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Die Ahnen

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»Ob der Friede dauern wird,« fragte jemand vom dritten Tisch, »bis unser Bündnis mit Österreich und Rußland geschlossen ist?«

»Wir gehören einem so großen Staate an, daß wir nicht nötig haben, von fremder Hilfe unser Heil zu erwarten«, antwortete vom ersten Tisch gewichtig der Stadtdirektor.

»Wir sind so groß geworden,« bestätigte der Einnehmer, »daß niemand mehr recht sagen kann, wo unsere Grenzen sind. Sie werden jedes Jahr geändert. Wie man erzählt, aus Gefälligkeit gegen den Kaiser Napoleon.«

Eine Pause entstand. »Er ist ein Korse,« rief verächtlich der Reiterleutnant Baron Hille, welcher aus einer nahen Garnison herzugeritten war.

»Ohne Zweifel«, bestätigte der Einnehmer. »Ob dieser Mann aber als Korse, als Franke oder als Gallier nichtsnutziger ist, vermag ich nicht zu entscheiden. Ich höre jede dieser drei Eigenschaften an ihm tadeln. Vielleicht würde der Herr Baron uns sagen, weshalb man der Insel Korsika nichts Gutes zutrauen darf.«

»Der Kerl und sein republikanisches Gesindel werden laufen, wenn sie von preußischen Husaren attackiert werden«, rief der aufgeregte Leutnant wieder. Ein beifälliges Summen der Offiziere bestätigte die Worte. Auch die vom Zivil nickten mit dem Kopfe.

»Der Kaiser trägt hohe Stiefeln,« sagte der Einnehmer, »die mögen ihn wohl bisher am Laufen gehindert haben. Denn diese Eigenschaft hat er noch nicht sehen lassen; wenn er es ja einmal versuchte, ist er noch immer vorwärts gekommen.«

Wieder Stillschweigen. »Tun Sie, als wären die drüben nicht da,« sagte der Einnehmer leise zum Doktor, »Sie müssen Ihnen zuerst guten Tag sagen.« Das geschah auch. Nach einiger Zeit, als der Fremde gerade einmal von seinem Sitze aufgestanden war, erhob sich ein kleiner Herr in zimtfarbigem Rocke und blendend weißer Wäsche, trat zu dem Doktor, gab sich als Kammerherrn von Bellerwitz zu erkennen und leitete das Gespräch mit den Worten ein, daß er den Vater des Herrn Doktors wohl gekannt habe.

Auf dem Markte erscholl rauher Anruf und Tritte. Mehrere der Anwesenden eilten an das Fenster. »Sie bringen ihn!« sagte der Stadtdirektor zu dem Kammerherrn.

Ein schlanker Bursch wankte, den Oberkörper vorgeneigt, zwischen bewaffneten Führern, an dem entblößten Haupte hatte er eine Hiebwunde, das geronnene Blut klebte in den Haaren und entstellte ihm das Gesicht. Vor dem Hause des Weinkaufmanns stand ein Brunnen, der Gefangene schrie mit heiserer Stimme: »Wasser!«, und als die Wächter ihn fortstoßen wollten, warf er sich auf die Steine. Vergebens mühten sich die Männer, ihn in die Höhe zu bringen. Mit dem Stadtdirektor eilte der Doktor auf die Straße, holte Besteck und Verbandzeug aus der Tasche und erbat Erlaubnis, dem Manne die blutende Wunde zu verbinden. Die Frau des Weinkaufmanns trug mitleidig ein Handbecken herzu, und als der Verwundete auf die Schwelle des Hauses geschleift war, reichte ihm der Arzt einen Trunk, wusch und verband die Wunde und sprach ihm tröstend zu. Der Verwundete sah den Hilfreichen dankend an, erhob sich nach einer Weile schweigend und wurde auf Befehl des Direktors vorläufig in das Stadtgefängnis geführt.

In der Weinstube sagte der Direktor: »Der Mensch ist Untertan des Grafen und wird dort durch die Karbatsche von seiner Störrigkeit geheilt werden.«

Der Doktor fragte mit Teilnahme: »Was hat er verbrochen?«

»Er wollte ein Mädchen aus dem Dorfe des Grafen heiraten, welches untertänig ist wie er, und da das Mädchen hübsch und sauber war, weigerte ihm der Inspektor die Ehe und bestimmte das Mädchen zum Dienst auf dem Hofe, wo sie ihre drei Jahre aushalten soll. Darüber geriet der Bursch außer sich, vergriff sich tätlich an dem Inspektor und entsprang.«

»Der Graf soll den Kerl zu meiner Kompanie geben, bei uns werden ihm die Mucken ausgetrieben«, begann der Kapitän von Buskow, der die Garnison befehligte, ein hagerer Mann mit harten Zügen, dem man wohl ansah, daß er die Fuchtel zu gebrauchen wußte.

»Was wird jetzt mit dem Unglücklichen geschehen?« fragte der Doktor.

»Er wird morgen dem Grafen ausgeliefert werden«, antwortete der Stadtdirektor, »und hat von seinem Inspektor keine nachsichtige Behandlung zu erwarten.«

»Wie ist es möglich, daß er in die Hände desselben Mannes geliefert wird, den er beleidigt hat?« fragte der Doktor. »Ist er schuldig, sich an dem Gutsbeamten vergriffen zu haben, so gehört der Fall doch wohl vor das königliche Gericht.«

»Der Inspektor übt die Polizei auf den Gütern des Grafen, und der Graf hat die Gerichtsbarkeit über seine Dorfleute,« belehrte der Stadtdirektor, »in Kriminalfällen hat der Inspektor erst dem Gericht Anzeige zu machen.«

»Und wenn er den Burschen vorher halbtot schlagen läßt, wie Sie selbst annahmen? Oder wenn er ihn auf andere Weise im Ortsgefängnis mißhandelt, was wird dann geschehen?«

Der Stadtdirektor zuckte die Achseln und ging schweigend an seinen Tisch.

Da verließ den Doktor die Vorsicht, und er sagte nachdrücklich: »Zustände, welche dergleichen möglich machen, sind tyrannisch und im schreienden Widerspruch gegen die Gebote der Humanität.«

»Sansculotte«, murmelte der Reiterleutnant halblaut.

Das Behagen in der Stube war gestört, die Herren verhandelten in leisem Gespräche, vom dritten Tisch ersuchten einige der Herren den Einnehmer, sie mit dem Gaste bekanntzumachen, und der Fabrikant drückte diesem kräftig die Hand und sprach seine Freude darüber aus, daß er sich in der Stadt niederlassen wolle.

Als der Doktor mit seinem Vertrauten auf den Markt trat, begann der Einnehmer: »Die drei Tische, welche Sie heut gesehen haben, finden Sie bei uns überall. Die am ersten Tisch schwadronieren wie der Baron, oder sie drücken lächelnd die Hände wie der Kammerherr, der zweite Tisch versieht die Plackerarbeit des Staates und fügt sich, und der dritte denkt still auf seinen Vorteil und verzieht den Mund über die beiden anderen. Das übrige Volk aber sitzt stumm auf der Bank oder der bloßen Erde. Übrigens wünsche ich Ihnen Glück zu Ihrem Eintritt bei uns.«

»Ich fürchte, nicht bei allen eine günstige Meinung erweckt zu haben,« antwortete der Doktor, »ich habe Ihre Warnung von vorhin nicht beherzigt.«

»Das ist wahr, aber Sie waren stolz und menschenfreundlich. Sie werden im ganzen Kreise als Revolutionär herumgetragen werden, und jedermann wird begierig sein, Sie kennenzulernen, am meisten unser Adel. Da Sie keinen Talar tragen, der mit Hieroglyphen bedruckt ist, was freilich das Wirksamste wäre, so ist schon etwas wert, daß Sie sich durch abenteuerliche Ideen von den hiesigen Menschen unterscheiden. Kommen Sie, heut sind Sie mein Gast auf ein Gericht Gerngesehen.«

In seiner Wohnung ging der Einnehmer zum Schreibtisch und holte eine seltsam gestaltete goldene Berlocke heraus. »Wissen Sie, was das ist?«

»Es stellt eine Guillotine vor.«

»Richtig! Ich habe sie vor zwölf Jahren dem Kammerherrn abgekauft, der damals noch jung war und sie wohlgefällig an der Uhr trug. Ich hebe sie auf und erinnere ihn zuweilen daran, was ihm unlieb ist. Es hat Stunden gegeben, mein junger Freund,« fuhr er ernster fort, »wo der königliche Einnehmer Köhler hier unter dem Bilde des Alten Fritz die Ansicht hatte, daß ein solches Hackebrett auch anderswo als bei den Franzosen gute Dienste tun würde gegen unerträglichen Hochmut und ein vornehmes Schmarotzertum ohne Kraft und ohne Ehre, welches bei uns alles verdirbt. Trotz alledem sind die, welche wir hier im Kreise haben, noch lange nicht die Schlechtesten. Wer als Rabe geboren ist, von dem kann man nicht verlangen, daß er wie eine Lerche singen soll. Heute habe ich Lust, Ihnen die Berlocke zu schenken.«

»Tun Sie das nicht!« bat der Gast.

»Dann hebe ich sie für den Kammerherrn auf«, entschied der Einnehmer. »Und jetzt denken wir daran, daß Essen und Trinken zu den unvergänglichen Freuden des irdischen Daseins gehört. Ich habe einen Menescher Ausbruch im Keller, an dem Sie Freude haben werden.«

Nach dem Essen ging der Arzt in das Gefängnis, was ihm der Direktor während des Verbandes bewilligt hatte. Er fand den Burschen, dem die Arme von den Fesseln befreit waren, finster auf dem Schemel sitzen. Als er ihm die Wunde besorgt hatte und einige ermutigende Worte sagte, faßte der Gefangene plötzlich seine Hand, und die Tränen stürzten ihm über die bleichen Wangen. »Der liebe Gott bezahle Ihnen, daß Sie so freundlich gegen mich sind. Ich hätte den Inspektor nicht geprügelt, wenn er nicht meinem Mädchen schon lange nachstellte. Jetzt nimmt er sie auf seinen Hof, und was sie dort aus ihr machen —« Er ballte die Faust und murmelte: »Es wird ein Unglück.« »Erzählt mir von Eurem Mädchen,« sagte der Arzt, »ich bin hier zwar fremd, vielleicht kann ich Euch doch in etwas helfen.« Da begann der Bursch sein Mädchen zu rühmen und wurde darüber wieder weich. »Denkt auch, wie Ihr Euer Schicksal zum Besseren wendet,« mahnte der Doktor, »habt Ihr nicht jemand, der bei dem Grafen für Euch sprechen kann?«

Der Gefangene schüttelte den Kopf und sah unwillkürlich auf ein Fenster seines Arrestes, welches in die Stadtmauer gebrochen war: »Der Inspektor soll mich nicht einsperren.«

»Kann ich noch etwas für Euch tun?« fragte der Arzt.

»Ich habe meine Mütze verloren«, sagte der Gefangene finster. »Die Landjäger haben mich durchsucht und meinen Geldbeutel genommen, in dem einige Groschen waren, da kann ich nicht einmal zu einer Mütze kommen.«

Der Doktor legte etwas Geld auf das Fensterbrett und verließ das Gefängnis.

Von dem Gefangenen ging er nach dem Gasthof und fragte, ob der Kammerherr noch in der Stadt sei. – Der Wagen war bereits vorgefahren, doch wurde er von dem Bedienten gemeldet und angenommen. Er erklärte seinen Eintritt mit dem Wunsche, einem Herrn, der sich seines Vaters freundlich erinnere, sogleich seinen Besuch zu machen, und begann nach kurzem Gespräch: »Ich habe soeben dem Gefangenen den nötigen ärztlichen Beistand geleistet, der junge Mann ist in verzweifelter Stimmung, und die Sache kann weitere Folgen haben.« Und er erzählte von der Eifersucht des Burschen. »Es war bereits davon die Rede,« sagte der Kammerherr unbehaglich, »und der Mensch ist leider im Kreise nicht unbekannt, er gilt für einen guten Musikus und war zur Kirmeszeit und sonst in den Dörfern eine beliebte und auch gefürchtete Person; ich traue ihm wohl zu, daß er neues Ärgernis bereitet.«

 

»Vielleicht könnte dies vermieden werden, wenn die Braut des Mannes nicht in den gefürchteten Hofdienst treten müßte.«

»Das ist nicht zu verhindern«, erklärte der Kammerherr bestimmt.

»Durch Ihr Fürwort«, sagte der Arzt bittend. Der Kammerherr sah ihn erstaunt über diese Zumutung an.

»Die Ansprüche, welche an das Mädchen gemacht werden, stehen im Widerspruch zu allem, was man Kultur und Zeitgeist nennt, und eine gewisse Unzufriedenheit im Publikum äußert sich gern in Privatbriefen und Pasquillen. Der Graf selbst wird vielleicht ein Interesse daran finden, daß der Vorfall nicht nach der Residenz getragen wird.«

»Wenn er nicht ein näheres Interesse hat, die Person im Dienst zu behalten«, fuhr dem Kammerherrn heraus. Er sah den Doktor mißtrauisch an.

Doch dieser fuhr beharrlich fort: »Ich habe den warmen Wunsch, mir in dieser Gegend Wohlwollen zu erwerben, und ich glaube dasselbe dadurch zu verdienen, daß ich ein Unglück verhüten helfe. Dies würde hier der Fall sein, wenn sich ein anderer anständiger Dienst für das Mädchen fände.«

»Sie haben nicht ganz unrecht«, gab der Kammerherr zu, der recht gut wußte, daß an höchster Stelle nichts widerwärtiger war als ungünstiges Geräusch im Volke und der Vorwurf der Inhumanität. Und er bedachte, daß der dreiste Fremdling vor ihm vielleicht selbst solchen Vorwurf irgendwo erheben könnte. Deshalb fuhr er fort: »Wie ich höre, waren Sie in Gesellschaft des Prinzen auf Reisen, stehen Sie mit dem Herrn noch in irgendwelcher Verbindung?« »Er hat mir erlaubt, ihm zu schreiben«, sagte der Doktor, sich erhebend.

»Ich freue mich ausnehmend unserer Bekanntschaft«, schloß der Kammerherr sehr artig. »Und was jene Affäre betrifft, ich treffe noch heut mit dem Grafen zusammen, vielleicht finde ich Gelegenheit, ein gutes Wort einzulegen. Kommen Sie in die Nähe meines Hofes, so versteht sich von selbst, daß Sie nicht vorbeifahren.«

Als es Abend wurde, stand der Doktor in seiner neuen Wohnung. Sie sah aus wie viele andere, vielleicht etwas heller und sauberer; die Dielen von Tannenholz frisch gescheuert, die Wand mit blauer Kalkfarbe gemalt, die Möbel bis auf eine alte verschnörkelte Kommode geradlinig, hager, ohne jeden unnützen Schwung. In der Stube und auf dem Lande verkündeten bereits die Eingeborenen, jeder nach seiner Weise, das Lob des Gastes. Der Baron von der Reiterei schalt ihn einen frechen Bürgerlichen, den man schon ducken werde, der Kammerherr sagte daheim: »Er ist dreist, aber er ist ein geistreicher Kopf«, die Gastwirtin lobte den artigen Dank, mit dem er von ihr geschieden war, der Fabrikant erklärte seiner Frau: »Zu dem könnte ich Vertrauen haben«; sogar ein armer Flüchtling gedachte in dieser Stunde des Fremden, während er mit blutenden Händen das Gitter seines Kerkers aus den Steinen brach, und der Einnehmer sagte, vor seinem Schrank die Bände von Jean Paul liebevoll betrachtend: »Endlich eine Seele mit höherem Schwung, nur den ›Titan‹ versteht er nicht zu schätzen.« Alle Welt beschäftigte sich mit ihm und war bereit, ihn nach ihrer Art hoch zu achten. Mußte man ihn nicht glücklich preisen, wie er so dastand, jung, gutgestaltet, freundlich aufgenommen an einem Ort, wo er überreiche Gelegenheit erhielt, seinen Beruf zu üben, nichts auf seiner Seele, keine Leidenschaft, keine arge Tat, die ihm den Frieden stören konnten. Und doch stand er allein, traurig, mit beschwertem Mut: »Du, mein verklärter Vater, dessen Bild ich in der Seele trage als mein höchstes Gut, oft sagtest du mir, daß das Bewußtsein erfüllter Pflicht das einzige dauerhafte Glück auf Erden bleibt. Aber ich fürchte, fröhlich macht es nicht, und den männlichen Stolz, als ein Herr durch das Leben zu gehen, verleiht es doch nicht. So freudige Menschen, wie ich zuweilen unter den Fremden gefunden, wie sie der englische Dichter zu schildern weiß, sehe ich hier nirgends. Jeder wandelt mit eng angezogenen Armen seine Straße, damit er nicht anstoße. Viele sind wie Freigelassene, welche sich in ihrem Gemüt noch als Knechte betrachten, die Mehrzahl stöhnt in der Sklaverei. Auch der kräftige Mann erhebt sich einmal über die andern, indem er sie neckt und verspottet, und in der nächsten Stunde ist sein Genuß, alles Irdische als verächtlich zu betrauern und vor einer Graburne zu seufzen. Es ist eine edle Poesie, die uns aus der alltäglichen Wirklichkeit in reinere Luft erheben will, aber traurig, traurig ist es, daß in dem Leben des Tages nichts gefunden wird, was mit Begeisterung erfüllt. Die kraftvolle Hingabe an Schönes und Großes, das in Wirklichkeit unter uns lebt, wird sie den Deutschen jemals kommen, und werden wir in unserm stillen Lande auch einen Anteil daran gewinnen? – Vielleicht, langsam, nach harten Kämpfen, in einem späteren, glücklicheren Jahrhundert. Das gelobte Land, welches du, lieber Vater, entbehrtest und das ich nicht erblicke, das werden die Späteren einnehmen. – Ich murre nicht mehr, mein Vater; wie du für mich lebtest, so will ich für das nächste Geschlecht mich hingeben; ich will meine Pflicht tun gegen die anderen, und ich will danach ringen, daß ich dies täglich vermag.« Er setzte sich nieder, faltete Bogen zusammen und zog die Linien zu dem Geheimbuch, das er als Arzt für seine Kranken führen wollte.

Am nächsten Morgen kam die Wirtin des Doktors und erzählte, daß der Gefangene in der Nacht ausgebrochen sei. »Wohin kann er sich geflüchtet haben?« fragte der Doktor den Einnehmer. Dieser wies nach dem Gebirge: »Wahrscheinlich wird er Schmuggler, denn er weiß in der Gegend Bescheid.« Und als der Doktor in der nächsten Woche, einem Briefe des Kammerherrn folgend, auf dessen Gut kam, sah er bei der Hausbedienung ein sauberes Mädchen, welches ihm durch die traurige Miene auffiel. Als er in den Wagen stieg, stand sie hinter dem Bedienten auf den Stufen und betrachtete ihn unverwandt. Auf dem Rücksitz fand er hinter dem Kissen einen kleinen Nelkenstrauß eingeklemmt, und bald erfuhr er, daß die Kammerherrin selbst sich entschlossen hatte, die Braut des Flüchtlings in ihren Dienst zu nehmen.

2. Am Ringwall der Vandalen

Der königliche Einnehmer Köhler blieb dem Doktor der liebste und vertrauteste Umgang. Er war ein gesetzter Mann in guten Mitteljahren, in dem behaglichen Gesicht glänzten zwei hübsche, ausdrucksvolle Augen, welche er beim Sprechen gern zusammendrückte. Er war als Ehrenmann geschätzt, aber seiner spöttischen Einfälle wegen mehr gefürchtet als geliebt, und der Kammerherr nannte ihn kaustisch. Unverheiratet und nicht ohne Vermögen, sah er gern Gäste bei sich; auch diese hatten sich zu hüten, daß er ihnen nicht mit Wort oder Taten einen Possen spielte, der zuweilen derb war.

Einst hatte er den jüngeren Freund zum Abend auf einen Rehrücken geladen, der ihm als Geburtstagsgeschenk zugegangen war. Da öffnete sich die Tür, und wahrscheinlich angezogen von dem Duft des Bratens, den er im Vorübergehen aufgefangen hatte, trat der steife Hauptmann von Buskow in die Stube. Da die Beharrlichkeit des unbeliebten Gastes bekannt war, so hielt der Doktor den Abend für verdorben. Köhler aber sah den Freund mit seinem schlauen Blicke an, schob ihm ein Buch zu und zog den Hauptmann vertraulich zur Seite. »Ihnen ist bekannt, daß die Tungusen Hunde verspeisen.« Der Hauptmann hatte nichts dagegen einzuwenden. »Unter uns besteht eine Abneigung gegen diesen Genuß, wie der Doktor behauptet mit gutem Grund; wie ich sage, ohne Grund. Und heut will ich ihm das beweisen. Sie sind gerade der rechte Mann, dabei den Dritten abzugeben, denn Ihnen, als einem Militär, wird allerlei Fremdartiges im Feldkessel nicht unerhört sein.«

»Sie werden doch nicht« – fragte der enttäuschte Hauptmann. »Bst!« mahnte der Einnehmer. »Niemand darf etwas merken.«

»Sie haben aber doch noch etwas anderes in der Küche«, fragte der Offizier.

»Natürlich nicht,« versetzte der Einnehmer, »er darf keine Wahl haben.«

»Recht so; doch leider bin ich heut verhindert«, bedauerte der Besucher und entfernte sich nach gleichgültigen Reden. Und die beiden Freunde blieben allein. Als aber der Hauptmann einige Tage darauf in Gegenwart anderer den Doktor spöttisch fragte, wie ihm der seltsame Braten geschmeckt habe und der Doktor den Einnehmer befremdet ansah, antwortete dieser: »Denken Sie, Herr Hauptmann, wie es mir neulich erging. Meine Wirtin war in der Stille widersetzlich geworden, und da sie es für unehrliche Küchenarbeit hielt, den befohlenen Braten in die Pfanne zu tun, so hat sie hinter meinem Rücken ein wirkliches Reh, das mir zufällig der Oberförster geschickt hatte, gebraten und uns vorgesetzt.«

Seit der Zeit bestand eine Spannung zwischen dem Einnehmer und der bewaffneten Macht, und daraus wurde bald offene Feindseligkeit. Ein Bauer hatte nämlich dem Herrn Köhler einen jungen flügellahmen Storch zugetragen, den dieser sorgfältig fütterte und zähmte; der Storch lief gern aus dem Hofe und wurde ein eifriger Besucher der Gassen und des Marktes. Die Bürger freuten sich über das kluge Tier des Herrn Einnehmers, und die günstige Meinung, welche der Kinderwelt von den sozialen Verpflichtungen des Storches beigebracht war, verschaffte ihm auch die achtungsvolle Freundschaft der Straßenjungen. Der Storch aber gewann bei den Besuchen des Marktes eine Vorliebe für die Schildwache und für die Herren Offiziere, welche an der Vergatterung der Hauptwache auf und ab schritten; ihn mochte bedünken, daß dies eine ehrenvolle Beschäftigung sei, und er gewöhnte sich an, unter dem Jubel der Kinderschar auch seinerseits vor der geweihten Stätte ernsthaft hin und her zu gehen. Als Herr Köhler dies erfuhr, ließ er ihm vom Schneider blau und rote Frackschöße machen und band sie ihm über die Flügel. Da war natürlich, daß in der Bürgerschaft laute Heiterkeit entstand, daß aber die Kriegsmacht in den Frackschößen eine persönliche Kränkung sah. Der arme Storch bezahlte die Zeche, er wurde an einem der nächsten Tage in der Dämmerstunde dem Einnehmer tot ins Haus gebracht, und dieser wollte erkennen, daß sein Liebling durch einen Degenstich gemeuchelt sei. Er schwieg, wie ihm die Klugheit gebot, aber er sann auf Rache. In der Weinstube der Honoratioren stand nach alter Sitte ein Tabakskasten, aus dem sich die Gäste mit Diskretion bedienen konnten. Die Bürgerlichen brachten ihre Tabaksbeutel mit, die Herren vom Militär pflegten aus dem Kasten zu requirieren. Da geschah es eines Tages, daß nach dem Genuß der Frühstückspfeifen das gesamte Offizierkorps der Stadt in einen Zustand der Abspannung und Schwäche verfiel, durch welchen die kriegerischen Übungen des Nachmittags verhindert wurden. Der jüdische Wirt bewies erschrocken seine Unschuld, indem er andere Pfeifen aus demselben Kasten stopfen ließ, und es war auf niemanden sonst etwas zu bringen, doch war der Einnehmer an dem gefährlichen Morgen in der Stube gewesen. Und es ist gar nicht zu ermessen, wie weit dieses Kriegsfeuer zuletzt um sich gefressen hätte, wenn es nicht durch größere Ereignisse ausgetilgt worden wäre.

Unterdes gewann der Doktor Vertrauen und Zulauf und erhielt reichliche Gelegenheit, seine Kunst zu erweisen. Es währte nicht lange, daß er auch die Anstrengungen fühlte, denn einen großen Teil seiner Praxis fand er auf den Dörfern, und fast täglich, wenn die Kranken der Stadt besucht waren, mußte er mit jeder Art von Fuhrwerk meilenweit über Land. Zumal als der Herbst und Winter kam, wurde die Reise in offenem Wagen oder Schlitten, auf schlechten Landwegen durch wirbelnden Schnee und dunkle Nacht zur Beschwerde. Er aber fuhr, eingehüllt in seinen Pelz, einen Säbel zur Seite, unermüdlich nach allen Richtungen des Kreises, und die Leute rühmten an ihm, daß er den Armen ebenso bereitwillig helfe wie den Vornehmen. Als gewissenhafter Mann empfand er die furchtbare Verantwortung seines Berufes, denn die Wissenschaft hatte zu seiner Zeit von den Geheimnissen des inneren körperlichen Lebens weit weniger erspäht als wohl jetzt. Der Arzt war deshalb oft unsicherer, nur auf Beobachtung äußerer Erscheinungen und auf Mutmaßungen angewiesen, und der junge Doktor verbrachte manche schlaflose Nacht in Zweifel und Gewissensbedenken, und doch durfte ihm niemand etwas davon ansehen, und er mußte dergleichen schwere Sorge allein tragen, ohne einen Vertrauten.

Noch etwas störte ihm das Behagen. Es wurde ihm bitterlich sauer, Honorar zu fordern, am schwersten bei den anspruchsvollen Reichen; den Armen gab er lieber, als er nahm. Dies Gefühl vermochte er nicht zu überwinden, und seine Forderungen niederzuschreiben blieb ihm die widerwärtigste Arbeit. Da war es natürlich, daß seine Einnahmen nicht im richtigen Verhältnis standen zum Umfange seiner Tätigkeit. Doch besaß er von seiner Mutter ein mäßiges Vermögen, welches ihn von den Honoraren unabhängig machte, und er betrachtete dies als ein großes Glück.

 

Allmählich drang der Ruf, den er als Arzt gewann, über die Grenzen seines Kreises hinaus. Unter anderen Einladungen in die Ferne erhielt er einst die eines Landgeistlichen, der für seine kranke Frau, welche in Behandlung eines anderen Arztes gewesen war, ein Gutachten erbat. Der warme Ton des Briefes und die Weise, in welcher der würdige Senior seine Angst um die liebe Frau aussprach, gewannen ihm im voraus besondere Teilnahme des Doktors. Der Wagen rollte durch eine fruchtbare Ebene, deren üppiges Grün in der warmen Frühlingsluft das Auge erfreute. Dennoch wurden dem Reisenden die Meilen des Weges zu lang, und der Kutscher, der zuletzt in der Gegend nicht mehr bekannt war, mußte einige Male nach der Pfarre fragen. Endlich trabten die Pferde über unbebautes Land, das mit Ginster und Dornen bewachsen war, bei einem runden Hügel vorüber, in einen weiten Hof mit Scheunen und Ställen, die einer großen Feldwirtschaft angehörten, und hielten vor einem langgestreckten, niedrigen Bau unter Schindeldach.

Der Senior trat aus dem Hause dem Gaste entgegen, ein Mann in höheren Jahren, mit weißem Haar, aber von kräftiger Haltung, mit einem großen Kopf und vollen Angesicht, dem man die milde Gutherzigkeit ansah. Nach der ersten Begrüßung bat der Gast, zu der Kranken geführt zu werden, und er konnte nach sorgfältiger Prüfung des Falls dem Gatten zuletzt die frohe Mitteilung machen, daß die Krankheit heilbar und Genesung zu erwarten sei. Darauf erst erhob sich in der Studierstube des Herrn Seniors das unter treuen Deutschen notwendige Wechselgespräch, welches zu einer persönlichen Annäherung zu führen pflegt. Daraus erfuhr der Doktor, daß Behörden und Gemeinden sich in übergroßer Liebe zum Herkömmlichen niemals entschlossen hatten, ein neues Wohnhaus zu errichten, daß aber die Pfarre doch zu den besten des Landes zählte, viele reiche Dörfer gehörten dazu und vieles Ackerland; der Himmel aber hatte die Pflichttreue des Herrn Seniors durch reichen Kindersegen vergolten, die Söhne waren Beamte und Lehrer geworden, mehrere Töchter an Pastoren der Umgegend verheiratet. »Nur die jüngste Tochter lebt als treue Gehilfin der Mutter im Hause,« schloß der Senior seinen Bericht, »unsere Henriette ist Trost und Freude unseres Alters. Und dies idyllische Dasein wäre so glücklich, daß kaum ein Wunsch übrigbliebe, wenn wir nicht gar so einsam und allein lebten.«

»Bei solcher Pfarre muß doch ein großes Dorf sein.«

»Es ist gar kein Dorf da,« belehrte der Geistliche, »nur wenige Hütten, die zum Hofe gehören. Das Dorf wurde im Dreißigjährigen Kriege verwüstet, es stand auf der öden Stätte, an welcher Sie vorübergefahren sind, daneben liegt noch eine hohe Schwedenschanze; das Dorf wurde nicht wieder aufgebaut, nur die Kirche und Pfarre sind erhalten.«

Der Doktor trat wißbegierig an das Fenster. Eine schlanke Frauengestalt schritt behend vorüber, wie ein Lichtschein hob sie sich von dem dunklen Hintergrunde ab. Er sah eine rosige Wange, braungelocktes Haar, ein edel geschnittenes Profil, einen vollen, kräftigen Arm.

»Das war die Tochter,« sang es in ihm, »wie ist sie schön.«

»In solcher Einsamkeit helfen die Bücher«, fuhr der Senior fort. Der Doktor wandte sich um, das helle Licht war verschwunden, er stand in der grauen Wirklichkeit der schmucklosen Stube.

»Es ist vor allem der teuere Gottesmann Luther, mit dessen Lebenslauf und Werken ich mich beschäftige«, bedeutete der Senior, behaglich auf seinen großen Bücherschrank zeigend. Der Doktor sah artig nach den Titeln. »Hier finden Sie sein Bild«, erklärte der Pastor, an die Wand tretend. »Dort das seiner Käthe, und hier darunter sehen Sie die Stätte, an welcher er verborgen gehaust hat.« Er wies auf eine kleine Radierung der Wartburg.

»Als Student habe ich in den Ferien die Wartburg besucht,« fiel der Doktor ein, »auch die Studierstube, wo der Teufel mit dem Tintenfaß geworfen wurde.« »Darum könnte ich Sie beneiden«, rief der Pastor. »Es ist nämlich eine besondere Fügung, daß der große Mann in zwei wichtigen Lagen seines Lebens auf fürstlichen Burgen in Verborgenheit gelebt hat; sowohl auf der Wartburg, als auch später im Fränkischen auf der Koburg. Von der letzteren jedoch ist mir eine Abbildung zu erhalten nicht gelungen.« »Die Koburg habe ich nicht selbst gesehen,« sagte der Doktor arglos, »doch habe ich von meinem Vater gehört, daß irgendwo bei Verwandten ein Neues Testament aufbewahrt wird, in welches der Reformator einem meiner Vorfahren, der mit ihm bekannt war, auf der Koburg einen Spruch eingeschrieben haben soll.« »Das ist ja eine große Erinnerung«, rief der Senior, den Arzt mit einer neuen Art von Achtung betrachtend. »Also Ihre Familie war mit Doktor Luther bekannt. Bitte setzen Sie sich und erzählen Sie.« Er faßte den Gast mit beiden Händen und drückte ihn auf das Sofa. —

»Es ist lange her, Herr Pastor,« antwortete der Doktor hilflos, »und ich bekenne, gar nichts weiter von der Bekanntschaft zu wissen.«

Da öffnete sich die Tür und Henriette trat ein. Der Gast schnellte in die Höhe, wieder kam ihm vor, als ob ein heller Schein den Raum erleuchte. Er sah mit einer Mischung von Bewunderung und Scheu das Mädchen vor sich und verbeugte sich tief. Ihre Wangen röteten sich bei ihrem gehaltenen Dank. »Der Kaffee steht im Garten«, sagte sie leise dem Vater.

»Das war ein guter Gedanke. Unsere Kaffeestunde ist vorüber, lassen Sie sich als Reisender noch eine Schale gefallen. Unterdes gewinnt die Küche Zeit, ihre Pflicht zu tun.«

»Ich kann Sie nicht so lange aufhalten«, wandte der Doktor ein, mit geringerer Ehrlichkeit, als ihm sonst eigen war, da er gern bleiben wollte. Und das mußte er zur Stelle versprechen. Denn Vater und Tochter sahen ihn ganz erschrocken an und der Senior hob beschwörend die Hände: »Ohne Abendessen den weiten Weg zurückmachen, das dürfen Sie uns nicht antun. Henriette! Tabak, Pfeifen und Fidibus, denn auch in der freien Natur soll der Mensch seiner Bequemlichkeit gedenken.«

Der Vater übernahm die Führung, der Doktor ließ sich nicht nehmen, den Tabakkasten zu tragen. Als sie so im Hausflur standen, wo der Geistliche noch schnell die Räumlichkeiten des Hauses erklärte, rollte ein Wagen in den Hof. Dem Gast entging nicht, daß ein leichter Schatten, wie ein Bedauern über das offene Angesicht der Tochter flog. Aus dem Korbwagen stiegen zwei Bauernmädchen in ihrer Sonntagstracht; der Kutscher aber sprach angelegentlich zu dem Hausherrn. »Mit dem Müller geht‘s zu Ende,« wandte sich der Senior betrübt zur Tochter, »und er verlangt meinen Beistand. Gottesdienst muß allem vorgehen; seien Sie mir nicht böse, lieber Doktor, wenn ich Sie um eines Sterbenden willen auf eine Stunde allein lasse, meine Tochter und diese wackeren Mädchen werden Sie unterdes umherführen.« Er eilte in seine Stube, sich für die geistliche Handlung zu rüsten. Der Doktor überlegte, ob er bei dem Tausch gewonnen hatte; über Doktor Luther brauchte er nicht mehr Auskunft zu geben, aber die Unterhaltung mit der Tochter war auch gestört.

Die Bauernmädchen begrüßten unterdes das Pfarrkind. »Der Wagen traf uns auf dem Wege, da stiegen wir ein«, erklärte die eine. »Wir kommen bitten,« begann die andere, »ob Sie mit Blumen zur Hochzeit aushelfen wollten.«