Erich Glaubmirnix - Kriminalfälle und Abenteuer heute und im Mittelalter

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„Muss das wirklich sein?“, fragte daraufhin der Praktikant und bekam die entsprechende Antwort: „Natürlich! Ich kenne die schon seit Ewigkeiten. Und wenn ich die ignoriere, sind die am Ende noch böse mit mir. Wirst schon sehen. Die tun dir nix!“

Heute hatte die Kundenbetreuerin doppeltes Glück. Es sind Polizisten im Zug und sie musste sich bis jetzt mit keinem Fahrgast herumärgern. Alle zeigten ihre Fahrkarten und waren freundlich zu ihr. Der Praktikant, der gerne ein wenig sticheln wollte, erklärte die Situation so: „Also, wenn man keine Polizei braucht, ist sie da. Und wenn man die Polizei braucht, ist sie nicht da.“

„Knut! Erzähle nicht so einen Quatsch! Und lass die das nicht hören.“

„Aber ein Fünkchen Wahrheit ist schon dran. Oder nicht? Hatte da nicht mal einer gesagt: ‚Wenn du einen Polizisten sehen willst, musst du den Fernseher einschalten und den nächsten Krimi gucken?‘“

„Knut! Jetzt ist es aber gut! Lass uns unsere Arbeit machen!“

Die zwei Bundespolizisten hatten sich im letzten Abteil niedergelassen und schauten zum Fenster raus. „Mehlmann, wie sieht es aus. Wollen wir los?“

„Wenn du nichts dagegen hast, warten wir noch bis Wolkramshausen. Danach gehen wir los.“

„Okay. Hast du gesehen, wer als Kundenbetreuerin an Bord ist?“

„Ja, Anika ist an Bord und Lothar sitzt im Führerstand.“

Oh, Anika, das ist gut. Die hat mir heute früh den Unterschied von Kindergarten und Kindertagesstätte erklärt. Wenn du es auch wissen willst, frage ich gleich mal nach. Ich bin mir sicher, dass das für dich ein sehr interessanter Vortrag wird.“

„Höre auf. Das will ich gar nicht wissen. Habe gerade andere Probleme. Aber da spreche ich nicht drüber.“

„Na, dann eben nicht. Kannst es dir ja noch überlegen.“

„Wen interessiert schon der Unterschied zwischen Kita und Kindergarten? Mich nicht!“

„Schau mal da, wer da kommt? Wie heißt das so schön? Spricht man vom Teufel …“

„… da ist er nicht weit! Grüß dich, Anika, der Erich lästert gerade über dich.“

„Waaas? Der kann doch gar nicht lästern.“ Anika drehte sich um und rief: „Knut, komm mal her. Ich will dir zwei gute Polizisten vorstellen. Nun komm schon endlich! Die beißen nicht!“ Danach wandte sie sich wieder den Polizisten zu: „Das ist mein Praktikant. Sein Name ist Knut Hölzel. Den hab ich heute mitbekommen. Der ist unheimlich wissbegierig und will mal bei der Eisenbahn anfangen. Der hat schon allerhand von mir gelernt. Stimmt’s Knut?“

Der Bengel nickte verlegen.

„Du, Anika? Der Mehlmann kennt nicht den Unterschied von Kita und …!“

„Kein Problem!“, sagte Anika, setzte sich und fing an zu erzählen: „Also …“

„Anika, höre auf! Der Erich will dich doch bloß ärgern.“

„Der? Der kann mich nicht ärgern! Das hat er damals in der Schule schon versucht. Hat aber nie geklappt. Da weißt du, wie lange ich den Kerl schon kenne.“

„Na gut! Wechseln wir das Thema! Was gibt es Neues bei der Eisenbahn?“

„Eigentlich nichts! Nur, ja …, lass mich mal kurz überlegen. Ach ja, der Zug ist bis jetzt pünktlich!“

Im selben Moment kam eine Durchsage: „Werte Fahrgäste! Wir warten auf dem Bahnhof Wolkramshausen auf den verspäteten Anschlusszug aus Leinefelde. Die Weiterfahrt könnte sich deswegen um wenige Minuten verzögern. Wir bitten um Ihr Verständnis!“

„Na Anika, sind wir nach dem Anschlusszug immer noch pünktlich?“

„Erich! Der Mehlmann hatte doch recht! Du willst mich ärgern! Ich sage dir nur das eine: Wir warten garantiert nicht länger als zehn Minuten! Und was sind schon zehn Minuten bis Erfurt? Die haben wir spätestens in Greußen wieder drin. Du kennst doch meinen Lokführer!“

Mit Anikas Ankündigung fuhr der Zug in Wolkramshausen ein und musste tatsächlich zehn Minuten auf den Anschlusszug warten. Während der Wartezeit ging Anika mit ihrem Praktikanten wieder vor zum Triebfahrzeugführer und wollte hinter Sondershausen die nächsten Fahrausweise kontrollieren. Die zwei Polizisten beobachteten von ihrem Sitzplatz aus den Umstieg der Reisenden, um im Notfall helfen zu können.

„Und wenn der Zug abfährt, beginnen wir mit unseren Fahndungskontrollen!“, schlug der Mehlmann vor und schaute auf die Uhr. Als der Zug endlich abfuhr, beschleunigte der Triebwagen ungewöhnlich schnell und bei der Einfahrt in den Bahnhof Kleinfurra hatte sich die Verspätung auf neun Minuten verringert und nach Abfahrt vom Haltepunkt Großfurra waren es nur noch acht Minuten. Dieser Fakt führte unseren Erich zur Einsicht: „Langsam glaube ich doch, dass Anika recht hat. Da muss ich mich wohl oder übel doch noch bei ihr entschuldigen.“

Zur selben Zeit in einem Haus in Großfurra

„Verdammt noch mal, du siehst in deinem Hochzeitskleid umwerfend aus. Lass dich mal so richtig anschauen und drehe dich bitte einmal um. Ich will mal sehen, wie dein Kleid von hinten aussiehst.“

„Vati! Du sollst nicht immer verdammt noch mal sagen!“

„Ja, ja, ist schon gut. Dreh dich doch bitte einmal rum.“ Während sich die Tochter Andrea umdrehte, redete der Vater weiter: „Das Kleid passt wie angegossen. Da bin ich gespannt, was dein Bräutigam dazu sagt. Wo ist der denn überhaupt? Hätte der nicht schon längst da sein müssen? Immerhin wollen wir in einer Stunde auf dem Standesamt sein.“

„Beruhige dich, der wird gleich da sein.“

„Der Polterabend war für deinen Ingo bestimmt ein bisschen zu anstrengend. So lustig und ausdauernd, wie der gestern Abend war, hätte ich ihm gar nicht zugetraut.“

„Vati, das musst du auch nicht. Wo ist denn überhaupt Mutti abgeblieben?“

„Ich denke mal im Schlafzimmer und zieht sich um.“

„Und wo ist Omi?“

„Ich denke mal bei deiner Mutter.“

Kurz darauf ging die Tür auf und zwei festlich gekleidete Frauen kamen rein. Beide waren aufgeregt und diskutierten über das Wetter und die anstehende Hochzeit: „Hoffentlich regnet es nicht, und schau dir mal das wunderschöne Brautkleid an. Das darf auf keinen Fall nass werden … und sieht sie nicht himmlisch aus, meine Kleine? Ich kann es immer noch nicht fassen, dass sie jetzt schon heiratet. Gestern war sie noch in der Schule und heute ist sie schon neunzehn.“

„Moni, beruhige dich. Vorgestern hattest du dein Brautkleid an und ich konnte es genauso wenig begreifen. Und jetzt …? Und wenn ich mir deine Tochter genauer anschaue, bist du auch bald ’ne Oma.“

„Nein, das glaube ich nicht. Ich bin doch erst vierzig! Da kann man doch noch keine Oma werden.“

„Glaub es mir. Man kann. Ich war neununddreißig.“

Der Brautvater, Manfred Kaune, schüttelte bei der Diskussion nur noch mit dem Kopf und lächelte in sich rein.

„Manni! Lache nicht! Kümmere dich lieber um den Sägebock und um die Blumen, die verstreut werden müssen! Und hast du auch genug Kleingeld für die Kinder eingesteckt? Und wo hast du den Brautstrauß? Und hast du …?“ Moni fiel nichts mehr ein und so endete sie mit ihren Forderungen: „Denke dran! Heute darf nichts schiefgehen!“

„Immer schön langsam. Punkt eins steht schon im Hinterhof bereit. Darum hat sich Bernd gekümmert. Wir haben uns auch die stumpfeste Säge ausgesucht und den dicksten Holzklotz besorgt. Mal sehen, wie lange das Brautpaar sägt.“

„Manni, du bist gemein.“

Der Brautvater drehte sich zu seiner Andrea und flüsterte: „Ich habe euch eine extra scharfe Säge hingelegt.“ Dabei zwinkerte er mit dem rechten Auge und die Braut freute sich und dachte: „Wenn Vati jetzt geschwindelt hat, tue ich nur noch so, als ob ich säge. Mein Ingo ist ein kräftiger Mann. Der macht das schon.“

„Punkt zwei hab ich in der Tasche und bei Punkt drei und vier bin ich nicht zuständig! Das ist eure Aufgabe.“

„Beruhigt euch doch bitte“, mischte sich Oma Selma ein, „der Blumenstrauß steht in einer Vase in der Küche. Wenn es soweit ist, hole ich ihn.“

„Du bist doch die beste Oma.“

„Seid mal ruhig! Ich glaube, da kommt eine Kutsche vorgefahren.“

Alle stürmten zum Fenster und schauten auf die Straße. Da stand tatsächlich schon die heiß ersehnte, reich verzierte und mit vielen Blumen geschmückte Kutsche. Der Kutscher im festlichen Anzug mit Fliege und Zylinder, stieg ab und öffnete dem Bräutigam die Tür. Der stieg aus und ging zum Haus. Das war für alle das Aufbruchssignal. Alles rannte im Haus durcheinander und trotzdem stand innerhalb kürzester Zeit die komplette Hochzeitsgesellschaft vor der Tür.

Im Regionalexpress 16573

Die zwei eingesetzten Polizeibeamten erhoben sich von ihren Sitzen und fingen gutgelaunt mit ihren stichprobenartigen Fahndungskontrollen an. Blieben aber gleich bei der ersten Person stecken. Der junge Mann schien keinen Personalausweis bei sich zu haben. Er suchte verzweifelt all seine Taschen ab, fand aber nichts.

„Haben sie kein anderes Dokument wie zum Beispiel eine Fahrerlaubnis, Studentenkarte oder irgendeinen Versicherungsausweis mit Lichtbild bei sich? Schauen Sie bitte noch mal nach.“

Der junge Mann fing wieder an zu suchen.

Zur selben Zeit erklärte Anika ihrem Praktikanten: „Siehst du, wie der Zug die Verspätung aufholt? Spätestens, wenn wir in Sondershausen abfahren, sind wir wieder pünktlich! Wenigstens fast.“

Knut nickte skeptisch.

Jetzt mischte sich der Triebfahrzeugführer ein: „Anika, übertreibe nicht. Es reicht, wenn wir bis Erfurt wieder pünktlich sind. Und nun anderes Thema. Habe ich dir schon erzählt, dass mein Großer gestern eine Fünf in Mathe mit nach Hause gebracht hat? Ich war ganz schön sauer auf diesen Bengel. Und das ist ja nicht die erste Fünf. Erst neulich, das ist gerade mal drei Wochen her, hatte der sogar eine Sechs! Jetzt hab ich ihm eine Woche Ausgangssperre aufgebrummt. Es scheint zu helfen. Glaube ich wenigstens. Du musst mal sehen, wie der jetzt büffelt. Gerade in der heutigen Zeit ist es doch wichtig, dass man gute Noten … Anika! Ich glaube, da kommt eine Lok auf uns zu! Verdammt! Da kommt tatsächlich eine Lok! Scheiße! Anika! Schnapp dir deinen Praktikanten und rennt so schnell wie möglich in den Zug und sucht euch einen sicheren Platz!“

 

Im selben Moment riss der Triebfahrzeugführer die Bremse herum und schlug mit der Faust auf das Signalhorn. Bei dem Druck, der bei dieser Gefahrenbremsung entstand, hatten sie aus eigener Kraft kaum eine Chance, den Führerstand zu verlassen. Knut, der in der Tür stand, rannte los und erreichte das erste Abteil. Der Triebfahrzeugführer sprang nach Auslösung der Bremse auf, stemmte sich gegen die Bremswirkung, schnappte sich die Kundenbetreuerin und schob sie aus dem Führerstand, schmiss die Tür hinter sich zu und im selben Moment erfolgte der Aufprall. Durch den Aufprall wurde der Führerstand komplett zusammengepresst. Der Druck verformte auch den dahinter liegenden Bereich bis hin zur Eingangstür. Der Triebwagen entgleiste, kippte zur Seite und kam in einer gefährlichen Schräglage zum Stehen. Nun drohte der Triebwagen zu jeder Zeit umzustürzen und die entgegengekommene Diesellok hatte sich im Triebwagen verkeilt.

Im hinteren Teil des Triebwagens hörte man zuerst einen lauten Knall, dann das Bersten von Metall und Kunststoff und dann spürte man die Wucht des Aufpralls. Die Reisenden wurden durch den Zug geschleudert und blieben irgendwo im Abteil liegen. Auch die zwei Bundespolizisten blieben davon nicht verschont. Obwohl sie versucht hatten sich festzuhalten, riss die Wucht beide Beamten mit und sie schlugen auf dem Boden auf und rutschten meterweit durch den Zug. Dabei hatten sie mächtig Glück gehabt, da sie nicht ernsthaft verletzt wurden.

Nun hörte Erich schmerzhafte Schreie und verzweifelte Hilferufe. Er rappelte sich auf und schaute sich um. Was er da sah und hörte, machte ihn fassungslos. Bei dem Anblick musste er sich zusammenreißen und durfte nicht zeigen, dass er selbst auch Schmerzen hatte. Und im ersten Moment wusste er nicht, was er zuerst und zuletzt machen sollte: „Ich brauche Hilfe. Nein! Ich nicht! Die Leute brauchen Hilfe. Ich muss helfen! Verdammt noch mal!“ Er nahm sein Funkgerät und rief die Leitstelle: „Efeu 47 für die Efeu 47-20 kommen!“

„Efeu 47 hört.“

„Hier die Efeu 47-20! Ich muss einen Unfall melden! Unser Zug ist vermutlich mit einem Hindernis zusammengestoßen! Wir haben hier etliche Verletzte und brauchen dringendst Unterstützung vom Rettungsdienst, Notarzt und Feuerwehr. Unser Standort liegt zwischen Großfurra und Sondershausen. Den genauen Bahnkilometer kann ich von hier aus nicht sehen. Unser Zug steht ungefähr auf halber Strecke zum ehemaligen Bahnhof ‚Glück Auf‘. Ich gehe jetzt durch den Zug und helfe den Verletzten. Und wenn ich Näheres weiß, melde ich mich wieder. Efeu 47-20 Ende!“

Eine Hochzeitsgesellschaft in Großfurra

Der Brautvater Manfred Kaune verließ als letzter das Haus und schaute nach, ob alles ordnungsgemäß verschlossen war. Dann ging auch er zur Kutsche und begrüßte seinen zukünftigen Schwiegersohn und dessen Eltern. Dieser bestaunte seine zukünftige Braut und war über das Hochzeitskleid sprachlos: „Schatz du siehst umwerfend aus. Komm, lass dich küssen.“

„Nein, jetzt noch nicht!“, mischte sich der Brautvater ein. „Erst nachdem du ‚Ja‘ gesagt hast!“

Der Bräutigam gab nach und half seiner Braut beim Einsteigen in die Kutsche. Da klingelte ein Handy. Es war das Handy des Brautvaters. Er zog es aus seiner Tasche und legte es an sein Ohr. Dann wurde er blass und fing an, ein wenig zu zittern. Alle, die das mitbekommen hatten, sahen, dass hier irgendwas nicht stimmte. Manfred ging ein wenig zur Seite und schaute seine Tochter an. Es war ein trauriger Blick. Er war verunsichert und wusste nicht, was er dem Anrufer antworten sollte. Er ging beiseite und setzte sich auf einen Stein. Stand sofort wieder auf und steckte sein Handy wieder weg. Mit unsicheren Schritten ging er zur Tochter und sagte: „Ich kann nicht mitkommen. Verzeih mir, liebe Andrea. Ich glaube, du musst ohne mich heiraten.“

Die Braut schaute ihn entsetzt an und sagte: „Nein! Das darfst du nicht! Du musst mitkommen! Egal, was man dir da gerade gesagt hat. Das ist unwichtig! Mach mir meinen schönsten Tag nicht kaputt!“

„Ich kann nicht anders. Da gab es einen Unfall auf der Eisenbahn mit vielen Verletzten. Es können auch Tote dabei sein. Ich muss dort hin und muss helfen. Es tut mir wirklich leid. Fahrt los und wartet nicht auf mich. Ich komme so schnell wie möglich nach.“

„Nein! Du steigst sofort in die Kutsche! Die können auch ohne dich dorthin fahren.“

„Nein, das geht nicht. Ich kann nicht anders. Ich bin der Wehrführer.“ Dem Brautvater standen bei dem Anblick seiner Tochter die Tränen in den Augen. Dann drehte er sich um und rannte schweren Herzens zur Einsatzstelle der Feuerwehr.

Kurz darauf hörte man die Sirene.

Im Zug

Erich hatte noch nicht wirklich begriffen, was passiert war, und er musste sich ein Bild von der Situation machen. Zuerst suchte er seinen Kollegen und fand ihn zwei Sitzreihen weiter. Der versuchte auch gerade aufzustehen und stützte sich dabei auf eine Sitzfläche, diese brach auf Grund einer Beschädigung weg und er stürzte wieder zu Boden. Erich rannte hin, half ihm hoch und fragte: Hast du irgendwo Schmerzen? Was kann ich für dich tun?“

„Ich? Ich hab doch keine Schmerzen. Mir geht es gut!“

„Und was ist das für Blut an deiner Schläfe?“

Der Mehlmann fasste sich dorthin und antwortete: „Das ist nicht mein Blut!“

Erich sah, dass er schwindelte, und begutachtete die Wunde genauer. Es war Gott sei Dank nur eine Schürfwunde. Ein größeres Pflaster konnte da schon helfen.

„Mehlmann, wir müssen uns unbedingt einen Überblick verschaffen und den Verletzten helfen. Wir müssen durch den Zug. Die Leitstelle weiß schon Bescheid.“

Beide gingen los. Nebenbei sah Erich den jungen Mann, welcher seinen Personalausweis nicht vorzeigen konnte, wie er sich um eine verletzte ältere Frau kümmerte. Erich fand das gut, war froh und nickte freundlich. Der junge Mann sprach: „Ich wurde beim Militär zum Rettungssanitäter ausgebildet. Ich werde helfen, wo ich kann!“

Und ja, Hilfe war dringend notwendig. Die zwei Polizeibeamten, die den ersten Schock hinter sich gelassen hatten, kümmerten sich ebenfalls um die Verletzten. Nebenbei wurden die Betroffenen gezählt und überprüft, wie schwer die Verletzungen sind. Es sollte dementsprechend Hilfe angefordert werden. Im hinteren Abteil, wo sich die zwei beim Aufprall aufgehalten hatten, zählten sie acht Leichtverletzte und eine schwerverletzte Frau. Die Zahlen wurden sofort durchgegeben. Im Bereich der Eingangstüren wurde versucht, wenigstens eine Tür zu öffnen. Denn sobald die Rettungskräfte eintreffen, sollten sie einen schnellen und barrierefreien Zugang in den Triebwagen haben. Das klappte leider nicht. Die Türen waren verriegelt und hatten sich durch den Aufprall verklemmt. Somit wurden mit dem Nothammer, welcher sich in jedem Abteil befinden sollte, zwei Scheiben eingeschlagen und die Glassplitter entfernt. „So Mehlmann, jetzt wird es schwieriger. Wir müssen sehen, was da vorne los ist.“

„Siehst du, wie schräg der Wagen steht? Hoffentlich kippt der nicht gänzlich um, wenn wir da durch gehen!“

„Egal, wir müssen da rein. Verdammte Scheiße! Siehst du das? Der Führerstand ist komplett eingedrückt.“

„Los, wir müssen da hin! Siehst du die Kundenbetreuerin?“

„Nein.“

„Und den Lokführer?“

„Nein.“

„Hoffentlich ist denen nichts passiert. Das sieht da vorne richtig schlimm aus. Sag mal, die hatten doch noch einen Praktikanten bei sich?“

„Den sehe ich auch nicht.“

Beide Polizisten kämpften sich nun Schritt um Schritt durch das Abteil, mussten ausgerissene Sitzbänke und andere Hindernisse bei Seite schieben und das kostete Kraft und Zeit. Sie wollten alles begutachten und den Verletzten helfen und Hoffnung zusprechen. Und sie wollten bei ihrem Einsatz nicht riskieren, dass durch unnötige oder hastige Bewegungen der Triebwagen gänzlich umkippt und es weitere Verletzte oder Tote gibt. Sie zählten auf ihren Weg noch mal zwölf Leichtverletzte und drei schwerverletzte Personen. Und dort, wo der Wagen zusammengedrückt war, fanden sie den Praktikanten. Der war gerade dabei, eine eingedrückte Seitenwand beiseite zu schieben. Das klappte aber nicht, weil die Decke teilweise eingestürzt war und sich über die verbogene Wand gelegt hatte. Somit war alles blockiert.

Erich sprach ihn sofort an: „Was machst du denn da?“

„Dahinter sind meine Chefin und der Lokführer. Ich will sie da rausholen. Ich hab schon ein paarmal gerufen. Aber die antworten nicht. Deshalb will ich diese Wand hier wegschieben. Ich will nicht, dass alle beide dahinter tot sind.“

Der letzte Satz fiel ihm sichtlich schwer. Erich schnappte sich sein Funkgerät und informierte die Leitstelle über den momentanen Stand. Danach baten sie den Praktikanten, beiseite zu gehen und wollten selber ihr Glück versuchen. Egal, was man ihm sagte und zu erklären versuchte, der Praktikant ließ sich nicht vertreiben. Der wollte hartnäckig seine Chefin retten und antwortete: „Dort hinter dieser Wand ist Frau Bachmann! Und ich bin verantwortlich für sie! Stellen Sie sich mal vor, die kommt da raus, sucht mich überall und findet mich nirgendwo. Was sie sich da für Vorwürfe macht.“

„Nein“, konterte Erich, „du bist nicht für sie verantwortlich. Rede dir das ja nicht ein. Eher ist es umgedreht. Sie trägt für dich die Verantwortung!“

„Na ja, das meine ich doch. Wenn Frau Bachmann da rauskommt und ich bin nicht da! Ich bleibe hier und helfe mit, sie da rauszuholen, und Punkt!“

Da halfen von Seiten der Beamten keine weiteren Drohungen. Der Bengel blieb hart. Nun ja, da wurde eben von Seiten der Polizisten nachgegeben und zu dritt angefasst. Immerhin galt es, Menschenleben zu retten. Egal wie und zu welchem Preis. Während sie nun gemeinsam versuchten, die Wand beiseite zu bekommen, riefen sie immer wieder ihre Namen: „Anika! Anika Bachmann! Lothar! Wo seid ihr? Meldet euch! Wenn ihr nicht könnt, gebt wenigstens ein Zeichen. Ein einfaches Klopfen reicht. Nur damit wir wissen, wo ihr seid und wie es euch geht.“ Es kam keine Antwort. Nach und nach kam der Verdacht auf, dass sie den Unfall nicht überlebt haben könnten. Dieser schreckliche Gedanke spornte die Retter noch mehr an und obwohl der Gedanke immer wieder weggewischt wurde, war er doch immer zugegen: „Wir retten sie auf jeden Fall! Und die sind auch nicht tot!“

Nun hörte man draußen die ersten Signalhörner. Es war die freiwillige Feuerwehr von Großfurra und die von Kleinfurra und Sondershausen waren auch schon auf dem Weg und sollten in Kürze eintreffen. Da kamen die ersten Rettungswagen zum Unfallort. Die Rettungssanitäter und der Notarzt stiegen aus und begaben sich unverzüglich zu den Verletzten. Dann traf die Landespolizei ein und selbst die Kollegen der Bundespolizei waren innerhalb kürzester Zeit vor Ort. Obwohl sie den längsten Anfahrtsweg hatten. Sie kamen von Sollstedt rüber gefahren. Auch der Notfallmanager der Bahn war anwesend und Erich sah, wie er den Einsatzkräften irgendwelche Hinweise gab. Erich achtete nicht weiter auf das Einsatzgeschehen. Er wollte unbedingt mit dem Mehlmann die verdammte Wand wegbekommen.

Und als die ersten Einsatzkräfte der Feuerwehr am Zug waren und dabei die drei Retter im Zug entdeckten, pochten sie vorsichtig mit der Faust gegen das Fenster. Danach gingen sie sofort wieder auf Sicherheitsabstand und beobachteten ihre Reaktion. Sie sahen die gefährliche Position des Triebwagens und wollten unnötige Aktionen vermeiden. Mit Handzeichen und kurzen Sätzen erklärte Erich die Situation im Zug und bat gleichzeitig um Hilfe. Sie sollten so schnell wie möglich zu ihnen kommen, um bei der Rettung zu helfen. Denn, egal wie sie sich anstrengten, alleine schafften sie es nicht. Die Wand war zu sehr mit der herunterhängenden Decke verkeilt. Hier konnte nur noch schwere Technik helfen.

Dann meldete sich das Funkgerät: „Efeu 47-20 für die Efeu 47-30 kommen!“

Erich meldete sich: „Efeu 47-20 hört!“

„Efeu 47-20, wir sehen euch nicht! Seid ihr im Zug? Gebt mal euren Standort! Wir wollen zu euch.“ Sie standen nach ihrer Ankunft mit ihrem Streifenwagen auf Grund von Platzmangel etwas ungünstig und hatten dadurch nur eine begrenzte Sicht zum Ereignisort.

 

Erich antwortete: „Die Efeu 27-20 ist mit Kollege M. im vorderen Teil des Zuges und sucht die Kundenbetreuerin und den Triebfahrzeugführer. Könnt ihr mal von außen schauen und uns mitteilen, was da konkret passiert ist? Vielleicht seht ihr was von den beiden?“

„Die Efeu 37-30 ist unterwegs, und wie ich von hier aus schon sehe, ist euer Triebwagen gegen eine entgegengekommene Diesellok der Baureihe 232 geprallt. Sieht schlimm aus. Die Lok hat sich voll im Triebwagen verkeilt. Die Feuerwehr ist gerade dabei, auf den Führerstand der Lok zu klettern. Wie es aussieht, suchen die den Lokführer.“

Erich schaute aus dem Fenster und sah, wie sein Kollege Elu zu einem Feuerwehrmann ging und sich mit ihm unterhielt. Dabei schauten beide auf den Triebwagen. Kurz darauf kam der nächste Funkspruch: „Efeu 47-30 hat gerade mit dem Einsatzleiter gesprochen. Der hat mir erklärt, dass sie an den Triebwagen noch nicht herangehen können, weil dieser umzustürzen droht. Uns will der Einsatzleiter auch nicht durchlassen. Es sei zu gefährlich. Der Triebwagen muss erst von beiden Seiten abgestützt werden. Danach können sie handeln. Die entsprechende Technik wurde bereits angefordert und ist unterwegs. Das einzige, was im Moment getan werden kann, ist die Bergung der Verletzten im hinteren Teil des Triebwagens.“

„Efeu 47-30 für die 47-20! Wir haben hier vorne auch Verletzte und zwei von ihnen sind eingeklemmt und wir kommen nicht an sie ran. Die sollen sich so schnell wie möglich was einfallen lassen!“

„Efeu 47-20, der Einsatzleiter Kaune hat mitgehört.“

Erich schaute wieder aus dem Fenster und sah, wie sich der Einsatzleiter nach dem Funkspruch mit schnellen Schritten vom Zug entfernte. Erich war fassungslos: „Der wird doch wohl nicht …?“

„Efeu 47-30, was hat der Mann vor? Hat er dir was gesagt?“

„Nein, leider nicht, und was er vorhat, kann ich dir auch nicht sagen. Ich denke mal, dass der eine Idee hat.“

„Wir werden sehen. Efeu 47-20 Ende!“

Im hinteren Triebwagen hörte Erich, wie die ersten Einsatzkräfte anfingen die Verletzten zu bergen. Diese Aktion funktionierte aus Sicht der zwei Beamten hervorragend. Und das war in der verzweifelten Situation der nächste Funke der Hoffnung. Nun würde es nicht mehr lange dauern und sie wären bei ihnen.

„Mehlmann, wir versuchen es trotzdem noch mal.“

Mit vereinten Kräften wurde wieder an der Seitenwand gezerrt und es war ein leichtes Knarren zu hören und die Wand schien sich zu bewegen. Aber dann gab es einen lauten Knall, der Triebwagen zitterte kurz und neigte sich noch weiter zur rechten Seite.

„Verdammte Sch…! Es hat keinen Zweck. Wenn der jetzt umkippt, gib es …!“ Erich sprach den Satz nicht zu Ende. Er wollte das Wort „Tod“ nicht in den Mund nehmen.

„Ich glaube, wir müssen uns gedulden.“

„Hast recht, Mehlmann, wir können im Moment nichts tun.“ Aber eins machte er dennoch. Er sprach mit den Vermissten: „Anika und Lothar, wir lassen euch auf keinen Fall in Stich! Wir geben nicht eher auf, bis wie euch gefunden und in Sicherheit gebracht haben. Das verspreche ich euch, so wahr ich hier stehe! Wir haben hier viele Helfer, die sind alle hierhergekommen, nur um euch zu retten. Haltet durch! Es dauert nicht mehr lange und wir sind bei euch.“ Und zum Mehlmann gewandt flüsterte er: „Hoffentlich sind sie noch am Leben.“

Da meldete sich der Praktikant: „Natürlich leben die Zwei noch! Das spüre ich! Genau hier drin spüre ich das!“ Dabei schlug er sich mit der rechten Hand auf die Brust und traf genau die Stelle, an der sein Herz schlug, und redete weiter: „Auch wenn ich Frau Bachmann und den Lokführer bis heute Morgen noch nicht kannte, so will ich doch, dass sie leben! Und sie leben, glaubt es mir! Und deshalb bleibe ich auch hier! Basta!“

Nun staunten die zwei Polizisten nicht schlecht über den Praktikanten Knut Hölzel. Diese eindringlichen Worte hätten sie ihm gar nicht zugetraut. Ein anderer hätte vielleicht die erstbeste Gelegenheit genutzt, um sich aus dem Staub zu machen. Aber dieser Praktikant gehörte nicht dazu.

Erich hörte im Hintergrund Schritte und drehte sich um. Er sah den Einsatzleiter, wie er mit schwerer Technik wieder kam. Er brachte auch zwei Kameraden mit.

„Ich habe hier eine Säge und Hebelwerkzeug und meine Leute sind gerade dabei, mehrere Luftkissen auszulegen und zusätzlich Metallstützen aufzustellen. Wenn die aufgeblasen und verankert sind, legen wir los.“

„So machen wir das!“

Diese schnelle Antwort kam vom Praktikanten und der erntete damit irritierte Blicke getreu dem Motto: „Was bildet der sich ein? Das ist doch kein Chef! Aber er zeigt, selbst in seinen jungen Jahren, schon sehr viel Mut.“

Danach wurde aus dem Triebwagen heraus der Fortschritt der Sicherungsmaßnahmen beobachtet und dann sagte der Einsatzleiter: „Ich glaube, wir können jetzt mit der Bergung anfangen. Reicht mir bitte die Säge!“ Nun erklärte er den Anwesenden, was er vorhatte, und nach deren Zustimmung, setzte er die Säge an. Er fing im oberen Bereich der Wand an und schnitt vorsichtig ein quadratisches Loch hinein. Danach nahm er eine Taschenlampe und leuchtete dahinter. Er sah, dass hinter der Wand alles zusammengepresst war und eine herausgerissene Sitzbank lag quer im Weg. Er sah aber auch einen Teil von einem Bein, welches auf dem Fußboden lag. Mehr konnte er bei aller Anstrengung nicht sehen. Somit wurde die Säge wieder angesetzt und er arbeitete sich vorsichtig von oben nach unten durch. Danach wurde mit Hilfe der Technik die Wand auseinandergedrückt und der Blick war frei. Das was man nun sah, versprach nichts Gutes. Sie sahen zwei eingeklemmte leblose Körper.

Erich erschrak bei dem Anblick, riss sich zusammen und sagte zum Praktikanten: „Knut, schau nicht hin. Das ist nichts für dich. Gehe lieber raus. Einer der Feuerwehrmänner wird dich begleiten.“

Eine zitternde Stimme antworte mit unverständlichen Worten und der Angesprochene ging langsam los. Er machte nur wenige Schritte und drehte sich wieder um. „Ich bleibe hier! Ich habe es versprochen!“

„Knut, du kannst hier nichts mehr machen. Warte draußen auf uns!“

Erichs letzte Worte schienen bei ihm angekommen zu sein. Der Praktikant verließ mit gesenktem Haupt den Triebwagen. Beim Verlassen des Triebwagens sagte er zu sich: „Der Tag hat doch so schön angefangen. Warum muss der so grausam enden?“

Erich schaute in den aufgebrochenen Schlitz und griff nach einer Hand. Auch wenn sie blutig war, wollte er ein Lebenszeichen und das bekam er. Er spürte den Puls.

„Sie leben! Ich spüre es! Sie leben noch!“

Aufgeregt zog er sich zurück und die Säge kam wieder zum Einsatz. Erich und der Mehlmann schauten aufgeregt zu und sahen professionelle Arbeit. Nachdem das letzte Hindernis beseitigt wurde, konnte keiner mehr unseren Erich festhalten. „Entschuldigt bitte!“, rief er. „Ich kann nicht anders. Ich muss da rein!“ Er schob alle Rettungskräfte bei Seite und kroch los und da für eine weitere Person kein Platz darin war, musste er alleine handeln. Das spielte für ihn keine Rolle. Zuerst war er bei dem Lokführer. Da er über der Kundenbetreuerin lag, wurde dieser zuerst geborgen. Erich zog ihn vorsichtig heraus und die Einsatzkräfte übernahmen ihn und brachten ihn aus dem Zug. In der Zwischenzeit konnte er sich um die Kundenbetreuerin kümmern. Nachdem auch sie aus dem zusammengepressten Abteil herausgeholt war, stellte ein Notarzt fest, dass beide noch am Leben sind, aber leider ohne Bewusstsein. Nun wurden sie zusammen mit den anderen Verletzten ins nächst gelegene Krankenhaus gebracht um, auf der Intensivstation behandelt zu werden.

Als das der Praktikant sah, ging er auf die zwei Polizisten zu und sagte: „Ich glaube, ich weiß jetzt, was ich später machen will. Ich gehe zur Bundespolizei!“