Stillstände

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Aus der Reihe: Lindemanns #366
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Die „bleierne Zeit“:

Deutschland – Trümmerland

1945 – 1947

Das Hintergrundrauschen der Kriegsjahre war verstummt: das erschreckende auf- und abschwellende Geheul der Alarmsirenen, der gleichmäßig tiefe, die Rückkehr zur Normalität vortäuschende Ton der Entwarnungs-Sirenen, das bedrohliche Dröhnen der Bomberpulks, das pfeifend-fauchende Geräusch der niedergehenden Bomben, das hysterische Geschrei des Diktators aus dem Volksempfänger, der betörend falsche Singsang der Zarah Leander, die verzerrt übertragenen Klänge des sonntäglichen Opern-Rundfunkkonzerts, die geheimnisvolle, verbotene, nächtliche Stimme Hugh Carlton Greens der British Broadcasting Company aus dem „Feindesland“. Jetzt im ersten Sommer nach der Kapitulation glaubte man in der von Flüchtlingen überfüllten Stadt einen befremdlichen, anonymen stöhnenden Klagelaut vernehmen zu können, der von einer Masse verstörter Menschen auszugehen schien wie von einem verwundeten Tier. Zu Tausenden waren sie, aus dem Osten kommend, in die kleine Stadt am Harz geflüchtet: Frauen und Kinder, wenige alte Männer. Auch der Großvater war in seinem Haus unter Frauen und Kindern der einzige Mann – ebenso im ganzen Wohnviertel –, nur der vom Wahnsinn getriebene Schneider Böck rannte als Kaiser von China die Straße auf und ab und musste von seiner Frau wieder eingefangen werden. Die Väter blieben verschwunden, nur die Mütter waren am Ort und besorgten das Überleben. Beim Holzsuchen in den Wäldern stieß der Enkel auf die weggeworfenen Gewehre und Stahlhelme der verschwundenen Soldaten. Die Tante vermisste ihren Sohn, seinen Vetter, der noch kurz vor Kriegsende als sog. Flakhelfer eingezogen worden war; auch seine Stimme war verstummt, die über eine geheime Frequenz im Volksempfänger zu hören gewesen war, wenn er die Einflugbewegungen der Bomberverbände im Netz der Planquadrate, die das deutsche Land überzogen, von einem Flak-Sender verbreitet, verlesen hatte. Bei Ida-Berta-Fünf erreichten die einfliegenden Bomberverbände die Harzregion, und die Großmutter verließ als Erste mit gepacktem Köfferchen das Haus, um in den als Luftschutzraum ausgewiesenen fürstlichen Felsenkeller zu fliehen. Die todbringenden „fliegenden Festungen“ am Himmel lösten bei dem Enkel widersprüchliche Gefühle von Angst, Schrecken und Faszination aus. In der Weite des Himmels, in der Entfernung von mehreren tausend Meter Höhe bildeten die fliegenden Pulks einen fliegenden Teppich silberner Punkte. Während der Tagesalarme hatte er die fremden Flugzeuge durch das Fernglas des Großvaters sehen und dingfest machen können; etwas anderes war es mit den unsichtbar bleibenden, dröhnenden Bomberströmen in der Nacht: ein metallisches Gewitter, dem nicht zu entkommen war und das in ihm ein Gefühl der Gefahr auslöste, das sich zu panischer Angst steigern konnte, da die Gewalt von überall auszugehen schien und sich körperlos allein dem Gehörsinn mitteilte.

In diesen Kriegsjahren war des Öfteren abends ein älteres Ehepaar durch die verdunkelte Stadt ins Haus des Großvaters zum Kartenspiel gekommen und musste wegen der häufigen Nachtalarme länger ausharren bis es den Heimweg antreten konnte. Der Enkel bekam sie selten zu Gesicht; etwas geheimnisvoll erschienen ihm die Besucher; mehrmals begleitete sie ein junger Mann, was auch die Mutter merkwürdig fand. Junge Männer vermutete man damals eher an der Front. Irgendwann hörten die Besuche auf. Später glaubte die Mutter, dass die abendlichen Besucher oder der junge Mann Juden gewesen sein könnten. Dass sie möglicherweise die Bomberpulks und ihr Vernichtungswerk gutgeheißen hätten und dass die todbringende Gefahr für sie in jedem Augenblick zu jeder Minute und Stunde auf ganz andere und unvorstellbare Weise bestand, hätte wohl für ihn, den Elfjährigen, sein Fassungsvermögen überfordert. Niemand im Haus des Großvaters hatte ihn darüber aufgeklärt, was es bedeutete, ein Jude zu sein im Deutschland dieser Kriegsjahre. Den tödlichen Sinn jener Judenlieder, die er beim „Deutschen Jungvolk“ als Pimpf mitgesungen hatte, konnte er nicht erfassen.

Im Juli 1945 kommen die Russen auf Panje-Wagen in die Stadt am Harz. Nach dem Erlass der Sowjetischen Militär Administration (SMAD) sollen alle Waffen: Flinten, Jagdgewehre, Degen und Dolche und alle Nazi-Memorabilien: Bilder, Bücher und Fahnen unverzüglich abgeliefert werden. Kopf- und besinnungslos war er mit dem Hammer auf den goldenen Marine-Offiziersdolch seines Vaters und auf sein Pimpfen-Koppelschloss losgegangen und hatte beides zerschlagen – wie auch die alte Schallplatte mit dem Propagandasong: „Denn wir fahren, denn wir fahren gegen Engel-Land“, die zu einem ausgemusterten Grammophon gehörte, das ihm Helga, die schöne Gastwirtstochter, aus dem Bestand des väterlichen Betriebs geschenkt hatte. Plötzlich sollte alles verschwinden, was an die untergegangene Zeit erinnerte; plötzlich machte er sich zum Zertrümmerer dessen, was er eben noch wertgeschätzt hatte: aus Angst, aus Feigheit, aus Wut, aus Scham? Wollte er sich rächen an einem Verrat, der an ihm begangen worden war? Er hätte es nicht sagen können.

Die Schulen waren geschlossen und standen leer. Er konnte sich gut vorstellen, dass der Geschichtslehrer mit den Schaftstiefeln und der SA-Uniform als einer der Ersten verschwunden war. Jetzt räumten die Schergen die Bühne. Was er nicht wissen konnte: die Chefs der Unterwelt inszenierten ihre theatralischen Abgänge eigens auf der Schaubühne ihres Berliner Bunkerverließes. Der Oberspielleiter hatte daran erinnert, „dass in hundert Jahren über diese schrecklichen Tage, die sie jetzt durchlebten, ein Farbfilm gezeigt werde und jeder sich für seine Rolle, die er spielen möchte, entscheiden solle und durchhalten müsse, damit die Zuschauer in hundert Jahren nicht johlen und pfeifen, wenn sie auf der Leinwand erschienen.“ Das Oberhaupt der Chaostruppe wollte diesen Empfehlungen offenbar Genüge tun, indem er sich theatralisch eine Pistolenkugel durchs Gehirn jagte. Für sein vollkommenes Verschwinden hatte er gesorgt, nichts sollte von dem Leichnam bleiben.

Von diesem letzten Coup auf der Bühne des geschichtlichen Schmierentheaters drang natürlich nichts nach draußen; ob man im Haus des Großvaters die von Wagner-Musik umrahmte Rundfunk-Nachricht vom Heldentod des „Größten Feldherrn aller Zeiten“, des sog. Gröfaz, gefallen als Held im letzten Gefecht gegen den Bolschewismus am 30. April in der Mitte der Hauptstadt Berlin, hatte hören können, bleibt ungewiss. Der 12-jährige Enkel hätte ohnehin das Verschwinden dieser Schimäre eines Mannes, dessen Namen man im alltäglichen Gruß zu verwenden hatte und dessen Bild allgegenwärtig war, nie und nimmer in Verbindung bringen können mit dem gleichzeitigen Verschwinden des eigenen leibhaftigen Vaters jetzt in den letzten Apriltagen während des Zusammenbruchs der Front in Italien. Das Bild der Schimäre war ihm so vertraut, allein schon von den Briefmarken seiner Sammlung. Sein befremdlich heroisierter Lebenslauf war dem Pimpfen eingebläut worden, sodass er mehr von der Schimäre wusste als vom eigenen Vater. Seit diesen Apriltagen des Jahres 1945 war die Mutter ohne Nachricht von ihrem Mann. Später wussten sie, dass es die folgenden Maitage gewesen waren, an denen das Leben des Vaters am seidenen Faden hing. Gefangen genommen von Tito-Partisanen in der Nähe von Monfalcone am 3. Mai, bei anbrechender Dunkelheit mit 2.000 Gefangenen in Marsch gesetzt in Richtung Karst und jugoslawische Grenze, ausgebrochen aus der Kolonne, geflohen unter Beschuss, fast verdurstet auf Nachtmärschen zurück in westlicher Richtung zum Isonzo, wieder gefangen genommen von neuseeländischen Truppen am 20. Mai 1945 – 11 Tage nach der „unconditional surrender“ Deutschlands –, einen Monat nach dem Pistolenschuss in einem Berliner Bunker.

In Gleichzeitigkeit zu diesen Ereignissen weit außerhalb seines Gesichtskreises stand der Enkel an diesen Tagen im April und Mai vielleicht gerade vor den Zelten der Kaugummi-kauenden, schlaksigen amerikanischen Soldaten und bestaunte ihre Jeeps. „Als Sohn eines deutschen Offiziers gehört es sich nicht, hier herumzustehen“, vernahm er plötzlich aus dem Munde einer älteren Dame, die er schon bei der Großmutter gesehen hatte. Ihr strafender Ausruf erreichte ihn nicht. Er konnte nicht verstehen, was sie ihm übermitteln wollte. Was er heraushörte war, dass sie die Anwesenheit und das Verhalten der amerikanischen Besatzungssoldaten offenbar missbilligte. Nicht im Traum hätte er sich vorstellen können, hier als Sohn seines abwesenden Vaters, der ihm ohnehin seit Kriegsbeginn nur als Urlauber in Uniform begegnet war, wahrgenommen zu werden. Der Vater war ihm fremd geworden. Auch konnte er nicht wissen, was die Frau mit der Berufung auf den „deutschen Offizier“ sagen wollte – und welcher Ungehörigkeit sie ihn bezichtigte. Wieder geriet er zwischen die Fronten der Generationen. In der Äußerung der älteren Frau schwang zu viel an Klassen- und Standesvorurteilen mit aus einer Epoche, die längst schon mit dem Ersten Weltkrieg untergegangen war. Ohne dass es dem Elfjährigen bewusst sein konnte, ohne dass er es hätte benennen können, bekam er schon ein Gespür für jene Unwahrhaftigkeit, in der so viele Menschen nach dem Höllensturz des Regimes befangen sein würden. Deutschland lag in Schutt und Scham und Schande. Menschenmassen zogen aus allen Himmelsrichtungen durch das Land: Flüchtlinge aus Schlesien, Ostpreußen und Pommern, die ersten PWs (Prisoners of war), Kriegsgefangene aus den Lagern der Alliierten, befreite Zwangsarbeiter der deutschen Rüstungsbetriebe aus allen Ländern Europas: DPs displaced persons: eigentlich alle, die jetzt durch die deutsche Trümmerwüste irrten, schließlich die Elendesten, vielleicht auch die Glücklichsten: die Überlebenden aus den Konzentrationslagern auf dem Weg dieses Deutschland so schnell wie möglich nach Westen zu verlassen; unter den Kriegsgefangenen auch der Vater, schon im Oktober 1945 entlassen aus den britischen Gefangenenlagern an den Stränden Riminis in seine Heimatstadt Wilhelmshaven in der englischen Besatzungszone; seine Familie aber, die Mutter mit den Söhnen, in der Stadt am Harz in der russischen Zone, wo sich vor ihren Augen der Eiserne Vorhang zu senken beginnt: auch sie „displaced persons“, die sich bald auf den Weg machen werden. Überall Menschen am falschen Ort, sie können nicht bleiben, wo sie sind.

 

Die Trümmerlandschaften der europäischen Städte zeigen nur das äußere Bild der inneren Ent-Ortung. Was ging in den Köpfen der sowjetischen Militäradministration in Wernigerode vor, die am 14. und 15. August 1945 ein Opernkonzert im großen Saal des Stadtgartens zulassen oder organisieren konnten – was ging in den Köpfen der Zuhörer vor? Zumindest erinnerte sie der Ausbruch einer Typhus-Epidemie im Oktober 1945 daran, dass es eine wie immer geartete Normalität in der Katastrophe nicht geben kann. Am Pfosten der Gartenpforte des großväterlichen Hauses hing jetzt ein Amtsschild mit dem Totenkopf, das vor dem Zutritt wegen eines Typhus-Falls warnte. Die Tante lag schwer danieder. Die SMAD ordnete sofort Massen-Schutzimpfungen an. Die Mutter beklagte, dass man die Kinder mit Spritzen traktierte, die eher für Pferde taugten als für Kinder. Nach der Impfung lagen alle Bewohner des Hauses danieder. Die Versorgung der Öfen und Herde mit Holz und Restkohle, die in den Händen von Großvater und Enkel lag, geriet ins Stocken; ebenso die Bewirtschaftung der Küche durch die Frauen. Die erbärmlichen Hamsterfahrten „aufs Land“ unterblieben, der Kampf um die zugeteilten kärglichen Rationen konnte nicht mit der nötigen Energie und Ausdauer aufgenommen werden. Es ging darum, sich zumindest das, für den sog. Normalverbraucher über 18 Jahre pro Woche zugestandene Quantum zu sichern: 500g Brot – 50g Fleisch – 5g Fett – 125g Zucker – 200g Kaffeeersatz – 25g Käse und 500g Gemüse. Die Speisekammer im Hause des Großvaters musste nachts verschlossen werden, weil irgendeiner (wer?) sich nächtens zur Speisekammer geschlichen hatte, um sich am kollektiven, streng eingeteilten Vorrat zu vergreifen. Die Mutter tauschte die damals beste Spiegelreflexkamera des Vaters gegen einen Laib Brot. Im Haus des Großvaters herrschte Hunger und Krankheit und Niedergedrücktheit und aufkommende Gereiztheit. Die typhus-kranke Tante konnte endlich in ein Krankenhaus kommen, was bislang wegen Überbelegung nicht möglich gewesen war.

Erst im November wurden die Schulen wiedereröffnet. Sein neuer Klassenlehrer nahm ihn beiseite und fragte, ob es ihm gut ginge; die Frage und das Gespräch hatten ihn erschreckt, plötzlich fühlte er sich, gerade von der Typhusimpfung genesen, tatsächlich elend und schwach; irgendwie schämte er sich. Die zugeteilten Holzstämme aber mussten aus dem Wald mit dem Leiterwagen geholt werden, die Stämme zuhause zersägt werden und die Kloben zu Scheite gespalten werden. Er sah sich verantwortlich für die Holzversorgung; der 81-jährige Großvater stand nur noch für das gemeinsame Sägen zur Verfügung; im Garten aber hatte er ein Kartoffelfeld angelegt. Als Gas und Strom ausfielen, hatte der Enkel für die Frauen mit herangeschleppten Backsteinen unter der Hausveranda eine Kochstelle gebaut. Endlich konnten sie der kranken Tante von fern zuwinken, als sie am Krankenhausfenster kurz erschien. Aus Norddeutschland erreichte sie die Nachricht, dass eine andere Tante mit ihrem 2-jährigen Kind bei einem Jagdbomberangriff eine Woche vor der Kapitulation ums Leben gekommen wäre. Fast ging diese Nachricht unter im Sog der allgemeinen Katastrophe. Die einzelne Todesnachricht ließ sich nicht mehr isolieren oder ablösen vom Kontext massenhafter Tötungen, Morde und Vernichtungen in Lagern, auf Schlachtfeldern und in Städten. Deutschland: ein in Schutt und Asche gelegtes Opernhaus, auf dessen zerfetzten Bühnen die letzten monströsen Schreckensarien verklungen waren – und in dessen von Trümmer-Kulissen gerahmten Nischen schon wieder Opernkonzerte an die alten Programme anknüpfen und die Kontinuitäten des Vormaligen wahren wollten, wenn nicht der Nullpunkt den totalen Abriss des Gebäudes verlangt hätte.

Zu Weihnachten 1945 stand ein ausgemergelter, hohläugiger Mann vor der Tür des Hauses in Wernigerode: den Vater konnte der Sohn in ihm nicht erkennen, auch konnte er die ganze Tragweite dieser glückhaften Heimkehr nicht einschätzen. Er hatte dem fremden Vater zum Weihnachtsfest ein Bild gemalt, auf Pappe mit Deckfarbe, das dieser kaum beachtete. Am anderen Morgen sah er diesen fremden Mann im Bett der Mutter. Es sollten diese Szenen oder Bilder sein, die ihm von der Rückkehr des Vaters in Erinnerung blieben. Der Vater verschwand wieder – im Westen musste er seine Zahnarztpraxis in den Trümmern der Heimatstadt Wilhelmshaven wiederaufbauen und einrichten; im Osten, in der russischen Besatzungszone, hinterließ er die Mutter: schwanger. Wernigerode lag jetzt im Grenzland schon an der Schnittstelle der östlich-westlichen Hemisphären. Noch war die alte Reichsmark das Zahlungsmittel in allen Besatzungszonen – noch gab es die Schleichpfade über die grüne Grenze. Die Angst aber war allgegenwärtig, dass sich Churchills „iron curtain“ urplötzlich und endgültig auf Europa herabsenken könnte – eine unüberwindbare Grenzlinie quer durch den Kontinent ziehend: von Stettin an der Ostsee bis nach Triest an der Adria. Das Zeitfenster, die Familie aus der noch sog. Ost-Zone in den Westen evakuieren zu können, begann sich zu schließen. Die Mutter schrieb dem Vater verzweifelte Briefe.

An einem nasskalten Abend im Januar 1947 stand im Halbdunkel einer abschüssigen kleinen Straße der Harzstadt ein Lastwagen mit Anhänger bei laufendem Motor zur Abfahrt bereit. Die Abfahrt verzögerte sich. Die Kinder froren; sie empfanden deutlich, dass sich alles um sie herum in einer Atmosphäre unterdrückter Angst und Heimlichkeit abspielte. Ein zweiter Lastwagen erschien, und die Männer begannen umzuladen. Der Fahrer des ersten Lastzugs hatte Bedenken bekommen und verweigerte die Fluchtfahrt über die Grenze bei Nacht. Der andere, kurzfristig eingesprungene, leicht angetrunkene Fahrer hatte so etwas wie eine Sonderfahr-Erlaubnis der sowjetischen Militär-Administration. Jetzt aber ging er ein Risiko ein: die Familie mit drei Kindern und dem Rest der wegen des Bombenkrieges ausgelagerten Möbel nächtens, ohne Papiere über die grüne Grenze in den Westen zu bringen. Der Vater, der auch schon schwarz über die Zonengrenze gekommen war, hatte die Flucht wie ein Kommando-Unternehmen geplant. Die Stadt schien menschenleer – und wie im Krieg immer noch spärlich beleuchtet. Sie umfuhren die Standorte des russischen Militärs und erreichten bald die Landstraße. Die Grenze war nicht fern; Schneeregen ging nieder. Im Fahrerhaus saßen der Vater und die Mutter neben dem unwirschen Fahrer, die Kinder quetschten sich am Rand gegen die Wagentür. Das Jüngste der Kinder aber musste, 5 Monate alt, in einem Kinderheim zurückgelassen werden. Gegen Mitternacht näherten sie sich der Grenze bei Stapelburg. Der Fahrer sollte sie kurz hinter der Grenze an einer aufgegebenen Tankstelle absetzen. Als im Scheinwerferlicht des Lastwagens die Baumstämme der Grenzsperre auftauchten, war es für eine vollständige Abbremsung schon zu spät. Der Lastwagen stieß in die Sperre, die Insassen wurden nach vorn an die Frontscheibe geworfen; der Wagen kam, über die letzten Stämme rumpelnd, zum Stillstand. Die Männer sprangen heraus, der jüngste Bruder weinte, die Mutter saß wie erstarrt. Draußen im nächtlichen Dunkel: nur die Lichtbahnen der Scheinwerfer auf die Baumstämme; die Männer standen und lauschten in die Nacht; bislang kein Laut, kein Geräusch. Gab es hier einen russischen Militärgrenzposten? Hatte der Aufprall irgendwo in den nahen Dörfern irgendjemanden aus dem Schlaf geweckt? Immer noch vollkommene Stille; der Fahrer herrschte den kleinen Bruder an, mit dem Geplärr aufzuhören. Nichts regte sich im Niemandsland an der Grenze.

Der Augenblick der Angst in der Stille und im Stillstand dehnte sich quälend. Eine einzige russische Patrouille könnte über ihr Schicksal entscheiden. Natürlich konnten sie nicht wissen, wie viele Flüchtlinge nach ihnen in diese Grenzsituation geraten sollten: hilflos im Nichts zwischen den Blöcken, auf des Messers Schneide. Die Männer stürzten sich auf die Baumstämme, fieberhaft rollten, hoben und zogen sie hinweg, was sich vor dem Lastwagen aufgetürmt hatte. Endlich startete der Fahrer den schweren Diesel – und Minuten später befanden sie sich auf westlichem Territorium der britischen Besatzungszone. Wie vom Vater geplant, wurden die Möbel an der stillgelegten Tankstelle entladen. Wieder ein Moment des Stillstands unter dem undichten Dach der Tankstelle im Schneetreiben, frierend, hungrig, müde, glücklich sahen sie dem in Richtung Grenze verschwindenden Lastzug nach: ein Moment des Sich-Besinnens, der Orientierung an dieser unbekannten Stelle im Raum. Nichts war ihnen in diesem Augenblick fremder als der Gedanke, jetzt in dieser Januarnacht des Jahres 1947 die Grenze zur sogenannten freien Welt überschritten zu haben; der elende Ort dieser abgewirtschafteten Tankstelle in der Nacht bestätigte sie nur in dem Gefühl, der „bleiernen Zeit“, die über ganz Deutschland lastete, nicht entkommen zu sein. Die Nacht verbrachten sie erschöpft in einem ebenfalls heruntergekommenen Hotel, das in die tote Zone der nahen Grenze geraten war –, und setzten am nächsten Morgen die Geisterfahrt durch ein verwüstetes Land mit einem anderen Lastwagen fort: vom Harz bis an die Nordsee. Bremen erreichten sie gegen Abend im Nieselregen – umso trostloser erschienen ihnen die Ruinenfelder der Stadt in der Dämmerung: immer wieder jene leeren Fensterhöhlen in den stehen gebliebenen Hausfassaden: die toten Augen einer toten Stadt. Sie übernachteten in dem ungeheuerlichen Nachtasyl des Bahnhofsbunkers. Alles Leben schien sich unter die Erde verlegt zu haben. Am Tage verschwanden die Menschen in ihren Kellerlöchern, die ihnen unter den Trümmern ihrer Häuser geblieben waren. In der Nacht stiegen Massen von Flüchtlingen, Heimatlosen, Verlorenen und Verfolgten – „displaced persons“ sie alle – die Stufen hinab in das Bunkerverließ unter dem Bremer Bahnhofsvorplatz. So folgten auch sie in dieser Nacht dem Vater durch die endlosen Höhlengänge, über Treppen in immer tiefere Etagen auf der Suche nach einer Liegestatt inmitten dieses verzweifelten Tumults eines sich bis in die letzten Winkel fortsetzenden Überlebenskampfes – jetzt um die Schlafstelle für diese Nacht. In der Tiefe der untersten Etage dieses Bunkers fanden sie schließlich Holzliegen zum Schlafen. Die Fluchtbewegung der Masse ist jetzt im Bunker zum Stillstand gekommen; es herrscht die Stille der Erschöpfung; es sind befristete Momente, in denen sich alles nach innen kehrt: Die Katastrophen setzen sich in den Albträumen der Schläfer fort. Der Bunker wird zum Ort aller Albträume. Als Bauwerk repräsentiert er die Epoche wie kein anderes Gebäude: seine Monstrosität spiegelt die Schrecken, die Ängste und die Gewalttätigkeit dieser Zeit. Die Bunker-Höhle weckt Bilder des Vor- und Frühzeitlichen, vom Draußen der eiszeitlichen Gletscherwelt – vom Drinnen der Geborgenheit am Feuer. Die neuzeitliche Höhle des unterirdischen Bunkers schließt die Schleusen und sichert innen befristet einen künstlichen Stillstand. Die Menschen harren in Dunkelheit und Enge der Grabkammer des Bunkers in der Tiefe aus, bis sie wieder ans Tageslicht treten müssen, um draußen in der Trümmerlandschaft ihre Flucht fortzusetzen.

Durchaus lebendig entstieg die Familie am nächsten Morgen unversehrt der Grabkammer. In den Kleidern haftete der Gestank der unterirdischen Bunkerhöhle. Für den Dreizehnjährigen blieb die Bunkernacht auf besondere Weise im Gedächtnis haften; was er sich viel später erst erklären konnte, war ihm damals nur in einem bedrückenden Gefühl gegenwärtig.

Der Familienausflug im Lastwagen – wenn auch zur Unzeit im Hungerwinter 1946/47 geplant – wenn auch die durchquerte wüste Landschaft an Trostlosigkeit und die Nächte in gespenstischen Quartieren an Albtraumhaftigkeit nicht zu übertreffen waren – nahm schließlich sein glückhaftes Ende, abgesehen davon, dass einige Stühle an der Grenzbaumsperre verloren gegangen und der kleinste der Brüder in der Ostzone abhandengekommen waren.

Der Lastwagen kam vor einem in den oberen Etagen ausgebrannten Haus in der ehemaligen Hindenburgstraße 35 der einstigen Marinehafen- und Werftstadt Wilhelmshaven zum Stehen. Für sie war es so etwas wie eine Heimkehr, während gerade Millionen von Flüchtlingen ihre Heimat hatten verlassen müssen. Aber auch sie kehrten nicht in die Stadt zurück, aus der sie im September vor dem Kriegsausbruch geflüchtet waren. Der Ort ihrer Wohnung war nicht mehr existent, schwarze Mauerreste, die hier wie überall die verstörende Ortlos-Werdung des Raums bezeugten: die Stadt, ein ortloses Trümmerfeld, auf dem die kegelförmigen, oben spitz zulaufenden Bunker, die einzigen völlig intakten Bauwerke wie rätselhafte Tempelbauten einer untergegangenen fremden Kultur emporragten. In den untersten Etagen des einst mehrstöckigen Hauses hatte der Vater seine Zahnarztpraxis notdürftig wiedereingerichtet; in einem Hinterzimmer hauste jetzt die fünfköpfige Familie. Diese „Heimkehr“ konnten die Brüder, die sich gewaltsam aus der Garten-, Wiesen- und Waldlandschaft des Harzstädtchens versetzt sahen in die Ödnis einer „bösen Naturlandschaft“, nur als Schock wahrnehmen. Sie waren überfordert, ihre Heimkehr als glückhaft empfinden zu können; sie waren außerstande, das ganze Ausmaß des allgemeinen und kollektiven Unglücks dieser Stunde zu erfassen. So stolperten sie hinein in ihr neues Leben – entlang der Pfade und in den Gleisen jener symbolischen, allgegenwärtigen Lorenbahn, die die gewaltigen Trümmermassen der Vergangenheit nach und nach abzutragen versuchte, um sie doch an entlegener Stelle zu weiterhin sichtbaren Trümmerbergen aufzuschichten. Die deutschen Städte waren gekennzeichnet durch diese Mahnmale der Bunker- und Trümmerberge, auf denen sich nur zögerlich Gras und Gebüsch ansiedelte, um die immer noch zutage tretende Gewalt-Geschichte dieser Berge vergessen zu machen.

 

Sie hatten sich zu behaupten in jener bösen Naturlandschaft, in der die Wälder nichts waren als stehen gebliebene Kamine in ausgebrannten Ruinen, die Seen und Teiche nichts als Bombentrichter und -krater, die Berge und Gebirge nichts als Trümmerhalden und Betonskelette, die Gipfelkreuze nichts als dramatisch hohe, zur Demontage abgestellte Hafenkräne und die Schluchten und Höhlen nichts waren als offene Fahrstuhlschächte zerbombter Kaufhäuser, nichts als die gewaltigen leeren Ölbunker an den Ladekais des Kanals. Für den Dreizehnjährigen und seine neuen Freunde eine Abenteuer-Landschaft, deren hyperreale Exotik des Ruinierten und Kaputten alles brutal übertrumpfte, was jemals in irgendwelchen Köpfen als Ruinen-Romantik überlebt haben mochte: ein wildes Terrain des Spiels mit der Gefahr: Kletterpartien in den Felswänden und Klippen von grotesk-zersplitterten Häusern, die Erstürmung von Gipfeln auf schrottreifen Kränen über schmale Leitern im eiskalten Gestänge, Exkursionen in die Tiefe von Höhlen, ins Innere von Ölbunkern, wobei die eingeatmeten Öldämpfe sie regelmäßig in aufregende Schwindelzustände versetzten; an den Teichen aber der Bombenkrater bauten sie ihre „urzeitlichen Hütten“, abseits der Welt der apathischen Erwachsenen; in den bombenzerfetzten, in Wildnis zurückgefallenen Parkarealen verbanden sie die von den Besatzungssoldaten liegen gelassenen Benzinkanister zu Flößen, mit denen sie wie Robinson an den Enteninseln inmitten der alten Parkteiche strandeten.

Zur Schule gingen sie in strenge und kalte Kasernengebäude, die am Stadtrand von den Bombenteppichen verschont geblieben waren, ausgerüstet mit altem Wehrmachtskochgeschirr für die tägliche Schulspeisung. Auf den steingefliesten langen Gängen der Kaserne wichen sie ehrfurchtsvoll dem Rollstuhl aus, in dem der Mitschüler und Oberprimaner saß, der als Flakhelfer in den letzten Tagen des Krieges beide Beine verloren hatte. Wenige Jahre später fand in einem nicht weit entfernten ähnlichen Kasernengebäude ihre erste provisorisch-gutbürgerliche Tanzstunde statt. Nach der Katastrophe sollte die gesellschaftliche Normalität vor der Katastrophe um jeden Preis wiederhergestellt werden – und sei es in Bunkern, Ruinen oder Kasernen. Ein Urvertrauen in das, was eine Gesellschaft der Väter vorgab, aber war der Generation von Kriegskindern während des Krieges und der Nachkriegsjahre abhandengekommen. Auch wenn ihnen – wie vieles – nicht ganz bewusst sein konnte, trauten sie der inszenierten Normalität nicht – schon gar nicht dem an der nackten Kasernenwand ihrer Schule angebrachten klassischen Leitsatz: „ Was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen“.

Irgendwie erahnten sie die ganze Unwahrhaftigkeit und Unverfrorenheit, die dieser Plakatierung und Indienstnahme der Klassik zu diesem Zeitpunkt zugrunde lag. Das Erbe dieser Väter hätten sie am liebsten ausgeschlagen – sie, die wahren Kinder der Stunde Null.

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