Jenseits des Spessarts

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Zwei Tage später:

Erster Kriminalhauptkommissar Eberhard Brunner, Leiter der Mordkommission in Würzburg, hatte gestern vom Vorzimmer des Polizeipräsidenten Arnold Häfner, einen Anruf bekommen, in dem er gebeten wurde, heute um zehn Uhr zu einer Dienstbesprechung zu erscheinen. Die Vorzimmerdame machte ihm deutlich, dass dies eine klare Dienstanweisung mit oberster Priorität war. Brunner hatte keinerlei Ahnung, was das bedeuten sollte.

Nach Betreten des geräumigen Dienstzimmers sah er sich zu seinem Erstaunen drei Personen gegenüber, von denen ihm nur zwei bekannt waren. Er gab dem Polizeipräsidenten die Hand, dann begrüßte er Oberstaatsanwalt Dr. Haenisch, mit dem er häufig dienstlich zu tun hatte. Der dritte Mann wurde ihm von Präsident Häfner kurz vorgestellt: „Kriminaldirektor Seebach, Landeskriminalamt München.“ Nachdem er auch ihm die Hand geschüttelt hatte, setzte er sich auf den Stuhl am Besprechungstisch, den ihm der Polizeipräsident anbot. Der kam auch gleich zur Sache:

„Lieber Brunner, Sie wundern sich wahrscheinlich über die Zusammensetzung dieser Besprechungsrunde. Zunächst möchte ich Ihnen mitteilen, dass Herr Dr. Haenisch nicht mehr Oberstaatsanwalt ist, sondern ihm ein Amt als Staatssekretär im Innenministerium übertragen wurde.“

Brunner zog die Augenbrauen in die Höhe und nickte Dr. Haenisch zu. „Gratuliere.“

„Danke“, gab dieser kurz zurück, denn der Präsident fuhr schon fort.

„Dr. Haenisch hat die wichtige Aufgabe der Bekämpfung der Bandenkriminalität im Milieu der Familienclans als Schwerpunkt seiner Tätigkeit erhalten. Bekanntermaßen haben sich diese Banden wie ein Krebsgeschwür immer stärker in den Main-Spessart-Bereich hineingefressen. Daraufhin hat Kriminaldirektor Seebach die Anordnung erhalten, umgehend eine Sonderkommission zusammenzustellen, die Herrn Dr. Haenisch direkt unterstellt wird.“

Der Präsident atmete kurz durch, dann fuhr er ohne Umschweife fort: „Sie, Herr Brunner, werden zum Leiter dieser Sonderkommission ernannt.“ Er hob die Hand, weil Brunner Luft für eine Erwiderung schöpfte. „Bevor Sie fragen, die Mordkommission in Würzburg übernimmt kommissarisch Kriminalhauptkommissar Kauswitz. Er ist Ihr Vertreter und leistet gute Arbeit. Sollte sich Ihre Aufgabe in der Soko eines Tages erledigt haben, können Sie also problemlos wieder zurückkehren.“

Der Polizeipräsident sah Brunner prüfend an. „Ich weiß, wir haben Sie damit überfallen. Aber wir denken, das ist eine Aufgabe ganz nach Ihrem Herzen. Sie bzw. die Soko werden natürlich technisch und personell entsprechend ausgestattet, so dass Sie erfolgreich sein werden.“

Der LKA-Mann, der die ganze Zeit geschwiegen, stattdessen aber Brunner eingehend gemustert hatte, hob kurz die Hand.

„Wir haben vom Innenministerium die Aufforderung bekommen, möglichst schnell eine schlagkräftige Truppe zusammenzustellen. Der Herr Staatssekretär kennt Sie aus seiner Zeit als Oberstaatsanwalt. Sie haben dienstlich ja häufig zusammengearbeitet. Sie sind sein absoluter Wunschkandidat.“

Dr. Haenisch nickte bestätigend.

Langsam fand Brunner wieder zu seiner Sprache zurück. „Wow, das ist alles ziemlich überraschend.“ Mehr brachte er im Moment nicht heraus. Er fühlte sich ein wenig überfahren. „Kann ich da noch einmal drüber schlafen?“

Der LKA-Mann brachte ein trockenes, humorloses Lachen zustande. „Lieber Brunner, Sie mögen zwar der Wunschkandidat des Herrn Dr. Haenisch sein, das heißt aber nicht, dass hier ein Wunschkonzert stattfindet. Wir haben uns Ihre Personalakten genau angesehen. Sie sind absolut qualifiziert, außerdem sind Sie familiär ungebunden. Nach unseren Vorstellungen werden Sie Ihren Dienst in erster Linie in einer Unterkunft ableisten, in der auch die gesamte Soko untergebracht sein wird. Man hat uns zu diesem Zweck ein aufgelassenes Forsthaus in der Nähe von Lohr am Main angeboten. Es wird gerade umgebaut und technisch fit gemacht.“ Er lehnte sich zurück, dabei sah er auf ein Blatt Papier, auf dem er sich Notizen gemacht hatte.

„Zur personellen Zusammensetzung: Wir werden nur bestens ausgebildete Beamtinnen und Beamte in die Sonderkommission berufen, die dort modernste Technik zur Verfügung haben werden. Die Soko wird, neben dem Leiter, aus drei Frauen und zehn Männern bestehen, wobei mindestens zwei Mitglieder über zufriedenstellende Kenntnisse der arabischen Sprache verfügen müssen. Die Gruppe wird mit einem leistungsfähigen Fuhrpark ausgerüstet, zu dem auch zwei gepanzerte Fahrzeuge gehören werden, denn wir rechnen natürlich mit Widerstand. Fünf Mitglieder der Gruppe werden von einem Sondereinsatzkommando abgeordnet. Das sind Spezialisten im Nahkampf und mit Scharfschützenausbildung. Damit hätten wir dann eine äußerst leistungsfähige Truppe, die den schweren Kampf gegen den Kraken der organisierten Kriminalität wirksam aufnehmen kann. Der Dienst wird nach einem bestimmten Einsatzplan abgeleistet, wonach neben dem Leiter und seiner Vertreterin, einer Oberkommissarin aus dem Bereich des SEK Nord, immer zehn Kräfte gleichzeitig in der Zentrale der Soko anwesend sein müssen. Alle, die im Dienst sind, arbeiten und schlafen in den Räumlichkeiten des Forsthauses. Wir haben bei der Zusammenstellung der Soko darauf geachtet, keine verheirateten Mitglieder abzuordnen, um soziale Konflikte in der Gruppe zu vermeiden. Die Aufgabe der Soko besteht zudem auch im Personenschutz für Dr. Haenisch, in Ermittlungen im Milieu, der Führung von V-Männern und der Lancierung von Falschmeldungen. Wir wollen ständig Sand ins Getriebe der Banden streuen. Die Soko verfügt über einen direkten Draht zur Einsatzzentrale und ist mittels Funk untereinander verbunden.“ Der Kriminaldirektor sah Brunner erwartungsvoll an. „Nun, was halten Sie davon?“

Ehe Brunner noch etwas sagen konnte, ergriff Dr. Haenisch das Wort. „Herr Brunner, es ist mir klar, dass das eine große Herausforderung ist, aber ich muss Sie bitten, sich bis morgen zehn Uhr zu entscheiden. Wir stehen unter enormem Zeitdruck.“ Er griff in seine Jackentasche. „Hier meine Visitenkarte. Da steht zwar noch Oberstaatsanwalt drauf, aber meine private Handynummer stimmt noch.“

Die drei Herren erhoben sich, für Brunner das Zeichen, dass die Besprechung beendet war. Nach Verlassen des Präsidiums, stand er wie betäubt auf der Straße. Ihm schwirrte der Kopf. Er sollte mit Hilfe einer Sonderkommission die Bandenkriminalität zweier arabischer Clans im weiteren Umfeld Frankens bekämpfen. Das war vielleicht ein Hammer! Langsam schlenderte er durch die Zellerau in Richtung Stadtmitte. Am Marktplatz setzte er sich in das Straßencafé einer Bäckerei. Er musste in Ruhe nachdenken.

Sehr schnell wurden allerdings seine beruflichen Überlegungen von der Erinnerung an das Telefonat verdrängt, das er gestern Abend mit seinem Freund Simon Kerner geführt hatte. Der Zeitunterschied zwischen hier und Südafrika betrug nur eine Stunde und fiel daher kaum ins Gewicht. Die Hiobsbotschaft, die Kerner ihm anvertraute, hatte ihm fast den Boden unter den Füßen weggezogen. Die Mitteilung von der schweren Erkrankung der kleinen Clara schockte ihn tief.

„Ich habe mir überlegt, wieder als Anwalt zu arbeiten“, hatte Kerner in gedrückter Stimmung erklärt. „Ich habe mich erkundigt, eine Zulassung dürfte unschwer möglich sein. Als selbständiger Rechtsanwalt kann ich mir meine Zeit einigermaßen einteilen und für Clara und Theresa da sein.“

Es war ein Drama, irgendwie wurde sein Freund Simon von Schicksalsschlägen verfolgt. Lange sah es so aus, als hätte er in Afrika Ruhe gefunden. … und jetzt das! Die Entscheidung, wieder nach Deutschland zurückzukehren und die Behandlung des Mädchens in der Universitätskinderklinik in Würzburg durchführen zu lassen, fand er absolut richtig. Kerner hatte ihn gebeten, sich nach einer geeigneten Wohnung für die Familie umzusehen, möglichst in Kliniknähe. Gerne hatte Brunner seine Hilfe zugesagt. Diese schlimme Nachricht wirbelte die kleine Familie richtig durcheinander. Brunner war vor einigen Monaten dort für ein paar Wochen zu Besuch gewesen und hatte gesehen, wie glücklich sie waren.


Brunner trank seinen Kaffee aus und brachte das Geschirr in die Bäckerei zurück. Das Angebot des Staatssekretärs war wirklich sehr verlockend. Auch bei ihm waren immer wieder schwere Straftaten dieser Gangs auf dem Schreibtisch gelandet. Diese Banden schreckten auch nicht vor Mord und Totschlag zurück. Obwohl in der letzten Zeit immer wieder ungeklärte Todesfälle in diesem Milieu auftraten, konnte die Mordkommission bisher keinen der Fälle der Staatsanwaltschaft vorlegen, um darauf eine fundierte Anklage zu erstellen. Die Verbrecher besaßen hervorragende Anwälte und immer wieder mussten Verfahren zähneknirschend eingestellt werden.

Eberhard Brunner betrat sein Büro und ließ sich hinter dem Schreibtisch in seinen Bürostuhl fallen. Er musste umgehend mit Kauswitz, seinem Vertreter, sprechen, bevor der Polizeipräsident ihn anrief. Die Tatsache, dass Kauswitz die Leitung der Mordkommission nach Brunners Abordnung nur kommissarisch übernehmen sollte, musste er ihm persönlich beibringen. Mit Sicherheit würde Kauswitz darüber enttäuscht sein, Brunners Nachfolge nicht sofort und endgültig übernehmen zu können. Immerhin wäre damit auch ein Karrieresprung verbunden. Eberhard Brunner erhob sich tief durchatmend. Ein schwerer Gang. Er verließ sein Dienstzimmer und klopfte an die Tür seines Vertreters auf der anderen Seite des Flurs. Nach der Aufforderung einzutreten, streckte Brunner seinen Kopf durch die Tür.

 

„Ludwig, hast du einen Moment Zeit für mich?“

Ludwig Kauswitz sah von den Akten hoch, die er gerade studierte. „Klar, was gibt es?“

Brunner setzte sich auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches, dann begann er zu sprechen.

Kauswitz hörte ihm aufmerksam zu, ohne ihn zu unterbrechen. Je mehr sich die Ausführungen Brunners jedoch dem kritischen Punkt seiner Vertretung näherten, desto ernster wurde die Miene seines Kollegen. Als Brunner verstummte, trat im Raum zunächst einmal Stille ein.

„Ich war von dem Angebot ebenfalls total überrascht“, ergänzte Brunner. „Keine Ahnung, warum der Polizeipräsident diese kommissarische Lösung für die Mordkommission haben möchte.“

Kauswitz drehte sich auf seinem Stuhl zur Seite und warf einen Blick zum Fenster hinaus. Schließlich wandte er sich Brunner zu. Seine Miene war schwer zu durchschauen.

„Da kann ich dir nur gratulieren. Das ist sicher ein heißer Job. Du hast ja schon immer mal geäußert, du würdest gegen etwas mehr Action nichts einzuwenden haben. Ich werde dich auf jeden Fall vertreten … so gut ich das kann.“ Brunner spürte die Enttäuschung, die in seinen Worten mitschwang.

„Du wirst das genauso gut machen wie ich“, stellte er fest, „da bin ich sicher. Warte mal ab. Ich habe keine Vorstellung, wie lange mein Einsatz bei dieser Soko dauert. Ich rechne mit Jahren. Irgendwann wird man dann diese Interimslösung bei der Mordkommission beenden müssen. Dann bist du an der Reihe.“

Ludwig Kauswitz nickte langsam. „Schauen wir mal … Jetzt steig du erst mal diesen Clans anständig auf die Zehen. Ich hoffe, dass durch diese Soko die ungeklärten Todesfälle etwas weniger werden.“

Brunner nickte. „Wir werden in Zukunft sicher eng zusammenarbeiten.“ Er erhob sich und klopfte Kauswitz aufmunternd auf die Schulter, dann verließ er das Büro seines Kollegen.

Kaum hatte Brunner die Tür von draußen geschlossen, ballte Kauswitz die Faust und stieß einen verhaltenen Fluch aus. Selbstverständlich hatte er sich Hoffnungen gemacht, einmal Brunners Nachfolger als Leiter der Mordkommission zu werden. Wie es jetzt aussah, hatte man ihn auf dem Verschiebebahnhof der Beförderungen auf einem Abstellgleis geparkt. Da konnte man ihm nichts vormachen: Man erwartete von ihm, dass er für Brunner den Stuhl warmhielt, bis dieser irgendwann seinen Job glorreich erledigt hatte und zurückkam. Er klappte die Akte, an der er gerade arbeitete, zu. Jetzt musste er erst einmal an die frische Luft. Er warf noch einen kurzen routinemäßigen Blick auf seinen Terminkalender. „Dienstwaffe zur Inspektion“, stand da in Rot. Da konnte er den Spaziergang gleich mit der Ablieferung seiner Pistole bei den Waffentechnikern im Haus verbinden. Er holte sie aus dem Schreibtischkasten heraus und steckte sie in sein Gürtelholster. In Abständen mussten die Dienstwaffen zur technischen Überprüfung. Sie wurden gereinigt und verschlissene Teile wurden ersetzt. Im Ernstfall musste er sich auf die Schusswaffe verlassen können.

Der Kollege in der Waffentechnik nahm die Pistole entgegen. „Entladen und gesichert“, erklärte Kauswitz knapp.

„Danke“, erwiderte der Beamte kurz, entnahm das Magazin und öffnete den Verschluss.

„Ich sagte doch, entladen und gesichert“, mokierte sich Kauswitz schlecht gelaunt.

„Ludwig, reg dich nicht auf. Ich behandle jede Waffe, die ich in die Hände bekomme, so, als wäre sie geladen. Du machst dir keine Vorstellungen, was ich hier schon alles erlebt habe.“ Er trug die Waffennummer in eine Kladde ein und bestätigte per Unterschrift den Empfang. Anschließend unterschrieb Kauswitz.

„Gut, dann bekommst du jetzt deine Ersatzwaffe. Identisches Modell. Munition hast du noch?“

Kauswitz nickte.

„Na, dann hier bitte noch eine Unterschrift für den Empfang.

„Was für ein Papierkrieg“, murmelte der Kriminalbeamte. Auf der Liste entdeckte er einige Linien weiter oben die Unterschrift von Brunner. „Ah, der Kollege hat auch schon abgeliefert. Vorbildlich wie immer“, stellte er leicht ironisch fest.

Der Techniker musste grinsen. „Na ja, so pauschal möchte ich das jetzt nicht bestätigen“, stellte er fest. „Sie war ziemlich verdreckt und der Lauf voller alter Pulverrückstände. Höchste Zeit, dass die mal gründlich gereinigt wird.“

Kauswitz zuckte mit den Schultern. „Tja, der Kollege ist ehrgeizig und verbringt einige Zeit auf dem Schießstand. Er will wohl beim nächsten Kollegenturnier den Pokal ergattern.“

Ludwig Kauswitz steckte die Pistole ungeladen in das Holster und verließ mit einem kurzen Gruß die Waffenkammer.

Am nächsten Morgen erledigte Eberhard Brunner drei Anrufe. Jeder der drei Protagonisten des letzten Tages nahm seine positive Entscheidung wohlwollend zur Kenntnis. Anschließend suchte er seinen Stellvertreter in seinem Büro auf, um ihm die Nachricht über seine Zusage persönlich mitzuteilen. Für Kauswitz kam diese Entscheidung nicht überraschend.

„Ludwig, wir werden mit Sicherheit gut zusammenarbeiten“, versicherte Brunner seinem Kollegen.

„Ab wann ist diese Änderung in Kraft?“, wollte Kauswitz wissen.

„Wir haben jetzt Donnerstag“, erwiderte Brunner, „ich denke ab Montag. Ich muss jetzt gleich rüber ins Präsidium, weil einige organisatorische Dinge zu erledigen sind. Wenn’s nach dem Landeskriminalamt ginge, hätten wir schon gestern anfangen sollen. So schnell geht’s natürlich nicht. Die Technik ist einzurichten und dann müssen wir zusehen, dass wir entsprechend qualifiziertes Personal zusammenbekommen. Da gibt es noch einiges zu tun.“

„Na dann“, erwiderte Kauswitz bemüht freundlich, „Hals und Beinbruch!“ Er drückte Brunner die Hand, dann ging er in sein Büro zurück. Brunner hatte ihm angeboten, während seiner Abwesenheit sein Dienstzimmer zu benutzen, da es etwas geräumiger war. Aber Kauswitz hatte dankend abgelehnt.

Brunner verabschiedete sich von seinen Kolleginnen und Kollegen in der Abteilung, dann verließ er das Haus. Unter dem Arm trug er einen kleinen Karton, in dem einige persönliche Dinge untergebracht waren.


Die Stimme:

Die Person schaltete das Gerät ein, mit dem sie ihre Stimme am Telefon verfälschte. Nun würde keiner mehr feststellen, ob der Anrufer weiblich oder männlich war. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, da man nie wusste, wer mithörte.

Es war deutlich nach Mitternacht; obwohl die Nummer anonymisiert war, wusste der Angerufene, um wen es sich handelt.

„Ich nehme an, du hast wichtige Nachrichten für mich“, erklärte der Angerufene. „Es freut mich, dass du nicht vergessen hast, was ich alles für dich getan habe.“

„Wie könnte ich das vergessen!“, erklärte die Stimme. „Bisher gab es keinen Anlass, das Risiko einer Entdeckung einzugehen. Das wäre in unserer beider Interesse nicht wünschenswert. Wie du weißt, steht für mich wesentlich mehr auf dem Spiel als für dich.“ Obwohl die Stimme verfremdet war, konnte man eine gewisse Verärgerung heraushören.

„Gut, gut, ich wollte dich nur dran erinnern. Sprich, was gibt es?“

„Der Freistaat macht Ernst. Ihr habt euch zu lange zu sicher gefühlt. Der Innenminister wird einen Staatssekretär ernennen, dessen primäre Aufgabe darin besteht, die beiden Clanfamilien politisch zu bekämpfen. Darüber hinaus wird eine Sonderkommission Spessart eingerichtet, die in enger Zusammenarbeit mit dem Staatssekretär, gewissermaßen als dessen polizeilicher Arm, fungiert.“

„Interessant, aber die haben schon des Öfteren versucht uns ans Bein zu pinkeln und immer fehlte es ihnen vor Gericht an Beweisen …“

Die Stimme unterbrach ihn. „Das ist diesmal etwas anderes. Dieser Staatssekretär Dr. Haenisch und der Erste Kriminalhauptkommissar Brunner, der die Leitung der Soko übernimmt, sind beides scharfe Hunde, die auch vor grenzwertigen Aktionen nicht zurückschrecken.“ Es trat eine Pause ein, in der die Worte ihre Wirkung entfalteten.

„Du kannst mir sicher sagen, wo diese Männer wohnen“, wollte der Angerufene wissen.

„Nicht aus dem Handgelenk, da muss ich erst etwas recherchieren. Ich würde mit irgendwelchen Aktionen noch warten. Erst mal zusehen, wie sich die Sache entwickelt. Nicht gleich schlafende Hunde wecken! Aber wachsam sein!“ Nach einer weiteren Kunstpause fuhr die Stimme fort: „Ich hoffe, es sind alle kritischen Urkunden und Beweise so sicher verwahrt, dass sie bei einer Hausdurchsuchung nicht in falsche Hände geraten. Sie nehmen bei derartigen Aktionen auch alle Computer und Datenträger mit … du weißt, was ich meine …“

„Keine Sorge, auf den Rechnern befinden sich nur saubere Daten. Da können sich die Herrschaften die Zähne dran ausbeißen. Außerdem haben wir ausgezeichnete Anwälte, die dann für das viele Geld, das sie kassieren, auch etwas Nutzbringendes zustande bringen werden.“

„Ich wollte das nur noch einmal gesagt haben“, erklärte die Stimme leise.

„Das ist in Ordnung. Im Gegenzug verlasse ich mich darauf, dass du mich regelmäßig informierst.“

Die Leitung wurde unterbrochen.


Sechs Tage später:

Der Learjet kam kurz nach elf Uhr in dem für Privatflugzeuge reservierten Teil des Flughafens Frankfurt/Main zum Stillstand. Die Triebwerksgeräusche reduzierten sich auf ein tiefes Brummen, bis sie ganz verstummten. Eine Stewardess ließ die Kabinentür nach außen aufschwingen, bis sie sanft am Flugzeugrumpf anschlug und sich automatisch arretierte. Dann drückte sie auf einen Knopf und die Klappe mit den integrierten Stufen sank hydraulisch gebremst auf das Rollfeld hinab.

Simon Kerner betrat das erste Mal seit Jahren wieder deutschen Boden. Obwohl die Außentemperatur fast dreißig Grad betrug, fröstelte ihn ein wenig, er war von der Rangerstation Temperaturen um die vierzig Grad gewöhnt.

Der Abschied dort war heftig gewesen. Sofort nach Erhalt der Diagnose und der getroffenen Entscheidung, Clara in Deutschland behandeln zu lassen, war Kerner losgefahren, um mit dem zuständigen Mann der Bezirksregierung zu sprechen. Der fiel aus allen Wolken, als Kerner ihm seine Pläne eröffnete. Der Mann stellte aber schnell seine Versuche ein, Kerner zu bewegen, sein Kind in Südafrika behandeln zu lassen, als er die Entschlossenheit des Chiefrangers erkannte. Kerner empfahl ihm, seinem Stellvertreter Richard die Leitung der Rangerstation zu übertragen, was dann auch geschah. In den nächsten Tagen war die Übersiedlung zu organisieren. Seine Männer waren über die Ereignisse tieftraurig, Clara war der Liebling der Rangerstation. Zu hören, dass sie schwer krank war, ließ die Stimmung der rauen Männer auf einen Tiefpunkt sinken.

Sehr überrascht war Kerner, als er an einem Abend einen Anruf erhielt. Am Telefon war Jeremia McArthur, ein afrikanischer Musiker, der in Deutschland viel Geld mit seinen Platten verdiente. McArthur war ein Mensch, dem die Natur seiner Heimat sehr am Herzen lag und der den Wildschutz im Nationalpark mit beträchtlichen Summen unterstützte.

„Hallo Mr. Kerner“, begann Jeremia McArthur, ich habe erfahren, dass Ihre Tochter schwer krank ist und Sie deshalb zurück nach Deutschland wollen. Das Schicksal Ihrer Tochter Clara bedauere ich sehr. Sosehr mich der Verlust schmerzt, den der Nationalpark durch Ihren Weggang zu tragen hat, möchte ich gerne alles tun, damit Clara möglichst schnell in kompetente ärztliche Hände kommt. Ich verfüge über einen Learjet, den ich Ihnen gerne für die Reise zur Verfügung stellen möchte. Eine schnelle Behandlung, so habe ich mir sagen lassen, erhöht die Chance auf eine Heilung dieser Krankheit enorm. Das Flugzeug steht im Augenblick in Pretoria. Besprechen Sie das mit Ihrer Familie. Ihre Zustimmung erwarte ich bis morgen Vormittag.“

Theresas Gesicht überzog ein Hoffnungsschimmer.

„Simon, das ist ein Wink des Schicksals. Durch dieses Angebot gewinnen wir mindestens zwei Tage. Bitte ruf ihn an und sag ja!“

Am nächsten Morgen rief Kerner McArthur an und nahm das Angebot dankend an. Bittere Tränen gab es, als Kerner seiner Familie mitteilen musste, dass man Rex nicht mitnehmen konnte. Theoretisch gab es zwar die Möglichkeit, aber es war nicht möglich, in der kurzen Zeit bis zur Abreise alle Formalitäten für den Rüden zu erledigen. Nachdem Rex aber auch Richard, seinen Nachfolger, als Bezugsperson anerkannte, beschloss er, den Rüden bei ihm zu lassen. Der Hund war an ein freies Leben im Camp und im Busch gewohnt und würde in einer Wohnung in der Stadt verkümmern. Am Tag der Abreise unternahm Richard mit Rex eine längere Kontrollfahrt durch den Busch. Etwas, was er schon häufiger praktiziert hatte und wobei Rex immer freudig mitgegangen war. Als Richard den Rüden diesmal aufforderte in den Jeep zu springen, verweigerte er den Gehorsam und hielt sich dicht an Kerner. Erst als Simon Kerner ihm streng befahl einzusteigen, fügte er sich. Den Blick, den der Rüde ihm zuwarf, als der Jeep vom Hof fuhr, würde Kerner nie vergessen. Wahrscheinlich war das eine Trennung auf Dauer. Clara hatten sie gesagt, Rex würde bald nachkommen. Womit sich das Mädchen nach vielen Tränen trösten ließ.

 

Simon Kerners Blick ging suchend in Richtung Flughafenterminal. Sie hatten einen Krankentransport vom Flughafen zur Uniklinik in Würzburg organisiert. Zu ihrer Freude erfuhren sie, dass bei kleineren Kindern die Mutter mit im Krankenzimmer übernachten durfte. Dieses Angebot wollten sie natürlich annehmen, zumal sie ja noch keine Wohnung hatten. Clara würde so vom ersten Tag an eine kompetente ärztliche Rundumversorgung bekommen und war nicht dem Stress der Trennung von ihrer Mutter ausgesetzt. Damit war auch das Problem der Wohnungssuche nicht mehr ganz so brandeilig. Eberhard Brunner bot Kerner an, so lange in seiner Wohnung zu leben, bis er etwas Geeignetes gefunden hatte. Durch die Aufstellung der Soko und die damit verbundenen organisatorischen Anstrengungen würde Brunner sowieso häufig unterwegs sein. Brunner hatte es sich aber nicht nehmen lassen, den Freund und sein Gepäck vom Flughafen abzuholen.

Da entdeckte Kerner, vom Terminal kommend, einen Transporter heranfahren. Das Zeichen des Roten Kreuzes war schon von der Ferne aus zu erkennen.

Der geräumig Rettungswagen hielt neben dem Flugzeug und zwei Rettungsassistenten stiegen aus. Sie stellten sich kurz vor, dann fragte der Ältere: „Es soll um den Transport eines kleinen, an Leukämie erkrankten Mädchens gehen. Wie ist ihr Gesundheitszustand? Ist sie ansprechbar?“ Er warf einen Blick zur Flugzeugluke.

Kerner erläuterte ihm den Gesundheitszustand seiner Tochter. „Sie ist häufig matt und schläft viel. Sie hat auch den Flug weitgehend verschlafen.“

„Okay“, stellte er fest. „Dann wollen wir sie mal holen.“ Er gab seinem Kollegen einen Wink. Der ging zum Heck des Wagens und öffnete die Doppeltür. Gemeinsam zogen die beiden Männer eine fahrbare Liege heraus, die sie aufklappten. In dem Augenblick erschien Theresa oben in der Luke und sah auf Kerner herab.

„Sie ist wach“, erklärte sie halblaut.

Simon Kerner legte dem älteren der beiden Sanitäter seine Hand auf den Arm. „Warten Sie. Wenn Sie damit einverstanden sind, werde ich Clara selbst aus dem Flugzeug heraustragen. Der Flug und die ganzen Erlebnisse der letzten Zeit haben sie ziemlich angegriffen.“

„Das geht selbstverständlich in Ordnung.“

„Gut, dann gehe ich jetzt rein und hole sie. Meine Frau wird ja bei Clara mitfahren?“

„Selbstverständlich“, erwiderte der jüngere der beiden. Kerner sprang die paar Stufen zum Flieger hinauf.

Clara lag bleich auf dem umgeklappten Sitz. Theresa saß dicht bei ihr und strich ihr mit der Hand über die Stirn. Clara hatte wieder deutlich fühlbar erhöhte Temperatur.

„Schatz, wir sind schon in Deutschland gelandet“, erklärte sie ihrer Tochter, die gerade ausgiebig gähnte. „Du hast fast den ganzen Flug verschlafen. Wie geht es dir?“

„Wo ist Daddy?“, wollte sie wissen.“

„Hier bin ich“, sagte Kerner und trat einen Schritt nach vorne. „Draußen wartet schon ein Wagen, der Mama und dich nach Würzburg bringt. Komm, mein Schatz, ich nehme dich auf den Arm und trage dich raus.“

„Müssen wir lange mit dem Auto fahren? Werden wir da auch Tiere sehen?“

Simon Kerner musste etwas schmunzeln. „Nein, Clara, größere Tiere werden wir hier nicht sehen. Vielleicht ein paar Vögel. Die Fahrt dauert höchstens eine gute Stunde, dann sind wir da.“ Obwohl sich Clara sicher das Zeitmaß Stunde nicht wirklich vorstellen konnte, gab sie sich zufrieden und ließ sich von ihrem Vater auf den Arm nehmen. Im Vorbeigehen winkte das Mädchen den beiden Piloten und der Stewardess zu, die im vorderen Teil der Kabine standen und zurückwinkten. Kerner und Theresa bedankten sich bei der Crew, dann traten sie auf die Treppe des Fliegers hinaus.

Als Kerner die erste Stufe betrat, sah er blinkendes Blaulicht, das sich vom Terminal her näherte. Wenig später kam mit Schwung ein schwarzer SUV neben dem Rettungswagen zum Stehen. Der Motor und das Blaulicht erloschen, dann wurde die Fahrertür aufgerissen und Eberhard Brunner sprang heraus. Kerner war mittlerweile freudig die restlichen Stufen hinuntergestiegen.

Mit dem Kind auf dem Arm wandte er sich Brunner zu. „Hallo, lieber Freund, ich grüße dich! Schön, dass du kommen konntest!“ Er warf einen Blick auf den SUV. „Aber warum denn nicht gleich mit Sirene …?“

Der grinste und erwiderte: „Da haben so ein paar Sonntagsfahrer gemeint, sie müssten mir im Weg herumzuckeln. Ein bisschen Heulton und schon waren sie wach!“ Er lachte. „Wenn man schon die Möglichkeit hat … Nicht ganz legal, aber wer viel fragt, bekommt viele Antworten …“

Die beiden klopften sich gegenseitig zur Begrüßung auf die Schulter. Es war jetzt fast drei Jahre her, dass Brunner in einem Urlaub Kerner im Nationalpark besucht hatte. Dann betrachtete er Clara, die ihn mit großen Augen musterte.

„Hallo Clara, du bist aber groß geworden. Ich bin der Onkel Eberhard …, aber du wirst dich nicht mehr an mich erinnern. Da warst du noch ganz klein.“ Dann nahm er Theresa herzlich in den Arm.

„Ich hätte mir gerne ein Treffen unter anderen Vorzeichen gewünscht.“ Sie nickte und hatte Mühe, die Tränen zu unterdrücken.

Der ältere Rettungsassistent näherte sich und räusperte leise. „Ich denke, wir sollten langsam los. Wir werden schon im Krankenhaus erwartet.“

„Aber selbstverständlich, Sie haben recht“, gab Kerner zurück. „Wissen Sie, wir haben uns nur schon lange nicht mehr gesehen …“

Kerner gab Clara einen Kuss, dann hob er sie auf die Liege, wo sie in sitzender Position in den Wagen geschoben wurde. Einer der Männer sicherte sie mit zwei Gurten. Theresa verabschiedete sich von Kerner ebenfalls mit einem Kuss, dann stieg sie ein und setzte sich auf den Sessel neben ihrer Tochter. Das Letzte, was Kerner von seinen beiden Frauen sah, waren zwei winkende Hände. Einen Moment später rollte der Rettungswagen vom Rollfeld.

Kerner und Brunner luden die Gepäckstücke in den Kofferraum und auf die Rückbank des SUV, dann fuhren auch sie los.

„Was ist mit dem Zoll?“, wollte Kerner wissen.

„Kein Problem, ich habe das geregelt. Mit einem Dienstausweis des Landeskriminalamts kommt man ganz gut durch. Du bist im Augenblick ein hoher Polizeibeamter aus Südafrika, der zu einer Konferenz nach Bayern kommt.“ Wenig später passierten sie eine Kontrollstelle, die, wie Brunner erläuterte, üblicherweise von Beamten der Bundespolizei benutzt wurde, die auf dem Flughafen Dienst taten. Nachdem Brunner seinen Dienstausweis vorgezeigt hatte, wurde er durchgewunken. Zehn Minuten später waren sie auf der Autobahn A 3 in Richtung Würzburg.

„Ich denke, ich verzichte jetzt mal auf Sonderrechte, damit wir uns in Ruhe unterhalten können“, eröffnete Brunner das Gespräch. „Jetzt sag mal, wie geht es der Kleinen? Das ging in den letzten Tagen ja alles ratzfatz. Wie kann es sein, dass ein so kleines Mädchen aus heiterem Himmel Blutkrebs bekommt? Als ich das hörte, hat es mich regelrecht umgehauen!“

Simon Kerner schaute aus dem Fenster, wo die zwischenzeitlich für ihn ungewohnte Landschaft vorüberzog.

„Wenn ich, respektive die Ärzte, das wüssten, wären wir um einiges schlauer. Das kann unterschiedliche Ursachen haben: genetische Disposition, Einfluss von Strahlen, Viren, Schwächung des Immunsystems und, und, und. Such dir was aus. Endgültig kann dir niemand sagen, woher Claras Leukämie kommt. Fakt ist, der Krebs ist nachgewiesen, ist ziemlich aggressiv und muss schleunigst behandelt werden. Das erschien uns in Afrika zu riskant. Würzburg hat ja diesbezüglich einen ausgezeichneten Ruf. Insbesondere bei derart jungen Kindern wie Clara.“