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Auf Grund dieser einzigartigen medialen Eigenschaften scheinen digitale Spiele besser als andere Darstellungs- und Erzählformen den Erfahrungen kultureller Digitalisierung zu entsprechen: den sich wandelnden Wahrnehmungsweisen von Zeit und Raum und neuen Auffassungen, wie unter den Bedingungen digitaler Produktion und Kommunikation Menschen zu sein und zu handeln haben.

Wie das neue Medium zwischen der Mitte des 20. und dem Beginn des 21. Jahrhunderts sukzessive in drei Entwicklungsschüben, die Eigenschaften gewann, die es heute auszeichnen, schildern die nächsten Kapitel.

1 Lazarus, Moritz, »Das Leben der Seele in Monographien über seine Erscheinungen und Gesetze«, (1883). Zitiert nach Krämer, Sybille: »Ist Schillers Spielkonzept un­zeit­gemäß? Zum Zusammenhang von Spiel und Differenz in den Briefen ›Über die ästhe­tische Erziehung des Menschen‹«, in: Bürger, Jan (Hg.), Friedrich Schiller: Dichter, Denker, Vor- und Gegenbild, Göttingen: Wallstein-Verl. 2007, S. 158-171.

2 Salen/Zimmerman: Rules of Play, loc. 4730.

3 Diese Definition, die Schlegel in den Athäneums-Fragmenten gibt (Schlegel, Friedrich von/Behler, Ernst/Anstett, Jean Jacques/Eichner, Hans: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe: Erste Abteilung: Kritische Neuausgabe, Band 2, München, Paderborn, Wien: F. Schöningh 1967, S. 180), hat gegenüber vielen späteren Versuchen – von Johan Huizinga bis zu Game-Theoretikern der Gegenwart wie Jesse Schell – den Vorteil einer Offenheit, die ihr über die Grenzen der Künste (und Medien) hinweg Gültigkeit verleiht. Indem sie die Gemeinsamkeiten etwa von Bühnenspiel und digitalem Spiel erfasst, entgehen ihr freilich zwangsläufig deren Differenzen. Denn die enge Verwandtschaft der audiovisuellen Medien besagt wenig über die Qualität ihrer je aktuellen Beziehungen. Kain erschlug Abel und jeder mag in der eigenen Familie Beispiele für die Dialektik von Anziehung und Abstoßung finden, für wechselndes Mit­einander ebenso wie Neben- und Gegeneinander. Insbesondere die verschiedenen – ästhetischen, künstlerisch-praktischen, technologischen, wirtschaftlichen – Aspekte des kulturellen Verhältnisses von Spiel und Film bedürfen daher einer genaueren historischen Klärung. S.u. S. hereff.

4 Alberti, Leon Battista: On Painting.Translated with Introduction and Notes by John R. Spencer., New Haven: Yale University Press 1970, *1956, 19. Kapitel, http://www.noteaccess.com/Texts/Alberti/

5 Crawford, Chris: »The Phylogeny of Play«, (2010), http://www.erasmatazz.com/library/science/the-phylogeny-of-play.html. Deutsch: Ders., »Die Phylogenese des Spie­lens. Zur evolutionären Verbindung von Lernen und spielerischer Motorik«, in: Frey­ermuth, Gundolf S./Gotto, Lisa/Wallenfels, Fabian (Hg.), Serious Games, Exer­games, Exerlearning: Zur Transmedialisierung und Gamification des Wissens­trans­fers, Bie­le­feld: Transcript 2013, S. 75-90.

6 Herodotus/Macaulay, G. C.: The History of Herodotus, 2 vols., London ; New York: Macmillan and Co. 1890, hier Buch 1 Clio, 94, http://www.sacred-texts.com/cla/hh/index.htm

7 McGonigal: Reality Is Broken, loc. 242.

8 Mäyrä: Game Studies, loc. 621.

9 Goldblatt, David: The Ball is Round: A Global History of Football, New York: Riverhead Books (Kindle Edition) 2008, loc. 515. – Vgl. ebenso das Verbot des Golfspiels, das 1457 in Schottland verhängt wurde: Avedon/Sutton-Smith: The Study of Games, S. 24. Zitiert nach Juul: Half-Real, loc. 272.

10 Kent, Steve L.: The Ultimate History of Video Games: From Pong to Pokémon and Beyond: The Story Behind the Craze That Touched Our Lives and Changed the World, Roseville, Calif.: Prima Pub. 2001, S. 72. Vgl. ebenso die »Verteufelung« von Rollenspielen in den siebziger und achtziger Jahren als blasphemisch: Egenfeldt-Niel­sen et al.: Understanding Video Games, loc. 1409.

11 Juul: Half-Real, loc. 272.

12 Pross, Harry: Medienforschung: Film, Funk, Presse, Fernsehen, Darmstadt: Habel 1972. Vgl. auch die zusammenfassende Darstellung Ludes, Peter/Hörisch, Jochen: Einführung in die Medienwissenschaft – Entwicklungen und Theorien, Berlin: Erich Schmidt Verlag 2003, S. 64ff.

13 Pross: Medienforschung, S. 119.

14 Ebd., S. 68.

15 Ebd., S. 78.

16 Ebd.

17 Huizinga: Homo Ludens, S. 13.

18 Pross: Medienforschung, S. 69.

19 Goldblatt: The Ball is Round: A Global History of Football, loc. 217. Die nachstehende Skizze der Fußballgeschichte folgt Goldblatts Schilderung.

20 Ebd., loc. 239. – Eine wichtige Ausnahme bildet die US-Kultur. In ihr setzte sich mit dem American Football eine Mischung aus Rugby und Fußball durch, für die zum einen die ovale Gestalt des Balls charakteristisch ist, zum zweiten der Umstand, dass sowohl Hände wie Füße den Ball spielen können, zum dritten ein gänzlich anderes Spielerlebnis für Spieler wie Zuschauer: »Perhaps most fundamentally of all, soccer offers modes of storytelling and narrative structures that the American sporting public finds unsatisfactory.« (Ebd., loc. 133.)

21 Ebd., loc. 182.

22 Vgl. Ebd., loc. 269.

23 Ebd., loc. 422.

24 Ebd., loc. 490.

25 Ebd., loc. 492.

26 Ebd., loc. 516.

27 Ebd., loc. 1119.

28 Ebd., loc. 818.

29 Ebd., loc. 822-824.

30 Ebd., loc. 809.

31 Ebd., loc. 1394.

32 Ebd., loc. 1436.

33 Ebd., loc. 1344.

34 Ebd., loc. 1442.

35 Ebd., loc. 1355.

36 Grieves, Kevin: »On This Day in History: First Live Radio Broadcast of a Soccer Match, 1927«, The Modern Historian, 22. Januar 2009, http://modernhistorian.blogspot.de/2009/01/on-this-day-in-history-first-live-radio.html

37 N., N.: »Happened on This Day – 16 September«, news.BBC, 16. September 2002, http://news.bbc.co.uk/sport2/hi/funny_old_game/2260280.stm

38 N., N.: »Crown Soccer Special«, The International Arcade Museum at Museum of the Game o.J., http://www.arcade-museum.com/game_detail.php?game_id=16047

39 N., N.: »EA SPORTS FIFA Soccer Franchise Sales Top 100 Million Units Lifetime«, Business Wire, 4. November 2010, http://www.businesswire.com/news/home/20101104006782/en#.VH8zdIs2JVo

40 Ein gutes Beispiel für den industriellen Weg von der Aktivität zur Passivität gibt das Radio, das ursprünglich als Medium mit Rückkanal (Radio = Funkgerät) entstand und erst nach dem Ersten Weltkrieg im Prozess seiner Popularisierung zu einem reinen Empfangsgerät mutierte. Zum Entstehen des Broadcast-Mediums Radio aus der Amateurfunker-Bewegung vgl. Campbell-Kelly, Martin/Aspray, William: Computer: A History of the Information Machine, New York: Basic Books 1996, S. 234 ff.

41 Von dem digitalen als quartärem Medium spricht ansatzweise bereits Fassler, Man­fred: Was ist Kommunikation?, München: Wilhelm Fink Verlag 1997, S. 117.

 

42 Von besonderer Bedeutung waren und sind für die Spielegeschichte die Unreal Engine (Epic Games, seit 1998), die CryEngine (Crytek, seit 2004) und die Unity Engine (Unitys , seit 2005).

43 Vgl. z.B. Friedberg, Anne: Window Shopping: Cinema and the Postmodern, Berke­ley: University of California Press 1993.

44 Vgl. zu dem Begriff Wissensarbeiter bzw. Knowledge Worker: Drucker, Peter F.: Post-Capitalist Society, New York NY: HarperBusiness 1993. Und zu dem Begriff Symbolic Analyst: Reich, Robert B.: The Work of Nations: Preparing Ourselves for 21st-century Capitalism, New York: A.A. Knopf 1991.

45 Pross: Medienforschung, S. 104.

46 Turkle, Sherry: Life on the Screen: Identity in the Age of the Internet, New York: Simon & Schuster 1995, S. 22.

3 Prozedurale Wende (seit den 1950er Jahren)

»In the historical blink of an eye, video games have colonized our minds and invaded our screens.«

SIMON EGENFELDT-NIELSEN ET AL.1

VIERFACHER URSPRUNG DIGITALER SPIELE

Eine Affinität zwischen Spielen und digitalen Rechenmaschinen ist schon vielfach vor Eric Zimmermans ludischem Manifest be­hauptet worden.2 Jesper Juul zum Beispiel begründet sie in der Kombination von Transmedialität und Regelhaftigkeit: »[G]ames are not tied to a specific set of material devices, but to the processing of rules.«3 Der Einsatz von Computern zur Exekution dieser Regeln ermögliche dann allerdings Spiele mit »rules more complex than humans can handle«.4 Genau diese Beobachtung stand – zunächst noch als Hoffnung – wesentlich auch am Anfang digitaler Spiele. An ihrem Ursprung um die Mitte des 20. Jahrhunderts verbanden sich konkret vier konvergierende Interessen:

 zum einen das wissenschaftliche Streben nach der Erforschung künstlicher Intelligenz;

 zum zweiten ein militärisch-ökonomisches Verlangen nach der Simulation realer Abläufe zu gefahrlosem und kostengünstigem Training, insbesondere in der Luft- und Raumfahrt;

 zum dritten der spielpraktische Wunsch nach einer Beschleunigung und Erleichterung komplizierter und langwieriger Abläufe analoger Spiele, insbesondere so genannter War Games und anderer Strategiespiele;

 zum vierten der Wunsch, die neue Universalmaschine Computer spielerisch zu nutzen, d.h. originäre Spielformen zu erschaffen, die in keinem der älteren analogen Medien möglich waren.

Der gemeinsame Weg, den diese vier unterschiedlichen Bemühungen einschlugen, verlief über die Virtualisierung und algorithmische Automatisierung von Prozessen, die zuvor realweltlich und materiell abzulaufen hatten.

Die theoretischen Grundlagen solcher Virtualisierung als Basisinnovation digitaler Technologie wurden in drei Schritten gelegt: Alan Turing konzipierte 1936 das theoretische Modell eines digitalen Computers als Universalmaschine.5 John von Neumann entwarf 1945 das bis heute gültige technische Modell einer solchen Universalmaschine.6 Neu an ihr war die kategoriale Trennung von materieller Apparatur und Steuerung. Damit entstand, was heute Hard- und Software heißt, genauer: die Software, die wir Programme nennen.7 Die dritte Basisinnovation gelang 1948, als Claude Elwood Shannon ein Verfahren zur Digitalisierung aller kommunikativen Prozesse und zivilisatorischen Artefakte vorschlug: die adäquate Übertragung analoger Qualitäten und Funktionen in mathematische Werte.8 Damit lieferte er der digitalen Universalmaschine ihr universelles Bit-Material: Texte, Töne, Bilder usf., jene Software also, die wir Dateien nennen.

DIGITALE TECHNIK

Die technische Realisierung dieser Konzeptionen verlief dann während der Frühzeit der Digitalisierung in zwei Phasen. Bis Mitte der fünfziger Jahre wurde weltweit ein halbes Tausend digitaler Mainframe-Rechner gebaut. Sie nutzten Kathodenröhren, benötigten größere Teams zu ihrer Wartung und Bedienung und verfügten von wenigen experimentellen Ausnahmen abgesehen über keinerlei interaktive Ein- und Ausgabemöglichkeiten wie Tastaturen oder Bildschirme.

Ende der fünfziger Jahre begann mit dem Aufkommen von Mikrocomputern, die mittels Transistoren und ab Anfang der sechziger Jahre auch mittels Halbleiter rechneten, die zweite Phase. In ihr wurden im Umfeld von Telefonie, Fernsehen sowie Luft- und Raumfahrt Verfahren zur digitalen Ton- und Bildproduktion entwickelt. Gleichzeitig regte sich erster theoretischer wie praktischer Widerstand gegen die industriell-arbeitsteilige Nutzung digitaler Rechenkraft. J.C.R. Licklider entwickelte 1960 unter dem Schlagwort der »Man-Computer-Sym­bio­sis« das Konzept eines interaktiven Umgangs mit digitalen Computern.9

Ein Jahr später, als weltweit knapp über 9000 Computer liefen, darunter rund 1000 der mittelgroßen, von Individuen zu bedienenden Mikrocomputer,10 machten MIT-Studenten die rebellische Probe aufs Exempel, indem sie das Spiel SPACEWAR! programmierten. Mit ihrer demonstrativen Verschwendung teurer Rechenzeit ersetzten die jugendlichen Hacker, wie Allucquere Stone schreibt, im Umgang mit Computern die Arbeitsethik durch eine Spielethik: das ökonomische Effizienzprinzip der kollektiven Organisationen durch das luxurierende Lustprinzip des Individuums.11

KÜNSTLICHE INTELLIGENZ

SPACEWAR! war allerdings keineswegs das erste digitale Spiel. Bereits seit Mitte der vierziger Jahre kursierte, ausgehend von Alan Turings und Claude Elwood Shannons Überlegungen, in den Kreisen der Spitzenforschung der Gedanke, dass digitale Spiele und insbesondere Computer-Versionen von Schach, die mit menschlichen Spielern konkurrierten, die Bestrebungen nach künstlicher Intelligenz erfolgreich demonstrieren könnten. Shannon schrieb 1950:

»Although perhaps of no practical importance, the question [of computer Chess] is of theoretical interest, and it is hoped that a satisfactory solution of this problem will act as a wedge in attacking other problems of a similar nature and of greater significance.«12

Zunächst erwies sich Schach mit seinem Potential möglicher Züge für eine algorithmische Repräsentation, die ja stets auf dekontextualisierender Abstraktion beruht, als zu kompliziert.13 Einfacher ließen sich die Regeln und Züge des Streichholzspiels NIM mit dem speziellen Nimrod-Computer algorithmisieren.14 Wie Shannon verband auch dessen Programmierer John Bennett mit seinem digitalen Spiel größere Hoffnungen:

»It may appear that, in trying to make machines play games, we are wasting our time. This is not true as the theory of games is extremely complex and a machine that can play a complex game can also be programmed to carry out very complex practical problems.«15

1952 programmierte dann A. S. Douglas im Rahmen seiner Doktorarbeit zur Mensch-Computer-Interaktion mit NOUGHTS AND CROSSES eine digitale Version von TIC TAC TOE. Im selben Jahr wurde von IBM auch ein erstes digitales Schachspiel vorgestellt. 1955 war das Programm bereits so weit fortgeschritten, dass es aus eigenen Fehlern lernte. In den sechziger Jahren gewannen Schach-Programme gegen Amateure. Doch es brauchte drei weitere Jahrzehnte, bis schließlich 1997 IBMs Big Blue den amtierenden Weltmeister Garry Kasparow besiegte.

FLUGSIMULATION

Der zweite Forschungsbereich, der zu digitalen Spielen führte, waren militärische und zivile Flugsimulatoren, die unter großem Kapitaleinsatz zu Trainingszwecken entwickelt wurden. Analoge Simulatoren mit beschränkter Funktionalität existierten seit dem Ersten Weltkrieg. Ihre Digitalisierung begann in den letzten Monaten des Zweiten Weltkriegs, als das Servomechanisms Labaratory des MIT den Auftrag erhielt, einen »universal flight trainer« zu entwickeln, einen Echtzeit-Flugsimulator also, der anders als die bis dahin existierenden nicht nur jeweils ein bestimmtes Flugzeugmodell simulieren konnte.16 Geplant war das Project Whirlwind als Zweijahres-Unternehmen. Die Konstruktion des – erst analog, dann digital konzipierten – Computers zur Echtzeit-Steuerung von Simulationen wollte jedoch nicht gelingen. Erst in den sechziger Jahren wurden reguläre Mainframe- und Mikrocomputer für solche Aufgaben leistungsfähig genug.

Als treibende Kraft wirkte dabei die NASA. Denn Flugtraining durch Simulation versprach militärischen wie zivilen Finanziers bei kurzfristig hohen Investitionen lediglich langfristig Ersparnisse. Im Falle der geplanten Mondmission aber stellte eine realistische Simulation schlicht die einzige Trainingsmöglichkeit dar.17 Bereits 1967 lieferte General Electric den ersten elektronischen 3D-Echt­zeit-Simulator an das Johnson Space Center in Houston, Texas. Einen weiteren digitalen Prototyp konstruierte unabhängig davon 1968 David Evans in Zusammenarbeit mit dem Computergrafik-Pionier Ivan Sutherland. Ihre Kombination aus optimierter Hard- und innovativer Software errechnete aus digitalisierten Aufnahmen realer Szenen neue Bilder, die perspektivisch den Piloten- bzw. Astronautenbefehlen entsprachen. Damit war die für digitale Spiele entscheidende Basisinnovation einer virtuellen perspektivischen Modellierung von 3D-Bildern in Echtzeit gelungen.

Der erste kommerzielle Flugsimulator mit solchen noch recht abstrakt-gra­phischen Echtzeit-Bildern kam 1971 auf den Markt. Gleichzeitig begann, nachdem Intel 1970 den Mikroprozessor eingeführt hatte, in der Hackerszene der US-Westküste die soziale wie technische Konstruktion des Personal Computers. Am erfolgreichsten erwiesen sich dabei zwei Sorten von Programmen, weil sie Bedürfnisse befriedigten, die beim reglementierten Umgang mit den Großrechnern an Universitäten, in der Verwaltung und in Konzernen unterdrückt wurden: das nach persönlicher Produktivität und Kreativität sowie das nach Unterhaltung. Die höchsten Software-Verkaufszahlen erzielten schon in den siebziger Jahren Spiele. Sie liefen teils auf den Hobbyisten-PCs, teils auf speziellen, mit Mikroprozessoren bestückten Konsolen. Digitale Spiele und darunter wesentlich Flugsimulatoren dienten insofern als ›Einstiegsdroge‹ für eine neue Generation von Computerfans.18

Die ersten Flugsimulatoren für Heimcomputer wie den Apple II und den Tandy TRS-80 erschienen um 1980. 1981 war FLIGHT SIMULATION der später von Microsoft erworbenen Firma SubLogic eines der populärsten Apple-Programme. 2001 wurde der MS FLIGHT SIMULATOR mit 21 Millionen verkauften Kopien in das Guinness Buch der Rekorde aufgenommen.19 Parallel dazu entstanden seit den achtziger Jahren andere, nicht minder erfolgreiche digitale Spiel-Simula­tio­nen, insbesondere Will Wrights SIM CITY (1989) und Peter Mo­ly­neuxs POPULOUS (1989), die jeweils aus vergleichsweise einfachen Regeln kom­plexe Situation und Verhaltensweisen und damit Erfahrungen offenen Spie­lens generierten.

VIRTUALISIERUNG ANALOGER SPIELE

Gemeinsam war und ist all diesen spielbaren Simulationen, dass sie real­welt­liche Prozesse und Prozeduren virtualisieren und algorithmisch automatisieren. Nicht anders gelang auch die Digitalisierung analoger Spiele. Sie betraf in der Frühzeit gleichermaßen Brettspiele und sportliche Spiele. Anders als bei den Virtualisierungen, die im Umkreis der KI-Forschung programmiert wurden und die unter dem Vorzeichen wissenschaftlicher Erkenntnis standen, richtete sich das Interesse, das zu dieser dritten Gruppe früher digitaler Spiele führte, auf die Herstellung beziehungsweise Steigerung von Spielbarkeit und Spielspaß. Vorreiter waren War Games in der Tradition des klassischen preußischen Kriegsspiels und andere Strategiespiele. Was in ihrem Verlauf im Kopf oder per Hand, mit Rechenschiebern, Tisch- und Taschenrechnern nur mühsam und zeitraubend zu kalkulieren beziehungsweise durchzuspielen war, konnte mittels digitaler Computer drastisch beschleunigt werden; dem Prinzip nach auf Echtzeit.

 

In den fünfziger und sechziger Jahren beschränkte sich solche Digitalisierung angesichts der Kosten digitaler Technik weitgehend auf militärisches Training. Doch mit dem Aufkommen erschwinglicher Heimcomputer wurden digitale Adaptationen analoger Spiele zu einem der erfolgreichsten Bereiche der Spieleproduktion. Entscheidend für ihren Erfolg waren nicht zuletzt die Leistungssteigerungen, die mit der Virtualisierung und Algorithmisierung einhergingen. Sie motivierten z.B. Chris Crawford bereits 1977, an seinem universitären IBM-Mainframe mit TANKTICS ein solches digitales War Game zu realisieren:

»I was playing board war games and I was acutely aware of the absence of the fog of war, which I consider to be crucial to simulation of warfare […] I considered that computers could solve the problem. I don't think people fully appreciated just how big a leap this was.«20

Die ersten kommerziellen War Games für PCs erschienen in den achtziger Jahren, überwiegend als Adaptationen von Brettspielen.21

Ebenfalls im Umfeld wissenschaftlicher Forschung begann um 1960 die Algo­rithmisierung von Spielsituationen, wie sie aus dem Sport bekannt waren. Bereits 1958 entstand mittels eines analogen Computers am Brookhaven National Laboratory TENNIS FOR TWO, gespielt auf dem Schirm eines Oszilloskopen. Über ein Jahrzehnt später lag der ersten digitalen Spielkonsole, als sie 1972 auf den Markt kam, auch ein Tischtennisspiel bei.22 Atari-Gründer Nolan Bushnell testete einen Prototypen, ließ ein ähnliches Spiel programmieren und brachte 1972 mit PONG das erste digitale Sportspiel in die Arkaden und drei Jahre später mit der Atari-Konsole auch in die Wohnzimmer. Damit begann eine lange Tradition von digitalen Sportspielen zur Heimunterhaltung. Heute dürfte kaum eine Sportart existieren, die nicht ihr virtuelles Äquivalent gefunden hat. Insbesondere lizenzierte Ligen-Spiele wie FIFA oder MADDEN FOOTBALL gehören zu den populärsten und lukrativsten Spielgenres.

Für das Gros der frühen digitalen Spiele stimmt somit, wie Frans Mäyrä schreibt, dass sie »in fact remediated, or ›disguised‹ versions of non-digital

ones«23 waren beziehungsweise dass sie »activities or forms of representation that have originally appeared elsewhere« remediatisierten.24

SPIELERISCHE NUTZUNG DIGITALER TECHNOLOGIE

Eine seltene Ausnahme bildete in den sechziger Jahren SPACEWAR! Sein Designer und Programmierer Steve Russell ließ sich nicht von Brettspielen oder Sport, sondern von Science-Fiction-Romanen und Science-Fiction-Filmen inspirieren, insbesondere von der Lensman-Serie Edward Elmer Smiths.25 In seiner rudimentär narrativen Ausrichtung wies SPACEWAR! daher auf die hyperepische Zukunft, in seiner graphischen Gestalt auf die hyperrealistische Zukunft des neuen Mediums voraus: Der avancierte Vektorgraphik-Monitor zeigte vor dem Hintergrund eines astronomisch recht exakten Nachthimmels zwei Raumschiffe, die sich mit Torpedos beschossen, einander per Hyperspace-Sprung auswichen, sich aber gleichzeitig hüten mussten, nicht in tödliche Schwerkraftfelder zu geraten.

Das von MIT-Studenten programmierte Spiel verbreitete sich im Laufe der sechziger Jahre über die Computerlabore der US-Universitäten und wurde schließlich von dem Computerhersteller DEC allen 120 000-Dollar-teuren PDP-1-Rechnern beigegeben, weil sich mit ihm deren Leistungsfähigkeit hervorragend demonstrieren ließ. Zu den Tausenden von Informatikstudenten, die so von SPACEWAR! nachhaltig geprägt wurden, gehörte auch der spätere Atari-Gründer Nolan Bushnell. 1971 produzierte er COMPUTER SPACE, eine Arkaden-Adapta­tion von SPACEWAR!, und begründete damit den Übergang von mechano-elektro­nischen zu digitalen Arkadenspielen. Eine weitere Adaptation für die digitale Heimkonsole Atari 2600 folgte 1978 unter dem Titel SPACE WAR.

PROZEDURALITÄT

In der Frühzeit digitaler Spiele wurde so über die virtualisierende Adaptation von Brett- und Sportspielen, aber auch über die Simulation anderer Abläufe eine kategoriale Wende zur Prozeduralität vollzogen. Janet H. Murray erkannte diese besondere Qualität digitaler Narrationen, die sie noch »cyberdrama« nannte, bereits Ende der 1990er Jahre: »The most impor­tant element the new medium adds to our repertoire of representational powers is its procedural nature, its ability to capture experience as systems of interrelated actions.«26 In die Game Studies führte Ian Bogost den Begriff 2008 ein – als Be­zeichnung für die mediale Affordanz zur Konstruktion dynamischer Modelle realweltlicher Prozesse: »This ability to execute a series of rules fundamentally separates computers from other media.«27 Digitale Spiele nutzen Prozeduralität als ihren »core representational mode«.28 Sie verfügen damit im Gegensatz sowohl zu ihren analogen Vorläufern als auch zu den linearen audiovisuellen Medien über einen neuen, weil systemischen Modus der Repräsentation. Dank ihrer medialen Eigenschaften vermögen sie Systeme jedweder Art nicht nur – wie die Literatur – zu beschreiben und sie vermögen sie auch nicht nur – wie Bildende Kunst und Fotografie, Theater, Film und Fernsehen – visuell oder audiovisuell darzustellen. Sie können vielmehr ihr Funktionieren virtuell simulieren und damit erfahrbar machen.

Bislang resultierte die Prozeduralität digitaler Spiele freilich primär aus individuellem Design und menschlicher Programmierung. Sie wurde und wird gewissermaßen von Kopf und Hand hergestellt. Erst in jüngster Zeit kommt es zu Versuchen der Automatisierung – also zu einer prozeduralen Generierung von Prozeduralität; zum Beispiel in der automatisierten Produktion wesentlicher Ele­mente von Spielwelten wie den Galaxien von ELITE: DANGEROUS (2014), den Planeten von NO MAN'S SKY (2015, in Entwicklung) und STAR CITIZEN (2015, in Entwicklung) oder den prozedural generierten Quests in MMOs wie EVERQUEST NEXT (2015, in Entwicklung).29

Solche Automatisierung scheint das Telos prozeduraler Narrativität. Aus einfachen Regeln lassen Algorithmisierungen komplexere Spiel- und Handlungssituationen in Echtzeit entstehen und kontrollieren, als es menschlichem Kalkulieren und Kombinieren möglich wäre. Daraus ergeben sich in weit höherem Maße als in analogen Spielen – von linearen Audiovisionen ganz zu schweigen – emer­gente, also überraschende, weil ungeplante und unvorhergesehene Abläufe.30

Schaut man sich allerdings die digitalen Spiele dieser Frühzeit an – selbst das zukunftsweisende SPACEWAR! –, so scheint es kaum vorstellbar, dass ihre Nachfahren nur wenige Jahrzehnte später Kino und Fernsehen herausfordern sollten. Diese Konkurrenz ergab sich erst aus zwei weiteren qualitativen Entwicklungsschüben, die das Medium digitaler Spiele erneut kategorial veränderten.

1 Egenfeldt-Nielsen et al.: Understanding Video Games, loc. 213. – Meine Darstellung der Geschichte digitaler Spiele stützt sich auf Donovan: Replay: The History of Video Games; Egenfeldt-Nielsen et al.: Understanding Video Games; Kent: The Ultimate History of Video Games: From Pong to Pokémon and Beyond: The Story Behind the Craze That Touched Our Lives and Changed the World; Mäyrä: Game Studies; Wolf, Mark J. P.: The Medium of the Video Game, Austin: University of Texas Press 2002.

2 Vgl. oben S. Prolog.

3 Juul: Half-Real, loc. 575.

4 Ebd., loc. 580.

5 Turing, Alan: »On Computable Numbers, with an Application to the Entscheidungs­pro­blem«, Proceedings of the London Mathematical Society ser. 2. vol. 42(1936-7). http://www.abelard.org/turpap2/tp2-ie.asp

6 Neumann, John von: »First Draft of a Report on the EDVAC«, (1945). http://www.virtualtravelog.net/wp/wp-content/media/2003-08-TheFirstDraft.pdf

7 Der Begriff der Software selbst wurde allerdings erst 13 Jahre später geprägt. Vgl. Leonhardt, David: »John Tukey, 85, Statistician; Coined the Word ›Software‹«, The New York Times, 28. Juli 2000, loc. 941 http://www.nytimes.com/2000/07/28/us/john-tukey-85-statistician-coined-the-word-software.html

8 Shannon, Claude Elwood: »A Mathematical Theory of Communication«, The Bell System Technical Journal Vol. 27 Juli / Oktober (1948), Online reprinted with corrections from The Bell System Technical Journal http://cm.bell-labs.com/cm/ms/what/shannonday/paper.html. – Auch die technische Basisinnovation der Digitalisierung, Bill Shockleys Transistor, datiert auf 1948. Mit ihm begann der stete Prozess von Leistungssteigerung, Miniaturisierung und Verbilligung, der den Computer, als Großtechnik noch Teil des Industrialismus, erst in eine private Maschine verwandelte und damit in ein Mittel individueller Ermächtigung.

9 Licklider, J. C. R.: »Man-Computer Symbiosis«, IRE Transactions on Human Factors in Electronics HFE-1 (1960), http://www.memex.org/licklider.pdf

10 Vgl. Friedewald, Michael: Der Computer als Werkzeug und Medium: Die geistigen und technischen Wurzeln des Personal Computers, Berlin: GNT-Verlag 1999, S. 16 sowie Carlson, David E.: »David Carlson's Virtual World, The Online Timeline«, http://iml.jou.ufl.edu/carlson/timeline.shtml

11 Stone, Allucquere Rosanne: The War of Desire and Technology at the Close of the Mechanical Age, Cambridge, Mass.: MIT Press 1995, S. 13f.

12 Zitiert nach Donovan: Replay: The History of Video Games, loc. 112.

13 Vgl. die Beschreibung der notwendigen Qualitäten bei Juul: Half-Real, loc. 681-704.

14 Der 1951 vorgestellte Nimrod-Computer schlug u.a. pressewirksam den deutschen Wirtschaftsminister und späteren Bundeskanzler Ludwig Erhard.

15 Zitiert nach Donovan: Replay: The History of Video Games, loc. 136.

16 Vgl. Campbell-Kelly/Aspray: Computer, S. 157ff.

17 Vgl. Rolfe, J. M./Staples, K. J.: Flight Simulation, Cambridge [Cambridgeshire]; New York: Cambridge University Press 1986, S. 234: »The Mercury, Gemini and Apollo missions were supported by a wide variety of training simulators.«

18 Vgl. Campbell-Kelly/Aspray: Computer, S. 249.

19 Guinness Buch der Rekorde, Hamburg: Guinness Verlag GmbH 2001, S. 113. Verwendet wurden die Verkaufszahlen des Jahres 1999.

20 Zitiert nach Donovan: Replay: The History of Video Games, loc. 1372. – Mit EASTERN FRONT 1941 (1981) schrieb Chris Crawford später für Atari das erste War Game, dessen Konflikte sich in Echtzeit austrugen.

21 Vgl. Egenfeldt-Nielsen et al.: Understanding Video Games, loc. 1812.

22 Es handelte sich um die von Ralph Baer konzipierte Magnavox Odyssee; s.u. S. heref.

23 Mäyrä: Game Studies, loc. 811.

24 Ebd., loc. 539.

25 Smith, E. E.: First Lensman, Reading, Pa.: Fantasy Press 1950; Smith, E. E.: Gray Lensman, Reading, Pa.,: Fantasy Press 1951; Smith, E. E.: Second Stage Lensmen, Reading, Pa.: Fantasy Press 1953; Smith, E. E.: Children of the Lens, Reading, Pa.: Fantasy Press 1954.– Die Romane erschienen ursprünglich in Fortsetzungen zwischen 1934 und 1948.

26 Murray, Janet Horowitz: Hamlet on the Holodeck: The Future of Narrative in Cyber­space, New York: Free Press 1997, S. 274.

27 Bogost, Ian: Persuasive Games: The Expressive Power of Videogames, Cambridge, MA: MIT Press 2007, loc. 125.

28 Ebd., loc. 36.

29 Vgl. z.B. Lauro, Christina: »MMO Mechanics: Procedural Generation is the Future«, in: Massively by joystiq, 26. Februar 2014, http://massively.joystiq.com/2014/02/26/mmo-mechanics-procedural-generation-is-the-future/

30 Vgl.: »Emergent gameplay is usually taken to be situations where a game is played in a way that the game designer did not predict«. (Juul: Half-Real, loc. 837.)

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