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Die Ahnen

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»Was fällt euch ein, ihr Mädel, daß ihr mich heut so fremd anredet?« schalt Henriette. »Wir sind Dutzschwestern und vom Vater zusammen konfirmiert,« erklärte sie dem Gaste, »hier Bärbel, die Schulzentochter, und Liesel vom Freibauer; ihr Vater und wir grenzen mit der Flur. Sie denken, weil ein Herr aus der Stadt dabei ist, müssen sie vornehm reden. Kommt alle mit, wir führen den Herrn in den Garten.« Sie öffnete die Hintertür des Hauses.

Dort lag der Garten, zwischen dem Hause und dem Kirchhofe eingehegt, ein wohlgepflegter Raum mit geradlinigen Beeten, auf denen die Frühlingsblumen: Primeln, Narzissen und stolze Kaiserkronen in üppiger Pracht blühten. Dahinter lief die niedrige Mauer des Friedhofes, halb verdeckt durch Flieder- und Jasminbüsche, man übersah den Friedhof mit den einfachen Denkmälern, die der Landmann nach der Väter Sitte errichtet, und in seiner Mitte die alte Kirche mit ihren gemauerten Strebepfeilern, dem blauen Holzdach und einem spitzen Turm, dessen oberer Teil auch aus Holz gezimmert war. Henriette beachtete wohl, wie sehr dem Gast das kleine Landschaftsbild gefiel, und als er ihr das mit einfachen Worten sagte, wies sie auf eine große Geißblattlaube an der Seite.

»Hier sitze ich oft am frühen Morgen, überlege mir die Arbeit für den Tag und sehe wie der Turm und das Kirchdach vom Frühlichte erglänzen. Hier ist es immer traulich und still. Nur des Sonntags füllt sich der Friedhof mit den Kirchgängern aus unserer Gemeinde, mit großen und kleinen; dann summt die Unterhaltung zwischen den Kreuzen, denn die Leute, die sich hier treffen, haben einander viel zu erzählen, und die Kinder lassen sich schwer abhalten, umherzuspringen, sie klettern auf die Steine der Mauer, kauern dort wie eine Reihe Schwalben und gucken neugierig in den Garten.« Sie führte nach der Laube, nötigte zum Sitzen und bot den Gästen die Tassen mit dem geschätzten Tranke; dem Doktor aber trug sie, wie sich geziemte, die Pfeife herzu. Als er ablehnte, bat sie so freundlich, daß er nicht gänzlich zu widerstehen wagte und eine kleine Meerschaumpfeife herausholte, die ihn seit der Studentenzeit auf seinen Reisen begleitete. Dazu brachte er sein Feuerzeug, Stahl und Schwamm, aus der Tasche und suchte den Feuerstein. Das Mädchen, erfreut, helfen zu können, zog die Schublade des Tisches auf und reichte ihm einen schönen glatten Stein mit scharfer Kante. Und als der Gast das Stück aufmerksam betrachtete, sagte sie: »Wir finden dergleichen oft bei der alten Schanze, der Vater meint, es sind Naturspiele.«

»Der Stein ist doch wohl von Menschenhand geschliffen und geschärft; diese Art geformter Feuersteine wird an solchen Stellen gefunden, wo einst Gräber der alten Heiden waren. Man fängt an, solche Erinnerungen zu sammeln. Wenn Sie es erlauben, will ich mir den Stein zum Andenken aufheben.«

Da fragte das Mädchen in dem Wunsch, ihm etwas Liebes zu erweisen, ob sie ihm mehr von derselben Art geben dürfe.

Nun lag dem Doktor gar nichts an den Feuersteinen des alten Heidenvolkes, aber ihr Erröten, und der fragende Blick ihrer Augen waren so anmutig, daß er eifrig bejahte und sich wider alle Wahrheit für einen Freund von derartigen Kuriositäten ausgab, und die holde Freude, mit welcher sie seine Antwort aufnahm, beruhigte sein Gewissen vollends über die Lüge. Denn sie hob jetzt aus dem Innern des Tisches ein graues Säckchen an das Licht, klapperte lustig mit dem Inhalt und stellte es triumphierend vor den Doktor hin. »Da sind ihrer viele, große und kleine!« rief sie.

Zuletzt wurde durch andere Mittel die Pfeife in Brand gesteckt und die blauen Wölkchen kräuselten sich in der Laube und fuhren zwischen dem Geißblatt in den Bereich der Sonnenstrahlen. Die Bienen summten und die Vögel sangen wie vor tausend und aber tausend Jahren, die Herzen schlugen und die Menschen gewannen einander lieb, jetzt, wie in uralten Zeiten. Mitten im Gespräch sprang Henriette auf, »die Mutter!« rief sie. »Ich sehe schnell nach ihr. Meine Gespielen werden unterdes auf den Kaffeetisch achten, Bärbel sorge dafür, daß die Tasse des Herrn Doktors nicht leer bleibt!« Sie eilte davon. Der Gast saß mit den Bräuten zusammen. Es waren zwei dralle, tapfere Mädchen, beide hübsch, und beide saßen ihm im Bewußtsein ehrenvoller Gesellschaft steif und schweigend gegenüber. Nur Bärbel erhob sich zuweilen, sah ihm in die Tasse und setzte sich wieder fest auf ihren Sitz. Als der Doktor aber, durch einige Fragen nach den beiden Verlobten und dem neuen Hausstand das Eis gebrochen hatte, wurden beide auf einmal gesprächig und erwiesen sich als frohsinnige und gescheite Kinder. Und Bärbel vergaß über der Unterhaltung ihre Pflicht keineswegs, sowie der Herr etwas getrunken hatte, goß sie trotz seinem Proteste nach und tat ihm auch reichlich Zucker hinein, bis der Doktor endlich den Löffel über die Tasse legte. Diese Erklärung, daß er an der Grenze des Möglichen angelangt sei, wurde von ihr geachtet. Die Mädchen aber waren viel schlauer, als der Fremde ahnte, denn sie fingen an, verblümt von Mamsell Jettchen zu reden, indem sie zuerst die Kühe des Pfarrhofes lobten, welche unter Obhut des Fräuleins standen, und dabei erzählten, daß die reiche Pachtersfrau in der Nähe eifersüchtig war, weil sie es nicht dahin bringen konnte, daß ihre Kühe die gleiche Menge Milch gaben. Dann kam heraus, daß Jettchen beim letzten Erntekranz mit den beiden Bräutigamen getanzt hatte und daß sie sehr gut tanze, endlich, daß sie eine Nähschule für kleine Dorfmädchen halte; kurz, es war nicht die Schuld der beiden Bräute, wenn der fremde Herr eine geringe Meinung von Jettchen nach der Stadt mitnahm.

Henriette kam zurück, und die Mädchen erhoben sich zum Gehen. »Die Mutter hat mich fortgeschickt, sie bedarf meiner heut nicht mehr, die Frau Kantorin ist zur Pflege gekommen. – Alles, was hier blüht, Liesel und Bärbel, sollt ihr haben, soweit es sich zu der Hochzeit schickt.« Sie standen vor zwei großen Myrtenbäumen still, die nach sorgfältiger Winterpflege fröhlich ihr junges Grün trieben. »Von den Myrten schneid‘ ich euch so viel, als die Bäume entbehren können. Schickt den Tag vorher eure Brüder mit den Körben, die Brautkränze winde ich euch hier.«

Die Mädchen machten nicht viel Dankesworte, aber in ihren Mienen erkannte man die stolze Befriedigung, denn sie waren zumeist der Myrte und des Kranzes wegen gekommen und alles war ihnen wohlgelungen. Beim Abschied reichten sie auch dem Doktor die Hand und gingen mit schnellen Schritten über den Hof ihrem Dorfe zu.

»Sie heiraten beide in der nächsten Woche,« sagte Henriette, »und ich muß bei zwei Hochzeiten Brautjungfer sein. Sie bekommen beide gute Männer und sind selbst kreuzbrave Mädel, die immer auf sich gehalten haben.«

Vom Hofe klang das Gebrumm der Kühe. »Mir ist zumute,« begann der Doktor, »als wäre ich hier nicht fremd, denn auch ich stamme aus einem Pfarrhaus vom Lande.«

»Ihr lieber Vater war Pastor?« rief erfreut das Mädchen, denn der ansehnliche Herr wurde ihr dadurch auf einmal viel vertraulicher.

»Mein Großvater war es«, fuhr der Doktor, dem das Herz aufgegangen war, redselig fort. »Dieser war Geistlicher in einem märkischen Dorfe; er hatte eine gute Stelle und eine große Wirtschaft und das ganze Haus voll Kinder, denn er erzog neben den eigenen noch die seines verstorbenen Bruders. Dies Geschlecht hat sich über das ganze Land verbreitet bis nach Sachsen und in das Reich. Mein Vater war der jüngste Sohn. Er trat in königlichen Zivildienst und lebte längere Zeit in den polnischen Provinzen. Meine liebe Mutter starb, als ich noch klein war, und der Vater hat mich als sein einziges Kind erzogen. Seine Tage unter fremden und feindseligen Menschen vergingen einsam, viele Arbeit und wenig Freude, ich allein war es, für den der ernsthafte, stille Mann lebte. Und ich habe die Liebe eines guten Vaters so voll genossen, wie wohl wenig Kindern zuteil wird.« Das Mädchen sah, daß ihm die Lippen zuckten. »Mein kleines Bett stand neben dem seinen, und er selbst legte mich des Abends in die Kissen, dann faltete er mir die Hände zusammen und saß an meiner Seite, bis ich einschlief. Frühzeitig wurde ich der Vertraute von vielem, was ihm durch die Seele zog. Als ich in die lateinische Schule kam, machte er mit mir noch einmal das ganze Lernen durch und freute sich innig, wenn ich ihn in der Mathematik etwas lehren konnte, was er selbst vergessen hatte. Oft legte er den Arm um mich und hielt mich lange fest, und dabei sah er zufrieden vor sich hin. Noch jetzt, wenn ich allein bin, sehe ich sein Antlitz, die Augen voll Liebe vor mir, und fühle die Wärme in meinem Herzen. Als ich auf die Universität gehen mußte, war die Trennung für den Sohn sehr schwer, für den Vater wohl noch schwerer.«

Während er so erzählte, hatten sie sich auf eine Bank gesetzt, welche unweit der Kirchhofsmauer stand; die Sonne war untergegangen, zum letzten rosigen Widerschein der Wolken warf der Mond sein blasses Licht, und im dämmrigen Doppellicht glänzte die Natur.

»Sie aber mußten, da Sie noch jung waren, unter wildfremde Menschen! Das war doch das größere Leid.«

»Ich denke, allein zu sein im leeren Hause, in dem die Stimme des geliebten Kindes verhallt ist, war noch schmerzlicher. Ich fand auf der Universität ein sorgloses Treiben und gewann bald gute Kameraden, ich sah und hörte viel Neues und viel Schönes.«

»Mein Vater studierte in Königsberg, Sie aber gewiß in Halle, denn dort waren alle jüngeren Amtsbrüder des Vaters.«

»Ja, ich war dort,« rief der Doktor, und die Erinnerung an eine frohe Zeit erhellte sein Antlitz, »ich fand daselbst berühmte Lehrer und hatte zum erstenmal die Freude, ein gutes Theater zu besuchen, denn ich ging und ritt fleißig nach Lauchstädt, wo die Gesellschaft aus Weimar spielte. Und das wurde für mich der größte Genuß.«

Schüchtern setzte Henriette die Unterhaltung fort: »Die Komödie kenne ich aus unserer Hauptstadt, dort war ich zwei Jahre bei meiner Tante. Erst als meine Schwester heiratete, nahmen mich die Eltern hierher zurück. Dort habe auch ich gefühlt, wie schaurig schön die Kunst ist und wie sie die Seele erhebt. Denn ob sie zu weinen zwingt oder ob sie lachen macht, es ist immer eine Wonne.« Genau dasselbe war die Meinung des Doktors. Sie saßen auf der Bank, und jetzt schien der Mond über ihnen, er allein, die Sonne hatte ihm ganz das Feld geräumt; ruhig und freundlich sah er hernieder, wie einem Himmelskörper über einem Pfarrhofe schicklich ist, und er warf seine Strahlen durch das Baumlaub auf zwei junge Gesichter, die beide einander zugewandt und beide in heiterer Bewegung waren. Und während jedes dem andern herzlich in die Augen sah und auf die Worte lauschte, vergnügte sich der Mond damit, die alte verstoßene Mauer mit neuem Goldglanz zu bekleiden, die Steine des Kirchhofs, unter denen die Dahingegangenen so ruhig schlummerten, mit blendendem Weiß zu übermalen und sogar den alten grauen Kirchturm mit überirdischem Licht zu verklären, so daß die Fledermaus, welche von dem Dichter als Uhu erwähnt wird, wegen des ungewohnten Scheines mit den Augen blinzte.

 

Noch immer sprachen die beiden begeistert von der Komödie und freuten sich, daß ihr Urteil über das gemütvolle Stück »Die Jäger« so ganz übereinstimmte. Deshalb überhörten sie den Wagen des heimkehrenden Vaters und fuhren empor, als sie die Stimme des alten Herrn hinter sich vernahmen, welcher um Entschuldigung bat, weil er so spät kam.

Da der Senior vor der Abendkühle warnte, mußte der Gast in das Haus zurück, und Henriette eilte in die Küche. Noch einmal sah der Arzt nach der Kranken, dann kam das Abendessen, vergeistigt durch einen ausführlichen Bericht des Seniors über die trüben Schicksale, von welchen Katharine von Bora in ihren letzten Lebensjahren betroffen wurde. Der würdige Herr war über den neuen stillen Zuhörer so erfreut, daß er die Unaufmerksamkeit gar nicht merkte; denn für den Gast gab es nebenbei viel zu sehen und auch zu denken. Nach dem Essen noch ein herzlicher Abschied, und der Doktor fuhr in die stille Nacht hinaus.

Er sah glückselig vor sich hin. Den Liederklang, die sanfte und wehmütige Poesie, welche ihm sooft das Herz gerührt, hatte er heut als wirkliches Leben genossen. Da war das Getrümmer aus wilder Vergangenheit, um welches die Brombeeren rankten und dämmrige Schatten schwebten, daneben der ehrwürdige Friedhof und die Kreuze, an denen die Kranzgewinde in der Luft zitterten, das bemooste Turmdach, um welches im trägen Flug die Eule flatterte, alles durch die Abenddämmerung in geisterhaften Schleier gehüllt. Und dicht daneben das frische junge Leben des Mädchens, ihre rosigen Wangen, der warme Gruß ihrer blauen Augen, die unschuldige Sicherheit. So voll von Anmut, wenn sie vor ihm stand, im Strohhut und einfachen Brusttuch, noch anmutiger, wenn sie sich niederbeugte, eine Blume zu pflücken und wenn sie das Haupt neigte, um auf den Gesang der Nachtigall im Fliederbusch zu hören oder auf die Worte, die er selbst zu ihr sprach. Friedlich und gleichmäßig zwischen kräftigem Schaffen und sinnigem Träumen verlief ihr Leben, wie der klare Bach, der durch die Auen der Dichter fließt, so heiter war sie und doch so rührend, o Henriette!

Als der Doktor nach Hause kam, stellte er das Säcklein mit den alten Feuersteinen aus den Heidengräbern sorgfältig auf seinen Schreibtisch, ging eine Weile auf und ab und sah sich die Leinwand, an der eine liebe Hand geknüpft hatte, immer wieder an. Endlich setzte er sich nieder und schrieb noch in der Nacht an einen Universitätsfreund, den er in Koburg wußte und der ihm einst ein zierliches Bild in sein Stammbuch gemalt hatte, ob er ihm eine Abbildung der Feste verschaffen könne.

Dieser Anschlag gelang über Erwarten. Nach einiger Zeit traf mit der Post eine Rolle ein, in welcher ein hübsches Bild der Burg und Stadt lag, die der treue Freund selbst mit Wasserfarben gemalt hatte. Das Format war, dem Patriotismus des Koburgers gemäß, allerdings viel größer gefaßt, als der Doktor sich gedacht; doch ließ er das Bild einrahmen und wagte dazu einen innigen Brief an Fräulein Henriette zu schreiben, in welchem er sie bat, das Bild als seinen Dank für die Feuersteine zu betrachten und ihrem Herrn Vater an seinem Geburtstage aufzustellen.

Als nach einiger Zeit eine Kiste vom Dorfe eintraf, fand er darin mit stiller Enttäuschung nur einen Brief des dankbaren Vaters, welcher mit feierlichen Worten ausdrückte, daß dies schöne Bild ein Hauptschmuck seiner Stube geworden sei. Zugleich aber bat der Pastor im Namen seiner Tochter um Vergebung wegen Übersendung einer Beisteuer zum Haushalt, da das Dorf etwas Besseres nicht biete. Unter den Frühlingsblumen lagen wohlhäbige Kunstwerke der Küche und Wirtschaft. Und obwohl die Tiere, welche das Material dazu geliefert hatten, von dem Dichter nicht unter die poetischen Gebilde der Natur aufgenommen waren, so bemerkte der Doktor diesen Mangel der Sendung doch durchaus nicht. Er stellte zuerst die Blumen in ein Glas, ging mit ihnen aus dem Kerzenlicht nach der Nebenstube, in welche der Mond sein volles Licht warf, betrachtete den Strauß, wie er vom Monde beschienen wurde, stand lange am Fenster und blickte auf zum Nachthimmel. Aber zuletzt gedachte er doch fröhlich des Schinkens und der Würste. Und als er mit den Geschenken beim Abendessen saß, wurde er den Gedanken nicht los, wie wehmütig es war, daß er das Gute fern von der Spenderin verzehren mußte. So aß und trank er in heimlicher Sehnsucht; neben den Schein seiner Kerze malte das sanfte Himmelslicht ein schräges Bild des Fensters auf den Fußboden und er sah zuweilen liebevoll darauf hin. Er hatte das Abbild der Stätte, an welcher die großen Erinnerungen seiner Familie hingen, ausgetauscht gegen Gewöhnliches und Vergängliches aus dem Rauchfang, und er kam sich vor wie ein reicher und glücklicher Mann. O Henriette!

3. Es wird Krieg

Es sah nach Krieg aus. Zuerst wurde diese Möglichkeit an der bewaffneten Macht erkennbar, die Offiziere drillten eifriger, schritten noch stolzer als sonst durch die Gassen und wurden in der Weinstube lästig, weil sie mehr tranken und wetterten und allzuoft das französische Gesindel mit kräftigen Worten aufrieben. Auch unter den Honoratioren war die Heiterkeit geschwunden; es wurde viel leise geredet und es gab heftige Erörterungen. Der Stadtdirektor klagte über die Arbeitslast und der Einnehmer fand keinen Beifall, als er erzählte, der Hauptmann habe die Kompanie angelernt, nur immer geradeaus auf Napoleon loszurücken und diesen durch Pelotonfeuer zu erschießen.

Dennoch erschreckte die Nachricht, daß der Krieg erklärt sei. Wurde er auch, wie jedermann wußte, in weiter Ferne geführt, so handelte es sich diesmal doch um weit mehr, als um einen Marsch nach Polen. Die Kompanie sollte ausrücken. Die Offiziere hielten am Abend vorher mit einigen Bekannten vom Landadel ein festliches Gelage und die Soldaten empfingen von dem guten Willen der Quartiergeber eine letzte Mahlzeit. Am Morgen schlug der Tambour Reveille durch die Straßen und die Soldaten eilten aus den Quartieren, die älteren begleitet von ihren Frauen und Kindern, welche bitterlich schluchzten. Als sich nach langen Vorbereitungen die Kompanie in Bewegung setzte, schritten die Offiziere mürrisch und durch die schlaflose Nacht verstört dem Tore zu, und die Angehörigen der Kompanie drängten, das Geleit gebend, zu beiden Seiten. Auch die Schwester des Hauptmanns, das kleine Fräulein von Buskow, zog in ihrer schwarzen Enveloppe auf dem Bürgersteige vorwärts, um ihrem Bruder noch so lange als möglich nahezubleiben, und die Leute, welche wußten, daß sie heut das beste Recht hatte, wichen, wo sie ging, teilnehmend zur Seite. Die Soldaten aber brachen rechts und links aus und nahmen noch einmal von ihren Frauen und Mädchen Abschied, viele mit nassen Augen; nur die Polen unter ihnen, welche aus Südpreußen als Rekruten zugeführt waren, sahen gleichgültig geradeaus und hofften in der Stille auf eine Gelegenheit, dem verhaßten Dienst zu entweichen. Die Bürgerschaft aber, jung und alt, stand fast vollzählig auf der Straße oder an den Türen und rief den Scheidenden Grüße zu. Oft waren Offiziere und Mannschaft ihnen verleidet gewesen, heut dachten sie doch daran, daß die armen Leute in Gefahr und Tod gingen, viele Quartierwirte steckten ihren Soldaten auf dem Wege gefüllte Flaschen zu, und Fleischer Beblow versprach dem seinen noch am Tore zweimal wöchentlich Kost für Weib und Kind.

In den nächsten Wochen kam den Bürgern ihre Stadt still und leer vor; sie vernahmen nicht mehr die täglichen Signale der Garnison, nach welchen sie sich gerichtet hatten fast wie die Soldaten, und sie spotteten, daß alte Zunftgenossen, welche in ihrem Erwerb zurückgekommen waren, mit einem unförmlichen Säbel an der Seite den Wachtdienst bei den Toren versahen. Zuweilen kamen noch durchziehende Truppen, und lange Reihen von Proviantwagen rasselten auf dem Pflaster, auch die Schwadron, bei welcher der Baron stand, ritt durch die Stadt, und der Leutnant hielt vor der Frühstücksstube an, ließ sich ein Glas Wein auf das Pferd reichen, schleuderte das geleerte Glas großartig auf die Steine und jagte seinen Reitern nach. Doch blieb die Schwadron nicht lange aus; an einem Mittag war sie wieder da und zog langsam, ohne Begeisterung, in entgegengesetzter Richtung zurück. Täglich umstanden die Leute das Posthaus und drängten sich nach Briefen und Zeitungen. Aber in den Zeitungen war wenig zu lesen, nur zahllose Gerüchte kamen aus den großen Städten, meist Gutes verheißend; und wenn jemand auswärts gewesen war, liefen die Leute an den Wagen des Heimkehrenden und fragten ihn aus. Eine schwüle Erwartung lastete auf den Gemütern, jedermann hoffte, wenn er mit andern zusammen war, das Beste und redete tapfer, aber im geheimen fühlte jeder Zweifel und Bangen.

Der Doktor hatte das Haus des Seniors durch die ganze Zeit nicht besucht; ihn hielt das Zartgefühl ab, ungeladen in eine Familie zu treten, in welche er nur als Arzt gerufen worden. Einmal aber war er auf der Landstraße dem Wagen begegnet, worin der Senior mit seiner Tochter saß. Da war er von seinem Sitz gestiegen und hatte schnell in den andern Wagen hinein nach dem Befinden der Frau Pastorin gefragt. Es wurde nur ein kurzer Austausch von Frage und Antwort, aber der Vater lud zu einem Besuche ein, sobald ihn der Weg in die Nähe führe. Der Doktor sah in ein liebes Antlitz, hörte den Ton einer sanften Stimme und erkannte – durfte er sich‘s gestehen? – die Freude, welche Henriette bei der Begegnung fühlte. Das war für ihn ein glücklicher Tag gewesen. Dann kamen Kriegsgeräusch und Sorge. Jetzt ließ es ihm keine Ruhe, er mußte wissen, wie sie im Pfarrhause diese Wochen gespannter Erwartung verlebten.

Als er aus dem Wagen sprang, stand sie auf der Schwelle. Der Korb, den sie hielt, entglitt ihrem Arm, aber sie trat dem Gast gleich darauf mit strahlenden Augen entgegen. Keines wußte recht, was es bei der Begrüßung sagte, doch beide fühlten in der Unruhe sich so froh und glücklich, daß sie nicht das wilde Gebell des Hofhundes vernahmen und nicht die Frage des Kutschers, ob er ausspannen solle. Das Mädchen gedachte zuerst ihrer Pflicht, sie löste die Hand, welche er festhielt, aus der seinen, aber ihm war, als wollte sie ihn mit sich hineinziehen. Unterdes gebot die Stimme des Vaters: »Halte den Herrn Doktor nicht auf, wir sind auch da, ihn zu begrüßen.« Wie ein alter Freund trat er in das Haus, setzte sich vor allem zur Frau Pastorin, die er außer Bett fand, und empfing ihren Dank und ausführlichen Bericht über die besiegte Krankheit, während Henriette herantrug, was in einem gastfreien Pfarrhause für den Gast zu finden war. Der Doktor hing mit seinen Augen an jeder Bewegung des lieben Mädchens, und ihm kam vor, als schwebe sie gelöst vom Erdboden über die Schwelle. »Sie hat darauf bestanden, heut eine Babe zu backen,« sagte die Mutter zufrieden, »es muß ihr geahnt haben, daß ein lieber Besuch kommen würde.« Henriette nickte fast unmerklich mit dem Haupte. Der Senior dankte nochmals für das schöne Bild, welches jetzt prächtig über dem Sofa hing, und kam dabei natürlich auf Doktor Luther. Aber er setzte von diesem mit einem großen Schritt über drei Jahrhunderte in die Gegenwart, indem er ein aufgeschlagenes Buch vor den Doktor legte: »Dies ist unsere Bitte: Verleih uns Frieden gnädiglich, Herrgott, zu unsern Zeiten; es ist ja doch kein anderer nicht, der für uns könnte streiten.« Und da die Frauen gerade das Zimmer verlassen hatten, fuhr er leiser fort: »Wir sind hoffentlich sicher, daß der schreckliche Krieg nicht in unsere Nähe kommen wird?«

Der Doktor sah in den gefüllten Wirtschaftshof und über die Strohdächer der Scheunen und Ställe, und ihn überkam eine plötzliche Angst: »Es wird einem Preußen nicht leicht, die Möglichkeit anzunehmen, doch wenn Sie auch an das Unwahrscheinliche denken wollen, so erlaube ich mir die Frage, haben Sie nicht die Absicht, das Wertvollste der Habe und vielleicht auch Fräulein Henriette für einen solchen Fall in einer Stadt zu bergen?«

 

»Wir haben noch nicht daran gedacht,« antwortete der Senior würdevoll, »ich bin Ihnen aber dankbar, daß Sie daran erinnern. Meine Schwägerin in unserer Kreisstadt wird uns gern diese Sorge abnehmen; denn Sie haben recht, in der Stadt ist doch besserer Schutz.«

Diese Aussicht machte dem Doktor das Herz wieder leicht, und da Henriette eintrat, bat er: »Gönnen Sie mir die Freude und führen Sie mich in den Garten.«

Sie hing den Hut über den Arm, und beide eilten dem Vater voraus ins Freie.

»Als Sie bei uns waren, blühten die Rosen noch nicht«, sagte das Mädchen; »und jetzt sind sie dahin. Wenn ich im Sommer davorstand, dachte ich, Sie müßten die Blüte sehen, denn sie war dies Jahr schöner als sonst.« Sie hielt vor einem Bäumchen an, selbst so schön und begehrenswert, daß er, hingerissen, ihre Hand faßte; sie ließ ihre Hand in der seinen, und er fühlte das warme Leben, welches darin zuckte. So traten sie nebeneinander zum Garten hinaus und erstiegen die alte Schanze.

Es war ein kreisrunder Wall von mäßigem Umfang, er schloß auf der Innenseite einen vertieften Raum ein, der höher als das Land draußen und wohlgerundet wie ein Kessel war. »Hier führen Stufen hinab,« wies Henriette, als sie auf dem Rande standen, »der Rasen ist jetzt glatt. Als Kinder sind wir oft mit Freuden in die Tiefe gerutscht.« Und sie schwang sich behende vor ihm hinunter. »An dieser Stelle finden wir zuweilen Glücksblätter«, sagte sie in der Tiefe und blickte scharf auf den niedrigen Rasen. Endlich beugte sie sich hinab. »Hier ist Klee mit vier Blättern.« Vergnügt hielt sie ihm das grüne Blatt hin. »Nehmen Sie, es soll Ihnen Gutes bedeuten.« Der Doktor stand wie bezaubert, der Wallring umschanzte das liebe Mädchen und ihn gegen die ganze Welt, nichts war zu sehen als der Himmel, welcher wie eine lichtblaue Glocke über dem Ringe stand. Er nahm das Blatt aus ihrer Hand, und hingerissen von der heiteren Unschuld ihres Wesens und dem warmen Blick, mit dem sie ihn bittend ansah, neigte er sich zu ihr und küßte sie leise auf den Mund. Sie stand still und schloß einen Augenblick die Augen; aber gleich darauf sah sie mit rosigen Wangen wieder zärtlich zu ihm auf. Keins von beiden sprach. Sie hob den Strohhut vom Boden und führte den Gast die Höhe hinauf. Dort blickten sie von dem Wall herab in die helle Landschaft. Die Herbstsonne neigte abwärts, über die Stoppelfelder vor ihnen neigten sich weiße, glänzende Fäden wie ein dünner Schleier, dahinter sah man in der klaren Luft Dorf neben Dorf, bei jedem ragten die Dächer aus einem Kranz von Bäumen, deren Laub im Sonnenlicht wie bräunliche Bronze schimmerte, bis sich die letzten Baumgruppen wie ferne Inseln am dämmrigen Horizont verloren. »Ich zeige Ihnen auch die Gegend, wo Sie wohnen«, sagte das Mädchen. »Manchmal haben wir dort hinausgesehen und gefragt, ob Sie wohl einmal kommen würden. Der Vater war unsicher, ich aber dachte, Sie müßten doch nach der Mutter sehen.« Und fröhlich setzte sie hinzu: »Es war heut nicht der erste Kuchen, welcher für Sie gebacken wurde.«

Als sie in die Nähe des Friedhofs kamen, bellte ein Hund. An der Stelle, wo der Sage nach einst die Hütten eines Dorfes gestanden hatten, weidete der Schäfer eine kleine Schafherde. »Sie gehört uns,« erklärte Henriette stolz, »der alte Christian versieht sie mit seinem Knaben; er ist auch unser Wächter und muß einige Stunden des Tages ausruhen.« Der Alte stand zwischen wilden Schlehen und Brombeeren, den Rücken einem alten Gemäuer zugekehrt. Er nahm den Hut ab und gebot dem Hund, nicht durch sein Gebell zu stören. Henriette wies auf die Steine: »Das ist der Rand des verfallenen Brunnens, der, wie man sagt, einst mitten in einem Dorfe war. Der Vater ließ das Holzdach darüber zimmern, damit an den Kirchtagen nicht ein Kind darin verunglücke.«

»Guten Tag, Schäfer,« grüßte der Doktor, »Eure Herde darf auf einen guten Herbst hoffen, denn die Spinneweben hängen weiß über den Feldern.«

»Die einen weben Glück, und die andern verkünden Unglück,« antwortete der Alte, »und das Unglück wird mächtiger als das Glück.«

»Wer verkündet Unglück?« fragte der Doktor, ergötzt durch das feierliche Aussehen des Weissagenden. Der Schäfer antwortete nicht, er wandte sich zu der Tochter seines Herrn und wies mit dem Stabe nach dem Brunnen: »Sie geht wieder um!« »Redet nicht so etwas, Christian,« sagte Henriette unzufrieden, »Ihr wißt, der Vater kann es nicht leiden.« Wieder zeigte der Schäfer geheimnisvoll hinter sich: »Sie tut, was sie muß, und niemand kann es ihr wehren. Die aber am Leben sind, mögen sich wegen ihrer Warnung in acht nehmen.« Der Doktor sah seine Begleiterin fragend an. »Die Leute haben eine Scheu vor dem Platze, wo der Brunnen steht«, erklärte das Mädchen. »Es geht die Sage, daß sich zur Zeit des Schwedenkrieges, als das Dorf noch stand, ein Weib in den Brunnen gestürzt hat, um ihren Verfolgern zu entgehen.«

»Heut nacht war das Brunnenweib wieder da,« sagte der Alte; »vom Kirchhofe kam sie her, sie zog in langem weißen Gewande wie ein Rauch, und als ich nach dem Brunnen hinsah, war das Holzdach fort und eine schwarze Öffnung vorhanden, die Gestalt aber schwebte um den Brunnen, wirbelte in die Höhe und versank darin. Das kann auch der Herr Senior nicht fortschaffen. Meine Schafe wissen Bescheid, es geht selten eines bis zu den Steinen, und der Hund weiß es auch, er winselte die ganze Nacht.«

»Das Unheil ist bereits gekommen, Alter,« sagte der Doktor, »ein harter Krieg hat angefangen.«

»So erzählt man sich«, versetzte der Schäfer, entschlossen, nichts weiter zu berichten, und ging scheltend zu seinen Schafen.

»Auch unsere Hofleute sind durch diese Zeit aufgeregt und sehen und hören jetzt allerlei«, fügte Henriette hinzu, um den Schäfer zu entschuldigen. Aber die finstere Sage und die Verkündigung des Alten befingen doch beider Gemüt, sie gingen ernsthaft und schweigend nebeneinander.

»Die Mutter wartet mit dem Essen,« rief der Senior aus dem Garten, »jetzt will auch ich von unserem Gaste etwas hören, denn wir vernehmen hier wenig Neues, und doch nimmt der Streit der Großen auch uns die Ruhe.«

Die letzte Stunde verlief in Mitteilung der Gerüchte, welche durch das Land flogen, und der Doktor war nicht mehr mit Henriette allein. Nur beim Abschiede lag ihre Hand noch warm in der seinen. Wieder fuhr er in stiller Seligkeit heimwärts. Und immer sah er sie in der Tiefe des Ringwalls vor sich, wie er sie küßte.

Nun war zu seiner Zeit ein Kuß noch kein Beweis von Liebe; ernsthafte Männer und ehrbare Frauen gönnten diesen Beweis freundlicher Gesinnung einander gern, und vor andern waren die Landsleute des Doktors bereitwillig. Aber jedermann wußte auch, daß es dabei große Unterschiede gab. Heut pochte sein Herz in der holden Ahnung, daß er dem Pfarrkinde lieb geworden sei; und an dies beseligende Gefühl, das in ihm aufschoß, spann seine Phantasie zahllose Fäden, die sich aus der Gegenwart in die Zukunft hineinzogen, ein ganzes Gewebe von neuem Glück, das er für sich zu hoffen wagte.

Ein scharfer Windstoß pfiff an dem Wagen vorüber; die Pferde scheuten, der Kutscher wandte sich um. »Es ist etwas in der Luft«, sagte er, und knallte mit der Peitsche.