Schreiben selbst zu ihr,« versprach Liesel, welche das Sachverhältnis scharfsinnig erkannte. Und als der ungeduldige Doktor nach einigen Tagen wieder vorsprach, erzählte die Vertraute: »Ich ließ sie aus dem Schloß bitten, wir gingen in den Garten, dort gab ich ihr den Brief. Ich saß auf der einen Bank, sie auf der andern; sie brach den Brief sogleich auf und las sehr lange; dann steckte sie ihn unter ihr Brusttuch und reichte mir die Hand. Als ich fragte: ›Ist vielleicht Antwort?‹ schüttelte sie nur mit dem Kopf und ging zu den Blumen, brach eine ab und gab sie mir. Dann fing sie an, von meinem Kleinen zu reden und von anderem.«

»Was war es für eine Blume?« fragte der Doktor.

»Es war eine weiße Rose; sie war wohl für Sie bestimmt, aber mein Kleiner hat sie sogleich zerrupft.«

8. Die Warnung

In einiger Entfernung von der Stadt lag am Rand eines lichten Gehölzes der Schießplatz, wo seit alter Zeit die ehrbare Gilde der Bürgerschützen ihre Bahn hatte. Dort stand ein Kaffeehaus, und an sonnigen Ruhetagen zog der Bürger mit Weib und Kind hinaus und genoß auf den Bretterbänken den Kaffee, welchen die Hausfrauen in der Tüte mitbrachten und den die Wirtsleute mit großer Gewandtheit, aus jeder Tüte besonders, zu bereiten wußten und im Geschirr aufsetzten. Heut konnte der Vermögende auch Kuchen dazu erhalten, denn es war der schöne Tag des Königsschießens. Am Morgen waren die Schützen ausgezogen in ihrer grünen Uniform mit gelbem Kragen und großen wollenen Epauletten, vor ihnen Steinmetz mit der Musik und der Zieler, welcher eine große gemalte Scheibe auf dem Rücken trug. Auf der Scheibe war in diesem Jahre ein ungeheurer Drache gemalt und der Künstler hatte ihn so schön gewunden, daß sein Kopf in der Mitte stand; es war aber der Kopf eines Mannes, und der Kopf trug einen kleinen schwarzen Hut.

Die Sonne schien warm, Honoratioren und Bürger saßen, nach Familien geordnet, behaglich im Schatten der Linden und freuten sich der großen Menschenmenge, welche sie alle zusammen darstellten. Die Kinder sprangen um die Tische oder standen vor den beiden aufgeschlagenen Buden, in denen man durch waghalsiges Würfelspiel Pfefferkuchen und Glaswaren gewinnen konnte. Die meisten verloren ihr Gröschel, aber sie hatten dafür die Hoffnung gehabt. Zuweilen spielte die Musik, und in kurzen Zwischenräumen knallten die Schüsse vom nahen Schießplatz in die Unterhaltung. Und hatte einer der Schützen einen guten Schuß getan, so tanzte der Zieler vor Freude und schwenkte die kleine Scheibe, welche er an einem Stocke in der Hand trug.

Heut wurde mehr geschossen als sonst, denn die Bürgerschützen hatten einen Zuwachs gewonnen, auf den sie stolz waren. In der Stadt war auf einmal eine Vorliebe für Scheibenschießen eingerissen, und viele jüngere Männer waren zu einer Freikompanie zusammengetreten; sie trugen keine Uniform und marschierten auch nicht mit der alten Gilde, aber sie schossen als Verbündete mit. Und um in Schritt und Tritt zu kommen, hatten sie einen alten Unteroffizier, der jetzt in städtischem Dienst lebte, zum Exerziermeister angenommen, sie waren so eifrig bei der Sache, daß auch heut ein großer Teil von ihnen auf der Waldblöße neben dem Schießplatz marschierte, und zuweilen klang das Feuer ihrer Salven zwischen die Schüsse nach der Scheibe. Sogar die Umgegend hatte Schießgenossen herzugesandt, Krause aus dem Marktflecken war da mit seinem Stutzen und einem Dutzend Gefährten, und aus den Dörfern eine Anzahl junger Burschen. Sonst hätten die Bürger für eine Entwürdigung ihrer Scheibe gehalten, wenn grobe Bauern und Knechte in den Stand getreten wären, heut dünkte das fast allen recht, denn, wie ein geachteter Bürger sich ausdrückte, es war eine neue Konjunktion gekommen, die Untertänigkeit war aufgehoben und zugleich vieles andere, was sonst die Landleute unansehnlich gemacht hatte, und eine Annäherung hatte stattgefunden zwischen Bürgern und Bauern um des gemeinsamen Schicksals willen, das sie alle trugen.

Beim Schießhause verkehrt auch der Assessor, nicht so still wie früher, er spricht mit Würde zu den Bürgern, welche ihn im Kreise umstehen; denn er ist ganz vor kurzem in der Stadt der größte Mann geworden. Der alte Stadtdirektor ist verzogen, verschwunden, und niemand frägt nach ihm, die Stadt hat eine neue Ordnung erhalten, die Bürger regieren sich selbst, haben sich Ratsherren gewählt und den Assessor zum Bürgermeister. Aber auch er hat eine Büchse in der Hand und wird sogleich wieder mit der Kompanie exerzieren. Weiter ab, da wo ein schöner Kranz von jungen Fräulein auf Stühlen sitzt, bewegt sich unser Vetter, der junge Arzt; ein heiterer rundlicher Herr, sehr höflich und aufmerksam, er überreicht kleine Sträuße von Feldblumen und ist vielen Müttern und Töchtern angenehmer als sein Verwandter, so daß sie diesen nur in schweren Fällen bemühen.

Hauptperson aber und gewissermaßen das Zentrum dieses ganzen Scheibenschießens ist der Doktor. Vor dem Schießhause steht er mit seiner Büchse neben dem Fleischer Beblow, der als Schützenkapitän goldene Epauletten auf seiner Uniform trägt und so gewaltig um sich sieht, daß die Bürger ihn mit noch größerer Hochachtung betrachten, als an Werkeltagen. Der Doktor und Beblow haben viel zu grüßen und auf Fragen zu antworten, Beblow aber gebietet mit lauter Stimme, und der Doktor redet oft leise und vertraulich. Gerade jetzt zu einem jungen Herrn mit einem Schnurrbart, einem großen Gutsbesitzer im Kreise, den er mitgebracht hat. Er führt seinen Gast einige Schritte zur Seite, als dieser zufrieden beginnt: »Ich sehe, bei dir ist alles in gutem Zuge.«

»Sage dem Grafen,« antwortete der Doktor, »in unserer Kompanie sind etwa hundert Stutzen und ebensoviele Gewehre nach dem Modell. Jeder hat einen blauen Rock, rotes Tuch kann sogleich auf die Kragen gesetzt werden; auch das nötigste Lederzeug ist da, nur mit Mänteln sind wir noch zurück; die Leute sind bereit und vom besten Willen. Die Kompanie wird acht Tage nach empfangener Order ausrücken, wenn ihr uns Offiziere und einige Unteroffiziere schickt, denn von diesen letzteren haben wir nur drei im Kreise.«

»Du bist weiter als ich,« sagte der andere, der früher bei den Husaren gestanden hatte; »mich hindert zu sehr der Mangel an brauchbaren Pferden. Der letzte Krieg hat darin arg verwüstet. Über den Grafen aber würdest du dich freuen; er hat von seinem Gut die ganze Provinz mit einem unsichtbaren Netz überzogen und ist wieder, trotz seiner Kränklichkeit, Tag und Nacht geschäftig. Doch fand ich ihn in den letzten Wochen ungewöhnlich ernst. Die Niederlagen der Österreicher und die neuen Erfolge Napoleons mögen ihn wohl verstimmen, und ich fürchte, er empfängt keine guten Nachrichten aus der Residenz, dort fehlt in der letzten Stunde der Entschluß.«

»Unterdes tun wir das unsere«, sagte der Doktor ruhig. »Sieh auch die Übungen unserer Mannschaft an.«

»Kommen Sie, Drachentöter,« rief der Einnehmer dem Freunde zu, »wir wandern ein wenig zwischen den Tischen, uns das Völkchen zu betrachten. Hier können Sie die Verdorbenheit unseres Jahrhunderts deutlich erkennen. Mancher Rock ist schäbig und geflickt, weil der Besitzer allzu tief versunken ist, und mancher Mann verschwendet hier seinen letzten Groschen, um die Zichorie mitzutrinken. Auch die Erhebung der Gemüter, welche jetzt bei uns beginnen soll, ist bereits zu beobachten; denn während die Leute alle Fehler ihrer Mitmenschen scharfsinnig besprechen, bauscht sich ihr eigenes Selbstgefühl auf und sie ziehen am Abend tugendhaft und erhoben nach Hause. – Wer ist der Fremde, der hier umherstreicht, er scheint Sie scharf ins Auge zu fassen.«

»Ich kenne ihn nicht,« versetzte der Doktor, »er ist wohl Gast eines Städters.«

»Er sieht mir nicht so aus,« sagte der Einnehmer, »ich will mich doch beim Kaffeewirt erkundigen, der kennt jedermann aus der Umgegend. – Dort sitzt auch der Hauptmann und trinkt unter den Bürgern so gemütlich Kaffee, als hätte er niemals einen Kriegszug gegen Störche gemacht; das beste an ihm ist seine Schwester.«

Am Waldrande in einer Ecke hatte sich die reduzierte Kriegsmacht gelagert, der alte Major, der Hauptmann und das Fräulein. Die Männer rauchten steif und ernsthaft und wechselten nur zuweilen kurze Reden, das Fräulein aber klapperte geschäftig mit den Tassen, und ihre Augen blickten fröhlich in die große Gesellschaft, denn sie hatte heut früh dem Bruder viele Groschen im Beutelchen gewiesen, die sie sich mit ihrer fleißigen Hand verdient, und hatte ihn und den Major als ihre Gäste eingeladen. Darum stand auch ein ganzer Teller Kuchen auf dem Tisch, und während sie eingoß, mahnte sie die Herren so dringend, das Backwerk nicht zu vergessen, daß der Major die Pfeife wegstellte und ritterlich nach dem Teller griff. Um den Bruder machte sie sich weniger Sorge, denn was nicht verzehrt wurde, packte sie in das Körbchen, und er mußte es morgen doch essen.

Während das Fräulein auf den artigen Gruß der vorübergehenden Freunde dankte, errötete sie ein wenig: »Der Herr Einnehmer weiß gewiß,« dachte sie, »daß ich seine Hemden genäht habe, er wird mich wegen des vielen Kuchens für eine Verschwenderin halten.« Aber als der Doktor sie freundlich anredete, gewann sie sogleich die Unbefangenheit wieder und sprach mit ihm in sicherer Haltung als eine kleine kluge Dame, die auch weiß, was ihr gebührt.

»Mich wundert,« sagte der Major, den beiden Freunden nachsehend, »daß unser Doktor sich auf diesen neuen Schwindel mit der Freikompagnie eingelassen hat.« Aus der Ferne puffte eine Salve. »Die Himmelhunde plackern«, brummte der Hauptmann und blies eine Wolke.

Und wieder eine Salve. »Wir wollen doch einmal das Kinderspiel ansehen«, rief der Major und erhob sich. Sogleich tat der Hauptmann dasselbe, das Fräulein packte schnell ihren Kuchen zusammen, und sie gingen zu drei nach dem Übungsplatz. Dort sahen sie eine Weile zu und vermehrten durchaus nicht das Behagen der Kompanie; denn der Unteroffizier wurde, seit er die großen Herren zu Zuschauern hatte, strenge und tadelsüchtig und verlangte Schweres von der Mannschaft. Die Offiziere, welche seit Jahren mit Tritt und Griff nur in ihren Träumen zu tun gehabt hatten, betrachteten die Sache vornehm und überlegen, aber doch mit steigendem Anteil. Endlich raunte der Major dem Assessor, welcher gerade bei ihm vorbeimarschierte, halblaut zu: »Gewehr anziehen!« Darauf ruckte auch der Hauptmann leise mit den Armen, um den Tritt der Kompanie gewissermaßen durch moralische Nachhilfe zu kräftigen, bis er endlich ausbrach: »Donnerwetter, Unteroffizier, lassen Sie die Leute Distanz halten!«

»Es wird dem Mann allein zu schwer«, bemerkte mitleidig der Major; und im nächsten Augenblick marschierten die Offiziere, jeder neben einem Zuge, auf dem Exerzierplatz umher, bis der Unteroffizier, stolz über solche Hilfe, in Linie aufmarschieren und das Gewehr präsentieren ließ. »Ein Vivat den Herren Offizieren!« Lustig schrie die Kompanie nach. Die beiden Herren dankten und sahen einander betroffen an. »Es ist doch zu nichts gut als zur Bewegung«, sagte der Major mit nachsichtigem Lächeln.

Der Schießplatz war aber seit alter Zeit auch deshalb berühmt, weil sich auf ihm dicht neben den wilden Waffentaten der Männer Holdes und Menschenfreundliches ereignete: zarte Annäherung, anmutiges Wiedersehen und dergleichen. Viele reichgesegnete Ehen waren dort eingeleitet worden, und die Hausfrauen führten ihre Kleinen gern unter die Linden, weil ihnen selbst die Stätte durch große Erinnerungen geweiht war, welche wie unsichtbare Blumengewinde um Bäume und Tische hingen.

Arglos stand Fräulein Minchen, von ihren Herren verlassen, unter den Zuschauern und beobachtete die kriegerischen Bewegungen mit besserem Verständnis als der Einnehmer, sie ahnte auch nichts von dem tiefen Mißtrauen, mit welchem dieser sie selbst betrachtete. Denn Herr Köhler erwartete jede Woche zu hören, daß sie als weiblicher Robinson mit der Flöte statt Sonnenschirm und mit dem Lama, ihrem Bruder, in die weite Welt gezogen sei. Endlich überreichte er ihr mit einer Verbeugung das Taschentuch, welches heruntergefallen war, und begann ein kleines Gespräch über Sonnenschein und Festfreude. »Da sehen Sie den neuen Bürgermeister selbst Soldaten spielen.«

 

»Er macht seine Sache recht gut«, sagte das Fräulein.

»Mit dieser Städteordnung kommen allerlei Ideen auf«, fuhr der Einnehmer fort; »nicht nur die Großen, auch die Kinder sollen auf neue Weise gedrillt werden. Der Bürgermeister hat die Absicht, für arme Mädchen, große und kleine, eine Art Schule einzurichten, wo sie allerlei Weibliches erlernen, und er fragte mich, ob ich jemanden wüßte, der gegen ein Entgelt, das freilich gering ist, eine solche Anstalt übernehmen würde. Eine Stube im Schulhause ist dafür bestimmt, und es handelt sich nur um die Lehrerin. Man wollte deshalb Sie um Ihren Rat fragen. Wissen Sie jemand nachzuweisen, so tun Sie ein gutes Werk.«

Das Fräulein sah den Einnehmer mit großen Augen an. »Sie haben dabei an mich gedacht.«

»Seit ich Sie damals im Kriege auf diesem Platze unter den Soldaten sah,« antwortete Herr Köhler, »glaube ich allerdings, daß Sie eine gute Lehrerin sein könnten, aber die Stelle Ihnen anzutragen, wird der Bürgermeister kaum wagen, da die Stadt gegenwärtig arm ist.«

»Ich bin auch arm,« sagte das Fräulein mit fester Stimme, »und eine sichere Einnahme, auch eine geringe, wäre für mich ein großes Glück. Wenn Sie meinen, daß ich brauchbar bin, so würde ich mit Freuden annehmen.«

»Es wären täglich zwei Stunden und außer den Festwochen nur einmal im Sommer Ferien.« Und dabei dachte er: Warte, Robinson, du sollst kein Kanoe behalten, auf dem du in der Ferne Abenteuer suchen kannst.

»Das würde ich gerade noch übernehmen dürfen,« sagte sie mit glänzenden Augen, »ich hätte dann noch Zeit genug für unsere kleine Wirtschaft im Hause.«

»Dann aber wird der Bürgermeister kommen«, schloß Herr Köhler gleichmütig, damit die Dankbarkeit, mit welcher sie ihn betrachtete, sich nicht in Worten ausdrücke. Und er empfahl sich mit weltmännischer Kürze. Er hatte kein gutes Gewissen, denn er selbst hatte längere Zeit intrigiert und gemahnt, bis der neue Magistrat, welcher die dringende Notwendigkeit solcher Schule nicht sofort begriff, zu dem Entschluß gekommen war.

Auch der Doktor konnte sich der geheimnisvollen Begabung des Schießplatzes nicht ganz entziehen. Zwischen ihm und dem Ackerwirt Krause war im letzten Jahre ganz besondere Wohlmeinung erwachsen, nicht durch das Vaterland allein veranlaßt. Auch heut hatte der Schützengast auf viele Fragen zu antworten: Liesel hatte das zweite taufen lassen, Bärbel erwartete das erste, und Henriette war tätig im Hause und für die Bedürftigen der Gemeinde besorgt, wie immer. Dennoch schloß Krause seinen Bericht mit Kopfschütteln: »Der Herr Senior ist als ein redlicher Mann und auch als getreuer Seelsorger in der Umgegend geschätzt, aber die Leute verdenken ihm jetzt, daß er von den Lieferungen an die Festung gänzlich befreit ist. Wenn die Kommandos der Franzosen durch den Kreis reiten, halten sie bei ihm an zu einem Frühstück und Glase Wein. Mehr als einer von den Eingepfarrten hat den Geistlichen mit diesen Leuten am Tische gesehen; deshalb schelten manche die Familie Franzosenfreunde. Meine Frau sagt, sie wisse am besten, daß man dem Senior und noch mehr dem Fräulein Unrecht tut, aber es ist kein Wunder, daß solches Gerede entsteht. Auch der Kirchenbesuch hat abgenommen.«

In dem stillen Pfarrgarten blühten wieder die Rosen, und durch das stachlige Geäst der Schlehen und Brombeeren schlüpften vorsichtig die Zaunkönige. Das erste Heimwesen hatte ihnen der Kater zerrissen, jetzt waren sie geschäftig bei der zweiten Brut, das Weibchen saß still auf dem Neste, aber der kleine Herr fuhr heimlich zwischen Ranken und Dornen dahin und trug Gutes für die Wirtschaft herzu; und wenn er einmal mit seiner feinen Stimme anschlug, antwortete kaum hörbar das Weibchen. Henriette, welche das leise Locken der Kleinen vernahm, rührte an die Stelle des Mieders, wo sie den letzten Brief des Doktors bewahrte. Wieder war Jahr und Tag vergangen seit jener Unterredung auf dem Wasser, noch immer lag das Verhängnisvolle schwer auf ihr, aber in ihr selbst war ein neuer Sommer erblüht, denn stolz fühlte sie sich als die Freundin und Vertraute des Mannes, der ihr lieb war. Von dem Inhalt seines Lebens war in das ihre übergegangen. Seine Hoffnung und Arbeit für das geknechtete Heimatland, vieles was er über den Weltlauf dachte und was ihm von Trauer und Freude bei Ausübung seines Berufes durch das Gemüt ging, das empfand sie mit, in ihrer Einsamkeit gehoben durch den Zauber dieser Bundesgenossenschaft. Nur selten hatte sie ihn gesehen, immer im Zwange größerer Gesellschaft, und nie hatte er in der Zeit etwas anderes zu ihr gesprochen, als was auch Fremde hören konnten, aber in seinem Blick und im Ton seiner Rede vernahm sie dasselbe, was aus allen seinen Briefen klang. Auch wenn er schrieb, vermied er, von seinen Gefühlen zu sprechen, die Leserin fand doch in jeder Zeile die treue Liebe.

Ein Postillon blies, die Extrapost fuhr im Hofe an, und Henriette eilte nach dem Hause. Sie traf die Eltern in Begrüßung eines Fremden, der das Deutsche wie ein Franzose sprach. Es war ein behender junger Mann, der keine Uniform trug, aber durch seine Haltung verriet, daß er Offizier war. Als der Vater die Tochter vorstellte, begann der artige Gast: »Es macht mich glücklich, die Huldigung, deren Bote ich bin, selbst an Mademoiselle ausrichten zu können, Major Dessalle hat mir aufgetragen, hier einzutreten und diesen Brief dem Herrn Pfarrer zu übergeben.« Der Senior brach auf. »Der Brief enthält nichts als die Mitteilung, daß Herr Dessalle befördert worden, und verweist im übrigen auf Sie, verehrter Herr.«

»Mir ist nur auf kurze Zeit das Glück zuteil geworden, in Paris mit dem Major zusammenzusein; er war mit Aufträgen aus Spanien an die Donau zum Kaiser gesandt und mußte nach seiner Audienz wieder über die Pyrenäen.«

»In das wilde Land und in diesen unbarmherzigen Kampf!« bedauerte gutherzig der Senior. »Vor Jahr und Tag empfingen wir einen ähnlichen kurzen Brief von Paris, worin er mitteilte, daß er aus Italien zurückgekehrt sei und zur spanischen Armee abgehe. Dies ist die erste Nachricht, die wir seitdem erhalten.«

»Das Schicksal des Soldaten!« antwortete mitfühlend der Franzose. »Ich ahne jetzt, wie schwer mein Freund die Entbehrung empfindet, welche ihm der Dienst auflegt.«

»Aber noch stehen Sie«, rief die Frau Pastorin. »Henriette, vergiß nicht die Sorge für unsern Gast.« Die Tochter eilte hinaus und preßte die Hand gegen ihr hämmerndes Herz.

Als sie den Wein hereinbrachte, war der Fremde in lebendiger Unterhaltung mit den Eltern. Sie schenkte ein; als ihr der Franzose ritterlich einen Stuhl heranzog, lehnte sie ab, ging mit dem Schlüsselbund hin und her, ihre Unruhe zu verbergen, blieb nur zuweilen am Tische stehen und hörte mit halbem Ohr Bruchstücke des Gespräches.

Der Ungarwein und die harmlosen Fragen des Seniors machten den Franzosen zutraulich: »Es tut wohl, endlich einmal wieder unter Gutgesinnten zu sein; auf den letzten Stationen hatte ich finstere Blicke und Ungefälligkeit zu ertragen.«

»Es ist ja jetzt Friede,« bedauerte der Pastor, »und wir beten, daß der schreckliche Krieg uns fortan verschone.«

»Nicht jeder in diesem Lande denkt so«, antwortete der Fremde, zog seine Brieftasche hervor und blätterte darin. »Kennen Sie einen Doktor König hier in der Gegend?«