Die Gräfin von New York

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Von besonderem Interesse für den Sheriff waren auch Beobachtungen über ungewöhnliche Vorgänge, welche die Befragten in letzter Zeit, vor allem aber die letzten Tage, gemacht haben könnten.

Von den Züchtern konnte er die Adressen von den drei Buchmachern erfahren, die damals aufgrund von Johns gezielten Einsätzen Bankrott gegangen waren. Er überprüfte selber das Alibi des einen, der ortsansässig war. Das der anderen beiden ließ er von den für sie zuständigen Dienststellen an deren Wohnort abklären.

Keiner von den Dreien kam in Frage.

Der im Ort lebende befand sich seit drei Wochen in Ascot, wo er auf Einladung seines Freundes aus England neue Zuchtmethoden studierte. Er wollte erst in zwei Wochen wieder aus Europa zurückkehren.

Der andere war zur entsprechenden Zeit in einer Geschäftsbesprechung in Seattle, was die örtlichen Behörden sowohl durch seinen Geschäftspartner als auch durch die Angestellten des von ihm gebuchten Hotels bestätigen ließen.

Der Dritte hatte das überzeugendste Alibi. Es war noch mehr als wasserdicht: er saß bereits seit über einem Jahr wegen wiederholter Manipulation der Ergebnisse von Pferderennen im Gefängnis von Tucson, Arizona.

Am dritten Tag nach dem abscheulichen Mord an John Freyman kam Gregory Delano erst nach dem Mittagessen in sein Büro. Er schloss die Tür hinter sich, bereitete sich eine große Kanne starken Kaffee zu und stellte sie zusammen mit einer Tasse auf das Beistelltischchen neben seinem Stuhl. Dann ließ er sich in den bequemen Sessel mit dem etwas abgeschabten Büffelleder fallen und streckte die Beine auf dem Schreibtisch aus.

Er ließ die letzten Tage Revue passieren, sortierte die Aussagen, die gemacht wurden, zog dies in Erwähnung und das; wägte eines ab und ein anderes, spann sich ein Netz aus Gedanken, in dem der Mörder sich verfangen sollte.

Er zählte eins und eins zusammen. Um das so offenbar eindeutige Ergebnis gleich wieder auseinanderzunehmen. Immer wieder setzte er die Puzzleteile der Antworten, die er erhalten hatte, anders zusammen.

Mal schien schon alles stimmig zu sein, dann entdeckte er in seiner Gedankenkette enttäuscht einen Widerspruch.

Also alles wieder ganz von vorne.

Stunden saß er so.

Als sein Magen so drängend knurrte, dass ihm zwischendurch immer wieder die Vorstellung von deftigen Braten und schmackhaft gesottenem Gemüse in die Gedanken einfloss, ging er in den Saloon neben der Station hinüber und ließ sich dort schnell ein paar Spiegeleier und Speck in der Pfanne braten.

Ablenkung konnte er jetzt nicht gebrauchen.

Elisa, die Bedienung, wunderte sich, dass der Sheriff heute so kurz angebunden war. Sie kannte ihn etwas umgänglicher, immer auch zu einem Scherz aufgelegt. Heute schaute er nur mürrisch vor sich hin und beachtete sie kaum.

Sie ahnte schließlich nicht, dass der gedankenverlorene Sheriff gerade in einer ganz anderen Welt lebte, die er sich selber im Kopf zusammengebastelt hatte, und in der er verzweifelt nach einem kaltblütigen Mörder suchte.

Hastig schlang Gregory Delano das Mahl hinunter.

Er glaubte fest, dass er der Lösung nahe war. Es gab wiederum noch einige Details, von denen er noch nicht genau wusste, ob und wie sie zusammenpassten.

Nachdem er sich wegen seines trocken gewordenen Mundes noch ein Glas Root Beer gegönnt hatte, ging er zurück ins Büro und nahm exakt die gleiche Stellung ein, die er vor dem Gang in die Kneipe innegehabt hatte.

Vor seinen Augen lief nun immer wieder ab, was sich im Landhaus John Freymans abgespielt haben könnte.

Noch hatte der erdachte Ablauf immer wieder verschiedene Fassungen, wenngleich jetzt schon um ein paar weniger.

Wieder vergingen die Stunden.

Warren Harms stand mit seinem Zuchtbetrieb kurz vor dem Zusammenbruch. Munkelte man. Genau wusste das aber keiner, man redete nur darüber.

Harms betrieb zusammen mit seinem Bruder auch eine Pferdemetzgerei, was übrigens bei seinen Kunden nicht so besonders gut ankam. War jetzt auch nicht wichtig, bedeutsam war nur, dass dort ebenfalls große Messer im Gebrauch waren. Die gleichen, oder sehr ähnliche, wie jenes, das auch in der Mordnacht benutzt wurde.

Seine Geschäfte dürften jetzt zweifellos wieder besser laufen, weil das Charisma und die Reputation Johns nicht mehr den ausschlaggebenden Einfluss auf zukünftigen Auktionen ausüben konnte, so wie das vor Johns Tod häufig der Fall gewesen war. Gerade in letzter Zeit hatte Harms gegen ihn sehr oft den kürzeren gezogen.

Harms ist bestens befreundet mit den Hendersons; schon Harmsens Vater hatte in Hendersonville gelebt. Ein Vorgehen gegen ihn wäre nicht einfach. Die Honoratioren der Stadt würden sich gegen ihn wenden.

Gegen ihn, den Sheriff, gegen den Mann aus dem Osten, der zwar sehr geachtet war, aber eben hier nur zugezogen.

Wenn es aber doch so war, wie Paco es gesagt hatte? Konnte man dem überhaupt glauben? Immerhin gefährdete er mit seiner delikaten Aussage seine Arbeitsstelle.

Der Sheriff starrte an die Decke des Büros.

Eine wichtige Tatsache ging ihm nicht aus dem Kopf. Er glich jedes Für und Wider zum wiederholten Male ab. Und noch einmal, und noch einmal.

Endlich nahm Gregory Delano die Füße vom Tisch, beugte sich etwas vor, setzte den Ellbogen der linken Hand auf die Tischplatte auf und stütze sein Kinn in die halb geöffnete Hand. Mit dem Daumen rieb er die Stoppeln an seinem Unterkiefer. Sein Blick wanderte langsam zum Fenster.

Er wusste jetzt, wie es war - und wer es war.

Er war sich jedenfalls ganz sicher.

Jetzt passte alles zusammen. Die vielen einzelnen Teile ergaben jetzt ein perfektes Bild. Kein schönes Bild, ganz im Gegenteil, ein schauriges. Aber anders, wie es sich darauf darstellte, konnte es gar nicht gewesen sein. Für ihn war die Sachlage jetzt völlig klar.

Er war alles andere als glücklich über seine Erkenntnis.

„Ja, so und nicht anders war es“, sagte er halblaut vor sich hin und schüttelte dann den Kopf.

„Wer hätte gedacht, dass dieser Mensch zu so etwas überhaupt fähig ist.“

Er ballte die rechte Hand zur Faust, sein Gemurmel wurde zu einem hinausgepressten Ehrenwort: „John, ich werde dir Genugtuung verschaffen.“

Gegen vier Uhr morgens, als die Morgendämmerung den heraufziehenden Tag ankündigte, da erlosch das Licht, das aus dem Büro des Sheriffs nach außen gedrungen war.

Als letztes in der Stadt.

Außer dem Tathergang, den er bald mit stichhaltigen Indizien dem Gericht zur Beurteilung vorzulegen gedachte, war dem Sheriff noch etwas anderes klar geworden:

Der nächste Tag würde einer der unangenehmsten in seinem ganzen Leben werden.

*****

John Freyman wurde geboren am fünfzehnten April des Jahres 1900. Es war ein Sonntag. Menschen mit einem Hang zu Esoterik erachten die Geburt an einem Sonntag als besonderes Privileg. Denn, so glauben sie unbeirrt, ein am Sonntag geborener Mensch wird besonders viel Glück im Leben haben.

Seit Menschengedenken war das so gewesen.

Auch schon bei den alten Griechen. Und die Menschen des Imperium Romanum, auch das ist überliefert, dachten nicht anders. Auch bei denen galt der an einem Sonntag Geborene als Glückskind, als ‚fortunae filius‘.

Aber auch viele von sonst eher nüchtern denkenden Menschen können sich einer solchen Erwartung ebenfalls nicht ganz entziehen. Vermutlich liegt das an dem Umstand, dass man bei einem besonderen Glücksfall, der einem am Sonntag Geborenen widerfährt, sofort an diesen durch nichts zu rechtfertigenden Zusammenhang denkt; und ihn damit unwillkürlich als Bestätigung sieht.

Merkwürdigerweise wird ein solcher Bezug nicht hergestellt, und somit dieser Irrglaube auch nicht infrage gestellt, wenn dem am Sonntag Geborenen Unheil widerfährt – und sei es noch so dramatisch.

Auch Gregory Delano war einer dieser Menschen, die sich ausschließlich von der Realität überzeugen ließen und ihr immer den Vorzug gaben gegenüber dem Übernatürlichen.

Und trotzdem machte er sich Gedanken über das Leben seines Freundes John und dessen so frühen Tod.

Schon zweimal im Leben war John in höchster Lebensgefahr gewesen. Beide Male hatte er Glück gehabt und war seinem frühzeitigen Ende um Haaresbreite entronnen. Beim zweiten Mal musste er, Gregory, selber schon mithelfen, dem ungnädigen Schicksal in den Arm zu fallen.

Und jetzt? Bei lebendigem Leib den Bauch aufgeschlitzt zu bekommen, hat mit Glück gar nichts zu tun.

Die Mär von der lebenslangen Glückssträhne durch die Geburt an einem Sonntag war also wieder einmal eindeutig widerlegt. Mit ihrem fortunae filius lagen mithin schon die Römer falsch. Da war sich der Sheriff sicher.

Er führte seine Gedanken auf einer Basis weiter, die Metaphorik und Realität vereinen sollten.

So schlimm das Ende eines Lebens auch sein mag, man kann es auch in Relation zu all den durchlebten Jahren davor setzen. Für ein elendes Leben, das nur Not, Entbehrung und Schmerz kennt, kann auch ein schreckliches Ende so etwas wie Erlösung sein.

Wer dagegen ein sorgloses und als glücklich empfundenes Leben führt, für den mag allein der absehbare Tod schon das größte Entsetzen hervorrufen. Selbst wenn das Lebensende in Frieden kommt, und nicht durch brutale Gewalt oder eine furchtbare Krankheit herbeigeführt wird.

Man sollte dem Tod also generell gelassener gegenübertreten. Das war Gregory Delanos Meinung. Ob er das angesichts des eigenen Endes auch selber beherzigen könnte, das wusste er nicht, aber er hatte es sich fest vorgenommen.

Und bis dahin war sein positiv gestimmtes Credo, dass selbstverständlich auch er eines Tages sterben müsse, aber eben an allen anderen Tagen nicht.

*****

Gerade nochmal gut gegangen

John Freyman hatte das Glück gehabt, in eine intakte und lebensfrohe Familie der gehobenen New Yorker Gesellschaft hineingeboren zu werden. Sein Vater Joseph hatte mit dem schwunghaften Handel von hochwertigen Immobilien und der Ausführung und Betreuung bedeutender Bauprojekte ein beträchtliches Vermögen gemacht.

 

Das über fünf Stockwerke reichende Wohngebäude der Freymans lag, leicht zurückversetzt, an der parallel zum East River verlaufenden Pearl Street. Sie wird, als vierte größere Straße von der Seeseite her, von der etwa auf Höhe Pier 11 beginnenden Wall Street gekreuzt.

Der Versatz von der Straße zum Gebäude ließ einen vorgartenähnlichen Grünstreifen zu, der mit einigen hochwachsenden, teils exotischen Bäumen bepflanzt war.

Mit dem auf das höhere Gehölz abgestimmten Buschwerk darunter, machte dieses schmale Stück Rasen zwischen Boulevard und Bauwerk nahezu den Eindruck eines kleinen, gepflegten Parks.

Ungewöhnlich in dieser Umgebung aus Glas und Beton.

Dieser gestalterische Kunstgriff nahm dem zweifellos mächtigen Baukörper noch weiter an Schwere, die bereits durch seine subtil gegliederte Fassade auf ein erstaunlich geringes Maß reduziert war.

Zudem absorbierte der klug geplante Bewuchs einen Teil des Lärms dieser belebten Straße, der bei den anderen Gebäuden in der Stadt ungehindert bis zu den oberen Fenstern hinaufbrandete.

In nur ein paar Minuten Gehweg von diesem Domizil aus erreichte man wichtige amtliche Einrichtungen der Stadt, vornehme Clubs und einige der besten New Yorker Restaurants. Auch die meisten Institutionen des Finanzsektors lagen in Reichweite eines kleinen Spaziergangs.

Im Straßengeschoss befanden sich, neben verschiedenen Läden mit Artikeln des täglichen Bedarfs, ein Antiquitätengeschäft, eine Filiale der New York National Exchange Bank, eine noble Bar, ein Geschäft für exklusive Möbel und eines für erlesene Pelzmoden.

Einen Stock darüber gab es mehrere repräsentative Büroeinheiten. Genutzt wurden sie neben anderen von der bekannten Anwaltskanzlei Morgan & Partner sowie einer Dependance der Firma Monsanto und seit kurzem von einem Konsulat der Niederlande.

„Einen schönen guten Morgen Mr. Freyman.“ Man begegnete sich hin und wieder in der Halle und nahm sich Zeit für Höflichkeiten und einen Plausch.

„Moin, moin, Herr Konsul“, erwiderte der gebürtige Bayer schmunzelnd - mit dieser zu jeder Tageszeit gültigen hanseatischen Begrüßungsformel.

Der Diplomat, den er öfter in der Eingangshalle traf, erinnerte Mr. Freyman bei ihren Zusammentreffen jedes Mal an den kurzzeitigen Aufenthalt in Hamburg vor der Abreise. Und daran dachte er immer wieder gerne.

„Na, haben Sie schon ein passendes Appartement für meine Tochter gefunden?“, fragte der Niederländer, dessen Tochter nach seiner Aussage einige Monate bei ihrem Vater in New York leben wollte.

„Ja, hab‘ seit gestern etwas in Aussicht. Treffen wir uns zum Lunch? Dann kann ich Ihnen das Exposé zeigen.“

„Mit Vergnügen Mr. Freyman, aber obgepast, dieses Mal geht die Rechnung auf mein Konto! Schön übrigens, dass Sie sich wegen mir um solche Kleinigkeiten kümmern. Rufen Sie mich doch bitte einfach an, wann es am besten in ihr schwarzes Buch passt, ich richte mich selbstverständlich ganz nach Ihnen.“

Das „Schwarze Buch“ des Unternehmers war so eine Art Markenzeichen des Mr. Freyman geworden. Es gab keinen Ort und keine Gelegenheit, wo er es nicht dabei hatte oder es zu Rate zog. Manche flachsten, er wäre unsterblich, weil er für seinen Tod gar keinen Termin frei habe.

Einige der Büroräume im Haus, jene direkt neben dem Konsulat, nutzte Joseph Freyman für sich selber. Dort jonglierte er virtuos mit Verträgen für den An- und Verkauf von Grundstücken. Überwiegend größere, und auch riesige, waren es, die er an den Mann oder an die Frau brachte. Aber auch kleinere waren darunter, wenn eine exklusive Lage die Begrenztheit ihres Areals wertmäßig wettmachen konnte. Und davon gab es etliche in New York.

Mit einer kreativen Planung und der kompetenten Umsetzung anspruchsvoller Bauvorhaben gelang es ihm, seinen schwungvollen Immobilienhandel äußerst sinnvoll, und auch gewinnbringend, zu ergänzen.

Unter ‚gewinnbringend‘ verstand er dabei nicht allein den monetären Ertrag, sondern immer auch die möglichst harmonische Übereinstimmung von Bebauung und des von der Lage des Grundstücks vorgegebenen Umfeldes.

‚Es geht nicht darum, einfach nur Häuser hinzustellen, ihr sollt sie vor allen Dingen in ihre Umgebung integrieren‘, pflegte er am Astor College seinen Studenten zu sagen, wo er sporadisch als Gastdozent tätig war. Seine Vorlesungen waren wegen seiner Reputation immer gut besucht.

Viele seiner Klienten schätzten es sehr, sowohl ihr Grundstück als auch das Konzept und die Ausführung für ihr Wunschgebäude aus einer Hand zu bekommen. Vor allem aus einer so kompetenten.

Joseph Freyman war mit seinem Schaffen inzwischen an einem Punkt angelangt, an dem seine Entwürfe nicht mehr nur Architektur waren, sondern Kunst. In einer Zeit, in der seine Fachkollegen sich im historisierenden Neoklassizismus auslebten und alle möglichen Stilrichtungen zu einem räudigen Ganzen vereinten, setzte Freyman auf einen stark zurückgenommenen viktorianischen Stil. Dem verpasste er eine unaufdringliche Sachlichkeit.

So ging seine Arbeit eine perfekte Verbindung ein zwischen gezähmter Klassik und dem sich vorsichtig anbahnenden neuen Zeitgeist, den er durch seine vielbeachteten Arbeiten maßgeblich initiierte.

Er vereinigte diese unterschiedlichen Formvorstellungen verschiedener Epochen zu einem eigenen, unverwechselbaren Stil, der später in Europa zu seiner extrem puristischen Form weitergetrieben wurde. Den Anfang dieser neuen Schule, die man auf der anderen Seite des Atlantiks ‚Bauhaus‘ nannte, hatte er noch erlebt.

Er selbst bezeichnete den von ihm befürchteten Endpunkt dieser Entwicklung als ‚die optimale Anpassung von Material und Gestalt an die Bedürfnisse der Menschen - ohne sich dabei um ihre Seele zu kümmern‘.

Wohlbehütet wuchs John in diesem kultivierten, freigeistigen Elternhaus heran. Seine Mutter liebte ihn über die Maßen, verwöhnte ihn, wo sie nur konnte.

Der Vater hatte in ihm, nach den zwei früher geborenen Töchtern, endlich seinen lang erhofften Nachfolger für die Firma ausgemacht. Dem Junior wollte er ein guter Lehrmeister fürs Leben sein, und war es auch; zum guten Vater reichte oft nicht die Zeit.

Seine beiden Schwestern akzeptierten John, obwohl sie in ihm ständig auch den Konkurrenten im Ringen um die Gunst der Eltern sahen.

Anlass zu dieser Sichtweise gab es - die Rivalität war nicht nur eingebildet.

John durfte sich so einiges herausnehmen, was man den Mädchen nicht durchgehen ließ. Schließlich lebte man am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Noch waren die moderneren Normen nicht in den Köpfen angekommen. Im Lauf der Jahre änderte sich dieses Verhältnis aber zugunsten der jungen Damen.

Jedenfalls innerhalb der Familie.

Die aufgeklärte Denkweise der Eltern überwand die archaischen Vorgaben zur ‚Wertigkeit der Geschlechter‘. Das anfängliche Konkurrenzdenken unter den Geschwistern verschwand so nach und nach.

Eines schönen Tages forderte John, noch keine sechs, im unbesonnenen Leichtsinn der frühen Jugend sein Schicksal regelrecht heraus.

Wie Kinder das immer wieder mal tun, wenn sie mit ihrer geringen Lebenserfahrung und einer unbekümmerten Gedankenlosigkeit das Unheil geradezu anlocken.

Er hatte es an jenem denkwürdigen Tag mit seiner Dickköpfigkeit wieder einmal auf die Spitze getrieben. Und sich, wie auch sonst fast immer, durchgesetzt.

Seine Mama hatte ihm aus dem Macy‘s eine Neuheit mitgebracht, einen bunten Gummiball, der durch eine neuartige Mischung des Materials höher und weiter sprang, als alle Bälle, die bis dahin für Kinder zu haben waren.

John wollte mit diesem neuen ‚Wunderball‘ partout nicht nur im Haus spielen.

Das immerhin war verständlich.

Es war mitten im August, und in den Häusern der Stadt fühlte man sich in diesen Tagen wieder einmal wie in einem Backofen. Aber auch in dem großen schattigen Garten hinter dem Haus wollte John damit nicht spielen.

Nein, er musste damit unbedingt vorne auf die Straße mit dem um diese Zeit brodelnden Verkehr und den vielen Menschen hinaus.

‚Geteilte Freude ist doppelte Freude‘ - das mag für viele Gelegenheiten zutreffen; in diesem Fall aber war es ganz einfach sein Bedürfnis, mit dem neuen Ball, der bedeutend höher sprang, als all seine bisherigen, sich vor anderen Leuten in Szene zu setzen.

Dieser Drang zur Angeberei bei kleinen Kindern entspringt dem Wunsch, ihre ständig gespürte Unterlegenheit der Erwachsenenwelt gegenüber kompensieren zu wollen. Ganz egal wodurch. Und sei es nur mit einem schönen bunten Ball mit fantastischen neuen Eigenschaften, den sonst noch keiner in der Straße besaß.

Mrs. Freyman war alles andere als begeistert von Johns Idee, die Straße vor dem Haus als Spielplatz zu missbrauchen, auch wenn sich sein Ansinnen ja nur auf den Bürgersteig bezog. Wortreich versuchte sie, John von seinem Vorhaben abzubringen, das sie wegen des hohen Verkehrsaufkommens in der Pearl Street als hoch gefährlich einstufte.

Der Junge war jedoch absolut resistent gegenüber all ihren Argumenten, die sie mit verzweifelter Vehemenz vorbrachte.

Schlussendlich gab einer von den beiden nach. John war es auch dieses Mal nicht.

Die zwei neuen Hausmädchen der Freymans, beide Filipinas, waren von Soldaten der US-Armee in ihrem asiatischen Lebensraum während der Unterwerfung des Inselstaates quasi requiriert worden. Und danach kamen sie als ihre Ehefrauen in die USA. Als das Interesse an ihnen nachließ, hatten sie sich einfach wieder von ihnen scheiden lassen.

Die zwei Mädchen mit ihrem schwarzglänzenden Haar waren nicht sehr groß. Sie waren sehr hübsch; die Soldaten hatten, neben ihrer Verantwortungslosigkeit, unbestreitbar Geschmack bewiesen.

Das Benehmen der Mädchen war tadellos, ihre Kleidung immer sauber und ordentlich.

Seit sie bei den Freymans im Dienst standen, waren die Frauen aus Manila, Mayari Escarda und Saya Ramos, immer zuverlässig gewesen. Es gab keinerlei Anlass zur Klage.

In ihren Pässen standen noch die Namen ihrer vormaligen Ehemänner, Carter und Gillmore, aber sie wollten unbedingt wieder ihre früheren Mädchennamen tragen und damit auch angesprochen werden. Und bei den Freymans erfüllte man ihnen diesen Wunsch gerne.

Man konnte sich jedenfalls immer auf die beiden verlassen. Einer der Gründe für Eleonora Freyman, Johns Verlangen letztendlich nachzugeben. Sie schärfte den Mädchen aber noch einmal besonders ein, ihren Schützling nicht einen einzigen Moment aus den Augen zu lassen.

„Passt mir auf ihn auf, als wäre es euer eigenes Kind!“, beschwor sie noch einmal eindringlich ihre zwei Angestellten. Die beteuerten ergeben, die höchste Obacht bei der Aufsicht über den kleinen John walten zu lassen.

Ungeachtet dieser Versprechen hatte Mrs. Freyman kein gutes Gefühl, als sie das Trio die Treppe hinuntertollen sah. John war nicht gerade das, was man gemeinhin ein ‚stilles, ruhiges Kind‘ nennt.

Sie ging an eines der Fenster ihres Ankleidezimmers und öffnete es. Alle Fenster dieses Raumes gingen zur Straßenfront, und man konnte aus ihnen die Straße in beide Richtungen bis zu den nächsten Häuserblocks überblicken.

Nur durch das gerade im Saft stehende Blätterwerk der etwas höheren Bäume auf der Anpflanzung vor dem Haus war die Sicht stellenweise etwas eingeschränkt.

Die Pearl Street war eine sehr belebte Straße. Kutschen aller Art und Fuhrwerke für jeden Bedarf waren von früh bis spät auf der Straße unterwegs. Auf und ab, hin und her ging es. Angst aber machten Johns Mutter vor allem die neuen Motorfahrzeuge, die oft mit 20 Meilen in der Stunde, manchmal auch mit mehr, durch die Stadt rasten.

Voller Unruhe wartete sie, bis sie John mit den beiden Mädchen endlich auf dem Bürgersteig erblickte. Auch die breiten Trottoirs beiderseitig der Straße waren recht belebt.

Die Menschen hasteten aneinander vorbei. Nur wenige waren darunter, die Zeit und Muße hatten, einfach den Boulevard entlang zu schlendern.

Eleonora Freyman befürchtete, ihren Sohn mit den zwei Mädchen in dem Getümmel aus den Augen zu verlieren.

Sie nahm sich vor, jedenfalls so lange am Fenster stehen zu bleiben und aufmerksam Ausschau zu halten, bis die drei wieder ins Haus zurückkamen.

Mayari hielt John fest an der linken Hand. Der warf mit seiner rechten den Ball mit Schwung zu Boden, um ihn dann gleich wieder aufzufangen, wenn er nach einem mächtigen Satz in hohem Bogen zurückfiel.

 

Immer wieder das gleiche Spiel. Die enorme Sprungkraft dieser neuen Gummimischung faszinierte ihn mächtig.

Eine ganze Weile war er mit größter Begeisterung dabei, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass er mit seinen Würfen allerlei abstrakte ballistische Formeln in lebendige Schaubilder verwandelte.

Sie liefen die Front des Hauses ab, drehten am Ende um, und gingen dann wieder in die andere Richtung. Es war nicht gerade ein atemberaubendes Unternehmen. Dass sie öfter um andere Passanten herumkurven mussten, machte die Sache auch nicht spannender.

John hatte sich das schon etwas anders vorgestellt.

Eigentlich wollte er lieber mit anderen Kindern spielen. Oder wenigstens den Ball auch mal mit dem Fuß gegen eine Mauer treten, um seine Schussgenauigkeit zu testen. Das aber, was er tatsächlich machen durfte, wurde ihm schon sehr bald zu langweilig.

Immer wieder versuchte er, sich aus der Hand Mayaris zu befreien. Die aber ließ nicht locker.

Saya dagegen ging vorsorglich neben ihnen auf der Straßenseite des Gehweges, um eventuelle Fluchtversuche des Wildfangs zur Fahrbahn hin abzusichern.

Ob es Versehen war oder Absicht, was dann passierte, konnte man nicht erkennen. Auch später hatte sich nie jemand auf eine der zwei Möglichkeiten festgelegt.

Der einzige, der es ganz genau wissen konnte und es auch wusste, nämlich John, der behauptete steif und fest, er könne sich nicht mehr daran erinnern.

Wie auch immer…

Plötzlich sprang der Ball in einem weiten Satz mitten in die Straße hinein. John riss sich zur gleichen Sekunde mit einem heftigen Ruck von Mayari los und rannte hinterher. Mit einem schnellen, ruckartigen Ausweichmanöver schlüpfte er an Saya vorbei.

Die versuchte noch, ihn mit einem instinktiven Zugriff mit ihrer Hand zu fassen. Vergeblich. Es ging einfach alles zu schnell. Sie bekam ihn zwar noch ganz kurz an seinem Hemd zu fassen, erreichte dadurch aber nicht mehr, als dass sie einen Zipfel davon herauszog. Der hing nun an Johns Rücken über seine Hose herunter.

John selbst achtete indes nur auf seinen Ball.

Den schweren Wagen, der gerade mit Fässern beladen von zwei kräftigen Kaltblütern mit lautem Geklapper die Straße entlanggezogen wurde, bemerkte er offenbar gar nicht. Trotz seines offensichtlich großen Gewichtes war der Wagen erstaunlich flott unterwegs.

Kurz hinter den Vorderrädern rollte der Ball unter den Wagen. John lief direkt hinter ihm her.

Mayari und Saya schrien entsetzt auf. Johns Mutter, die alles vom Fenster aus mit ansehen musste, blieb vor Schreck das Herz stehen. Sie brauchte Sekunden, bis sie sich wieder in der Gewalt hatte und aus der Ankleide in den Flur hinausstürzen konnte. So schnell sie nur konnte hastete sie das Treppenhaus hinunter und zum Portal hinaus.

Einige der Passanten, die ebenfalls Zeugen des Geschehens waren, hielten sich betroffen die Hand vors Gesicht.

Viele der von Eile getriebenen ergaben sich ihrer Sensationsgier und blieben neugierig stehen. Eine ältere Frau fing an zu weinen. Ein Mann fluchte lautstark. Wen er mit seinen Flüchen bedachte, blieb unklar.

Durch das Geschrei anderer Fußgeher und durch die wilden Handzeichen, die sie ihm machten, wurde auch der Kutscher des Bierwagens auf den Vorfall aufmerksam. Er hatte nichts bemerkt und war erst ahnungslos weitergefahren. Offenbar aber galten genau ihm die aufgeregten Gebärden der gestikulierenden Menge. Energisch zog er an den Zügeln, um die Pferde schnell zum Stehen zu bringen und stieg hastig von seinem Wagen herunter.

Mit unsicheren Schritten und einem recht unguten Gefühl im Bauch schlurfte er nach hinten; dorthin, wo sich schon eine kleinere Gruppe von Leuten gebildet hatte.

Er war völlig ahnungslos und wollte daher erst einmal sehen, was denn überhaupt passiert sei – was die Leute eigentlich von ihm wollten.

Da sah er den Jungen hinter seinem Wagen liegen, mitten auf der Straße, etwa fünfzehn Yards entfernt.

Der Fahrer des Fuhrwerks war der Sohn ehemaliger Sklaven, die aufgrund der neuen Gesetze jetzt frei wählen durften zwischen der Schufterei auf den dampfend heißen Baumwollfeldern im Süden und der Schufterei in den stickigen Fabrikhallen im Norden.

Das einzige, was seine Eltern ihm vererbt hatten, war eine tiefschwarze Haut. Eigentlich hieß er Jelly Picker. In der Brauerei nannte man ihn jedoch nur abschätzig ‚Mississippi‘. Er galt dort aber als arbeitsam und war immer freundlich. Und hatte trotzdem nie Glück.

Als er den kleinen John am Boden liegen sah, da quollen dem notorischen Unglücksraben vor Angst die großen weißen Augäpfel aus den Höhlen. Hatte er ihn mit seinem Wagen getötet? Die Gene in seinem afrikanischen Blut signalisierten höchste Lebensgefahr.

Der Junge war weiß! Und wenn er tot war? Das bedeutete nichts Gutes. Die Straßenlaternen waren niedrig genug, um problemlos ein Seil mit Schlinge darüber zu werfen.

In höchster Sorge lief er auf den kleinen John zu, der völlig reglos auf dem Asphalt lag.

„Master, Master“, rief er verzweifelt. Er kniete vor ihm nieder. „Master, bitte wach auf, bitte, Master!“

Er sah sich um und blickte in die sich verfinsternden Gesichter der Gaffer. Zögerlich, aber bedrohlich unaufhaltsam schob sich die Menge näher.

„Ich war es nicht, ich habe ihm nichts getan!“, beteuerte der Unglückliche eilfertig in seiner Not. Schließlich hatte er nichts gesehen, nichts gehört und auch keinerlei Stoß oder gar einen Schlag an seinem Karren gespürt. Hilflos und verängstigt blickte er um sich. Dicke Schweißperlen rollten von seiner in tiefe Falten gelegten Stirn über seine Wangen - tropften von dort auf seine Kleidung und auf die Straße.

Da rappelte sich John verdutzt auf.

Blieb aber vorerst immer noch leicht verwirrt auf seinem Hosenboden sitzen.

Ein Raunen der Erleichterung ging durch die Menge.

John schaute erstaunt in die Runde der Passanten, die wiederum erwartungsvoll auf ihn selbst starrten. Verwundert nahm er wahr, dass auch die beiden Mädchen, die Hausmädchen der Freymans, seine Aufpasserinnen, unter den Umstehenden waren, in der allerersten Reihe.

Er konnte sich überhaupt nicht vorstellen, was da um ihn herum vor sich ging. Es kam ihm merkwürdig vor, dass all diese Leute ausgerechnet auf ihn starrten.

John war unter den Wagen gerannt, mit dem Kopf an die Bohlen der Ladefläche gestoßen, gestürzt, und genau zwischen den vorbeirollenden Hinterrädern gelandet.

Er musste beim Sturz wohl ohnmächtig geworden sein. Eine leichte Rötung war auf der linken Seite seiner Stirn zu sehen. Ansonsten war alles heil an ihm.

In Erinnerung hatte er von dem Vorfall nicht mehr viel. Hingefallen war er, das glaubte er zu wissen. Aber sonst?

Ja, richtig, sein neues Spielzeug.

Langsam dämmerte ihm wieder, was er vorher gemacht hatte. Er schaute sich um und suchte nach seinem Ball.

Was der jammernde schwarze Mann von ihm wollte, war ihm auch nicht ganz klar. Komisch, der schien unglücklich und glücklich zur gleichen Zeit zu sein. Vielleicht wollte der ihm nur auf die Beine helfen? Warum machte er dann keine Anstalten dazu? Lamentierte nur vor sich hin und freute sich trotzdem?

Schon merkwürdig.

Und warum Mayari und Saya da bei all den Leuten da drüben standen und hemmungslos schluchzten, das war ihm völlig unverständlich. Und was war denn das?

Da kam nun auch noch seine Mutter angelaufen; völlig außer sich stürzte sie auf ihn zu.

Das verstand er jetzt erst recht nicht.

„Johnny, mein Liebling, geht’s dir gut? John bist du verletzt? Sag es mir, sag doch etwas, mein Kind!“

Mrs. Freyman kniete halb vor ihrem Jüngsten. Zu allererst tastete sie ihren verdutzten Sohn von oben bis unten ab. Dann drückte sie seinen Kopf an ihre Brust; schließlich legte sie ihre Handflächen an seine Wangen und blickte ihm kopfschüttelnd in die Augen. Ihre eigenen füllten sich derweil mit Tränen der Erleichterung.

„Mum, was soll denn los sein? Ich bin einfach hingefallen. Das war doch nicht das erste Mal. Warum seid ihr denn alle so anders heute?“