Erich Glaubmirnix - Kriminalfälle und Abenteuer heute und im Mittelalter

Text
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Und ja, im Nachhinein war die Begleitung gerechtfertigt. Es gab etliche, die anzügliche Bemerkungen von sich gaben und hingrapschen wollten. Bei der Toilette angekommen, war sie natürlich besetzt. Nach einer ganzen Weile pochte Erich gegen die Tür und forderte den Insassen auf, herauszukommen. Das wurde mehrmals wiederholt. Da es zu keiner Reaktion kam, wurde zum Vierkant-Schlüssel gegriffen und die Tür geöffnet. Aber erst ein kleiner Spalt, um zu sehen, wie die Reaktion ist. Da immer noch keine Reaktion kam, wurde die Tür gänzlich geöffnet und gab den Blick auf einen alkoholisierten Mann frei. Der schlief auf dem Fußboden obwohl der mit Urin überspült war. Er wurde vorsichtig geweckt und nun marschierte er auf wackeligen Beinen zu seiner Truppe. Es war nicht nur der Urin, der die junge Frau abschrecken ließ. Sie sagte bei dem Anblick nur noch: „Ich muss nicht mehr.“ Erich hätte auch nicht mehr auf die Toilette gehen können. Sie war nicht mehr nutzbar. Somit wurde die junge Frau zurück zu ihrem Sohn begleitet. Dann kam ein älterer Herr und beschwerte sich, dass er eine Fahrkarte für die erste Klasse habe, aber dort nicht mehr sitzen könne, da sie von mehreren Fußballfans belagert wurde. Die Polizei möge doch bitte für Ordnung sorgen und die Kerle aus der ersten Klasse herauswerfen, da er seine Ruhe haben wolle. Dem Mann wurde die Situation erklärt und er sah es mit bitterem Beigeschmack ein. Für die Räumung der ersten Klassen waren sie zu wenig. Denn es bestand die Gefahr der Eskalation und dann standen sieben Polizeibeamte gegen zweihundert Hooligans.

Nun fuhr der Zug in Sangerhausen ein und die Fans verließen fluchtartig den Zug und stürmten in die Vorhalle. Dabei ertönte ihr altbekannter Schlachtruf: „Hool-, Hool-, Hooligan!“ Mit dieser Situation hatten die Polizisten nicht gerechnet. Sie mussten ebenfalls den Zug verlassen und gingen den Fans hinterher. Dort hörten sie, dass die Fans nach Magdeburg wollen.

„Verdammter Mist!“, schimpfte Mehlmann. „Jetzt müssen wir auch noch nach Magdeburg!“

„Das ist ja nicht das Schlimmste“, antwortete Erich. „Die Magdeburger Kollegen sind auf dem Weg nach Halle und was das bedeutet, könnt ihr euch ja denken.“

„Ja, verdammt noch mal, es ist keiner da, wenn wir ankommen.“

„Und ich möchte nicht wissen, wann wir wieder zurück sind. Immerhin haben wir zwei schon eine Frühschicht hinter uns und müssen morgen um vier wieder aufstehen. Na gut, ich um vier und Marc um fünf.“, warf Alex frustriert ein.

Daraufhin überlegte der Gruppenleiter und sagte: „Na gut, da fahrt ihr eben mit dem nächsten Zug zurück und macht Feierabend.“

„Nein, so war das nicht gemeint. Wir lassen euch nicht im Stich!“

Der Gruppenleiter freute sich über die Antwort. Denn sieben Beamte sind besser als fünf.

Während die Fans in der Vorhalle auf den Zug nach Magdeburg warteten, kam Erich mit einigen Fans ins Gespräch. Die erklärten ihm, dass sie sich in Kassel von ihrer Gruppe abgesetzt haben, um einfach mal Magdeburg unsicher zu machen. Außerdem wollten sie ihren Frust runterspülen. Ihre Mannschaft hatte 0:5 verloren. Und dieses Ergebnis war für die Fans absolut nicht hinnehmbar und das mit dem Frust runter spülen konnte man nicht mehr übersehen. Der Alkohol tat seine Wirkung. Manch einer der Fans konnte nicht mehr geradeaus laufen, musste sich ständig irgendwo abstützen, um nicht hinzufallen, und sie hatten teilweise schon eine heisere Stimme. Nun galt es auch noch darauf aufzupassen, dass keiner in den Gleisbereich stürzt. Am liebsten hätte unser Gruppenleiter die Besoffenen heraussortiert und vom Bahnhof verwiesen. Aber das war bei den wenigen Beamten nicht möglich und hätte zu unkontrollierbaren Widerstandshandlungen geführt. Als der Zug in Richtung Magdeburg einfuhr, wurde auch dieser gestürmt. Die Beamten achteten darauf, dass alle Fans zusammenblieben und keiner zurückgelassen wurde.

Und manchmal passieren bei solchen Einsätzen noch kleine Wunder. Denn, nach kurzem Tumult im Zug, konnte man sehen, wie hier und da die ersten Fans einschliefen. Es dauerte nicht lange und alle hatten die Augen zu. Den Beamten war es recht. Sie hatten von nun an eine relativ ruhige Fahrt bis Magdeburg.

Kurz vor Magdeburg wurden die Fans durch mehrere Lautsprecherdurchsagen geweckt und die, die nicht munter wurden, wurden von den Beamten an der Schulter wachgerüttelt. Als der Zug in Magdeburg einfuhr, stand der Großteil der Fans übermüdet an den Türen. Am Bahnsteig angekommen, stiegen sie aus und schlichen in die Vorhalle. Manch einer versuchte mit ihren Schlachtrufen die Stimmung noch mal anzuheizen. Das funktionierte nicht mehr. Es kam mehr oder weniger nur noch ein heiseres Krächzen heraus. Die Truppe war erschöpft und ausgelaugt. Der Dienstgruppenleiter von der Magdeburger Dienststelle stand mit noch zwei Beamten am Bahnsteig und bat die Nordhäuser Kollegen noch um einen Gefallen. Sie sollten mithelfen, die Fans aus dem Bahnhof zu führen. Dieser Bitte wurde nachgekommen. Vor dem Bahnhof standen drei Streifenwagen der Landespolizei und die sollten oder wollten sich nun um die Fans kümmern.

Nun hatten die Nordhäuser es geschafft. Sie waren die Hooligans los. Jetzt, wo sie weg waren, spürte Erich einen unbändigen Hunger und Durst. Sie hatten die ganze Zeit nichts gegessen. Sie hatten bei dem überstürzten Einsatz auch nichts dabei. Erich suchte nach irgendwelchen Kaffeeautomaten und fand in der Mitte vom Nachbarbahnsteig einen. Nun, als er losging, stellte er fest, dass er nicht der Einzige war. Alle hatten Hunger und Durst. Und unweit des Kaffeeautomaten gab es noch was zu beißen. Natürlich auch aus dem Automaten. Das spielte im Moment keine Rolle. Hauptsache, der Magen hatte was zu tun und ihnen ging es danach besser. Fürs erste gesättigt, marschierte die Gruppe zu dem zwischenzeitlich bereitgestellten Personenzug in Richtung Heimat.

In Nordhausen angekommen, war die Schicht fast um und sie bereiteten sich so langsam auf den Feierabend vor. Sie hatten ihn sich verdient. Sie gehören ja nicht mehr zu den Jüngsten.

Auf der Heimfahrt machte sich Erich noch mal Gedanken über den Einsatz. Er konnte es immer noch nicht begreifen, wie man neben ihm die Notbremse ziehen konnte, ohne dass er es bemerkt hatte. Ansonsten sagte er sich: „Die Schicht ist rum. Die Fans sind gut angekommen und keinem ist etwas passiert. Also haben wir eine gute Arbeit abgeliefert! Und außerdem hatten wir schon schlimmere Einsätze mit mehreren verletzten Kollegen, wo deren Einsatz im Krankenhaus endete.“ Beim weiteren Grübeln fiel ihm plötzlich das Gedicht einer Kollegin ein, die dahingehend, in einer Einsatzhundertschaft, reichlich ihre Erfahrungen sammeln durfte.

Von Hirten und Herden

Sie werden empfangen, werden erwartet.

Werden gezählt und zusammengetrieben.

Freundlich aber bestimmt.

Sie sehen uns nicht, wir werden gemieden.

Sie trüben ihre Sinne

mit Alkohol –

vehement.

Sie lachen uns aus, spucken und schimpfen,

ungehemmt.

Ohne Respekt vor dem Menschen, der vor ihnen steht,

die Erziehung der Eltern vergessen,

und wie man mit Werten umgeht.

Mandy Spintge

Erich konnte dem nur Recht geben und sagte zu sich: „Ich glaube, es gibt keinen Bundespolizisten, der nicht diese oder ähnliche Erfahrungen gemacht hat. Selbst die Kollegen von der Landespolizei konnten ein Lied davon singen.“

Täter ermittelt

Zur nächsten Schicht hielt es Erich nicht mehr aus und stürzte ins Büro der Oberkommissarin: „Hallo Peggy, wie war es gestern? Hattet ihr Erfolg?“

„Komm rein, bleib ruhig und setz dich. Das war ein voller Erfolg. Wir haben jetzt den Richtigen. Ihr wart noch nicht richtig weg, da haben wir uns in die Spur gemacht. Als wir vor seiner Haustür standen und er aufmachte, hat er erst verdutzt geguckt, aber uns dann freundlich hereingebeten und erzählt und erzählt. Mal sehen, ob ich das auf die Kürze zusammen kriege. Also, zuerst hat er den Herrn Schmidt als einen guten Freund bezeichnet und dann hat er umgelenkt und ihn belastet. Er hat sogar behauptet, dass Herr Schmidt im Dienst manchmal leichtsinnig handelt. Und das soll nicht nur einmal gewesen sein. Da waren zum Beispiel erloschene Signallaternen, die er aus Faulheit ignoriert hat. Er hat sich einfach nicht darum gekümmert und andere Kollegen mussten für ihn losgehen und die Birnen auswechseln. Und dass die Signale leuchten ist ganz wichtig für den Betriebsablauf. Und wenn es um das Schmieren der Weichen ging, soll er auch nicht der Fleißigste gewesen sein. Alles zusammengefasst, soll Herr Schmidt ein schlechter Fahrdienstleiter sein. Nun ja, das hab ich mir alles angehört und mitgeschrieben und dann stellte ich konkrete Fragen: Waren Sie an dem betreffenden Tag auf dem Fahrdienstleiterstellwerk? Da kam er kurzzeitig ins Stottern und antwortete: ‚Nein, war ich nicht! Na ja, ja ich war mal ganz kurz da. Ich hatte was im Spind vergessen und das wollte ich holen. Robert hatte mir versprochen darüber zu schweigen. Sie müssen wissen, dass ich laut Fahrdienstvorschrift nicht dort hoch durfte. Aber da sehen Sie wieder, was man von solchen Menschen halten soll. Die würden sogar ihre Großmutter für ein paar Pimperlinge verscherbeln. Und als ich an dem Tag da war, hab ich schon wieder sehen müssen, wie schlampig der gearbeitet hat. Ich musste ihm immer wieder unter die Arme greifen und ich habe auch gesehen, dass mit ihm irgendwas nicht stimmt. Aus diesem Grund habe ich einige Zugfahrten für ihn durchgeführt und damit für die Sicherheit im Betriebsablauf gesorgt. Ich will ihn ja nicht in die Pfanne hauen, aber ich habe gesehen, wie er zweimal hintereinander einschlief. Da hab ich ihn wieder munter machen müssen und er hat mir versprochen, dass das nicht wieder vorkommt.‘ Bei dem letzten Satz schwoll ihm die Brust an. Das hättest du sehen müssen. Auf die Frage, wievielmal er auf dem Stellwerk war, antwortete er: Zweimal. Er begründete den zweiten Besuch damit, dass er Herrn Schmidt helfen wollte, indem er ihm Kaffee anbot. Kaffee macht ja bekanntlich munter. Und danach sei er gegangen.“

 

„Lass dich mal kurz unterbrechen. Wenn ich das höre, lag ich wohl mit meiner Vermutung daneben?“

„Nein, Erich, du lagst goldrichtig. Der Glöckner war’s. Lass mich weitererzählen. Ich habe ihm dann die entscheidende Frage gestellt: Herr Glöckner, warum sind Sie ein drittes Mal auf das Stellwerk gegangen? Und mit der Frage hatte ich ihn. Er wurde nervös und stotterte. Zuerst stritt er es ab und als ich eine Zeugin ins Spiel brachte, gab er es zu. Er war noch mal dort gewesen. Betonte aber, dass er keine Schlaftabletten in den Kaffee getan habe. Mit dem Satz hatte er sich verraten. Dann stellte ich im die nächste Frage: Woher wissen Sie, dass in dem Kaffee des Herrn Schmidt Schlaftabletten waren? Erich, ich hatte es bis dahin ja selbst nicht gewusst. Nun wurde er wütend und erklärte uns, dass er kein Wort mehr sage und wollte uns rausschmeißen. Als das nicht funktionierte, wollte er abhauen und rannte aus dem Haus. Moto war schneller. Er hat sich gegen die drohende Festnahme gewehrt und immer wieder versucht sich loszureißen. Hat aber nicht funktioniert. Erst, als er die Handschellen dran hatte, wurde er wieder ruhiger. Eine Stunde später saß er bei uns auf der Dienststelle. Und wie du weißt, kann ich bei Befragungen hartnäckig sein. Und siehe da, er hat dann alles zugegeben Und ich weiß jetzt, wie sich das auf dem Stellwerk abgespielt hat. Der hatte für beide einen kräftigen Kaffee gekocht und diesen, zu gegebener Zeit, auf das Stellwerk geholt und eingeschenkt. Bei einer passenden Gelegenheit hat er die Schlaftabletten eingerührt und Robert Schmidt hat den Kaffee getrunken. Danach hat er sich verabschiedet und darauf gewartet, dass er einschläft. Ist dann wieder auf das Stellwerk gegangen und hat den Zusammenstoß arrangiert. Und das vermeintlich Gute für ihn war, dass er bis zu dem Zeitpunkt nicht verdächtigt wurde. Wir hatten ja einen Täter und der hatte in seinem Unwissen und Gutgläubigkeit alles zugegeben. Und dieser Clou hätte beinahe geklappt und Herr Schmidt wäre unschuldig bestraft worden. Nun ist der Fahrdienstleiter Schmidt wieder im Dienst und alles ist gut.“

„Peggy, da gibt es trotzdem noch eine Ungereimtheit, die ich nicht verstehe.“

„Frage, ich kann dir jetzt alles erklären.“

„Warum war der Zusammenstoß von der gefahrenen Strecke her näher am Bahnhof Sondershausen dran? Zeitlich gesehen hätte der Zusammenstoß kurz hinter Kleinfurra passieren müssen. Das heißt doch nichts anderes als, dass der Zug früher losgefahren ist als die Lok? Das ist mir im Nachhinein auch noch bewusst geworden. Hast du dafür eine plausible Erklärung?“

„Erich, die Erklärung hab ich. Vom Prinzip hast du recht. Der Zug ist tatsächlich früher abgefahren als die Lok in Sondershausen. Das ist richtig. Aber die Lok hatte die offizielle Freigabe und sie ist später abgefahren, weil der Lokführer, obwohl die Ausfahrt stand, noch ein menschliches Bedürfnis hatte. Deshalb die verspätete Abfahrt.“

„Okay, das klingt logisch.“

„Ach, das wollte ich dir auch noch erzählen. Ich hab gehört, dass du auf der Liste stehst?“

„Welche Liste?“

„Auf der Liste der Beförderungen. Du wirst Hauptmeister.“

„Mach kein Quatsch!“

„Nein, du stehst wirklich drauf. Glaub es mir.“

Und was sollte Erich sagen? Er wurde tatsächlich befördert. Und während seiner Beförderung dachte er an seinen alten Freund Leo. Leo sollte damals kurz vor Toresschluss auch noch befördert werden. Das hatte leider nicht mehr geklappt. Da gab es irgendwo einen jungen Kollegen, der fühlte sich bei den anstehenden Beförderungen benachteiligt, hatte seinen Anwalt eingeschaltet und dagegen geklagt. Somit sind alle Beförderungen aufgehoben beziehungsweise verschoben worden und sein alter Kumpel Leo ist als Obermeister in den Ruhestand gegangen. Vermutlich fühlt der sich nun bis an sein Lebensende bestraft und er weiß nicht wofür.

EIN ÜBERFALL IM REGIONALEXPRESS

Im Regionalexpress von Nordhausen nach Kassel

In der Vorhalle vom Bahnhof Nordhausen stand eine junge Frau am Servicepoint der Deutschen Bahn und informierte sich über die nächste Zugverbindung. Sie wollte von Nordhausen nach Kassel. Sie hatte einen großen bunten Koffer bei sich, den sie mit der rechten Hand hinter sich herzog. Eine Handtasche mit samt ihren Ausweisen und Bargeld war über die Schulter gehängt und es sah so aus, als wollte sie für längere Zeit verreisen. Für längere Zeit verreisen? Ja, aber nicht gleich in den Urlaub. Sie wollte zuerst nach Kassel, um sich mit ihren Freundinnen aus dem letzten Semester treffen. Danach sollte es nach Österreich gehen. Sie freute sich schon so lange drauf. Nun war der lang ersehnte Tag gekommen. Sie war gut gelaunt und voller Hoffnung, dass die Züge pünktlich fahren. Nachdem die Servicemitarbeiterin ihr die gewünschte Auskunft gegeben hatte, kaufte sie noch die benötigte Fahrkarte. Als sie den Preis erfuhr, war sie kurz schockiert, schluckte es herunter und suchte ihr Portemonnaie. Geduldig wühlte sie in ihrer Handtasche und fand das benötigte Geld. Nun stand der Fahrt nichts mehr im Wege. Sie schnappte sich ihren Koffer und wollte zum Bahnsteig. Auf dem Weg dorthin, schaute sie noch mal auf die Uhr und stellte fest, dass sie noch ein wenig Zeit hatte. Sie drehte sich wieder um und kaufte sich einen Kaffee, setzte sich in der Vorhalle auf eine Bank und trank ihn genüsslich aus. Nebenbei hörte sie mit dem aufgesetzten Kopfhörer ihre Lieblingsmusik und ihre Füße bewegten sich dabei im Takt. Nachdem der Kaffee ausgetrunken war, ging sie zum Bahnsteig und stieg in den schon eingefahrenen Zug, suchte sich einen ruhigen Sitzplatz im hinteren Teil des Zuges und machte es sich bequem. Nun widmete sie sich wieder der Musik und schaute aus dem Fenster. Dabei beobachtete sie die Leute, wie sie auf dem Bahnsteig hin- und herliefen. Und was sie nicht wusste war, dass sie selbst schon die ganze Zeit von einer Gruppe, bestehend aus acht männlichen, Alkohol trinkenden Jugendlichen beobachtet wurde. Diese Männergruppe interessierte sich irgendwie für die hübsche junge Frau. Und als sie zum Zug ging, gingen sie im Abstand hinterher und machten dabei ihre Späßchen und lachten. Obwohl die Gruppe keine Fahrkarten hatte, stiegen sie in den Zug. Einer der Jugendlichen ging sicherheitshalber durch den Zug und suchte den Kundenbetreuer. Nebenbei hielt er Ausschau, wo sich die junge Studentin niedergelassen hatte. Da kein Kundenbetreuer gefunden wurde, ging die Gruppe davon aus, dass auch kein Personal an Bord sei. Somit fühlten sie sich bei ihrem Vorhaben sicherer. Der Zug fuhr pünktlich um zehn Uhr zweiundfünfzig ab. Nachdem der Regionalexpress Nordhausen hinter sich gelassen hatte, gingen die Jugendlichen los und bei der jungen Frau, die ganz allein im letzten Abteil saß, machten sie halt. Sie beschäftigte sich mit ihrem Handy und achtete nicht auf die Gruppe, die sich in den gegenüberliegenden Sitzreihen niedergelassen hatten. Mit der Zeit fingen sie an, sich über sie lustig zu machen. Zuerst lästerten sie über ihren Koffer, danach über ihre Schuhe. Dann lästerten sie über ihre blonden Haare. Und weil das nicht reichte, regte sich einer über ihren, nach seiner Meinung zu kurz geratenen Rock auf und fragte: „Bei so einem kurzen Rock, kannst du nur heiß auf uns sein. Was hältst du von einem Quickie?“ Da die Studentin nicht antwortete, bohrte er weiter: „Bin ich dir nicht attraktiv genug? So aufreizend wie du angezogen bist, willst du doch mit uns poppen. Oder nicht? Du kannst es auch mit all meinen Freunden hier machen. Aber zuerst mit mir.“

Jetzt reagierte sie völlig eingeschüchtert: „Lasst mich bitte in Ruhe. Sucht doch bitte euren Spaß woanders. Ich bin für so was nicht zu haben!“ Danach war sie wieder ruhig und hoffte, dass die Gruppe ein Einsehen mit ihr hat. Sie hatte sich leider getäuscht.

„Komm her, du Schlampe, und blase mir einen! Kriegst auch ’n Zehner!“

Völlig verängstigt stand sie auf, nahm ihre Handtasche und den Koffer und wollte das Abteil verlassen. Sie wollte sich einen Platz suchen, wo mehrere Menschen sitzen. Sie kam nicht weit. Einer der Jugendlichen griff nach dem Koffer und riss ihn ihr aus der Hand. Ein weiterer befahl: „Setz dich hin!“ Zwei weitere stellten sich vor die Tür und riefen: „Hier kommst du nicht durch!“

Der nächste setzte sich neben sie und nahm sie in den Arm: „Hab dich doch nicht so! Das macht doch Spaß!“ Dabei rutschte ein Arm nach unten und seine Hand streifte mit Absicht über ihre Brust. Da schrie die Studentin auf und versuchte sich vergeblich zu wehren. Da sie bei den Jugendlichen kein Gehör fand, bekam sie Angst und fing an zu weinen. Sie wusste, dass sie gegen die Bande keine Chance hatte. Aber das, was man ihr angedroht hatte, wollte sie nicht über sich ergehen lassen. Sie schob den Arm so gut es ging bei Seite und drohte mit einer ängstlichen Stimme, die Polizei zu holen, wenn sie nicht in Frieden gelassen wird. Das hätte sie nicht so offensichtlich sagen sollen, denn einer der Männer griff zu und sie war ihr Handy los. Nun war sie der Gruppe hilflos ausgeliefert. Dann machte man ihr ein Angebot: „Wie sieht’s aus? Machen wir es hier im Zug oder steigen wir am nächsten Bahnhof aus? Du kommst natürlich mit! Was wir jetzt machen liegt nun ganz allein bei dir. Entscheide dich!“

„Lasst mich doch bitte in Ruhe. Ich hab euch doch nichts getan. Bitte.“

Da ging die Tür vom Abteil auf und eine feste Frauenstimme war zu hören: „Guten Tag, Fahrscheinkontrolle!“

Die Studentin atmete auf und hoffte auf ihre Hilfe: „Nehmen Sie mich bitte mit. Die Männer wollen mir was antun. Ich kann Ihnen auch meine Fahrkarte zeigen.“

Die Kundenbetreuerin, welche schon des Öfteren in solch eine Situation geraten war, blieb ruhig und forderte als erste Maßnahme von den Jugendlichen die Einsicht in ihre Fahrkarten. Sie wollte damit Eindruck schinden und ihnen erklären, dass sie das Sagen hier im Zug hat. Danach stellte sie die nächste Forderung: „Und wenn Sie keine Fahrkarte haben, steigen Sie am nächsten Bahnhof aus! Und wenn Sie nicht auf mich hören, werde ich die Polizei über den Sachverhalt informieren! Und diese Frau nehme ich mit!“

Daraufhin wurde auch die Kundenbetreuerin attackiert: „Hier geht keiner mehr irgendwo hin!“

Während die Kundenbetreuerin von den Jugendlichen eingekesselt wurde, griff sie nach ihrem dienstlichen Handy und versuchte die Polizei anzurufen. Auch ihr wurde das Handy aus der Hand gerissen, auf den Boden geworfen und zertrampelt.

„Nun guck dir mal diese Nutte da an! Die wollte uns bei der Polizei verpfeifen! Was machen wir nun mit dieser Schlampe?“

„Die sieht doch genauso gut aus wie die andere Nutte da! Ich wüsste schon, was ich mit der machen könnte?“

„Worauf warten wir noch? Ich nehme die und du nimmst die da! Ihr zwei passt solange auf, dass keiner reinkommt und wenn wir fertig sind, dürft ihr auch mal dran! Jungs, das wird ein Spaß!“

„Die Kundenbetreuerin nahm ihre Fahrkartenzange und schlug den erstbesten, der sich ihr näherte, ins Gesicht. Der erschrak über ihren Angriff und wich zurück. Er hatte eine stark blutende und schmerzende Wunde im Gesicht. Nun setzte er sich in die Ecke und jammerte: „Scheiße, Scheiße, Scheiße …!“

Da griff der Nächste zu und konnte ihr die Zange entreißen. Mit herablassender Mine stand auch er vor ihr und fragte: „Und was willst du jetzt machen?“

Sie antwortete: „Das wirst du gleich sehen!“ In der Zeit, als sie den Satz aussprach, hob sie mit voller Wucht ihr rechtes Bein und traf ihn genau in den Schritt. Auch er krümmte sich vor Schmerzen und setzte sich hin. Im selben Moment bekam die Kundenbetreuerin einen Schlag in den Rücken. Sie verlor das Gleichgewicht, schlug mit dem Kopf gegen eine Armlehne, stürzte zu Boden und blieb bewusstlos liegen.

Als sie wieder zu sich kam, stand eine besorgte, ältere Dame vor ihr und fragte: „Geht es Ihnen nicht gut? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“

Von der Männergruppe und von der jungen Frau war nichts mehr zu sehen. Sie rappelte sich auf, bedankte sich für ihre Hilfsbereitschaft und ging durch den Zug. Sie suchte die junge Frau. Sie wollte ihr unbedingt helfen. Außerdem brauchte sie ein Handy. Nebenbei schaute sie aus dem Fenster und stellte fest, dass sie bereits den Bahnhof Leinefelde hinter sich gelassen hatten. Drei Abteile weiter fand sie ein älteres Ehepaar. Die waren sofort bereit zu helfen und reichten ihr ein Handy älteren Typs. Das spielte keine Rolle, sie nahm es und überlegte, wie die Nummer der Bundespolizei in Nordhausen war. Sie kam nicht drauf. Im dienstlichen Handy war sie eingespeichert. Aber das ist leider kaputt. Also wählte sie die 110. Es meldete sich eine Beamtin aus der Notrufzentrale der Landespolizei in Erfurt. Aufgeregt wie sie war, stammelte sie mit kaum verständlichen Worten ins Handy und versuchte ihr das Erlebte zu schildern, und die Polizeibeamtin hatte Mühe, die Eisenbahnerin zu verstehen. Nachdem sie mit ihren Schilderungen fertig war, hatte sie noch einige Fragen. Sie brauchte Informationen über die Anzahl der Männer, das scheinbare Alter, wo sie ausgestiegen sind und ob die Möglichkeit besteht, dass sie die junge Frau mitgenommen haben. All die Fragen konnte die Kundenbetreuerin nicht beantworten. Sie wusste nur, dass eine Gruppe Männer eine Frau bedroht hatte und sie selbst niedergeschlagen wurde. Dann fiel ihr ein, dass sie die Möglichkeit hat, beim nächsten Halt in Heilbad Heiligenstadt den Lokführer zu fragen. Viellicht hatte der ja was gesehen. Damit war das erste Gespräch beendet.

 

Die Notrufzentrale verständigte umgehend die Polizeiinspektion Eichsfeld und die Bundespolizei in Nordhausen. Im Bundespolizeirevier waren zwei Beamte im Dienst und die wollten sich gerade fertig machen für einen Einsatz auf dem Flughafen in Erfurt.

Als der Sachverhalt bekannt wurde, gab es nur noch eins – so schnell wie möglich nach Heiligenstadt.

Hauptmeister Hans Müller, auch unter dem Spitznamen Mehlmann bekannt, schnappte sich die Autoschlüssel und rannte zur Garage, startete den Streifenwagen und fuhr über den Hof zum Tor, welches zwischenzeitlich vom Erich Glaubmirnix geöffnet wurde. Danach ging es so schnell wie möglich mit Blaulicht über die Autobahn mit dem Ziel: Bahnhof Heilbad Heiligenstadt. Während der Fahrt wurde Kontakt zur Landespolizeiinspektion Eichsfeld aufgenommen und nach dem letzten Stand der Dinge gefragt. Die Auskunft, die sie erhielten, barg nichts Neues. Das einzige, was sie im Moment erfuhren war, dass eine Streifenwagenbesatzung auf dem Bahnhof in Heiligenstadt auf die Ankunft des Zuges wartete. Und wenn Näheres bekannt wird, würde eine Info folgen.

Nachdem Erich das Gespräch beendet hatte, kam vom Mehlmann die erste Einschätzung.

„Erich, eigentlich wissen wir gar nichts! Wir wissen noch nicht mal so richtig, wo wir hinfahren müssen und wo wir wen suchen sollen.“

„Mehlmann, da geb’ ich dir recht. Trotzdem müssen wir zuerst nach Heiligenstadt.“

„Und wenn die schon in Leinefelde oder in Bleicherode ausgestiegen sind?“

„Daran habe ich auch schon gedacht. Wir fahren erstmal in die Richtung. Das kann nicht verkehrt sein.“

Der Streifenwagen raste mit hoher Geschwindigkeit über die Autobahn und kurz vor Abfahrt Niederorschel kam der heißersehnte Funkspruch: „Efeu 47-20 für die Efeu 47!“

„Die Efeu 47-20 hört!“

„Efeu 47 kommt mit neuer Info. Der Lokführer vom Regionalexpress hat nach Halt in Heiligenstadt ausgesagt, dass am Bahnhof Bleicherode Ost eine Gruppe Jugendlicher ausgestiegen ist. Ob bei der Gruppe eine Frau dabei war, konnte er nicht sagen. Er hat nur gesehen, dass sie gleich vom Bahnsteig in die Unterführung gegangen sind. Danach waren sie aus seinem Sichtfeld verschwunden. Und über die Anzahl der Jugendlichen konnte er auch keine Auskunft geben. Dafür war die Zeit zu kurz und der Lokführer hatte sich zu dem Zeitpunkt auch nichts dabei gedacht, da er ja nicht wusste, was im Zug passiert war.“

„Efeu 47-20 hat verstanden! Wir fahren zurück nach Bleicherode und hoffen bis dahin auf weitere Informationen. Efeu 47-20 Ende!“

„Na toll, jetzt wissen wir immer noch nicht, was los ist!“

„Erich, beruhige dich! Vielleicht haben wir Glück und die Jugendlichen sind noch am Bahnhof.“

Nun sauste der Streifenwagen zurück nach Bleicherode und sie mussten feststellen, dass sich keine einzige Person auf dem Bahnhof aufhielt.

Die Suche

„Mehlmann, was machen wir jetzt?“

„Das weiß ich auch noch nicht. Wir werden mal bei den Anwohnern nachfragen.“

„Denselben Gedanken habe ich auch. Aber vorher würde ich die Umgebung absuchen. Vielleicht finden wir die Bande oder kriegen irgendwelche Hinweise. Die können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.“

„Das wollte ich auch gerade vorschlagen.“

„Und weißt du was die größte Scheiße dabei ist? Dass wir zwei alleine sind! Jetzt könnten wir wirklich Hilfe gebrauchen. Da gab es mal Zeiten, da waren wir hier in Nordhausen acht Mann in jeder Schicht. Und wie viele sind davon übrig geblieben?“

„Das kann ich dir genau sagen: Wir zwei! Und wenn der Vorfall eine Stunde später passiert wäre? Wäre keiner mehr im Bereich!“

„Ja, das ist die traurige Wahrheit. Da wurde jahrelang an der falschen Stelle gespart. Leider können wir das nicht ändern. Also machen wir das Beste draus!“

So fuhr der Streifenwagen vom Bahnhof Bleicherode Ost in Richtung Stadtgebiet und man suchte nach der jungen Frau und den Jugendlichen. Unterwegs wurde jeder, der angetroffen wurde, befragt. Leider ohne Erkenntnisse. Somit fuhr der Streifenwagen zurück zum Bahnhof und die zwei Beamten klingelten bei jedem Anwohner, der in der näheren Umgebung vom Bahnhof wohnt. Leider stellte sich dabei kein Erfolg ein. Die Gruppe schien sich tatsächlich in Luft aufgelöst zu haben. Nun saßen die zwei Beamten in ihrem Streifenwagen und waren ratlos.

„Was können wir noch machen? Verdammte Sch…! Wenn wir wenigstens die Frau finden würden.“

„Erich bleib cool! Wir haben unser Möglichstes getan. Mehr als suchen können wir nicht. Und wir geben nicht auf!“

Kurze Zeit später kam ein Streifenwagen von der Landespolizei vorgefahren. Als sie die zwei Bundespolizisten in ihrem Auto sahen, machten sie kehrt und nahmen Kontakt mit ihnen auf. Da die Kollegen auch nichts Konkretes hatten, waren sie genauso hilflos wie Erich und Mehlmann. Aber man sprach sich über den weiteren Verlauf der Suche ab. Während die Landespolizei ins Stadtgebiet fuhr, um dort die Suche zu intensivieren, wollten die zwei Bundespolizisten das Gelände in unmittelbarer Nähe vom Bahngebiet absuchen. Und um schneller reagieren zu können, wollte man in Verbindung bleiben.

„Du, Mehlmann, ich frage mal nach, inwieweit die Eisenbahn von der Suche Bescheid weiß. Efeu 47 für die Efeu 47-20 kommen!“

„Efeu 47 hört?“

„Efeu 47 ich habe eine Frage: Inwieweit hat die Eisenbahn Kenntnis vom Sachverhalt? Immerhin müssen wir, wenn nötig, in die Gleise.“

„Efeu 47-20 die Eisenbahn hat Kenntnis und alle Züge fahren in dem Streckenabschnitt mit Vorsichtsbefehl. Alle Lokführer wurden angewiesen, die Augen offen zu halten.“

„Die Efeu 47-20 bedankt sich und Ende.“

„So, mein Mehlmann, ist doch wenigstens was. Und warum lächelst du?“

„Na ja, die Lokführer haben den Auftrag erhalten, die Augen offen zu halten. Mit geschlossenen Augen ist noch kein Lokführer umhergefahren. Und wenn doch, dann ist der nicht weit gekommen.“

„Komm, denke nicht darüber nach. Wir gehen mal auf die andere Seite vom Bahnhof, da sind ein paar Büsche und die Bode fließt auch da lang. Vielleicht finden wir dort am Wasser was.“

Die zwei Freunde stiegen aus, nahmen sich ein Funkgerät und gingen quer über den Bahnhof und begannen die Büsche abzusuchen. Da kam über Funk ein entscheidender Hinweis: „Efeu 47-20 für die Efeu 47 kommen!“

„Efeu 27-20 hört!“

„Der Lokführer vom Güterzug 36598 hat zwischen Bleicherode Ost und dem Haltepunkt Gebra eine Frau gesehen. Die lief auf einem Feldweg lang und schaute immer wieder zum Gleis rüber.“