Geschichte der deutschen Literatur. Band 3

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2.4.3 Jenaer Frühromantik und Weimarer Klassik

Die Frühromantiker

In eben den Jahren, in denen ­Goethe und Schiller ihre Zusammen­arbeit begründen, beginnt mit der Jenaer Frühromantik zugleich auch die romantische Bewegung.45 Seit 1795 treffen die jungen Leute, die die Romantik auf den Weg bringen sollten, in Jena ein. Sie kommen, um den Philosophen Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) zu hören, aber auch um die Nähe von ­Goethe zu suchen. Als erster kommt August Wilhelm Schlegel (1767–1845), dann sein jüngerer Bruder Friedrich Schlegel (1772–1829), dann Ludwig Tieck (1773–1853), und sie kommen mitsamt ihren Damen; gelegentlich stößt Friedrich von Hardenberg (1772–1801) zu ihnen, der sich als Dichter den Namen Novalis gibt und der schon vor den anderen in Jena studiert hat. Um 1800 fliegt

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das Grüppchen dann schon wieder auseinander, aber bis dahin ist viel geschehen. Die Bewegung ist konsolidiert und kann sich kreuz und quer durch Deutschland ausbreiten.

Klassik und Romantik

In dem Jenaer Kreis ist nun etwas entstanden, das durchaus in eine andere Richtung zielte als das, was ­Goethe, Schiller und ihre Mitstreiter wollten und unternahmen, etwas, das sich mit deren Bestrebungen kaum vereinbaren ließ, und doch sollen beide Gruppen gemeinsam für die Blütezeit der deutschen Nationalliteratur einstehen. Was ihr Verhältnis so kompliziert macht, ist, daß die Ideen, von denen aus ­Goethe und Schiller zu klassischen Nationalautoren der Deutschen stilisiert wurden, im Rahmen der literarisch-ästhetischen Programmatik der Frühromantik entwickelt worden sind, daß dies allerdings Ideen sind, die von ­Goethe und Schiller nicht geteilt wurden. Das Konzept einer deutschen Klassik ist im Grunde das Resultat eines großen Mißverständnisses.

Das Programm der Frühromantik

Die Anfänge der romantischen Bewegung 46 sehen zunächst noch nach einem engen Anschluß an ­Goethe aus. Friedrich Schlegel hat die Konstellation, in der die Romantik entstanden ist, einmal in das Bonmot gefaßt: „Die Französische Revoluzion, Fichte’s Wissenschaftslehre, und ­Goethe’s Meister sind die größten Tendenzen des Zeitalters“.47 Das ist wie bei so vielen Aphorismen von Schlegel zunächst nicht mehr als eine kühne Behauptung, doch gibt sich darin zu erkennen, was für die Romantiker selbst die wichtigsten Ansatz- und Orientierungspunkte ihres Programms waren. Und dazu gehören nun eben auch ­Goethe und sein Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“; und zwar werden sie hier auf eine Weise beschworen, durch die ihnen eine geschichtliche Bedeutung zugesprochen wird, die mit der der Französischen Revolution vergleichbar sein soll. Bei näherem Zusehen kann man

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freilich entdecken, daß in Schlegels Aphorismus schon der Bruch mit ­Goethe lauert.

Zunächst macht er allerdings deutlich, daß die Frühromantiker wie ­Goethe, Schiller und all die anderen zeitgenössischen Autoren auf die Französische Revolution starren, daß sie das, was sie als Literaten treiben, im Blick auf die Revolution definieren. Auch sie wollen eine Revolution ins Werk setzen, als Gegenentwurf zu dem, was in Frankreich geschieht, eine durchaus anders geartete, nämlich eine geistige Revolution, eine Kulturrevolution. Als deren Leitsterne erwählen sie sich eben ­Goethe und Fichte.

Freiheit tiefer denken

Die Maxime der Französischen Revolution lautet bekanntlich: „Liberté, Egalité, Fraternité“, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. An der ersten Stelle steht die Forderung nach Freiheit, und das heißt hier: nach der Freiheit des Individuums. Diese Freiheit soll nun durch das Rechtssystem eines Rechtsstaats garantiert und bis hin zu verfassungsmäßigen Rechten der Mitwirkung am politischen Geschehen weiterentwickelt werden. Freiheit bedeutet hier mithin zunächst und vor allem die rechtliche Absicherung und Förderung der Individualisierung, wie sie sich im Zuge der Modernisierung eingestellt hat und ohne solche Modernisierung nicht zu denken ist.

Die Frühromantiker greifen nun den von der Revolution herausgestellten Begriff der Freiheit des Individuums auf, um ihn noch einmal neu und „tiefer“ zu denken als die zeitgenössische französische Politik. „Tiefer“ zu denken heißt für sie aber vor allem, den Begriff der Freiheit mit dem der Phantasie zu verknüpfen. Die Romantiker ziehen den Freiheitsbegriff aus dem Bereich der Politik und des Rechts in den der Kunst, der Ästhetik, wo die Phantasie zu Hause ist. Ich will frei sein, um mir selbst leben und ganz ich sein zu können, und ganz ich zu sein heißt hier zunächst und vor allem, seiner Phantasie leben zu können, in seinem ureigensten Phantasieleben ganz bei sich selbst anzukommen, den innersten Quellen der „Ichheit“, der Subjektität nahekommen und sie ausleben zu können.

Dieser Ansatz führt die Romantiker zu Fichte und zu ­Goethe. Fichte ist der Philosoph des Ichs, der die Welt in der Nachfolge Kants vom Ich her denkt, von einer Subjektivität her, die der materiellen Welt, der Natur, der Gesellschaft, dem Erfahrbaren überhaupt immer schon vorausliegen soll; so haben ihn jedenfalls die Romantiker gelesen. Und

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was die Phantasie ist und kann, also wie man ich und frei sein kann, zeigen ihnen ­Goethe und sein Roman „Wilhelm Meisters Lehrjahre“. In ihm erblicken sie die bedeutendste Manifestation des phantasierenden Individuums in der modernen Kunst, jedenfalls zu Anfang, bei seinem Erscheinen; später werden sie das anders sehen. Da wird es dann heißen, ­Goethe habe im Wilhelm Meister die Phantasie an die „Ökonomie“ – die Landwirtschaft – verraten; so ist es zum Beispiel bei Novalis zu lesen (NS 3, 638–639). Wilhelm Meister beendet seine Lehrjahre ja in einem Kreis von Gutsherren, die ihre Güter im Geist aufklärerischer Reformen bewirtschaften.

„Progressive Universalpoesie“

Demgemäß bedeutet für die Romantiker von Freiheit zu reden zunächst und vor allem, von dem zu reden, was Friedrich Schlegel „progressive Universalpoesie“ nennt.48 Jede Erfahrung, jede Erkenntnis und Handlung des Menschen, jede menschliche Wirklichkeit kann von der Phantasie überstiegen und überboten werden, und jedes Phanta­siegebilde von weiteren, neuen Phantasien. In dieser unend­lichen Progression des Phantasierens, die alles, was schon einmal Gestalt angenommen hat, alles Endliche hinter sich läßt, komme ich aber allererst recht bei mir selbst an, erfahre ich mich allererst ganz in meiner Freiheit als Subjekt. Die eigentliche Revolution, der entscheidende Schritt in die Moderne ist deshalb für die Romantiker, die Phantasie zu entfesseln und damit der Subjektivität jede Fessel zu nehmen, das Ich seiner vollen, uneingeschränkten und durch nichts zu begrenzenden Freiheit innewerden zu lassen. Eben dies nennen die Romantiker das „Poetisieren“. Und in diesem Sinne fordern sie eine romantische Poesie als eine Welt von poetischen Erfindungen, von Phantasieexperimenten, in denen erkundet wird, wie weit die Phantasie des Menschen und damit die Freiheit des Individuums zu gehen vermag.

Hier zeigt sich nun auch, was es bedeutet, wenn der Begriff der Freiheit aus dem politischen in den ästhetischen Raum gezogen wird. Er verliert dabei seine konkrete politisch-gesellschaftliche Bedeutung – daß es mit ihm um bestimmte klar definierte Rechte des Individuums geht – und wird zu einer Kategorie der Innerlichkeit, der seelisch-geistigen Befindlichkeit. „Nach Innen geht der geheimnißvolle Weg“,

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heißt es bei Novalis; „(i)n uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft“ (NS 2, 419). Vor allem um innere Freiheit soll es nun gehen. Eben dies nennen die Romantiker tief, verstehen sie als einen tieferen Begriff von Freiheit. Solchen Tiefsinn werden sie bald schon typisch deutsch nennen und dem entgegenstellen, was sie an den Franzosen als oberflächlich politisch begreifen. Und das wiederum werden sie mit dem Namen ­Goethes verknüpfen und auf sein Werk als das Werk des ersten Klassikers der Deutschen projizieren – die Keimzelle der Klassik-Doktrin.

Vom Vorbild der Antike zum Vorbild des Mittelalters

In diesem Zusammenhang ist schließlich auch zu sehen, daß die Romantiker auf die präromantischen Tendenzen der Aufklärung und des Sturm und Drang zurückgreifen, um die Kunst vom Vorbild der Antike, an dem sie sich seit der Renaissance und noch durch das gesamte 18. Jahrhundert hindurch orientiert hat, zum Vorbild des Mittelalters umzudirigieren. Was die Kunst der alten Griechen zu bieten hat, ist den Romantikern nicht tief genug; will sagen: was die griechische Kunst an Individualität und Subjektivität und insbesondere an jenem subjektiv-individuellen Phantasieren zu bieten hat, durch das sich das Ich allererst in den Vollbesitz seiner inneren Freiheit setzen können soll, geht ihnen nicht weit genug. Den Griechen fehlt in ihren Augen die reiche, tiefe, geheimnisvolle Innerlichkeit. Ihre Kunst ist für sie nur sinnlich und nicht übersinnlich, sie bleibt an den festen, klaren Formen der Natur haften, bleibt im Natürlichen, im Wirklichen stecken und bekommt das Übernatürliche nie wirklich zu Gesicht.

Da hat das Mittelalter den Romantikern mehr zu bieten. Erst im Mittelalter soll sich dem Menschen das Reich der Innerlichkeit voll und ganz erschlossen haben, in jener religiösen Kultur der Weltverachtung, in der der Christ sich auf Gott und das Jenseits zu leben weiß. Hier erst, in der mittelalterlichen Welt des Glaubens und der Glaubenswunder, soll die menschliche Phantasie ihre ganze Macht entfaltet haben, in all den Wundergeschichten, den Sagen, Märchen und Heiligenlegenden, in denen sie die materielle, sinnlich erfahrbare Welt hinter und unter sich läßt, um in ihr eigenes Reich heimzukehren. Hier vor allem wollen die Romantiker die Vorbilder für ihr „Poetisieren“ finden. Natürlich wissen sie, daß auch die Griechen ihre Mythen, ihre wunderbaren Geschichten von Göttern, Halbgöttern und allerlei phantastischen Fabelwesen hatten. Aber an diesen Mythen fehlt ihnen

 

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das persönliche, subjektive, innerliche, ichhafte Moment; sie sind für sie bloß kollektive Phantasieprodukte, Produkte einer gleichsam objektiven Phantasie, und auf das Subjektiv-Individuelle des Phanta­sierens kommt es ihnen ja vor allem an.

Soweit das Programm der Jenaer Frühromantik, wie es in den Schriften von Friedrich und August Wilhelm Schlegel und von Novalis niedergelegt ist. Inwieweit bedeutet dieses Programm nun, daß sich die Frühromantik von der Weimarer Klassik, von ­Goethe und seinem Kreis entfernt? Wo liegen in ihm vielleicht noch Momente der Nähe, wie sie die anfängliche Berufung auf ­Goethe plausibel machen können, und womit führt es von der Weimarer Klassik fort, gestaltet es sich zu einer Gegenposition, um nicht zu sagen: zum Programm einer Gegenklassik?

Die Aufwertung der Einbildungskraft durch die Aufklärung

Um hierauf eine Antwort finden zu können, muß man sich zunächst klarmachen, wie hier wie dort mit dem Erbe der Aufklärung verfahren wird. Wenn die Frühromantiker die Phantasie in den Mittelpunkt ihrer Poetik und ihres Menschenbilds rücken, dann knüpfen sie damit an eine Entwicklung an, die das gesamte 18. Jahrhundert durchzogen hat, an die Aufwertung der „Einbildungskraft“, wie sie von der Kunst- und Literaturtheorie der Aufklärung auf den Weg gebracht worden ist.49 Diese Aufwertung beginnt spätestens mit einer Abhandlung über „The Pleasures of the Imagination“, die Joseph Addison (1672–1719) 1712 in einer der wichtigsten Zeitschriften der Frühaufklärung in England, dem „Spectator“, veröffentlicht hat, ein Beitrag, der von den Schweizern Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und Johann Jakob Breitinger (1701–1776) in ihrer eigenen Zeitschrift „Discourse der Mahlern“ (1721–1723) ins Deutsche übersetzt und damit im deutschen Sprachraum bekannt gemacht worden ist.

In diesem verstärkten Setzen auf die „Einbildungskraft“ läuft alles zusammen, was die Aufklärer an der Literatur-Konzeption des frühneuzeitlichen Humanismus zu kritisieren haben und wodurch sie der Literatur neue Ziele setzen. Anders als dort soll der Dichter nun nicht mehr so sehr belehren, eine gelehrte Bildung, insbesondere ein

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gelehrtes Wissen über den Menschen und über die Tugend vermitteln, als vielmehr sein Publikum unterhalten; und dem soll er vor allem dadurch genügen können, daß er die Phantasie in Bewegung setzt, die „Pleasures of the Imagination“ kultiviert.

Über solcher unterhaltlichen Aktivierung der Phantasie sollen sich die Gemütskräfte des Menschen – sinnliche Wahrnehmung, Gefühl, Witz, Scharfsinn – auf eine Weise entfalten können, zu der sie im wirklichen Leben kaum je Gelegenheit erhalten. So soll die Literatur den Menschen dahin führen, daß er alle diese Gemütskräfte in sich arbeiten spürt und sich darüber in seinen menschlichen Potentialen besser kennen lernt; daß er das, was den Menschen zum Menschen macht, unmittelbar an sich selbst erfahren, der „allgemeinen Menschennatur“, des „Allgemein-Menschlichen“ in der Selbsterfahrung unmittelbar innewerden kann. Kunst und Literatur sollen also nun nicht mehr so sehr auf die Vermittlung eines Wissens über den Menschen ausgehen, das von der Vernunft eingesehen werden will, denn vielmehr das Innewerden des „Allgemein-Menschlichen“ in der imaginären Selbsterfahrung ins Werk setzen.

Dieses aufklärerische Konzept von Literatur ist in Deutschland zuletzt vor allem von Lessing und Wieland ausgearbeitet und umgesetzt worden. Nach ihrer Vorstellung kommt nun alles darauf an, eine Geschichte so in die Phantasie des Lesers „hineinzumalen“, daß er sich in die dargestellten Figuren einfühlen, sich mit ihnen identifizieren und von daher in der Phantasie all die Regungen der Gemütskräfte miterleben kann, die an ihnen vorgeführt werden; daß er also selbst in Wallung gerät und so an sich selbst erfahren und sich bewußt machen kann, was der Mensch an Bewegungspotentialen in sich hat.

Der neue Geist des Aufs-Ganze-Gehens

An diese Vorstellung von den Aufgaben und Möglichkeiten der Poesie knüpft die Frühromantik an, aber sie tut dies auf eine Weise, die den Aufklärern selbst niemals in den Sinn gekommen wäre. Sie treibt sie nämlich auf die Spitze, sie radikalisiert sie, indem sie den Menschen nun ganz und gar von der Phantasie her denkt und die Phantasie absolut setzt. Damit ist ein entscheidender Punkt berührt, ein Moment, von dem her die Aufklärung des 18. Jahrhunderts allmählich an ihr Ende kommt und durch etwas Neues verdrängt wird. Dieses Neue können und wollen sich freilich zunächst noch nicht alle zueigen machen; zumal die Weimarer Klassik hat sich ihm mit

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Entschiedenheit verweigert, so daß sich die Literatur nun mehr und mehr gespalten hat und in allerlei Widersprüchen und Kontroversen auseinandergelaufen ist. Man könnte dieses Neue den Geist der Radikalisierung nennen, den Geist des Aufs-Ganze-Gehens, oder, in kritischer Wendung, „Totalitätsobsession“ – ein Zug, der der Aufklärung fremd war, ja den sie gerade als Aufklärung meinte bekämpfen zu müssen. So daß an der Aufklärung festhalten wollen nun vor allem heißt, die Menschen vor dem neuen Geist der Radikalisierung, des Aufs-Ganze-Gehens, vor Extremismus und Totalitarismus bewahren wollen.

Die Vorstellungen und Anliegen der Aufklärung werden in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts zunehmend auf die Spitze getrieben, ins Extrem geführt und verabsolutiert, so wie der Phantasiebegriff in der frühromantischen Ästhetik. Es geht nun immerzu ums große Ganze, so daß der Begriff der „Totalität“ 50 zu einem Schlüsselbegriff für das Denken der Epoche wird, für ihre Vorstellungen von Politik, ihre Philosophie, Wissenschaft, Ästhetik und Literaturtheorie. Nicht alle haben daran teil, vor allem die nicht, die an der Aufklärung festhalten wollen. ­Goethe partizipiert daran nur kurze Zeit, in der Phase des Sturm und Drang, was ihn vorübergehend in einen Konflikt mit Wieland hineintreibt, aber das ist für beide bald schon vorbei. Was im Sturm und Drang zunächst nur als Möglichkeit aufblitzt, kann sich seit der Frühromantik dann auf Dauer in der Literatur etablieren. Hier liegt die Wurzel der meisten Konflikte und Kontroversen im literarischen Leben der Epoche.

Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts hat Radikalismus und Extremismus verabscheut und statt dessen einem skeptischen Pragmatismus gehuldigt. Der Mensch ist für sie ein unvollkommenes, schwaches, zu Irrtümern und Fehlern neigendes Wesen; es bekommt ihm nicht, ja bringt ihn in höchste Gefahr, wenn er in seiner Fehlbarkeit aufs Ganze geht und nach dem Absoluten greift; er hat allen Grund, bescheiden zu sein, im Denken wie im Handeln, und natürlich auch in seinem Phantasieren. „The pride of aiming at more knowledge, and pretending

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to more perfection, (is) the cause of man’s error and misery“, heißt es im „Essay on Man“ von Alexander Pope,51 einem der meistübersetzten und meistgelesenen Werke des 18. Jahrhunderts: der Stolz, mit dem der Mensch auf mehr Wissen und auf Perfektion ausgeht, ist die Ursache seiner Irrtümer und seines Elends.

Nie wird der Mensch „erkenne(n), was die Welt im Innersten zusammenhält“, wie es in der Eingangsszene von ­Goethes „Faust“ heißt (HA 3, 20) – „Faust“ ist, wie wir noch sehen werden, zunächst und vor allem das Drama des Menschen, der aufs Ganze geht, die Gestalt Fausts ist die Inkarnation der neuen „Totalitätsobsession“ – und ebensowenig wird er die Entwicklungsprozesse der Gesellschaft jemals als ganze in den Griff bekommen. Deshalb soll er die Extreme meiden und nach dem „goldenen Mittelweg“ suchen, nach dem rechten Maß, das ihn in einem ihm gemäßen Rahmen irgendwo zwischen Himmel und Hölle trotz allem erfolgreich sein und sein Glück finden läßt. „Anstatt mit einander zu hadern, wo die Wahrheit sey? (…) lasset uns in Frieden zusammen gehen (…)“ (Wieland).52

Dieser skeptische Pragmatismus der Aufklärung wird nun in den neunziger Jahren des 18. Jahrhunderts zunehmend in Frage gestellt, beginnend mit der Französischen Revolution, mit den Radikalen und Extremisten unter den Revolutionären. Natürlich wenden sich nicht alle gleichzeitig von ihm ab, viele wollen weiterhin an ihm festhalten, ja fühlen sich gerade angesichts der neuen Sehnsucht nach der Totalität, dem neuen Geist des Aufs-Ganze-Gehens und dessen praktischen Folgen in ihm bestärkt. Aber aus dieser Haltung wird nun eben eine Verteidigungsstellung, weil so viele und immer mehr von ihr abgehen.

Die Forderung nach dem „Großen und Ganzen“ im Sturm und Drang

In der deutschen Literatur hat sich der Geist des Aufs-Ganze-Gehens zum ersten Mal im Sturm und Drang zu Wort gemeldet. Wenn sich denn so etwas wie eine zentrale, alle Stürmer und Dränger verbindende Vorstellung benennen läßt, dann ist es der Gedanke, der in der Formel „ganz und groß“ (HA 12, 225) niedergelegt ist,

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wie sie ­Goethes Rede „Zum Shakespeares-Tag“ (1771) durchzieht. Der Stürmer und Dränger sucht das „Große und Ganze“, ja er möchte selbst „groß und ganz“ sein. Er will nicht mehr im Gedanken an die Unvollkommenheit des Menschen, an die Grenzen seiner Vernunft und die Schwachheit und Fehlbarkeit seines Handelns „bescheiden“ sein müssen, will sich nicht mehr auf das verpflichten lassen, was andere das rechte Maß und den goldenen Mittelweg nennen. Ihn interessiert allein das Extrem der Größe; insofern sucht er nach einer Sprache des Enthusiasmus, die es seiner Dichtung erlauben würde, wahrhaft aufs Ganze zu gehen.

Ein neues Interesse an Helden

In diesem Sinne entwickelt der Sturm und Drang auch ein neues Interesse an Heldenfiguren. Die Aufklärung hat sich durchweg kritisch gegenüber einer Literatur verhalten, die wie die des Humanismus und des Barock Helden verherrlicht. Lessing hat „mittlere Helden“ gefordert und auf die Bühne gestellt. Ein Held ist bekanntlich einer, der ohne Rücksicht auf Verluste aufs Ganze geht, der dabei auch das Scheitern riskiert, der keine Kompromisse macht und seinen Prinzipien treu bleibt bis in den Tod. Im Sturm und Drang sind solche Heldenfiguren wieder zu literarischen Ehren gekommen.

Allerdings – und insofern bleibt der Sturm und Drang dann doch der Position der Aufklärung verpflichtet – lassen die Dichter des Sturm und Drang ihre Helden, ihre großen Männer allesamt scheitern, von ­Goethes „Götz von Berlichingen“ (1773) bis zu den Helden von Schillers „Die Räuber“ (1781), „Die Verschwörung des Fiesco zu Genua“ (1783) und „Kabale und Liebe“ (1784). Und zwar lassen sie sie nicht nur an einer modernen Umwelt scheitern, in der kein Platz mehr für ein Heldentum nach dem Maß der heroischen Antike ist, sondern sie lassen sie auch an sich selbst scheitern, an der Heldenrolle, die sie – sei es aus Begeisterung für eine große Sache oder um des Ruhms und der Ehre willen – auf sich nehmen. Sie erleben alle ein Ende mit Schrecken, sind am Ende physisch oder moralisch ruiniert. Und dennoch, trotz eines Scheiterns, das aus der Verblendung durch die Idee des Groß-und-ganz-sein-Wollens erwächst, umgibt die Helden des Sturm und Drang eine Aura der Faszination.

Ein neues Interesse an großen Gefühlen

Mit dem neuen Interesse am Heldentum geht ein nicht weniger neues Interesse an der großen Leidenschaft einher. Der Sentimentalismus, die Empfindsamkeit der Literatur der Aufklärung wächst sich

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im Sturm und Drang zum Kult des großen, existentiellen Gefühls aus, eines Gefühls, das „groß und ganz“ sein will. Die kleinen Freuden und zärtlichen Regungen, die sanften Tränen, das Getändel und Gezärtel, das die Empfindsamkeit in ihren Idyllen und Romanen, bürgerlichen Trauerspielen und rührenden Lustspielen kultiviert hat, gelten dem Sturm und Drang nichts mehr; er vermag in ihnen nurmehr noch eine Kinderei zu erblicken. Für ihn muß es immer gleich die große Leidenschaft und die extreme Begeisterung sein. Selbst wenn der Stürmer und Dränger sich bloß aufmacht zu einem nächtlichen Besuch bei seiner Liebsten, führt er sich „wild“ auf „wie ein Held“, der in die „Schlacht“ zieht; so ­Goethe in dem Gedicht „Es schlug mein Herz“ (1771), dem er später den Titel „Willkomm und Abschied“ gegeben hat (HA 1, 27). Wie um das Groß-und-Ganz-Sein kreist die Dichtung des Sturm und Drang unausgesetzt um den Absolutheitsanspruch des Gefühls.

 

Allerdings wird dieser Anspruch des Gefühls auf absolute Geltung hier ebenso wie das Heldentum als etwas Ambivalentes dargestellt; mag es auch noch so faszinierend sein, so erweist es sich zugleich doch auch als problematisch. Dafür ist gerade Schillers „Kabale und Liebe“ ein gutes Beispiel. Der Art und Weise, wie der Held Ferdinand mit seiner Liebe aufs Ganze geht (SW 1, 766–767, 774, 792–793, 807–808), überspringt den geliebten Menschen, wie er wirklich ist, und entpuppt sich am Ende als zerstörerische Obsession eines egomanen Gutmenschen. Auch hier wird der Standpunkt der Aufklärung mithin nicht wirklich verlassen.

Sturm und Drang und Aufklärung

Der Sturm und Drang testet die Grenzen des aufklärerischen ­Denkens aus, doch er überschreitet sie nicht. Und auch wenn man dem alten Epochenschema folgen und anerkennen wollte, daß der Sturm und Drang diese Grenzen gesprengt und die Aufklärung hinter sich gelassen hätte, bliebe immer noch zu fragen, wie man wissenschaftlich begründen wollte, daß es sich dabei um ein Verhältnis der „Überwindung“ gehandelt hätte, also um einen Fortschritt, ein Bessermachen, einen Schritt zu mehr Wahrem-Gutem-Schönem. Wie wollte man wohl wissenschaftlich entscheiden, was von beidem als die größere Kinderei zu gelten hätte, das Gezärtel und Getändel der empfindsamen Idylle oder der Kult des Heldischen und der großen Leidenschaft im Sturm und Drang. Wie wollte man entscheiden,

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wo mehr Wahrheit zu finden sei, im skeptischen Pragmatismus der Aufklärung oder in den Totalitätsbegriffen ihrer Gegner? Hier von Verhältnissen der „Überwindung“ zu sprechen, hat wenig mit Wissenschaft, aber viel mit Ideologie zu tun, mit Vorurteilen und unausgewiesenen Wertungen.

Modernisierung und Individualisierung

Damit stellt sich nun die Frage, was dafür verantwortlich sein mag, daß so viele am Ende des 18. Jahrhunderts der Aufklärung und ihrem skeptischen Pragmatismus den Rücken gekehrt haben und zu einer Haltung des Aufs-Ganze-Gehens übergelaufen sind, daß sie das Ausgehen auf Totalitäten nun für „tiefer“ halten wollten als eine Kultur der Selbstkritik und Selbstbescheidung der Vernunft. Da es sich dabei um einen Prozeß handelt, den letztlich nichts von dem hat aufhalten können, was ihm diskursiv an Argumenten entgegengehalten worden ist, sind die Ursachen in fundamentalen Tendenzen der geschicht­lichen Entwicklung zu suchen.

Sie liegen wohl vor allem in der fortschreitenden Modernisierung und Individualisierung der Gesellschaft. Das wachsende Bewußtsein, in einem Prozeß der Modernisierung begriffen zu sein, ließ den Wunsch immer dringlicher werden, die Gesellschaft als ganze in den Griff zu bekommen, um den Modernisierungsprozeß rational steuern zu können – Französische Revolution. Und die Individualisierung, die Aufwertung des Persönlichen, Subjektiv-Individuellen brachte sich eben in dem Wunsch des Einzelnen zur Geltung, sich als „ganz und groß“ begreifen zu können. Klassische Formulierungen für diesen Wunsch finden sich in der schon erwähnten Rede ­Goethes „Zum Shakespeares-Tag“. Da meldet sich ein Ich zu Wort, das von sich sagt: „Ich! Der ich mir alles bin, weil ich alles nur durch mich kenne“ (HA 12, 224), und das auf den Spuren Shakespeares und seiner Dichtung in die Dimension eines genialischen Groß-und-Ganz-Seins hineinwachsen will; alles andere ist ihm zu wenig, empfindet es als kümmerlich und kleinmütig.

Schiller als Kritiker des Aufs-Ganze-Gehens

Zum Schluß dieser Überlegungen zum Umsichgreifen von „Totalitätsobsessionen“ in der „­Goethezeit“ nun noch ein Beispiel dafür, wie ­Goethe und Schiller der Neigung ihrer Zeitgenossen zu Radikalismus und Extremismus entgegengetreten sind, ein Beispiel aus der Feder Schillers, in dem mit dem Geist des Aufs-Ganze-Gehens sowohl in seinen theoretischen als auch in seinen praktischen Ansprüchen abgerechnet wird, ein Gedicht aus dem Jahr 1800.

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Die Worte des Wahns

Drei Worte hört man, bedeutungsschwer,

Im Munde der Guten und Besten.

Sie schallen vergeblich, ihr Klang ist leer,

Sie können nicht helfen und trösten.

Verscherzt ist dem Menschen des Lebens Frucht,

Solang er die Schatten zu haschen sucht.

Solang er glaubt an die Goldene Zeit,

Wo das Rechte, das Gute wird siegen, –

Das Rechte, das Gute führt ewig Streit,

Nie wird der Feind ihm erliegen,

Und erstickst du ihn nicht in den Lüften frei,

Stets wächst ihm die Kraft auf der Erde neu.

Solang er glaubt, daß das buhlende Glück

Sich dem Edeln vereinigen werde –

Dem Schlechten folgt es mit Liebesblick,

Nicht dem Guten gehöret die Erde.

Er ist ein Fremdling, er wandert aus

Und suchet ein unvergänglich Haus.

Solang er glaubt, daß dem irdschen Verstand

Die Wahrheit je wird erscheinen,

Ihren Schleier hebt keine sterbliche Hand,

Wir können nur raten und meinen.

Du kerkerst den Geist in ein tönend Wort,

Doch der freie wandelt im Sturme fort.

Drum, edle Seele, entreiß dich dem Wahn

Und den himmlischen Glauben bewahre!

Was kein Ohr vernahm, was die Augen nicht sahn,

Es ist dennoch, das Schöne, das Wahre!

Es ist nicht draußen, da sucht es der Tor,

Es ist in dir, du bringst es ewig hervor. (SW 1, 215–216)

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Es ist unschwer zu sehen, wie hier der skeptische Pragmatismus der Aufklärung noch einmal gegen den neuen Geist des Aufs-Ganze-Gehens in Stellung gebracht wird, der sich auf je eigene Weise in der Französischen Revolution und der Frühromantik Bahn gebrochen hat.

Der Phantasiebegriff der Frühromantik

Und damit zurück zur Frühromantik und zu ihren Versuchen, der Phantasie in Poetik und Anthropologie eine absolute Geltung zu verschaffen. Es hat sich gezeigt, daß die Frühromantik mit solcher Aufwertung des Subjektiv-Phantastischen und Phantastisch-Subjektiven an die Poetik der Aufklärung anknüpft, wie sie das Stimulieren der Einbildungskraft zur zentralen Aufgabe des Poeten erklärt hat, und daß bei ihr insofern nur die Radikalisierung neu ist, die sie diesem poetologischen Postulat zuteil werden läßt. Es ist ferner deutlich geworden, daß sich die Frühromantik zu solcher Radikalisierung durch das Freiheitspathos der Französischen Revolution animieren läßt. Das darf man wohl als einen Beleg dafür werten, daß die neue Sympathie der Intellektuellen für die Extreme etwas mit der Logik der Modernisierung zu tun hat, ist die Französische Revolution doch das erste historische Großereignis in der Geschichte der Modernisierung, zumindest eine frühe Manifestation von besonderer Massivität und Auffälligkeit.

Die Frühromantik zieht den Freiheitsbegriff der Revolution – um die Hauptpunkte ihres Programms noch einmal zu benennen – in dem Bestreben, ihn noch radikaler, prinzipieller, „tiefer“ zu denken als deren politische Protagonisten, aus dem Politischen ins Ästhetische. Frei sein wollen, so ihre Überlegung, heißt, als Ich, Person, Individuum, Subjekt frei sein wollen. Worin aber bin ich Ich, was bildet das Zentrum dessen, daß ich Person, Individuum, Subjekt bin? Die Phantasie, wie sie dem sinnlich Gegebenen, der Erfahrung, dem Faktischen, der Realität, der Wirklichkeit, den natürlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten, in die das Ich eingebunden ist und die es insofern begrenzen, immer schon voraus ist. Deshalb muß die Befreiung des Ichs, des Individuum-Subjekts bei der Befreiung seiner Phantasie ansetzen.

Das eigentliche Werk der Befreiung ist eine „progressive Universalpoesie“, in der die Phantasie aufs Ganze geht, und zwar dadurch aufs Ganze geht, daß sie alles Gegebene, einmal Erkannte, Getane und Gemachte sogleich wieder übersteigt, jeden Halt in der Realität als eine Fessel von sich abstreift und hinter sich läßt. Freiheit wird so aus