Cyberland

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Natürlich ist die smarte Szene derzeit klein im Vergleich zu den Millionen, die seit Jahren mit Bewusstseinserweiternden Drogen experimentieren. Auch zu Marihuana, Heroin oder Kokain gibt es aber Alternativen, Drogen wie Ecstasy, Lucidril, L-Dopa, MDMA. In der Cyberkultur werden diese sogenannten »Neuromantics« wegen ihrer Realitäts- modulierenden Kräfte hochgeschätzt. Sie seien, schrieb Tony Marcus in »I-D«, nachdem er »New Brainia« besucht hatte, »der Kultur-Generator, dessen Energie die Cyberpunks der Stadt, die Techno-Hippies und die [Rave-]Clubs in die Zukunft treibt.« Und Rudy Rucker sagt: »Ich bin aus politischen Gründen pro-psychedelisch, weil das bedeutet, gegen die Konsensus-Realität zu sein, und das bin ich mit allem Nachdruck.«

R. U. Sirius sieht die kreativen Kräfte der neuromantischen Drogen als notwendige Aufhebung der Beschränkungen, die der chemische Normalzustand unseren Gehirnen auferlegt. Er schwärmt von den Meisterwerken, die die Drogenkultur der sechziger und siebziger Jahre in Kunst, Literatur, Musik und auch in der Computerindustrie hervorbrachte. Mark Heley, Rave-Organisator in San Francisco, geht noch ein Stück weiter:

»Smarte Drogen und virtuelle Realitäten werden die Welt ändern. Sie wirken wie Zeitbomben. Eine posthumane Kultur ist im Entstehen - wir werden so etwas wie eine neue Spezies.«

Cybertheorie: Wissenschaft als Rebellion. Die Grenzen nicht anzuerkennen, die das jeweils herrschende Weltbild dem Denken und Forschen zieht, das sei die wichtigste Aufgabe der Wissenschaft, meint der Princeton-Physiker und Extropianer Freeman Dyson. »Wissenschaft ist eine Allianz aller freien Geister in allen Kulturen«, schreibt er, »die gegen die jeweilige Tyrannei rebellieren, mit der jede Kultur über ihre Kinder herrscht.« Nicht immer jedoch finden die intellektuellen Ergebnisse solcher Rebellionen außerhalb der wissenschaftlichen Gemeinde ein Interesse, das über Ablehnung hinausginge.

Kollektive Theoriefeindlichkeit ist stets ein Zeichen für sowohl geistige wie historische Stagnation und weist auf Gruppen, die sich eingerichtet haben und in ihren Gewohnheiten und Gedankenlosigkeitsmustern nicht stören lassen wollen. Zeiten des Umbruchs und revolutionäre Bewegungen hingegen versuchen, das Neue, das sie erspüren, zu verstehen, indem sie es auf den Begriff bringen. Theoretische Auseinandersetzung ist in ihrem Kontext keine entfremdete Tätigkeit von wissenschaftlichen Spezialisten. Sie dient vielmehr der Klärung existentieller Fragen und ist ein Stück intellektueller Lebenshilfe. Die cyberbewegte Avantgarde-Szene unterscheidet sich in diesem Punkt nicht von ihren politischen, ästhetischen und wissenschaftlichen Vorgängern. Denkfiguren erster Wahl beim Prozess ihrer Selbstverständigung sind Theorien der Postmoderne, insbesondere Poststrukturalismus und Dekonstruktion.

»Ich habe eine Schwäche für französische Autoren, für Leute wie Foucault, Lacan, Deleuze, Derrida und Baudrillard«, gesteht R. U. Sirius. »Sie bieten eine hysterische, oft paranoide, aber immer sehr erkenntnisreiche Sicht auf die grausame Seite unserer Technikkultur. Sie verhandeln Probleme von Sprache und Wirklichkeit in Begriffen aus der Technikwelt. Mit anderen Worten: Sie sehen unsere Gesellschaft als eine große Maschine an, eine Art Betriebssystem. Und sie sprechen vom Hyperspace auf eine Weise, die sehr viele Ähnlichkeiten zum Konzept des Cyberspace besitzt: dass das Reich der Informationen einen Lebenszusammenhang darstellt und nicht einfach eine unwichtige Begleiterscheinung unserer Arbeit ist. Deshalb haben sie auch großen Einfluss auf die Cyber-Schreiber an den Universitäten.«

Die Adaption des Dekonstruktivismus, für die Sirius’ hartnäckige Expeditionen in die zeitgenössische Philosophie typisch sind, scheint durchaus folgerichtig. »Dekonstruktion« - das klingt nicht nur nach einem Abrissunternehmen. Es ist eines. Zertrümmert werden soll die herrschende Ordnung der Dinge und des Denkens. Gleichberechtigte Vielfältigkeit tritt theoretisch an die Stelle des bis dato beherrschenden totalitären Einheits-Denkens: des Glaubens, der Philosophien, der Ideologien, die jeweils alles Abweichende unterdrücken. Wobei, selbstverständlich, der intellektuellen Dekonstruktion realer Zerfall vorangegangen sein soll: der Wirklichkeit, der Tradition, der Kultur, der Kunst, des Denkens.

Die primären Kennzeichen der postmodernen Epoche - die Infragestellung der mechanistischen Rationalität des industriellen Zeitalters, die Aufhebung der hierarchischen Distinktion zwischen Hoch- und Massenkultur, theoretischer Eklektizismus und stilistische Promiskuität - bilden das Fundament des dekonstruktivistischen Theoriegebäudes, wie es im Umkreis der Cyberszene vor allem Allucquere Rosanne Stone vom Advanced Communication Technologies Laboratory im texanischen Austin und die feministische Historikerin Donna J. Haraway mit ihrem kultisch verehrten »Cyborg Manifesto« vertreten, einer Hymne auf die geschlechtskombinatorischen Möglichkeiten des Menschen in einer Hochtechnologie- und Informationskultur.

»Diese Texte zu lesen, erschöpft einen wirklich«, schmunzelt R. U. Sirius, dessen »Mondo 2000« einiges Dekonstruktive gedruckt hat, darunter ausführliche Interviews mit Stone und Haraway: »Aber ich kann es trotzdem empfehlen, denn glaub mir, wenn du Lacan zitieren kannst, bleibt dein Bett nicht leer.«

Körperhacking: Plastische Chirurgie, Implantate und darüberhinaus. Um aber ad indefinitum ihrer Lust leben zu können, benötigt die neue Spezies neben neuen Theorien und denkbeschleunigten und Bewusstseinserweiterten Gehirnen vor allem neue Körper, die diese Gehirne nicht länger »biologisch versklaven« und ihnen eine verbesserte und verlängerte Existenz ermöglichen.

»Ein Haufen Leute in der Cyberkultur bezeichnen den Körper als ‘Fleischstück’, weil er so fest und schwer zu verändern und unflexibel ist«, sagt R. U. Sirius. »Doch auch dieses Stück Wirklichkeit lässt sich heute bereits hacken ...«

Der Gedanke, den Körper zu manipulieren und seine Mängel und Gebrechen gewaltsam zu eskamotieren, ist allerdings nicht neu. Sein Zustand war seit der Aufklärung stets - gerade in Zusammenhang mit Sexualität - ein öffentliches Anliegen. Die »unterirdische Geschichte« nannten Adorno und Horkheimer das Schicksal des Körpers in der Moderne, und Michel Foucault sprach von der »dunklen Kehrseite« unserer Gesellschaft und zeigte in der »Geburt der Klinik« und anderen Schriften zur Biopolitik, wie im Prozess der Modernisierung dem Fleisch zunehmend anspruchsvollere Normen auferlegt wurden - Vorstellungen von Gesundheit und, insbesondere im Hinblick auf den weiblichen Körper, von Schönheit, die schier unerreichbar waren.

Bereits im neunzehnten Jahrhundert begann man deshalb, der Natur nachzuhelfen. Mit komplizierten Schnürpraktiken zwängte man etwa weibliche Taillen peu à peu bis auf dreiunddreißig Zentimeter herunter, und wenn es gar nicht anders ging, wurde schon mal eine Rippe operativ entfernt, um das widerspenstige Fleisch dem gesellschaftlichen Ideal anzupassen. Heute, am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts, gehören zum medizinischen Alltag nicht nur Operationen, die gesünder machen - von Hornhaut-Übertragungen über künstliche Hüftgelenke bis zu den Füßen, die nach Unfällen wieder »angenäht« werden -, sondern auch plastische Eingriffe, die wesentlich der Anpassung der Biologie an soziale Normen dienen.

»Die einzige gute Entschuldigung dafür, überhaupt noch einen Körper zu haben«, sagt R. U. Sirius, »ist der Sex. Wen wir uns zum Partner suchen, das hat tiefe biologische Wurzeln. Doch diese Prägungen lassen sich jetzt täuschen. Wir treten in das Zeitalter der Plastischen Chirurgie ein. Was früher allein für die alternden Reichen und ein paar Starlets war, ist heute ein ganz normales Mittelstandsphänomen. Jeder, der will, kann seine Biologie überwinden und seinen Körper verändern - seine Nase oder sein Geschlecht.«

Die Zahlen geben dem Cyber-Enzyklopädien recht. Allein 1994 ließ sich rund eine halbe Million Amerikaner, Männer wie Frauen, chirurgisch verbessern - von der Liposuktion (Fett absaugen, einundfünfzigtausend Eingriffe) über die Nasenkorrektur (sechsunddreißigtausend Eingriffe) bis zur Bauchstraffung (siebzehntausend Eingriffe). Die Ankündigung, dass R. U. Sirius plane, sich im Rahmen eines Auftritts von »Mondo Vanilli« auf der Bühne einer plastischen Verschönerung zu unterziehen, erscheint von daher nicht verrückter, als die Wirklichkeit längst ist.

Doch natürlich sind das alles in den Augen der Cyber-Enthusiasten nur kümmerliche Reparaturversuche, vergleichbar einem Karosseriejob in einer kleinen Klitsche. Anvisiert werden stilistische und technische Überarbeitungen von grundsätzlicherer Art - das humane Äquivalent zu dem Einbau eines stärkeren Motors und größeren Tanks, zur Kotflügelverbreiterung und elektronischen Aufrüstung mit Satellitenempfang. Diese Verschmelzung von Menschen und Maschinen steht historisch an, meint Rudy Rucker:

»Eine massive Mensch-Computer-Symbiose vollzieht sich, schneller, als wir es überhaupt begreifen können.«

Fortschreitende Miniaturisierung sorgt nicht nur dafür, dass uns eine Vielzahl von Maschinen immer dichter auf den Leib rückt. Die Wanderung der Kleingeräte, die an uns hängen - Brille, Fernglas, Fotoapparat, Videokamera, Hörgerät, Walkman, Funktelefon, Armbanduhr, Taschenrechner, Taschenübersetzer, Laptop, Digitaler Assistent -, von der Außenseite ins Innere des Körpers hat ebenfalls begonnen. Längst sind erste elektronische upgrades für Menschen zu haben, intelligente Implantate wie Hörchips oder Herzschrittmacher. Die Zahl der Möglichkeiten nimmt ständig zu, wenn auch nicht so schnell, wie viele Cyberianer es wünschen. Richtmikrophonmäßig zu hören, Augen wie Lupen zu besitzen, sich exakt wie ein Tonband zu erinnern, sich via Gehirnstöpsel direkt in den Cyberspace beamen zu können - das alles scheinen dringende und unbefriedigte Bedürfnisse im Hightech-Underground.

 

»Es wäre doch wunderbar«, schwärmt R. U. Sirius, »wenn wir uns die Daten, die uns interessieren, direkt ins Gehirn laden könnten. Oder stell dir eine künstliche Leber vor, die besser ist als die natürliche. Jeder wird sie haben wollen, weil man dann soviel Drogen nehmen kann, wie man möchte. Es wird Mode werden, sich eine neue Leber einsetzen zu lassen. Dasselbe wird mit den Herzen geschehen. Es wird verschiedene Fabrikate geben, von Sony und Toyota oder meinetwegen von Mercedes.«

R. U. Sirius träumt allerdings nicht nur. Er versucht auch - dabei seiner Annahme folgend, wozu Körper überhaupt noch gut seien -, der Integration von Mensch und Maschine auf avantgardistisch-schockierende Weise vorzugreifen.

»Arthur Abraham, ein sehr bekannter Konstrukteur von Computerspielen, der zum Beispiel an der Mutterplatine für den Amiga mitarbeitete, hat uns den ersten jederzeit fickfähigen Roboter gebaut. Wir werden ihn in den schmierigsten Stripläden von San Francisco auftreten lassen. ‘Mondo Vanilli’ macht den Soundtrack dazu.« Sirius strahlt engelhaft: »Es ist ein Netzwerk-Fickroboter, der in die Vagina fickt und mit den üblichen Haushaltsgeräten vernetzt ist. Man kann sich erregen lassen und dabei seinen Haushaltspflichten nachgehen. Sex und Arbeit werden vollständig integrierbar. Das entspricht unserem Cyber-Traum, die Grenzen der Biologie zu überwinden, ohne auf Sensualität oder Sexualität verzichten zu müssen.«

Bionische Engel: Homo Super Sapiens, tiefgekühltes Leben, planetarisches Kollektivhirn. Dem Wunsch nach upgrading real-existierender Individuen entspricht die Sehnsucht, den Homo sapiens als Rasse zu verbessern - durch Reprogrammierung der Wetware.

»Es gibt keine von der Seele getriebene Kraft, die hinter dem Leben steht, kein wummerndes, wallendes, sprossendes, protoplasmisches mystisches Gel«, schreibt der Oxforder Evolutionsforscher Richard Dawkins, ein Kultautor der Cyberszene: »Leben besteht einfach aus Bytes und Bytes und Bytes digitaler Information. Gene sind reine Information - Information, die kodiert, rekodiert und dekodiert werden kann, ohne dass sich ihre [grundsätzliche] Bedeutung verringern oder ändern würde. ... Wir - und damit meine ich alle Lebewesen - sind Überlebensmaschinen, die dazu programmiert sind, die digitale Datenbank fortzupflanzen, die uns programmierte.«

Mit der Umschreibung unserer genetischen Programme, mit der Korrektur von Fehlkodierungen wie Krebs und mit eleganten Verbesserungen intakter Kodes, möchten die meisten Cyberianer keinen Tag länger warten als nötig. Ein zentrales Ziel ist dabei die Kopierung kompletter Individualitäten.

»Ich bin recht nervös im Augenblick, weil ich keine Sicherheitskopie von mir habe«, bekannte ein Leser bereits 1987 in Sirius’ »Reality Hacker Newsletter«: »Ich lege regelmäßig back-ups von meinen Disketten an, doch ich habe noch nicht ein einziges Mal mich selbst zur Sicherheit kopiert. Ich bin deshalb sehr interessiert an Technologien, die in der Zukunft ermöglichen könnten, von der Essenz des menschlichen Wesens einen back-up zu machen.«

Solche Sicherheitskopien sowie die Löschung des unseren Genen inhärenten »Todesprogramms« sollen dem zukünftigen Homo super sapiens Unsterblichkeit verschaffen.

»Die Kids sitzen an den Schaltstellen«, sagt R. U. Sirius. »Alles wird möglich sein. Wir können bionische Engel werden.«

Solange aber eben noch nicht alles möglich ist, gilt es, die Persönlichkeit der heute sterbenden Individuen zu konservieren - Psyche, Erfahrungsschatz, Wissen -, um sie dereinst zu unsterblichem Leben wiedererwecken zu können. Als eine solche Übergangslösung ist die Idee der Kryonik, die Tiefkühlkonservierung menschlicher Wetware, in der Cyberkultur populär. Die idealster auf diese Weise bewahrte »Gehirninformation« soll, so will es die Utopie, entweder in einem neuen, genetisch konstruierten Körper enden oder aber als Down- beziehungsweise Upload in den Netzen selbst.

Denn viele Cyberianer, darunter so verschiedene Charaktere wie Infobahn-Konstrukteur und US-Vizepräsident Al Gore, der Mitbegründer der Chaostheorie Ralph Abraham oder R. U. Sirius, folgen der Vision des französischen Jesuitenpriesters und Paläontologen Pierre Teilhard de Chardin. Er gilt ihnen als Prophet des Cyberspace, da er bereits Jahrzehnte vor Anbruch des digitalen Zeitalters die Ansicht vertrat, dass die Evolution auf einen Punkt zusteuere, an dem alles in der Welt vorhandene Bewusstsein sich zu einem kollektiven Verstand vereinigen werde.

»Man kommt zu der fast mystischen Ansicht, dass Technologien als Teil des natürlichen evolutionären Prozesses erscheinen«, sagt R. U. Sirius. »So wie bestimmte Tiersorten auftauchen, ist vielleicht die Menschheit dazu programmiert, bestimmte Technologien zu entwickeln.« Er grinst. »Was die Frage angeht, worauf das alles hinausläuft, glaube ich, dass die Kommunikations- und Informationstechnologien so weitgehend vernetzt werden, dass eine Art Gehirn und Nervensystem entsteht, welches die gesamte Spezies umfasst. Es mag ein bisschen deterministisch klingen, doch wir haben genauso wenig Wahl, das zu tun oder zu lassen, wie Polypen in einem Korallenriff, Bienen in einem Bienenkorb oder Ameisen in einem Ameisenhaufen. Alles, was wir mit unserer Intelligenz tun können, ist nur, die Sache so zu programmieren, dass sie in eine Richtung verläuft, die uns das biologische Überleben ermöglicht.«

Top-Vier-Cyberclans. Voller Mutanten, Menschen besonderen Erbguts, ist der amerikanische Westen heute schon, denn der typische Sozialcharakter, der seine Heimat verlässt, um eine neue zu finden, ist untypisch; wagemutiger und weniger angepasst als der zurückbleibende Rest. Ein Stück Himmel auf Erden zu realisieren, war zudem die erklärte Absicht der meisten, die in die Neue Welt strömten, der religiös oder politisch motivierten Einwanderer des siebzehnten, achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts, aber auch der Mehrheit derjenigen, die im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert ökonomische Freiheit suchten - Häretiker und Rebellen, steckbrieflich Gesuchte und Querulanten, Außenseiter und Einzelgänger. Die Ankömmlinge in der Neuen Welt waren daher, schreibt Timothy Leary, die »Mutanten« der Alten Welt - eine besonders abenteuerliche Auswahl aus dem genetischen Material Europas.

»Das nordamerikanische Experiment ist der größte Erfolg in evolutionärer Geschichte. Jeder Genpool sendet seine Samen in Richtung Westen, als eine Form der Selbstselektion ... Die Pilgermütter und -väter wollten einen Platz finden, an dem sie die kollektive verrückte freakige Wirklichkeit ausleben konnten, an die sie glaubten. Kalifornier wiederum sind eine neue Spezies, die sich aus den Amerikanern herausbildet ...«

Späte Erben des in Amerika und vor allem in seinem Westen konzentrierten utopischen Potentials waren, meint Leary, die diversen Aussteiger-Bewegungen, die Beatniks der fünfziger und die Hippies der sechziger Jahre - von denen wiederum eine klare Linie zur Cyberkultur und ihren wagemutigen Gruppen führt. Deutlichstes Indiz für diesen Teil der Traditionslinie ist Timothy Leary selbst.

Der große alte Verrückte der Cyberbewegung begann seine Gegenkultur-Karriere in den frühen sechziger Jahren damit, dass er als Harvard-Psychologe LSD zu freiwilligen Experimenten verteilte, deren Sinn es im wesentlichen war, die Mauern der Realität zu durchbrechen und in neue Wirklichkeitsbereiche vorzudringen. Prompt und unehrenhaft von der Eliteinstitution entlassen, prägte er den Slogan der psychedelischen Bewusstseinserweiterungs-Bewegung: »Tune in, turn on, drop out.« Anderthalb Jahrzehnte und alle denkbaren Drogen später entdeckte er das Bewusstseinserweiternde Potential der elektronischen Technik - und wies damit zahllosen Ex-Hippies den neuen Weg.

»Wie viele Leute in der psychedelischen Szene bin ich von Leary auf die Möglichkeiten gestoßen worden, die in der Technik schlummern«, sagt R. U. Sirius. »Obwohl wir nicht alles ganz ernst nehmen, was Tim predigt ...«

Leary betonte die psychedelische Kraft virtueller Realitäten (VR), pries Elektronik als das LSD der neunziger Jahre, trat in VR-Regalia im Fernsehen auf und visierte als größten Trip der Zukunft Weltraumreisen an. Sein Lächel-Slogan für die neunziger Jahre: »SMI2LE bis zum einundzwanzigsten Jahrhundert«, wobei SM für »Space Migration« (Auswanderung in den Weltraum) steht, I2 für »exponential Intelligence« (Intelligenz hoch zwei) und LE für »Life Extension« (Lebensverlängerung). Mit der machte er selbst ernst, als er Anfang 1995 an unheilbarem Krebs erkrankte: Leary bestimmte, dass sein Kopf eingefroren und solange zwischengelagert werden soll, bis der Gehirninhalt direkt in die Netze heruntergeladen werden kann.

Damit wurde Timothy Leary zum cyberdelischen Großvater des Computer-Undergrounds und seiner Zukunftsutopie. Sie reagiert wesentlich auf das Versagen radikaler Politik von links wie rechts, die in diesem Jahrhundert statt des Reichs der Freiheit lediglich eine, wie Eric Hobsbawm schreibt, »Renaissance der Barbarei« produzierte. An die Stelle der Hoffnungen auf soziale Veränderungen, die noch die Achtundsechziger-Generation bewegte, ist daher nun der Glaube an die selbstbefreiende Kraft von Technik getreten.

Der Mensch muss besser werden - dieser Leitgedanke aller utopischen und revolutionären Bewegungen zielt nicht länger auf das politisch-moralische, sondern auf das intellektuell-biologische Wesen. Der wissenschaftliche Fortschritt, der in den vergangenen Jahrzehnten eine historisch einmalige Erweiterung des Wissens und der Möglichkeiten des Homo sapiens brachte, spielt so zum Ende des Jahrtausends die Rolle, die politische und soziale Erneuerung seit Anbruch bürgerlicher Zeiten innehatte. Nicht nach links oder rechts soll es gehen, sondern schlicht nach oben auf der Evolutionsleiter.

Der Chemiker und Nobelpreisträger Ilya Prigogine hat einmal bemerkt, dass in einem System, das sehr weit aus seinem Gleichgewicht gerät, die lineare Relation zwischen Ursache und Wirkung verlorengeht. In einem solchen Zustand radikalen Ungleichgewichts können geringe Ursachen große Wirkungen zeitigen. Auf gesellschaftliche Verhältnisse übertragen bedeutet das, kleine Gruppen vermögen unter solchen Umständen beträchtliche Veränderungen zu initiieren. Den Cyber-Bewegungen scheint gegenwärtig diese Rolle zuzufallen.

»Wir propagieren den Gedanken«, sagt R. U. Sirius, »dass technischer Fortschritt kultureller Fortschritt ist. Die Subkulturen, die sich um die Technik herumgebildet haben, zählen zu dem wichtigsten, was es heute gibt. Die Cypherpunks, die Technopaganisten, die Extropianer oder die TAZler, das sind existentielle Stile, vier neue Entwürfe für unser Leben.«

Krypto-Anarchisten & Cypherpunks. Zu ihnen gehören Programmierer, Ingenieure und Techniker von einigen der erfolgreichsten Computer- und Software-Firmen in Silicon-Valley - und als Cypherpunk-Gründungsmitglied auch »Mondo-2000«-Redakteurin St. Jude. Die Cypher-, i.e. Kodierungs-Punks haben sich die Aufgabe gestellt, im Zeitalter der Netzwerke die Privatheit von Informationen wie Email-Briefen, Kreditkartentransaktionen oder medizinischen Akten zu bewahren - durch Verschlüsselung der Daten. Zu diesem Behufe kreieren und verteilen sie gratis oder gegen geringe Gebühren leistungsfähige kryptographische Software. Sie erlaubt, private Nachrichten abhörsicher zu kodieren. Das einfache Motto der Cypherpunks und Krypto-Anarchisten: »Was der Staat oder die allmächtigen Konzerne nicht lesen können, vermögen sie weder zu zensieren noch gegen die Betreffenden zu verwenden.«

Dieses Unterfangen, in einer Welt wachsender Zensur und Kontrolle die Privatheit von Daten durch Steganographie zu bewahren, scheint harmlos genug; ist es jedoch nicht, da die Regierungen der Welt - voran die amerikanische - ihre technische Fähigkeit zu Lauschangriffen gefährdet sehen. Kodierungsverfahren, die den staatlichen Abhörern nicht durch einen speziellen Schlüssel, etwa den Clipper-Chip, Zugang gewährleisten, sollen verboten werden. Kryptologische Produkte fallen unter das US-Waffenexportgesetz, weshalb manche Standard-Software, die leistungsfähige Datenverschlüsselung bietet, zum Beispiel WWW-Browser oder Backup-Programme, nicht ins Ausland verkauft werden darf beziehungsweise nur in »entschärften« internationalen Versionen. Durch zielgerichtete Kontrollen an den Grenzen betreiben Regierungsorgane zudem die Kriminalisierung der Cypherpunks, denen es verboten ist, die von ihnen geschriebene Software außer Landes zu bringen.

Krypto-Anarchisten und Cypherpunks erstreben daher den Ausbau anonymer Wiederversende-Systeme, die das Verschicken elektronischer Nachrichten ohne Preisgabe des Absenders ermöglichen sollen.

 

»Der ‘Hack’ ist für heutige Daten-Anarchisten«, sagt R. U. Sirius, »was die ‘Tat’, meist das Attentat auf einen Herrscher, für frühere Anarchisten-Generationen war.«

Eine Utopie der Kryptos: In einem einzigen gewaltigen Hack weltweit allen Konten über einhunderttausend Dollar einen bestimmten Betrag abzuziehen und das Geld allen Konten unter dreißigtausend Dollar gutzuschreiben.

»Ich habe meine Zweifel, ob der Krypto-Anarchismus wirklich die Welt verändern kann«, sagt R. U. Sirius: »Aber es ist jedenfalls eine mutige und faszinierende Bewegung.«

Technopaganismus & Technoschamanismus. Die neuen Primitiven verbinden, was in der Moderne unvereinbar schien: radikalen Fortschritt und Rückgriffe auf fernste Vergangenheiten, technisches Wissen und vorchristliche Mythen. Die Bandbreite der paganistischen Bewegungen ist weit; sie reicht von der Anbetung archaischer Göttinnen über Kabbalismus, Hexenverehrung, hermetische Techniken und Alchimie bis zu Magick in der Crowley-Tradition und Religionen, die direkt aus Science-Fiction- und Fantasy-Büchern stammen. Die Zahl der Paganisten in den USA wird auf mindestens einhunderttausend und höchsten dreihunderttausend geschätzt. Die Mehrzahl von ihnen gehört der gebildeten weißen Mittelklasse an.

»In der Schwulen-Szene von San Francisco«, sagt Owen Rowley, Ex-Systemadministrator bei der Virtual-Reality-Firma »Autodesk«, »ist Paganismus die Standard-Religion.«

Wichtigstes Ziel der Technopaganisten ist es, die explodierenden elektronischen Möglichkeiten mit den ältesten Anforderungen der Natur in Einklang zu bringen, wobei sie strukturelle Entsprechungen zwischen den erdumspannenden Computernetzwerken und jenen spirituellen Mächten sehen, mit denen die Schamanen in primitiven Kulturen interagieren.

»Beide Räume, der Cyberspace und das Reich der Magie, manifestieren sich rein in der Imagination«, sagt Mark Pesce, MIT-Aussteiger, erfolgreicher WWW-Programmierer und Chefpaganist: »Beide Räume werden vollständig durch das konstruiert, woran du denkst und woran du glaubst.«

Die Gemeinschaft der technopaganistischen Gruppen konstituiert sich im Internet, etwa in Usenet-Groups wie alt.pagan, alt.magick.chaos und soc.religion.eastern oder in spirituellen MUDs. Lediglich ihre Zeremonien, die teils als Rave, teils als Ritual exerziert werden, finden noch in der Wirklichkeit statt. Sie kreisen um Drogen, ekstatische Tänze und Körperinvasionen, die im Vorgriff auf cyberutopische Bio-Manipulationen und Menschmaschinen primitive Körperinvasionspraktiken wie Piercing wiederbeleben.

Extropianer. Diese Gruppe von Wissenschaftlern und Philosophen, Mathematikern und Programmierern betreibt die aktive Vorbereitung der Menschheit auf den grenzenlosen Fortschritt, Überfluss und Intelligenzzuwachs, den die nähere Zukunft bringen soll. Ihren Ursprung hat die extropianische Bewegung im Silicon Valley, ihr gegenwärtiges Hauptquartier, das Extropy Institute, befindet sich im südkalifornischen Marina del Rey. Ihre Grußformel lautet »Aufwärts!«, ihr Wahlspruch: Entweder du gehst mit oder die Zukunft geht über dich hinweg.

»Die Extropianer entwickeln Nanotechnologie, Eric Drexler und seine Bande von Verrückten. Sie beschäftigen sich mit lebensverlängernden Techniken, viele der Kryoniker gehören dazu«, sagt R. U. Sirius. »Und sie glauben wie Hans Moravec daran, dass man in der Lage sein sollte, menschliches Bewusstsein in digitale Räume zu kopieren. Kurzum, sie widmen sich dem Kampf gegen die Entropie, wo immer sie ihr tödliches Haupt erhebt.«

Entropie ist die Lehre vom Wärmetod. Sie besagt, dass in geschlossenen Systemen allmählich die Temperatur- und Energiedifferenzen schwinden. Mit dem vollständigen Ausgleich, der Entropie, geht das Ende allen materiellen Geschehens einher. Die fortschrittsfreudige Cyber-Denkschule der Extropianer postuliert dagegen eine beständige Zunahme an Energie und Energiegefälle, eben Extropie. Entscheidenden Anteil an diesem Prozess der planetarischen Extropie-Steigerung soll die Evolution des Homo sapiens zu einem höheren oder zumindest technisch höhergerüsteten Wesen haben.

»Am Extropianismus macht absolut Spaß, dass er zum leuchtenden Licht geworden ist, von dem einige der wildesten und wirrsten Ideen-Motten der Zukunftstechnik angezogen werden. All die Konzepte, die der offiziellen Wissenschaft unmöglich oder sonderbar erscheinen, erhalten hier leidenschaftliche Zuwendung«, schreibt Kevin Kelly: »Der unnachgiebige Optimismus der Extropianer treibt einige Leute zum Wahnsinn, während andere die Bewegung für den ganz normalen Lärm halten, den eine Versammlung anarcho-libertärer Verrückter nun mal vollführt. Aber wenn dich die Offizielle Zukunft in der Durchschnittspresse oder die Politisch Korrekte Zukunft in der Alternativpresse langweilt, dann kannst du dir die Augenbrauen versengen, indem du in der extropianischen Presse über die ‘transhumane’ Zukunft nachliest.«

Taz: Temporär autonome Zonen. Die TAZ-Bewegung, wie sie der Cyberpunk-Essayist Hakim Bey in seinem Buch »T.A.Z. The Temporary Autonomous Zone, Ontological Anarchy, Poetic Terrorism« (»TAZ. Die temporär autonome Zone, ontologische Anarchie, poetischer Terrorismus«) konzipiert hat, will den Zerfall der politischen Großsysteme nutzen und im Cyberspace Zonen erschaffen, die zumindest teilweise von jedweder Kontrolle frei sind; elektronische Äquivalente zu isolierten Bergfestungen und Pirateninseln, Zufluchtsorte für Datenpiraten, anarchistische Freihandelszonen, idyllische Fluchtgebiete reiner Binnenkommunikation, von denen die manipulierenden Massenmedien ausgeschlossen bleiben.

»Das letzte Stückchen Erde, das von keinem Nationalstaat beansprucht wurde, verschwand 1899. Unser Jahrhundert ist das erste ohne terra incognita, ohne eine frontier«, schreibt Hakim Bey und empfiehlt als Gegenwehr die nomadische Taktik der TAZ im Cyberspace: »Die TAZ ist wie ein Aufstand, der sich auf keinen Kampf mit dem Staat einlässt, eine Guerillaoperation, die ein Terrain befreit (ein Stück Land, ein Stück Zeit, ein Stück Vorstellungskraft) und die sich dann auflöst, um sich irgendwo oder irgendwann wieder zu formieren, bevor der Staat alles zerstören kann.«

Bewusstseinslärm.

Ein Aufbruch

»Ich selbst würde mich allerdings in einer TAZ ohne Massenmedien zu Tode langweilen«, sagt R. U. Sirius skeptisch, »denn ich bin ein Medienfreak. Außerdem glaube ich nicht recht an den Erfolg der TAZ. Aber man weiß ja nie ...«

Wenn wir den Himmel über dem Hafen sehen könnten, er hätte bestimmt die Farbe eines Fernsehschirms nach Sendeschluss.

Aktuelle Position: nordamerikanischer Kontinent, Westküste, Straßen in der Bay Area. Zeit: 26:45 h nach dem ersten Kontakt.

Genauer: Wir befinden uns in den Leerstellen, die der Anfang dieser Fremdenführung ließ. Vor einer Viertelstunde sind R. U. Sirius und ich ins Freie getreten. In ein paar Minuten wird es ihm gelingen, ein Taxi anzuhalten. Noch aber geht er nicht auf dem weißen Mittelstreifen, sondern am äußersten Rand des Trottoirs.

»In San Francisco wird es zuerst geschehen«, sagt R. U. Sirius. »Hier werden die ersten Cyborgs herumlaufen. Im Grunde ist es schon so weit.« Er zeigt auf ein paar Gestalten, die sich in den dunklen Hauseingängen herumdrücken. »Sieh dir die eckigen Bewegungen an, die leeren Augen. Mann, wir sind mitten unter den Menschmaschinen.«