Erich Glaubmirnix - Kriminalfälle und Abenteuer heute und im Mittelalter

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Erich antwortete: „Überlege dir das gut. Das ist kein einfacher Weg und der will wohl überlegt sein.“

Nach Bergung der letzten Fahrgäste wurden die Rettungsmaßnahmen im Zug eingestellt und Erich setzte sich auf einen größeren Stein, um Luft zu holen. Er war froh, dass alles so glimpflich ausgegangen war. Jutta und die anderen zwei Kollegen setzten sich zu ihm. Auch der Einsatzleiter der Feuerwehr setzte sich dazu, um sich zu bedanken.

„Nein“, antwortete Erich, „wir haben zu danken. Ohne Ihren selbstlosen Einsatz hätten wir die zwei nicht retten können.“

Der Einsatzleiter nickte, schaute dabei auf die Uhr und sagte: „Wissen Sie eigentlich, dass meine Tochter gerade heiratet? Und ich kann nicht mit dabei sein? Ich hatte hier einen Einsatz zu leiten? Wissen Sie, was ich gerade gemacht habe? Ich habe meine Tochter in ihrem schönsten Moment verlassen. Wissen Sie, wie man sich da fühlt? Wissen Sie, was für ein schlechtes Gewissen ich dabei habe? Das können Sie sich nicht vorstellen. Da steht freudestrahlend der Bräutigam und da ist meine glückliche Tochter. Alle freuen sich. Und was mache ich? Ich drehe mich um und renne weg. Ich glaube …“

Der Einsatzleiter hörte mitten im Satz auf und Erich sah, wie schwer ihm die Sätze gefallen waren. Erich hatte zugehört und versuchte zu antworten. Es war nicht einfach: „Nein, das habe ich nicht gewusst. Es tut mir wirklich leid. Aber lassen Sie mich bitte dazu was sagen: Sie haben Ihre Pflicht getan und Menschenleben gerettet! Und jetzt gebe ich Ihnen noch einen Rat: Laufen Sie los! Worauf warten Sie noch? Sehen Sie zu, dass Sie so schnell wie möglich zu Ihrer Tochter kommen. Vielleicht ist es noch nicht zu spät.“

Einer seiner Kameraden, der das Gespräch mit angehört hatte, sagte: „Manni, der Mann hat recht. Mache dich in die Spur. Das bisschen Aufräumen da ist nun wirklich kein Problem mehr. Das schaffen wir auch ohne dich!“

Der Einsatzleiter Manfred Kaune stand auf, bedankte sich noch mal und wollte los. Da kam die nächste Botschaft: „Manni, warte mal, da will dich jemand sprechen. Du sollst mal zu dem Polizeiauto, welches da hinten an der Straße steht, kommen.“

Der Einsatzleiter schaute in die Richtung und sagte zu sich: „Verdammt noch mal, was wollen die denn schon wieder von mir? Der Einsatz ist doch gelaufen.“

Widerwillig ging er los, bis er eine Frau im weißen Kleid sah. Dann rannte er so schnell es ging. Es war seine Tochter, die er dort gesehen hatte. Als er ankam, sah er nicht nur seine Tochter. Nein, die gesamte Hochzeitsgesellschaft hatte sich hinter den Einsatzfahrzeugen versteckt.

„Überraschung! Wir sind alle hier!“

„Meine Kleine, du bist doch verrückt!“

„Ja Vati, das bin ich. Aber das kann ich nur von dir geerbt haben. Von Mami nicht. Und ja, ich bin stolz auf dich. Jetzt, wo ich das hier gesehen habe, kann ich nur noch sagen: Du bist der beste Papi auf der ganzen Welt!“

Manni fiel ein Stein vom Herzen. Nein, es war nicht nur ein Stein. Es waren hunderte. Er hatte mit allem möglichen gerechnet, nur nicht damit. Die Überraschung war ihr gelungen.

„Vati, ich konnte ohne, dass du mit dabei bist, nicht ‚Ja‘ sagen. Deshalb sind wir alle hierhergekommen. Auch der Standesbeamte ist da. Es hat zwar ’ne Weile gedauert, bis wir ihn davon überzeugen konnten. Aber es hat geklappt. Er hatte es irgendwann eingesehen und nun wartet er da drüben unterm Baum. Jetzt kann ich endlich heiraten.“

Die nun doch ungewöhnliche Hochzeitszeremonie wurde fortgesetzt, indem der Standesbeamte fragte: „Andrea Kaune, möchtest du … so sage: Ja.“

„Ja, ich will! Ich will unbedingt.“

„Somit seid ihr rechtmäßig Mann und Frau.“

Zum Bräutigam gewandt, mischte sich der nun überglückliche Brautvater ein und sagte: „Nun darfst du die Braut küssen.“

Jutta, Klaus, Mehlmann und Erich schauten ein wenig abseits zu und freuten sich für die Braut, den Bräutigam sowie für den Einsatzleiter Manfred Kaune. Sie wünschten ihnen alles Gute und eine tolle Hochzeit.

Der Unfall- oder Tatort selbst blieb noch bis zum Abschluss der fotografischen Dokumentation und der Beweissicherung sowie der Bergung des Triebwagens gesperrt, und das sollte sich noch Tage hinziehen. Denn selbst am Gleiskörper waren Reparaturmaßnahmen notwendig und die Deutsche Bahn hatte für diese Zeit Schienenersatzverkehr zwischen Kleinfurra und Sondershausen eingerichtet.

Der Lokführer von der Diesellok, welche mit dem Triebwagen zusammengeprallt war, wurde ebenfalls geborgen. Er kam glücklicherweise nur mit leichten Schürfwunden davon. Er hatte, nachdem er den entgegenkommenden Triebwagen bemerkte, sofort die Schnellbremsung eingeleitet, und war danach in den Maschinenraum geflüchtet. Dort war er relativ sicher.

Die Ermittlungen laufen an

Als sich Erich am nächsten Tag zur Spätschicht meldete, ging gleich die Tür vom Ermittlungsdienst auf und die Oberkommissarin Ritter bat ihn herein.

„Erich, du hast doch unheimlich viel Ahnung vom Betriebsablauf bei der Eisenbahn?“

„Ja, warum fragst du?“

„Weil du schon so lange dabei bist. Und du warst gestern bei dem Unfall oder dem gefährlichen Eingriff in den Bahnverkehr mit dabei. Natürlich nur als Zeuge. Ich habe hier zwei Aussagen. Die erste Aussage stammt vom Fahrdienstleiter aus Sondershausen und die zweite Aussage stammt vom Fahrdienstleiter aus Kleinfurra und die Aussagen der beiden Lokführer und der Kundenbetreuerin habe ich, wie du es dir schon denken kannst, noch nicht. Die werden erst eingeholt, wenn sie wieder vernehmungsfähig sind. Übrigens, ich war heute früh im Krankenhaus und hab mich erkundigt. Der Lokführer Lothar Büttner liegt leider noch im Koma, aber der Kundenbetreuerin, Frau Bachmann, geht es schon wieder etwas besser, sie ist wieder zu sich gekommen. Hat aber noch mächtige Schmerzen. Die Ärzte sind aber zuversichtlich, dass alles wieder gut wird.

Also, lies dir die Aussagen mal in Ruhe durch und sag mir bitte, was du davon hältst. Und sag mir auch, welcher von den beiden in deinen Augen der Tatverdächtige ist. Ich hab mir zwar schon mit Moto eine Meinung gebildet, aber die verrate ich dir erst, wenn ich deine Meinung höre.“

„Peggy, sind die beiden Zugmeldebücher sichergestellt?“

„Natürlich. Hab ich selbst gemacht. Hier sind alle beide.“

„Okay, ich schau sie mir mal in Ruhe an.“

„Du wirst übrigens im Anschluss auch noch zum Tathergang befragt. Wenn der Mehlmann zum Dienst kommt, schickst du ihn auch mal zu mir ins Büro.“

„Mach ich doch glatt.“

Als Erich das Büro verlassen wollte, rief er: „Mehlmann, du sollst mal hier reinkommen!“ Er kam gerade in dem Moment auf die Dienststelle.

Erich zog sich mit Genehmigung des Gruppenleiters zurück und las die Aussagen. Er verglich die gemachten Angaben und stellte im Zugmeldebuch von Kleinfurra fest, dass der Triebwagen, in dem er gesessen hatte, nicht zur Weiterfahrt eingetragen wurde. Das heißt, laut dem Buch war sein Zug in Kleinfurra angekommen, aber nicht wieder abgefahren. Aber die Diesellok, die dem Zug entgegen fuhr, war eingetragen. Also war sie vorgemeldet und die Fahrt bestätigt worden. Aber in der Aussage des Fahrdienstleiters wurde sie mit keinem Wort erwähnt, da er sich nicht an die Vormeldung erinnern könne. Beim genaueren Hinschauen in das Zugmeldebuch von Kleinfurra wurde Erich stutzig. Er sah, dass sich die Schrift leicht in die Länge gezogen hatte. In der Aussage erwähnte der Fahrdienstleiter, dass er leicht müde war, aber nicht eingeschlafen sei. Nun ja, das könnte der Grund für die leichte Schriftveränderung sein.

Erich merkte sich die Unstimmigkeit. Nun beschäftigte er sich mit den Unterlagen vom Fahrdienstleiter des Bahnhofs Sondershausen. Laut diesen Unterlagen ist die Lok vor Abfahrt in Sondershausen, dem Bahnhof Kleinfurra vorgemeldet, bestätigt und eingetragen worden und der Personenzug war in dem Zugmeldebuch nicht zu finden. In seiner Aussage stand auch geschrieben, dass er von dem Triebwagen nichts gewusst habe. Er wusste nur, dass der Zug Verspätung hatte. Mehr nicht und wenn er es auch nur geahnt hätte, dass der Zug unterwegs war, hätte er die Lok niemals losgeschickt. In der Aussage wurde auch erwähnt, dass er das Gefühl hatte, dass sich die Stimme des Fahrdienstleiters Schmidt verändert hatte. Sie klang irgendwie müde.

Erichs Schlussfolgerung aus den Aussagen war, dass der Triebwagen nicht vorgemeldet wurde und trotzdem abgefahren war. Nun lag der Verdacht nahe, dass der Fahrdienstleiter Robert Schmidt, vom Bahnhof Kleinfurra die Schuld trägt. Diese Gedanken erklärte er auch so dem Ermittlungsdienst. Und die Oberkommissarin Ritter fühlte sich in ihrer Meinung bestätigt. Sie betonte aber, dass die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen seien. Sie hatten aber eine Richtung bekommen.

Die Verantwortlichen vom Eisenbahn Bundesamt hatten ebenfalls nach Prüfung der Unterlagen den Fahrdienstleiter Schmidt im Verdacht.

Nach dieser vorläufigen Beweislage, wurde der Fahrdienstleiter Schmidt vorläufig außer Dienst gestellt. Eine endgültige Entscheidung sollte nach dem Gerichtsurteil gefällt werden. Der ehemalige Fahrdienstleiter, Ingolf Glöckner, wurde wieder eingestellt. Dieser freute sich natürlich.

So vergingen zwei Wochen und es kam der Tag, an dem Erich zwei Blumensträuße kaufte. Er wollte zusammen mit seinem Freund Mehlmann ins Krankenhaus, um sich nach dem Wohlergehen der Eisenbahner zu erkundigen. Im Krankenhaus angekommen, gingen sie zuerst zur Kundenbetreuerin und die Begrüßung war deftig: „Was wollt ihr denn hier? Ihr verdammten Kerle wollt wohl meinen Mann eifersüchtig machen? Das klappt aber nicht! Der kommt erst am Wochenende. Also in drei Tagen. Aber, bevor ihr wieder abhaut, kommt doch erstmal rein und lasst euch knuddeln. Ihr glaubt ja gar nicht, wie froh ich bin, euch zu sehen. Ihr habt mir das Leben gerettet und ihr seid von nun an meine Helden.“

 

„Anika, übertreibe nicht. Das hätten wir auch für jeden anderen getan und sag mal, begrüßt du deine Gäste immer so?“

„Nein, nur euch. Ihr kennt mich doch!“, dabei lächelte sie und Erich wusste, dass der Humor bei ihr zurück war. Bei der späteren Verabschiedung sagte sie: „Lasst uns erstmal aus dem Krankenhaus raus kommen. Da zeigen wir euch unsere Dankbarkeit. Wir geben nämlich einen aus und machen uns einen schönen Abend mit Grillen und was noch alles dazugehört. Es ist schon mit Lothar abgesprochen. Und wehe ihr kommt nicht!“

Die zwei Polizeibeamten schauten sich gegenseitig an und wussten nicht so recht, was sie darauf antworten sollten. Denn, wenn sie dahingehen, könnte man ihnen von Seiten der Dienststelle Bestechlichkeit vorwerfen. Das wäre nicht gut. Und wenn sie nicht dahingehen? Wäre das auch nicht gut. Erich wusste nicht, wie er aus dieser Situation herauskommen sollte. Er überlegte kurz und antwortete: „Deswegen haben wir euch auch nicht gerettet.“

Anika sah die Skepsis und drohte: „Wenn ihr nicht zu mir kommt, bin ich bis in die Steinzeit böse mit euch! Lothar übrigens auch!“

Erich und der Mehlmann sagten zu.

„Und wenn ihr kommt, dann erkläre ich dir, lieber Mehlmann, den Unterschied zwischen Kita und …“

Der Mehlmann winkte ab, schüttelte mit dem Kopf und rief: „Neiiiiiin, Anika, lieber nicht!“

Und sie konterte: „Okay, der Versuch war es aber wert. Und ich wollte nur mal eure Gesichter sehen. Freue mich aber trotzdem auf euch.“

Anschließend gingen sie zum Lokführer. Als dort die Zimmertür aufgemacht wurde, schaute ihnen ein strahlendes Gesicht entgegen: „Kommt rein, meine Retter! Ich hätte niemals geglaubt, dass ihr mich hier im Krankenhaus besuchen kommt. Ihr wisst gar nicht, wie sehr ich mich freue, euch zu sehen. Ihr glaubt gar nicht, wie dankbar ich bin …“

Auch vom Lokführer bekamen sie eine Einladung und die konnten sie ebenfalls nicht ablehnen.

Nun lag die Hauptlast im Ermittlungsdienst. Es galt, neue Hinweise zu sammeln, um den Tathergang genauestens zu rekonstruieren und die Schuldfrage musste eindeutig mit Beweisen unterlegt werden. Und das war nicht einfach. Der Ermittlungsdienst befragte Eisenbahner, Anwohner und Reisende, die zu dem Zeitpunkt im Zug waren und andere Zeugen, die den Zusammenprall als Unbeteiligte beobachtet hatten. Es wurden umfangreiche Erkenntnisse gesammelt und die Akte wurde immer dicker und aussagekräftiger.

Erich versah in der Zeit, wie er es gewohnt war, seinen regulären Streifendienst und war dabei immer wieder froh, mit seinen alten Kollegen zusammenarbeiten zu können. Sei es in der Woche, an den Wochenenden oder an den Feiertagen. Das spielte keine Rolle und das gehört nun mal zum Beruf.

Irgendwann sagte Jutta zu Elu: „Hast du das auch mitgekriegt, wie sich Erich und der Mehlmann verändert haben?“

„Ja, das hab ich. Aber beruhige dich. Mit der Zeit legt sich das wieder.“

„Ja, ich weiß. Trotzdem verstehe ich das nicht. Ich sag’s mal ganz ehrlich. Ich wollte zu dem Zeitpunkt nicht im Zug gewesen sein. Zum Helfen ja, sonst nein. Überlege mal: die Schreie, die Verletzten, das Chaos und die Ungewissheit, ob sie überleben oder nicht? Das alles stand ja auf der Kippe. Im Nachhinein hatten sie großes Glück. Es gab keine Toten. Alle haben überlebt. Und was haben wir in der Zeit gemacht? Ich hab ein schlechtes Gewissen und denke manchmal, ob sie denken, dass wir sie in Stich gelassen haben?“

„Nein, das kann ich dir sagen. Das denken sie nicht! Sie wissen, dass wir auch unsere Aufgaben und Befehle hatten. Wir haben alles dokumentiert, Spuren gesichert und die augenscheinlichen Schäden aufgenommen. Wir haben Gaffer vertrieben und daran gehindert, dass sie zwischen den Gleisen rum laufen. Wir haben die Zufahrtsstraße für die An- und Abfahrt der Einsatzfahrzeuge frei gehalten und den Verkehr geregelt.“

„Und da geholfen, wo unsere Hilfe nötig war. Und ja, am liebsten wäre ich, wie ich schon gesagt habe, in den Zug geklettert, um dort mit anzufassen.“

„Das glaube ich. Ich übrigens auch. Aber da wären wir den Rettungskräften nur im Wege gewesen. Unsere Arbeit war in dem Fall auch sehr wichtig!“

„Ja, hast ja recht! Wir haben unsere Arbeit gemacht.“

Jetzt sollten noch etliche Wochen ins Land gehen, bis wieder Bewegung in die Sache kam. Es war mehr oder weniger der Zufall, der zu Hilfe kam. Erich sah, als er von einer Zugstreife zurückkam, den beschuldigten Fahrdienstleiter Robert Schmidt. Er saß im Bahnhof Nordhausen auf einer Bank und starrte vor sich hin.

Erich sprach ihn an: „Guten Tag, Herr Schmidt. Wie geht es Ihnen?“

„Guten Tag! Was wollen Sie von mir hören? Das es mir gut geht? Mir geht es nicht gut! Mir geht es beschissen! Ich mache mir die ganze Zeit Vorwürfe. Das mit dem Zusammenstoß hätte mir nicht passieren dürfen. Ich bin eindeutig Schuld. Ich habe nicht aufgepasst und bin eingeschlafen. Das habe ich doch alles schon der Frau Ritter so erklärt. Jetzt warte ich nur noch auf die Gerichtsverhandlung. Ich werde dort meine Schuld zugeben und hoffe auf ein mildes Urteil. Ich will hoffen, dass ich nicht in den Knast wandere. Und wenn das alles vorbei ist, wird mich hier nie wieder einer sehen. Ich gehe ganz weit weg von hier! Und ja, meine Frau will sich nun auch noch von mir scheiden lassen! Und da fragen Sie, wie es mir geht? Was wollen Sie noch von mir hören?“

„Ich glaube, ich habe genug gehört. Es tut mir wirklich Leid für Sie. Das können Sie mir glauben. Ich habe trotzdem noch eine Frage.“

„Na fragen sie schon. Ist doch eh alles egal.“

„Eine Frau, welche unweit vom Bahnhof wohnt, wurde kürzlich als Zeugin befragt. Sie hat ausgesagt, dass Sie an dem Tag dreimal Besuch auf dem Stellwerk hatten? Wer war das alles und was wollten diejenigen?“

„Ja, ich hatte Besuch. Es war Ingolf Glöckner, der wollte noch mal zu mir kommen.“

„Und wer noch? Die Frau hat von dreimal geredet.“

„Da irrt sie sich. Es war nur Ingolf. Der war zweimal da und das auch nur, weil er zwischendurch noch mal zu seinem Auto gegangen war, um Kaffee zu holen.“

„Und wer war beim dritten Mal da?“

„Keiner! Es war nur Ingolf, und der war nur zweimal da.“

„Und warum haben Sie das so nicht ausgesagt?“

„Ich wollte die Sache nicht noch schlimmer machen. Denn, laut Fahrdienstvorschrift ist es verboten, dass Betriebsfremde auf das Stellwerk kommen dürfen. Und da Ingolf zu diesem Zeitpunkt schon kein Eisenbahner mehr war, galt er als betriebsfremd. Und jetzt bin ich betriebsfremd und Ingolf arbeitet für mich, er sitzt nun auf meiner Planstelle. … auf meiner ehemaligen Planstelle. Entschuldigung, bringe alles durcheinander.“

„Und was hat der auf dem Stellwerk von Ihnen gewollt? Überlegen Sie bitte in Ruhe.“

„Der wollte noch mal an seinen Spind. Der hatte da was vergessen.“

„Und war er an seinem Spind?“

„Lassen Sie mich mal kurz überlegen. Ich glaube … ja, nein. Nein, der war nicht an seinem Spind.“

„Jetzt habe ich noch eine Frage: Könnte es sein, dass Ihr Kollege, bevor er den Kaffee geholt hat, irgendetwas da rein gemischt hat? Immerhin wurden sie ja nach dem Kaffee müde.“

„Das glaube ich nicht. Ingolf hat denselben Kaffee getrunken. Da hätte er auch einschlafen müssen.“

„Trotzdem habe ich das Gefühl, dass hier irgendwas nicht stimmt. Ich möchte Ihnen noch eine Frage stellen: Warum haben Sie den Triebwagen losgeschickt, obwohl die Lok vorgemeldet war?“

„Es tut mir leid. Ich kann mich nicht daran erinnern. Und außerdem habe ich das alles schon der Frau Ritter erzählt. Ich kann diese Fragen nicht mehr hören! Warum werde ich immer und immer wieder danach gefragt?“

Dabei sackte Herr Schmidt sichtlich in sich zusammen. Erich schaute in sein Gesicht und sah, dass ihn sein Gewissen quälte, und antwortete auf seine Frage: „Weil ich das nicht glaube. Erklären Sie mir doch bitte, wie so ein Zug vorgemeldet wird!“

Herr Schmidt hob seinen Kopf ein wenig an und erklärte in einem leisen Tonfall: „Das geht ganz einfach. Nehmen wir mal an, ich will einen Zug nach Sondershausen fahren lassen. Der Zug steht bei mir am Bahnsteig 1. Da rufe ich mit dem Streckenfernsprecher den entsprechenden Fahrdienstleiter an. Der geht am anderen Ende ans Telefon und meldet sich: ‚Fahrdienstleiter Sondershausen, Henzelmann! Nur um einen Namen zu nennen.‘

Danach rede ich: ‚Kleinfurra, Schmidt! Zug 86593 voraussichtlich ab 24!‘

Dann antwortet Sondershausen: ‚Ich wiederhole, Zug 86593 voraussichtlich ab 24.‘

Dabei wird von beiden Fahrdienstleitern der Zug in ihr Zugmeldebuch eingetragen. Die 24 steht übrigens für die Minuten. Die Stunde ist bekannt und wird nicht mit durchgegeben. Im Zugmeldebuch gibt es dafür die entsprechenden Spalten. Nachdem der Zug eingetragen wurde, werden die entsprechenden Weichen gestellt, die Zustimmung vom Weichenwärter eingeholt, mechanisch und elektrisch gesichert, und danach wird das Signal auf Fahrt gestellt. Sollte zu dem Zeitpunkt eine Weiche falsch liegen, lässt sich die Fahrstraße nicht festlegen und das Signal kann nicht bedient werden. Das dient alles der Sicherheit. Der Weichenwärter sitzt übrigens am anderen Ende des Bahnhofes und bedient dort seine Weichen und Signale. Wir sind ein eingespieltes Team und ohne diese Zusammenarbeit würde kein einziger Zug rollen.“

„Herr Schmidt, nachdem was Sie mir gerade erklärt haben, kann ich es mir nicht vorstellen, dass Sie den Zug im Schlaf losgeschickt haben und dass Sie sich nicht daran erinnern können. Irgendwas verschweigen Sie.“

„Ich verschweige nichts. Wirklich nichts. Ich habe alles, was ich weiß, ausgesagt. Mehr kann ich nicht tun. Sie müssen mir glauben.“

Nach dieser ausführlichen Erklärung hatte Erich einen Verdacht und darüber wollte er sich mit Frau Ritter unterhalten. Zu Herrn Schmidt gewandt sagte er: „So, und jetzt gehen wir auf die Dienststelle und dort erzählen Sie dem Ermittlungsdienst genau das, was Sie mir gerade über den Besuch auf dem Stellwerk erzählt haben. Ich werde auch was dazu schreiben.“

Widerwillig ging der Fahrdienstleiter mit. Eigentlich wollte er die ganzen Befragungen nicht noch mal über sich ergehen lassen. Auf dem Weg zur Dienststelle hatte Erich noch eine Frage: „Wie ist Ihr Verhältnis zu Herrn Glöckner?“

„Wie meinen Sie das?“

„Ist er ein Freund von Ihnen oder nur ein einfacher Kollege?“

„Er ist ein guter Kollege. Ja, man kann auch sagen, dass er ein Freund von mit ist. Und für diese Freundschaft bin ich ihm immer wieder dankbar. Wir haben in den vielen Jahren allerhand erlebt und unseren Spaß gehabt.“

Auf der Dienststelle angekommen, teilte Erich Frau Ritter seine Gedanken mit und die Befragung konnte beginnen.

Nach einer knappen Stunde war die Befragung vorbei und Herr Schmidt wurde aus der Dienststelle begleitet.

Peggy wandte sich nun an Erich und sagte: „Morgen knöpfe ich mir den Herrn Glöckner vor! Ich muss nur noch einige Vorbereitungen treffen. Es wäre schön, wenn ihr mit dabei seid. Ich kläre das mit eurem Chef.“

Erich hob den Daumen und schaute auf die Uhr. Er hatte Feierabend.

Zur nächsten Schicht ging Erich gezielt zur Oberkommissarin: „Grüß dich, Peggy, wie sieht’s aus?“

„Es sieht gut aus. Moto und ich werden Herrn Glöckner einen Besuch abstatten und ihn eindringlich befragen. Und solltest du mit deiner Vermutung recht haben, weiß ich, was zu machen ist. Dazu brauche ich eure Hilfe. Man weiß ja nie, was passiert.“

„Wir stehen bereit.“

Zwei Minuten später kommt der Gruppenleiter und ruft über den Flur: „Alle sofort zum Bahnsteig 3! Da kommt ein Zug mit Fußballfans. Der endet hier und die Fans müssen umsteigen. Keiner weiß, wo die her kommen und wo die hin wollen, und das Schlimme dabei ist, dass die Fans unbegleitet sind. Das heißt, keine Einsatzkräfte im Zug. Wir stehen alleine da! Die Info habe ich gerade vom Kundenbetreuer Harald bekommen. Der hat sich aus Sicherheitsgründen zusammen mit dem Lokführer im Führerstand eingeschlossen.“

„Peggy, ich glaube, da müsst ihr ohne uns fahren.“

„Ach das kriege ich schon hin. Ich hab doch Moto bei mir. Der ist sportlich gebaut und weiß, was zu tun ist.“

Ein unerwarteter Einsatz

Erich stürzte gleich zum Spind, um seine Einsatzausrüstung zu holen und anzulegen. Selbst der Helm wurde mitgenommen. Da der Gruppenleiter auch mit auf den Bahnsteig kommen wollte, waren es fünf Mann. Nein, vier Mann und eine Frau. Jutta wollte auch mit. Und da gerade Schichtwechsel war, war die Frühschicht auch noch anwesend und es kamen zwei Männer dazu. Somit standen sieben Bundespolizisten am Bahnsteig und warteten auf den Zug. Als der endlich mit zwanzigminütiger Verspätung eingefahren kam, hörte man schon den Krach der Fußballfans und es flogen die ersten Flaschen in Richtung der Beamten. Bei dem Anblick sagte der Gruppenleiter: „Bleibt ruhig. Nicht provozieren lassen. Hilfe ist unterwegs. Die Lapo schickt zwei Streifenwagen.“

 

Die letzten Wörter gingen im Krach der Fans unter. Sie sammelten sich am Bahnsteig und brüllten immer wieder ihre Schlachtrufe: „Hool-, Hool-, Hooligans!“ oder: „Knieet nieder! Wir sind heute bei euch Gast!“, und dann wieder: „Hool-, Hool-, Hooligans!“

Da sich zwischen dem eingefahrenen Zug und der Bahnhofsvorhalle noch zwei Gleise befanden, versuchten unsere Leute, die Fans durch die Unterführung zu leiten. Die ersten Fans folgten noch den Weisungen der Polizisten. Das ging solange gut, bis einer in die Gleise sprang, um schneller auf den anderen Bahnsteig zu kommen. Da rannten alle los. Die Situation war so, als ob keine Polizisten da wären. Sie wurden einfach nicht gesehen oder beachtet. Somit waren sie nicht mehr aufzuhalten und stürmten in die Vorhalle. Die eingesetzten Kräfte gingen langsam hinterher, um Schlimmeres zu verhindern. Nach Schätzungen des Gruppenleiters waren es mindestens zweihundert Fußballfans. „Und wir sind zu siebt“, antwortete Jutta.

„Es hilft alles nichts, wir müssen hinterher“, befahl der Gruppenleiter und in der Vorhalle angekommen, flogen die nächsten Flaschen. Einige Fans brüllten gleich los: „ACAB!“ und „Haut ab, ihr Bullenschweine! Ihr habt hier nichts zu melden!“ (ACAB ist eine Abkürzung für: „All Cops are Bastards“!)

Danach wurde Jutta angespuckt und die wehrte sich, indem sie ihr Pfefferspray einsetzte. Kurz darauf bereute der Hooligan seinen Angriff und verschwand in der Menge. Nachdem Erich das gesehen hatte, sagte er nur noch: „Ich kann es mir nicht vorstellen, dass diese Männer die ganze Woche über ein normales Leben führen, pünktlich zur Arbeit gehen und an den Wochenenden so ausrasten.“

„Doch, so ist es, leider“, antwortete Jutta.

Mehlmann, der die Sache auch beobachtet hatte, fragte sich: „Manch einer muss doch eine Familie haben und Kinder erziehen? Das begreife ich nicht.“

„Ich auch nicht. Aber es gibt unter ihnen bestimmt auch noch vernünftige Fußballfans. Das musst du aber zugeben“, beschwichtigte Jutta, obwohl sie den größten Grund zum Schimpfen hatte.

Klaus schüttelte den Kopf und sagte: „Ich enthalte mich der Stimme.“

Nach Juttas Reaktion hielten die Fans einen gewissen Abstand zu den Einsatzkräften. Nun hörte man im Hintergrund mehrere Martinshörner. Erst ganz leise und dann immer lauter werdend.

Unserem Gruppenleiter fiel ein Stein vom Herzen. „Gott sei Dank! Wir bekommen Verstärkung!“ Es waren die angekündigten Streifenwagen der Landespolizei. Sie fuhren auf den Bahnhofsvorplatz und die Kollegen sprangen förmlich aus ihren Autos. Es waren acht Mann. Die gingen sofort in die Vorhalle und auf die Bundespolizisten zu, um die weiteren Maßnahmen abzustimmen. Und das Wichtigste im Moment war die Sicherheit auf den Bahnsteigen und die Verhinderung von Diebstahlhandlungen in den Geschäften. Es war für die paar Mann eine fast unmögliche Aufgabe.

Aus einzelnen Gesprächen konnte in Erfahrung gebracht werden, dass die Hooligans mit dem nächsten Zug in Richtung Halle fahren wollten. Aber wo ihr eigentliches Ziel lag, konnte leider nicht in Erfahrung gebracht werden. Auf jeden Fall sollte sicherheitshalber die dortige Dienststelle informiert werden.

Der Gruppenleiter kümmerte sich darum und Halle war dankbar. Nun stand Halle vor demselben Problem. „Wo bekomme ich auf die Schnelle so viele Einsatzkräfte her? Obwohl Halle die größere Stadt ist und deshalb auch mehr Beamte im Dienst hat, so könnte die Anzahl dennoch nicht reichen. Magdeburg bot eine Notlösung an. Die dortige Dienststelle fuhr ihren Personalbestand auf ein Minimum zurück und schickte ihre freigewordenen Beamten mit dem nächsten Zug nach Halle. Zeitlich sollte das funktionieren.

Da sich die Situation in der Bahnhofshalle ein wenig beruhigte, wurde Jutta losgeschickt, um sich den angekommenen Zug anzuschauen und den Kundenbetreuer dazu befragen. Nach zehn Minuten war Jutta wieder da und sagte: „Der Zug muss in die Werkstatt! Da drin ist absolut nichts mehr ganz. Alles was zerstört werden konnte, ist auch zerstört. Überall liegt Kotze rum und es stinkt nach Urin und die Notbremse wurde auch mehrmals gezogen. Deshalb hatte der Zug die Verspätung. Den Eisenbahnern ist, Gott sei Dank, nichts passiert. Ich hab ihnen gesagt, dass sie morgen auf unsere Dienststelle kommen mögen, um eine Anzeige zu schreiben. Sie haben zugesagt.“

„Danke Jutta.“

Nach Rücksprache mit dem Fahrdienstleiter wurde bekannt, wann der nächste Zug für die Weiterfahrt bereitgestellt wird, und die Bundespolizisten begaben sich zum Bahnsteig. Als der Zug einfuhr, stürmten die ersten Gruppen los. Wahrscheinlich wollten sie die besten Plätze. Und was Erich bei den Fußballfans sah, war, dass sie ihren Vorrat an Alkohol aufgefrischt hatten.

Der zuständige Kundenbetreuer, welcher den Zustieg skeptisch beobachtete, schüttelte nur mit dem Kopf. Als dann auch noch eine Flasche in seine Richtung flog, sagte er: „Ihr müsst mitkommen! Sonst fahre ich hier nicht ab!“

Das war eine klare Ansage. Man konnte die Entscheidung verstehen. Hier ging es um die Sicherheit während der Zugfahrt. Somit befahl der Gruppenleiter: „Wir fahren mit!“

Und alle eingesetzten Einsatzkräfte hatten mit einem Schlag die Schnauze voll. Ließen es sich aber nicht anmerken. Die Kollegen von der Landespolizei bekamen einen anderen Auftrag und mussten ausgerechnet jetzt zu einer körperlichen Auseinandersetzung in einer Kaufhalle. Mehrere Ladendiebe wurden beim Klauen erwischt und prügelten sich nun mit dem Personal. Somit rückten sie mit Blaulicht wieder ab.

„Was soll’s. Da fahren wir eben alleine nach Halle. Bin lange nicht dort gewesen. Auf der Rücktour können wir uns ja ausruhen.“

Nachdem alle Hooligans eingestiegen waren, ging unser Gruppenleiter noch mal in die Vorhalle und sah, dass sie komplett verunreinigt war. Überall lagen Speiseabfälle, Scherben und Erbrochenes. Selbst ein Graffito wurde festgestellt. Das alles konnte aber erst nach der Rückkehr aufgenommen werden. Unter diesen Umständen sollte die Fahrt nach Halle erst mal losgehen. Der Zug fuhr ab und kurz hinter dem Ausfahrsignal zog der Erste die Notbremse. Erich stand mit seinen Kollegen in unmittelbarer Nähe und keiner hatte es gesehen. Sie wurden gezielt abgelenkt. Irgendeiner aus der Masse warf einen Knallkörper und als der explodierte, schauten alle dorthin. Auch die Polizeibeamten. Im gleichen Moment wurde die Notbremse gezogen. Alle Fans johlten und amüsierten sich. Immerhin wurde die Polizei wieder mal ausgetrickst. Und das war in ihren Reihen eine Heldentat und die Polizeibeamten ärgerten sich. Sie wollten nun unter allen Umständen den Täter haben und schauten sich um. Fanden aber keine Hinweise und niemand wollte es gewesen sein. Und das Schlimmste daran ist, er kann direkt neben ihnen stehen und sie wissen es nicht.

Nachdem der Lokführer die Bremse zurückgestellt hatte, konnte die Fahrt fortgesetzt werden. Nun schien die Fahrt, trotz des Lärms, den die Fans von sich gaben, ruhig zu verlaufen. Und das sollte bis auf wenige Kleinigkeiten so bleiben. Da kam zum Beispiel eine junge Frau mit ihrem Kind und bat die Beamten um Hilfe. Hilfe dahingehend, dass sie dringend zur Toilette musste und sich nicht alleine durch den Zug traue. Außerdem hatte sie Angst um ihren Sohn. Somit begleitete Erich zusammen mit Klaus die junge Frau zu ihrem Ziel. Der Sohn durfte bei Jutta und den restlichen Polizisten bleiben und bei Jutta war er gut aufgehoben. Sie hatte ein Herz für Kinder und spielte gerne mit ihnen.