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Die Ahnen

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Und doch wuchs durch die rastlose Sorge und Tätigkeit des einen Mannes in den Frühlingsmonaten eine Kompanie und Schwadron um die andere herauf.

Aber je rühriger sich die neugebildeten Truppen im Lande tummelten, um so argwöhnischer vermehrte auch der Feind sein Heer. Gegen jedes Tausend, das der Graf ins Feld schickte, konnte der Kaiser, der von den Pyrenäen bis zur Weichsel gebot, durch einen Federstrich zehntausend senden, und je lästiger die Zwerge in den Bergtälern wurden, um so heftiger begehrte der Riese in der Ebene das Ende und die Bewältigung des Widerstandes.

Das sagte einst der Doktor dem Gouverneur, als er neben ihm auf einer Bastion stand und in die anmutige Sommerlandschaft hinabsah. Der Graf heftete seinen Blick auf den fernen Horizont: »Nicht bei uns liegt die Entscheidung, aber was wir von den Feinden auf uns ziehen, halten wir dort ab, wo unser Schicksal entschieden wird. Ob Österreich sich entschließt, uns zu helfen, ist noch immer die Frage; nur solange wir Preußen hier in diesem Lande von uns reden machen, können wir auf die Hilfe hoffen. Und ist bei einem Friedensschluß die Provinz mit allen ihren Festungen in der Hand des Feindes, so dürfen Sie annehmen, daß Schlesien für Preußen verloren ist, und dann ist unser Staat selbst verloren. Da haben Sie drei Gründe dafür, mein Freund, weshalb unsere Husaren wieder ausreiten, um den Franzosen die Wämser zu klopfen.« Er wies auf den gewundenen Weg, auf welchem Reiter und Fußvolk hinabzogen. »Heut müssen Sie mir gestatten, daß auch ich den Ritt mitmache, wir gedenken einen guten Fang zu tun.«

Am Abend bliesen die heimkehrenden Husaren Fanfare; der Graf hatte in einem ernsten Gefecht dem Feinde herben Verlust zugefügt und führte eine ansehnliche Zahl Gefangener mit sich zurück. In einem bayrischen Major, der gefangen neben dem Grafen einritt, erkannte der Doktor denselben Offizier, welcher früher ihn und den Rittmeister auf der Landstraße angehalten hatte. »Jetzt ist es an uns, Ihnen zu danken«, rief er bei der freundlichen Begrüßung. Da auch der Rittmeister das Seine tat, so fehlte es dem Bayern nicht an Bequemlichkeit und Gesellschaft. Der Major erwies sich als wackrer Mann von Ehre, und die Besuche des Arztes wurden für beide angenehm.

»Kennen Sie einen französischen Hauptmann Dessalle?« fragte einst der Doktor.

»Sie nennen einen Namen, der uns Bayern sehr lästig geworden ist«, antwortete der Major. Er erzählte mit Zurückhaltung von dem Zweikampf, und was der Doktor sonst schon wußte. »Wir Bayern sind in die Notwendigkeit versetzt, Erklärungen von ihm zu fordern. Meine Landsleute, an denen er zum Ritter geworden ist, waren so sehr im Unrecht, daß wir uns schämen müssen, und es wäre ganz in der Ordnung gewesen, wenn der Prinz Jérôme oder der Kaiser die strengste Bestrafung der Schuldigen, soweit diese noch am Leben waren, gefordert hätten. Das aber hat man nicht getan, dagegen hat der Prinz in Gegenwart eines bayrischen Generals vor einem großen Kreise die Geschichte von der Verlobung erzählt und dabei den ritterlichen Franzosen bis in den Himmel erhoben; und uns Bayern bleibt nur übrig, diesen Herrn mit dem Säbel zu begrüßen, sobald wir seiner habhaft werden. Glauben Sie mir, Doktor, auch unter uns sind viele, welche es für einen traurigen Krieg halten, wo Deutsche gegen Deutsche kämpfen und für Fremde einander totschlagen; wir für die Franzosen, und Sie für die Russen, denn beide haben wir von den Fremden Hinterlist und Tücke zu erwarten. So klagte der Bayer.

Mit gemischten Gefühlen vernahm der Doktor, daß jene Stunde im Pfarrhause auch über die Zukunft seines Gegners dunkle Schatten warf.

Aber der Doktor sollte noch von anderer Seite an den Fremden erinnert werden.

In der Tür einer Weinstube der Stadt traf er auf einen Husarenoffizier, dem ein jüdischer Händler gerade einen Brief zusteckte. »Komm zu uns herein, Bruder Doktor,« rief der Offizier mit hartem polnischen Akzent, »sind wir alle gerade lustig.« Da die Aufforderung von einem Liebling des kleinen Heeres kam, so folgte der Doktor der Einladung und saß in der fröhlichen Gesellschaft nieder. Der Offizier neben ihm zog den Brief aus der Tasche und lachte. »Dies hat mir der Jud zugesteckt, es kommt von einem alten Bekannten von mir, der im Stabe des französischen Generals ist. Bevor ich den Brief dem Gouverneur abgebe, will ich ihn selber lesen.« Er brach auf und lachte wieder. »Schreibt mir Ossowski kuriose Sachen. Kaiser will mir ein polnisches Regiment geben und mich zum Obersten machen, wenn ich hier quittiere und hinüberkomme. Ich werde sogleich antworten; Wirt, geben Sie eine Feder!« Und er malte auf einen Zettel mit großen Buchstaben: »Mein Herr, Sie haben mir auf polnisch geschrieben, ich habe als preußischer Offizier verlernt, auf polnisch zu antworten. Darum schreibe ich Ihnen deutsch, daß ich den für einen verdammten Kujon halte, welcher einem Preußen solchen Antrag macht; wenn ich Sie einmal finde, werde ich Ihnen das mit meinem Säbel beibringen! Mit gebührender Hochschätzung bin ich Ihr ergebener.« Er gab den empfangenen Brief und seine Antwort dem Adjutanten. »Schaffe das zu den Franzosen, lieber Bruder, und mache eine Adresse!«

Die Kameraden lachten und sammelten sich um den ehrlichen Gesellen. Und ein Husarenstreich nach dem andern kam zum Vorschein. Endlich sagte der Pole: »Dabei fällt mir ein, daß ich ohnedies schon einem Franzosen versprochen habe, mich mit ihm zu hauen, wenn wir einander treffen. Das war so. Im Winter streifte ich an der polnischen Grenze, und ich kam bis an die Straße, die durch Polnisches nach Ostpreußen führt; dort legte ich mich, wie Kater tut, auf die Lauer. Die Schwadron versteckte ich im Walde und zog mich mit wenigen Husaren quer über Feld zu einem einzelnen Wirtshaus, daneben war nur Scheune und Stall, nach beiden Seiten offene Straße. Ich postiere also einen Mann auf die Leiter, die am Dach der Scheune lehnt, und sperre den Kretschmer und sein Weib in den Keller. Die Pferde fressen zwischen Hof und Scheune aus dem Futterbeutel, und die Mannschaft sitzt daneben. Wir waren Tag und Nacht durch Wälder gezogen, Pferd und Mann sehr herunter. Ich aber gehe in das Haus und suche in der Kammer neben der Schenkstube, ob ich eine Schüssel finde, und ziehe mich schnell aus, um mich zu waschen, was überaus nötig war. Meine Husaren geraten unterdes über ein Fässel Branntwein und machen sich in größter Eile alle naß, wie Fliegen in Buttermilch. Auf einmal entsteht ein Getrappel und Geschrei, und bevor ich in die Kleider komme, höre ich die Stubentür aufgehen; ich schiebe also leise den Riegel vor die Kammertür und gucke durch den Ritz. Ein französischer Offizier tritt in die Stube, er hat einen Arm in der Binde und Pistole und Kuriertasche in der linken Hand. Zuerst sieht er sich argwöhnisch um, weil aber nichts in der Stube unordentlich ist, legt er Pistole und Tasche auf den Tisch und untersucht mit dem Säbel das Bett. Ich fahre wie ein Blitz hinter seinem Rücken aus der Kammer, packe die Tasche und halte ihm meine Pistole an das Ohr, wie er sich gerade herumdreht. Den Säbel konnte er, da ich ihn an das Bett drängte, mit seinem gebundenen Arm nicht ziehen. So war er einen Augenblick wehrlos in meiner Hand und sagte ruhig: ›Schieß!‹ ›Nein,‹ antwortete ich auf französisch, ›ich halte die Tasche, Sie halten meine Leute, wir tauschen, und machen Waffenstillstand!‹

›Gut! Auf Parole,‹ sagte er. ›Ich bin Kapitän Dessalle und wer sind Sie?‹ – Hatte ich keine Hosen an und schämte mich deshalb, den Namen eines preußischen Offiziers zu nennen, so sprach ich: ›Leutnant Brummteufel von Bila-Husaren, wegen der Reinlichkeit im Hemde.‹ Ich gab die Tasche in seine Hand, und er ging an die Tür und befahl seiner Mannschaft, meine Schlingel freizugeben. Darauf zog ich mich schnell an, er ließ eine Flasche Wein aus seinem Mantelsack bringen, wir saßen einander gegenüber und tranken; beim Abschied sagte er: ›Mein Herr, heut bin ich Ihnen etwas schuldig geblieben, ich bin gewöhnt, meine Schulden zu bezahlen, treffen wir uns wieder im Krieg oder Frieden, so hoffe ich, nicht verhindert zu sein, die Waffen zu gebrauchen. Dann werden Sie mir Genugtuung geben.‹ ›Ich bin immer zu Ihren Diensten,‹ sagte ich, ›und mein wirklicher Name ist Witowski.‹ Er grüßte noch mit der Hand und ritt dorthin und ich dahin. Am Abend aber holte ich meinen Husaren Futter und Brot aus der Schenke.«

Näher rückte der Feind und enger wurde der Kreis, in welchem die preußischen Fahnen wehten. Wenn es einmal gelang, den Gegner durch kühnen Angriff zurückzuwerfen, so kehrte er verstärkt wieder. Bei kleinen Unternehmungen waren die neugebildeten Kompanien und Schwadronen fast immer glücklich, bei größeren versagte die Kraft. Schon waren von den vier Festungen, über welche der Generalgouverneur gebot, zwei belagert, und der Fall der einen, des wichtigsten Waffenplatzes stand bevor. Vergebens sandte der Graf Boten und Befehle durch den Ring der Belagerer, um den Kommandanten zur Ausdauer zu veranlassen, vergebens ersann er einen verzweifelten Zug seines kleinen Heeres hinaus in die Ebene, um die Festung zu entsetzen; das Wagnis gelang nicht, er selbst hatte es wohl kaum gehofft. Unterdes lag er, vom Fieber geschüttelt, auf dem Lager, aber seine Energie, mit welcher er festhielt, was er noch in Händen hatte, und die behende Kraft, mit welcher er neue Hilfsmittel ersann, wurden nicht vermindert. Wenn der Doktor die schnellen Atemzüge und den glitzernden Schein der Augen beobachtete, da fühlte er herzliche Hochachtung vor einer Hingabe, die immer das Vaterland im Auge, das eigene Leben für nichts achtete, und vor einem Geiste, welcher der Schwäche des Leibes so siegreich widerstand. Als der Graf in einer solchen Stunde nach einem schmerzlichen Seufzer den teilnehmenden Blick des Arztes auffing, begann er: »Ich bin nicht mutlos, Doktor, aber traurig. Daß wir nicht hier sind, um Siege zu erfechten, und daß wir zuletzt untergehen müssen, wenn nicht ein erbarmendes Geschick von außen Hilfe sendet, das haben wir immer gewußt. Auch darauf bin ich gefaßt, daß unser Nachbar Österreich nach den letzten Ereignissen noch weniger geneigt sein wird, uns zu helfen, als er früher war. Was mir in der Stille zusetzt, das ist der Verlust an guten Kameraden und getreuen Herzen, den ich fast täglich erfahre. Solche Empfindung steht im Kriege einem Manne, der den Befehl hat, übel an, und vollends bei meiner abenteuerlichen Stellung ist sie eine Schwäche. Aber einen nach dem andern sehe ich fallen und verderben. Gerade in dem kleinen Krieg trifft das Schicksal die Bravsten, sie alle spielen bei ihren Wagnissen mit Tod und Teufel; dem Schlauen gelingt es fünfmal, und wenn er ein unerhörtes Glück hat, zehnmal, zuletzt fällt die Karte doch gegen ihn. Von meinen Getreuesten, die Sie fanden, als Sie hier ankamen, wie wenige sind noch übrig? Im großen Kriege verschwindet das Leben des einzelnen in der Masse; bei unserem Freibeuterkampfe zählte ich die Häupter, denen ich vertrauen kann und vermisse jedes, das aus dem täglichen Verkehr schwindet. – Auch der Schlaukopf ist dahin, mein Geschäftsreisender, der unermüdlich durch das Land zog und mit gewissenhaften Einnehmern seine Geschäfte machte; er hat uns zuweilen geholfen, wenn der letzte Pfennig ausgegeben war. Zuletzt wollte er auch einmal auf eigene Faust Krieg spielen und raffte sich einige Mannschaft zusammen. Dabei vertraute er zu sehr seinem Glück und kam in die Hände des Feindes. Neulich, als wir den bayrischen Major fingen, saß er als Gefangener in Zivilkleidern gebunden auf einem Karren, an welchem unsere Husaren vorüberjagten. Es wäre leicht gewesen, ihn loszuhauen, jetzt muß ich durch allerlei Kunststücke die Courtoisie der Franzosen wachrufen, damit diese uns nicht den armen Burschen als Spion abtun.«

 

In den nächsten Tagen wurde der Gouverneur von dem neuen französischen General, einem der nichtswürdigsten Werkzeuge des Kaisers, zur Verhandlung hinausgeladen auf das Feld inmitten der beiden Heere. Mit kriechender Höflichkeit begann der Franzose die Unterredung, in welcher er zur Übergabe mahnte, denn er wollte sich gern bei seinem Kaiser den Ruhm sichern, daß er den hartnäckigen Widerstand des Gegners bewältigt habe. Da ihn aber der feste Widerstand des Grafen reizte, brach die rohe Heftigkeit seines Wesens heraus. Er schrie, daß das preußische Heer des Königs geschlagen und vernichtet, der König selbst verschwunden sei: »Dies Königtum hat aufgehört, die jetzt noch widerstehen, sind nichts als Räuber und Mörder.« Er forderte die Offiziere auf, den unsinnigen Mann zu verlassen, der sie ins Verderben führen würde, er drohte, das Gut des Gouverneurs, das dieser in der Grafschaft hatte, niederzubrennen, die Familie desselben der Wut der Soldaten preiszugeben und ihn selbst an den Galgen zu hängen. Wohl niemals hat der Stellvertreter eines Königs solche Sprache ertragen. Die preußischen Offiziere griffen an ihre Waffen, um den frechen Franzosen niederzuhauen, der Graf trat dazwischen, wehrte dem Eifer und schied mit den Worten: »Wir respektieren in Ihnen den Vertreter Ihres Kaisers, aber wir verhandeln mit solchem Manne nicht mehr.«

Als der Gouverneur am Abend erschöpft auf dem Lager lag, und sein Vertrauter ihm sagte: »Wie der Franzose die gleißende Höflichkeit aufgab und durch seine Drohungen Sie in Ihrem innersten Leben kränkte, da erkannte ich, wie schwer es ist, die innere Empörung für das gemeine Wohl zu bändigen; ich hätte schwerlich der Versuchung widerstanden, den schlechten Mann niederzuschlagen oder gleich einem Hund wegzustoßen.«

»Loben Sie meine Zurückhaltung nicht,« sagte der Graf, »denn ich fühlte in diesem Augenblick tief die Demütigung, daß ich nicht als freier Herr ihm gegenüberstand, sondern als Diener eines Staates, der nicht in der Lage ist, seine Vertreter vor solcher Beleidigung zu schützen. Hätte ich aber dem Franzosen geantwortet, wie er verdiente, so wäre das dem Kaiser sehr willkommen gewesen, denn er hätte darin eine Veranlassung gefunden, über Verletzung des Völkerrechts und der französischen Ehre zu deklamieren und den Frieden, welchen er widerwillig und mit argen Hintergedanken, nur aus Rücksicht auf andere Mächte, uns bewilligen muß, zu erschweren. Er weiß heute so gut wie wir beide, daß zwischen uns und ihm ein ehrlicher Friede unmöglich ist, für ihn steht die Frage nur so, auf welchem Wege er uns umbringen soll, und für uns, wie wir seiner ledig werden. Er ist uns darin überlegen, daß er in seiner klaren Entschlossenheit genau sieht, wie die Sachen stehen. Beten Sie, Doktor, daß nicht eine Wahrheit werde, was heut der arge Mann von dem Schicksal unseres Königs und des Heeres gelogen hat.«

Nicht alles wurde als Wahrheit bestätigt, aber die Entscheidung war bei Friedland gegen Preußen gefallen durch die Unfähigkeit oder Hinterlist des russischen Feldherrn. Die Kunde, welche der Graf bald vom Prinzen Jérôme erhielt und dem Heere verbarg, verbreitete sich doch mit seltsamer Schnelle. Nach diesem Schlage schwand den Soldaten die Hoffnung und der Mut.

Und der Kampf um die Festung begann. Der Graf hatte mit Aufgebot aller Kraft ein verschanztes Lager auf einer Höhe errichtet, deren Besitz für die Behauptung der Festung entscheidend war.

»Auch Sie erwarten in den nächsten Tagen einen Sturm des Feindes«, sagte der Doktor zu dem Rittmeister, welcher einsilbiger als sonst an seiner Seite ging.

»Mich kränkt‘s, daß Sie mich gerade in der Arbeit haben, Doktor, und daß ich nicht dabei sein kann. Es ist eine gute Disposition, die der Graf für die Verteidigung jener Höhe dort gemacht hat, aber nach meinem Husarenverstand mutet sie unseren Offizieren und Soldaten allzuviel zu, denn alles bei uns ist noch zu locker. Wer unsern Gouverneur kennt wie Sie und ich, der muß ihn lieben und verehren bis zur Schwärmerei, und ich kenne keinen Mann auf Erden, der so rein und ohne Rücksicht auf sich selbst für seinen König und für andere lebt. Er ist hier wie die Sonne, die uns allen die Kraft zum Leben gibt, er allein, so daß, wenn er uns verlorengeht, in demselben Augenblick alles auseinanderfällt. Er hat nur eine Schwäche, er beurteilt uns alle im Grunde zu günstig. Beachten Sie seinen Blick, er sieht immer still verklärt in die Ferne, das große Ziel hat er fest im Auge und erfinderisch wie ein Dichter ersinnt er hundert Wege und Auskunftsmittel, um dahin zu gelangen, aber nicht so genau schätzt er die Hindernisse, welche ihm bei den nächsten Schritten in dem Wege stehen. Sein ganzes Wesen treibt ihn dazu, der Tüchtigkeit menschlicher Natur zuviel zu vertrauen, und trotz dem großen Scharfsinn, mit welchem er im ganzen die Sachen beurteilt, wird seine Rechnung zuweilen fehlerhaft, weil er die kleinen Reibungen und die Fehler seiner Werkzeuge nicht genug berücksichtigt.«

»Wie vermöchte er dieses Leben auszuhalten,« versetzte der Doktor, »die Unsicherheit, die ganz unerhörte Stellung eines Diktators, wenn nicht ein Zug von Begeisterung und sanguinischem Glauben in ihm wären? Und ich ahne, daß er auch von den Menschen, die ihn umgeben, manches kennt, was er allen verbirgt. Unser bayerischer Freund sagte mir, als er ausgewechselt wurde, beim Abschiede: ›Ich lasse Sie mit Bedauern hier zurück, denn die Braven hier sind alle verraten und verkauft.‹ Darauf erzählte er, daß ihm hier vielerlei für die Franzosen mitgeteilt worden sei, ›einiges Schriftliche habe ich verbrannt,‹ schloß er, ›denn ich habe nicht vergessen, daß ich ein Deutscher bin, und will mich, wenn ich Sie auch als ehrlicher Soldat bekämpfen muß, nicht zum Angeber gegen die Fremden machen.‹«

»Sie haben das doch dem Gouverneur mitgeteilt?« fragte der Rittmeister.

»Hören Sie, was er mir antwortete: ›Wenn man mich mit Schillers Räuberhauptmann verglichen hat, so wissen Sie jetzt auch, daß die Herren Spiegelberg und Schufterle unserer Gesellschaft nicht fehlen.‹«

Ein hoher Stabsoffizier schritt über die Bastion, ein älterer Mann mit einem hageren, bronzefarbenen Gesicht und finsteren, scharf geschnittenen Zügen. Der Doktor und der Rittmeister salutierten; als er vorüber war, stieß der Rittmeister mit innerem Abscheu seinen Säbel auf den Stein. »Das ist er, und er ist vielleicht nicht der einzige.«

»Wie ist es möglich, daß der Graf solche Menschen im Amte duldet, wenn er sie für Verräter hält?« fragte der Doktor bestürzt.

»Er hat sich lange geweigert, den Verdacht gegen sie aufkommen zu lassen, obgleich ihnen niemand traute. Jetzt endlich überwacht er sie. Aber dieser und noch ein anderer haben höheren militärischen Rang als der Graf selbst. Als Stellvertreter des Königs kann er sie, sobald ihr Verrat erwiesen ist, verhaften, im äußersten Fall erschießen lassen, aber so lange er keinen Beweis gegen sie hat, darf er ihnen den Befehl nicht nehmen. Der Gouverneur hat getan, was ihm ganz widerwärtig ist, dort oben in dem Bureau hat er einen geheimen Polizeidienst einrichten müssen, um Beweise gegen die höchsten Offiziere seiner eigenen Garnison zu finden. Es ist ihm bis jetzt nicht gelungen, und glauben Sie mir, das ist seine unablässige Sorge.«

Der Sturm auf das verschanzte Lager hatte begonnen, unter dem rollenden Donner der Geschütze und dem Knattern der Musketen eilte der Doktor zu dem Verbandplatz für die Verwundeten. Jetzt hörte und sah er die Schrecken, welche der Zweikampf der Völker jedem einzelnen bereitet, aber anders als vor einem halben Jahre empfand er das Furchtbare des Krieges, und auf alles gefaßt, sagte er sich: »Wunderlich ist es, daß derselbe Kriegssturm, welcher das Beste im Manne lebendig macht und das Höchste von ihm fordert, zugleich und oft in derselben Seele das Widerwärtigste und Gemeinste großzieht, rohe Wildheit, Geldgier und alle Laster, welche erwachen, wenn die alte feste Ordnung seines Lebens aufhört. Das Erhabenste ist zugleich auch das Schrecklichste, und mit dem Göttlichen in uns wird auch der Teufel mächtig.« Bald nahm die Sorge um die herbeigetragenen Verwundeten ihn völlig in Anspruch.

Am Abend drängten sich die geschlagenen Kompanien mürrisch und mutlos durch das Tor. Die Festung wurde belagert und die Rechnung ging jetzt um den Tag, an welchem sie fallen müsse.

Der Diener hatte den Tisch mit dem Abendessen des Doktors, wie er pflegte, an das Bett des Grafen gerückt, da begann der Kranke: »Ich muß mich Ihrer freuen, solange ich Sie habe. Was jetzt noch zu tun bleibt, ist das schwerste von allem, und doch so widerwärtig, daß niemand es loben wird.«

»Sie werden tun, was Ihre Pflicht ist,« sagte der Doktor, »nicht jede Pflichterfüllung wird durch den Beifall der Lebenden und der Späteren gerühmt. Ich bin gelehrt, daß man bei solcher Erfüllung niemals an den Beifall der Menschen denken soll, nur darauf, daß man der Mahnung des eigenen Gewissens und vernünftiger Erwägung folge.«

»Das ist eine strenge Lehre, mein Freund; auch die Besseren sorgen, vielleicht nicht um den Beifall der Menge, aber doch um die gute Meinung solcher, die ihnen wert sind. Wir Soldaten vollends, bei denen Befehl und Gehorsam so schonungslos sind, brauchen einen starken äußeren Antrieb, damit wir unsere Pflicht tun; der Soldat vermag Anerkennung und Ruhm nicht zu entbehren, und ebensowenig die Furcht vor Strafe, und die höheren Offiziere bedürfen diesen Sporn noch mehr als andere. Wenn Sie fragen, woher es kommt, daß in diesem Jahre gerade unter den Hohen unserer Armee soviel offene Schwäche zutage trat, die bis zum Verrat ging, so gibt es darauf eine kurze Antwort: weil sie vor ihrem guten Könige keine Furcht hatten. Ein General und jeder, der selbständiges Kommando führt und despotisch gebietet über Untergebene, muß im Grund seiner Seele unablässige Scheu hegen vor dem Stirnrunzeln seines Herrn, und dahinter vor Festung oder einer Kugel.«

»Ich selbst bin jetzt in der Lage, an eine Verurteilung und Festungshaft für mich zu denken«, fuhr er mit traurigem Lächeln fort: »Denn, Doktor, es geht mit uns zu Ende. In dem Pulvermagazin fehlt das Pulver, man hat mir seit Monaten falsche Bestände angegeben; ein unsichtbarer Feind hat sich beeilt, diese Hiobspost und andere hier zu verbreiten; den Leuten ist der Mut gebrochen, sie wissen, daß wir nicht mehr imstande sind, ernstem Angriff zu widerstehen. Bedauern Sie mich, denn mir ist auch die letzte Ehre des Soldaten versagt, diese Festung bis zum letzten Laib Brot und zur letzten Patrone zu verteidigen. Ich bin nicht zum Kommandanten der Festung bestellt, sondern zum Gouverneur des Landes. Meine Provinz ist klein geworden, aber außer diesen Steinen habe ich noch einige andere dem Feinde streitig zu machen, und erst auf dem letzten darf ich vergessen, daß ich meinen König und den Staat noch in andern Sachen zu vertreten habe als in militärischen. Dann erst darf ich die Scheide wegwerfen und an nichts denken, als an einen ehrlichen Soldatentod. Jetzt sollte ich diese Festung der Ehre ihres Kommandanten anvertrauen, aber dieser würde morgen dem Feinde das Tor öffnen und dadurch die Wochen, die ich noch gewinnen kann und auf die jetzt alles ankommt, zugunsten der Franzosen preisgeben. Deshalb werde ich die Demütigung einer Übergabe auf meinen Namen nehmen.«

 

Da vergaß der Doktor seine eigene Philosophie und rief in tiefem Schmerz: »Herr des Himmels, soll eine Übergabe auch hier das Ende sein! Unermeßliche Mühe und Arbeit haben Sie aufgewandt, uns allen sind Sie ein Vorbild geworden der Hingabe an Amt und Beruf. Ihrem Beispiel verdanke ich, daß ich erkannt habe, was ein Mann seinem Vaterlande schuldig ist, und jetzt sollen Sie demselben Schicksal verfallen wie die Schwachen und Schlechten, die anderswo den Befehl hatten? Und Sie sollen nicht unterliegen im ehrlichen Kampfe gegen den Feind, sondern durch elenden Verrat und durch die Gemeinheit anderer? Wahrlich, das ist ein fürchterliches Geschick. Die Ehre, die sich um Ihr Haupt gesammelt, soll Ihnen in der Meinung der Menschen genommen werden durch den Zwang kleiner und nichtswürdiger Verhältnisse.« Er wandte sich in seiner Bewegung ab.

»Sagten Sie nicht soeben,« begann der Graf mit weicher Stimme, »daß man die Pflicht tun soll ohne Rücksicht auf den Beifall der Menschen und nur das eigene Gewissen und vernünftige Urteil anhören?«

»Das habe ich gesagt; ich weiß wohl, daß Sie so handeln werden; aber das Volk bedarf auch Beispiele von Tugend und Größe, die ihm das Herz erwärmen. Und es wird krank, wie wir geworden sind, weil uns so sehr die Männer fehlen, deren Wert man mit Begeisterung empfindet. Sie waren der Mann, meinen schlesischen Landsleuten in finsterer Zeit ein solches Vorbild zu werden, und für mich ist es furchtbar, daß Ihnen durch ein ruhmloses Ende dieses Kampfes die Krone geraubt wird.«

Der müde Mann erhob sich und sprach leise: »Seien Sie ruhig, mein Freund. Was ich bis jetzt nur meinem König vertraut habe, sollen Sie erfahren: ich übergebe die Festung nicht. Wenn ich mit dem Feinde das Übereinkommen schließe, ihm die Tore an einem bestimmten Tage zu öffnen, so tue ich dies, um Zeit für die Verteidigung zu gewinnen. Gegenwärtig sind wir durch Verrat und Entmutigung wehrlos gegen den drohenden Angriff, ich brauche einige Wochen, um das zu bessern. Nur durch den Vertrag mit den Franzosen habe ich die Möglichkeit gewonnen, mich mit unserm Könige in gesicherte Verbindung zu setzen. Diese Verbindung habe ich benutzt, ihn anzuflehen, daß er mir erlaube, nicht mehr sein Stellvertreter im Lande, sondern nur Kommandant dieses Platzes zu sein. Die übermütigen Feinde verletzen jeden Tag den Vertrag, den ich mit ihnen schloß, und jeden Tag darf ich ihnen das nichtige Schriftstück vor die Füße werfen. Und nun wissen Sie, was Ihrer Freundschaft tröstlich sein soll; wenn nicht Friede wird, sollen sie mich lebendig nicht haben. Wir bewahren, will‘s Gott, dem Könige unsere Berge, oder wir machen dem Feinde die Mühe, uns ein Grab zu schaufeln.«

Die Franzosen drängten, dem abgeschlossenen Vertrage zuwider, während der Waffenruhe näher an die Festung heran; der Graf, welcher unterdes die Schäden an den Werken, an den Vorräten und in den Gemütern seiner Soldaten gebessert hatte, schloß drohend die Tore und verkündete seinen Entschluß, am Ende der Waffenruhe die Feindseligkeiten wieder zu beginnen. Da kam der Friede. Sogleich bestand der Gouverneur darauf, daß die Feinde die Grafschaft und die nächsten Landkreise räumten, und er setzte seinen Willen durch.

Er hatte das Gebiet für Preußen behauptet.

Als der Graf die Bedingungen des Friedens erfahren, lud er eine Anzahl Männer zu sich, welche ihm persönlich nahegestanden hatten. Der Doktor fand einige Offiziere von der früheren Garnison, Offizianten, welche in den Bureaus arbeiteten, adlige Gutsbesitzer aus der Provinz, die in den letzten Monaten sich und ihr Vermögen für den Staat eingesetzt hatten. Der Graf erhob sein Glas, trank die Gesundheit des Königs und sagte: »Wir lassen andere trauern über den Vertrag, welcher jetzt als Friede den Völkern verkündigt wird; wir wissen so gut wie der Herr der Franzosen, daß dies nur ein Waffenstillstand ist, den beide Teile, wir und der Kaiser, gebrauchen, um aufs neue zu rüsten; wir wissen, und der Kaiser ahnt es auch, daß die Feindschaft zwischen ihm und uns eine tödliche geworden ist, die nur enden wird mit der Vernichtung des einen. Wir aber vertrauen dem gerechten Gott, daß wir die Sieger bleiben. Während die Waffen ruhen, bereiten wir uns für den neuen Kampf. Wir haben hier in Not und Enge wie Brüder miteinander gelebt, und treue Genossen bleiben wir einander, wohin uns auch das Schicksal führt. Groß, wie die Niederlage unseres Vaterlandes war, soll auch die Erhebung sein, jeder Preuße, der die Waffen tragen kann, soll ein Krieger werden. Und so scheiden wir voneinander als Männer, welche jederzeit bereit sind, ihr Leben hinzugeben für ihren König und für die Befreiung ihres Vaterlandes. Jeder von Ihnen sammle in dem Kreise, in dem ihn sein Beruf festhält, die Gleichgesinnten. Für mich aber erflehe ich von der Vorsehung als das höchste Glück meines Lebens, daß mir vergönnt werde, Sie wieder um mich zu versammeln an dem Tage, wo wir die Waffen zu neuem Kampfe gegen den bösen Feind erheben.«