Paul Guenther und seine Schule in Geithain

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Bild 29: Gedenktafel am Geburtshaus Paul Guenthers in Geithain

1.10 Nachhaltige Beziehungen zu Thalheim

Ehemalige Thalheimer, die schon mindestens seit den 1870er Jahren in Dover lebten, gaben Impulse für Guenthers Entschluss auszuwandern (s. S. 24). Er selbst und insbesondere seine erfolgreiche Entwicklung nach 1890 waren nun ihrerseits eine Ursache für die beeindruckende Auswanderungsdynamik im Dorf Thalheim bei Chemnitz. In der Zeit von 1908 bis 1928 wanderten 289 Thalheimer in die USA aus! Fast alle siedelten sich in Dover/N.J. an und fanden sofort Arbeit in Guenthers Full Fashioned Silk Hosiery. In Zusammenarbeit mit Heimatforscher Rudi Hofmann liegen von allen 289 Personen die Vor- und Zunamen, der Geburtstag und das Jahr der Auswanderung vor. Nach Zeitabschnitten gegliedert ergibt sich folgende Aufstellung:


Zeitintervall Anzahl
1908–1910 19
1911–1915 91
1916–1920 44
1921–1925 90
1926–1928 45

In der Altersverteilung und an den Namen selbst ist erkennbar, dass sich Familien mit vielen Kindern auf den Weg gemacht hatten. Auch während des Krieges wanderten Leute aus. Im schlimmen „Kohlrübenwinter“ 1916 verließen 38 Thalheimer Deutschland. Kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges gab es nur Einzelne, aber ab 1921 stieg die Zahl rasant. Die wenigen älteren Thalheimer (65 Jahre und älter) zogen als Großeltern zu ihren Enkeln, welche Jahre vorher Fuß gefasst hatten. Die Besuche in Dover 1990 bzw. 1996 brachten zwar erste Hinweise auf den Herkunftsort Thalheim, das wirkliche Ausmaß wurde jedoch erst durch Herrn Hofmanns Nachforschungen Ende der 1990er Jahre deutlich. Bei Gesprächen in Dover wurde oft betont, dass Auswanderer aus Thalheim auf Veranlassung Guenthers bei ihrer Ankunft in New York sofort nach Dover weiterreisen konnten, ohne Zwangsaufenthalt auf Ellis Island. Die Insel war lange Zeit Sitz der Einreisebehörde für den Staat und die Stadt New York und mehr als 30 Jahre lang die zentrale Sammelstelle für Immigranten in die USA. Zwischen 1892 und 1954 durchliefen etwa 12 Millionen Einwanderer die Insel. (www.wikipedia.de, 12.03.2016)

Die Familie Hahn wurde oben (s. S. 28) bereits erwähnt. Sehr interessant war 1996 die Begegnung mit dem Ehepaar Grießbach.

Bild 30: Das Ehepaar Grießbach, links Frau Ulla Wienhöfer-Shuler, Lehrerin an der Dover High School, Aufnahme 1996

Walter Grießbach wurde 1907 in Thalheim geboren. Sein Vater wanderte 1911 nach Amerika aus, doch gefiel es ihm dort nicht, weshalb er bereits 1914 nach Deutschland zurückkehrte. Bei Kriegsbeginn wurde er eingezogen und war für die Dauer des Krieges an der Westfront eingesetzt. 1920 ging er zum zweiten Mal nach Amerika. Drei Jahre später ließ er seine Frau mit Sohn Walter (16 Jahre alt) und Tochter Frieda nachkommen. Alle fanden Arbeit in Guenthers Fabrik. Walter begann dort als Lehrling und blieb als Arbeiter viele Jahre. Der Verdienst betrug nach seiner Erinnerung 75 US-Dollar pro Woche (vgl. Seite 36, Verdienst Anfang des Jahrhunderts, G.S.). Walter Grießbach besuchte sein Heimatdorf 1929 „mit viel Geld in der Tasche“, wie er sich ausdrückte. Bei diesem Besuch lernte er seine zukünftige Frau kennen. 1935 kam diese endlich nach Amerika und sie heirateten. Die Grießbachs konnten 1996 auf eine über 60-jährige glückliche, leider kinderlose Ehe zurückblicken.

1.11 Die Bruno-und-Therese-Guenther-Stiftung

In der nunmehr 95 Jahre umfassenden Geschichte dieser Stiftung spiegeln sich sowohl die großen gesellschaftlichen Umbrüche in Deutschland als auch typisch kleinstädtisch beengte Sichtweisen wider. Das Stiftungsvermögen schwankte in den Vorstellungen der Geithainer zwischen geradezu utopischen Werten und null, d. h., man nahm lange Zeit an, die Stiftung existiere gar nicht mehr. Die Person Paul Guenther war für die einen nur der „Wohltäter Geithains“, für andere nur der „reiche Amerikaner“ oder der „amerikanische Kapitalist“. Die Haltung zu Guenther und seiner Stiftung reichte von überschwänglicher Lobhudelei über Desinteresse an der ganzen Sache bis hin zu politisch bedingter Missachtung des Menschen Paul Guenther und seiner Verdienste für Stadt, Kirche und Schule in Geithain.

Wer sich mit der Geschichte der Stiftung gründlich beschäftigt, wird den entscheidenden Grund für das „Wabern“ unrealistischer Vorstellungen über Jahrzehnte hinweg erkennen. Über einen langen Zeitraum hinweg gab es keine umfassenden sachlichen Informationen zu dem Komplex „Guenther/Stiftung“, teils eindeutig politisch so gewünscht, andererseits aber auch aus reiner Bequemlichkeit! Es handelte sich um eine relativ schwierige Materie, die sowohl der Stadt- und Schulverwaltung als auch interessierten Bürgern etwas an Mühe und Ausdauer abverlangt hätte. Bei den Geithainer Bürgermeistern seit 1989/90 macht hier Rolf Galisch eine rühmliche Ausnahme. Von seinem echten Interesse, mehr über die Stiftung zu erfahren, zeugt sein Brief (37) an den Geithainer Heimatverein mit dem klaren Auftrag an diesen, die Geschichte der Stiftung zu erforschen. Galisch gab auch den Impuls, die längst fällige Neufassung der Stiftungssatzung zu beschließen. Die Information der Öffentlichkeit über die Verwendung der Stiftungserträge erfolgte erstmalig 2006. Im Amtsblatt von Geithain 12/2015 wurde schließlich neben der Verwendung der Stiftungserträge auch über das aktuelle Stiftungsvermögen berichtet. Es wundert nicht, sondern es ist eher eine Bestätigung oben beschriebener Vorstellungen, dass unmittelbar nach Veröffentlichung des Stiftungsvermögens Geithainer ihre Enttäuschung äußerten und abermals zu falschen Schlüssen gelangten: „So klein ist das Stiftungsvermögen? Warum dann um die Verdienste Guenthers so ein Aufhebens machen?“ Das vorliegende Buch soll mithelfen, umfassend, sachlich und unvoreingenommen den Komplex „Guenther/Stiftung“ der Öffentlichkeit darzustellen.

In den Monaten nach Guenthers Besuch Ende 1919 erarbeiteten Beauftragte auf der Grundlage seiner Stiftungsurkunde Vorschläge für eine Stiftungssatzung. Die Beratungen zu diesen Vorschlägen und das Genehmigungsverfahren durch verschiedene Finanz- und Steuerbehörden bis hin zur Anerkennung durch die Stiftungsaufsicht und Eintrag in das Stiftungsregister (in Fachkreisen „Stiftungsgeschäft“ genannt) waren im Herbst 1921 abgeschlossen. Die 14 Monate von November 1921 bis Ende 1922 werden in den Akten als erstes Geschäftsjahr geführt. Im November 1922 überwies Carl H. Fischer aus Chemnitz, Beauftragter des Stifters und Repräsentant der Bank Emery & Beers Comp. Inc. in New York, 50.000 Mark auf das Konto der neuen Stiftung. Im Stadtarchiv von Geithain (35) existieren mehrere dicke Ordner, die lückenlos von 1920 bis zur Gegenwart sowohl die gewissenhafte Arbeit des jeweiligen Stiftungsvorstandes als auch das Wirken der Stiftung für Stadt, Schule und Kirche sehr beeindruckend widerspiegeln.

Ein Kernsatz der Stiftungsurkunde von 1919 lautet: „Sie besteht aus einem Nennwert von 1 Million Mark in 5 prozentiger Deutscher Kriegsanleihe sowie dem Haus- und Gartengrundstück in Geithain, Altenburger Straße 23.“ Petermann verkürzt diesen Satz in der Festschrift von 1925 (1, S. 3): „… und in einem Kapital in Höhe von 1 Million Mark in deutscher Kriegsanleihe.“ In vielen Geithainer Familien wurde dieses Heft über Generationen hinweg aufbewahrt und stellte über Jahrzehnte das einzige Schriftstück dar, aus dem etwas zum Komplex „Guenther/Stiftung/Schule“ zu erfahren war.

Zwei Angaben aus obigem Kernsatz – „1 Million Mark“ und „Kriegsanleihe“ führten in den folgenden Jahrzehnten zu falschen Interpretationen. Wegen fehlender Information wähnte man Stiftungsvermögen und Stiftungserträge viel höher, als sie tatsächlich betrugen. Die von Guenther überwiesenen 50.000 Mark (5 % von 1 Million) bildeten neben dem Hausgrundstück das Stiftungsvermögen! Dem Stichwort „Kriegsanleihe“ zufolge bot sich in DDR-Zeiten an, den „amerikanischen Kapitalist Guenther“ als Mitfinanzierer des Krieges zu diffamieren.

Die Stiftungsurkunde stammt von 1919, also aus der Nachkriegszeit, aber die Begriffe „Kriegsanleihe“ oder „Kriegskredite“ spielten offenbar für Vermögens- oder Nachlassberechnungen noch eine große Rolle. Insbesondere deren Behandlung durch den Rechtsnachfolger des Deutschen Kaiserreiches, die Weimarer Republik, zählt auch für Fachleute zu den äußerst schwierigen finanzhistorischen Themen. Eine Anfrage bei der Deutschen Bundesbank (36) brachte einige Aufklärung. „In den Jahren 1914 bis 1918 hat das Deutsche Reich neun Anleihen begeben, die als Kriegsanleihen bezeichnet wurden. Die Zinsen von 5 % wurden halbjährlich ausgezahlt. … Die Ansprüche aus diesen auf Mark lautenden Schuldverschreibungen sind nach Einführung der Reichsmark im Jahre 1924 im Gesetz über die Ablösung öffentlicher Anleihen vom 16. Juli 1925 geregelt worden. Nach diesem Gesetz konnten die Mark-Schuldverschreibungen unter bestimmten Voraussetzungen in auf Reichsmark lautende Schuldverschreibungen der Anleiheablösungsschuld des Deutschen Reiches von 1925 umgetauscht werden.“ In einem „Merkblatt zur 9. Kriegsanleihe“ vom 10. Januar 1918 werden detailliert die Zeichnungsmodalitäten auf 4 Seiten DIN A4 erläutert. Aus heutiger Sicht erscheint vieles darin unbegreiflich, wenn man bedenkt, dass im Herbst des Jahres 1918 Krieg und Monarchie zu Ende waren. Eine Bestimmung aus dem Merkblatt scheint im Zusammenhang mit Guenthers Stiftung wichtig: „Die Schuldverschreibungen sind wie bei den vorangegangenen Kriegsanleihen bis zum 1. Oktober 1924 seitens des Reiches unkündbar, … ohne dass ein Hindernis bestände, über sie auch schon vor dem 1. Oktober 1924 (Hervorhebung G.S.) … zu verfügen.“ (36) Paul Guenther hat offenbar davon Gebrauch gemacht. Die Frage, ob das „Gesetz zur Ablösung öffentlicher Anleihen“ besondere Bestimmungen für Auslandsdeutsche enthält, blieb bisher offen. Der Brief der Deutschen Bundesbank endet mit dem Satz: „Weitergehende Informationen stehen uns leider nicht zur Verfügung.“ (36)

 

Nachdenklich in mancher Hinsicht, eben auch aus heutiger Sicht, stimmt der folgende Aufruf am Schluss des erwähnten Merkblattes von Januar 1918: „Durch nichts wird das Vertrauen zu dem glücklichen Ausgang unserer guten Sache (Hervorhebung G.S.) offenkundiger aller Welt vor Augen geführt als durch ein erneutes glänzendes Ergebnis der Kriegsanleihe.“ (36)

Die Meinungen zu „Kriegskrediten“ und damit zur Finanzierung des Krieges reichten bekanntlich schon zu Beginn des Krieges – und nicht nur im Reichstag (s. Karl Liebknecht) – von kategorischer Ablehnung bis zu emphatischer Zustimmung. Millionen Deutsche zeichneten im Laufe des Krieges und eben auch noch im Januar 1918 solche Anleihen! Guenther gehörte mit Sicherheit zu den vielen Menschen, die mit ihrer Anleihezeichnung glaubten, „unsere gute Sache“ zu unterstützen. Die 5 % Zinsen aus seiner Anleihe, die oben erwähnten 50.000 Mark, überwies er 1922 an die gerade errichtete Stiftung in Geithain. Wie sich die Ablösung seiner gezeichneten Million im Detail vollzog, ist nicht bekannt. Sicher ist jedoch, dass die Ablösung zu dem Entschluss, eine Schule in Geithain bauen zu lassen, wesentlich beigetragen hat. Im Nachhinein gesehen wurde aus seiner Anleihe an das Kaiserreich mit dem Bau der Riesenschule eine wirklich „gute Sache“ für Stadt, Kirche und Schule in Geithain!

Es ist schon erstaunlich, dass trotz vieler und drastischer politischer Veränderungen die Grundbestimmungen der Stiftungsurkunde von 1919 in den knapp hundert Jahren bis zur Gegenwart kontinuierlich erfüllt wurden. Natürlich gab es mehrere Neufassungen bzw. Nachträge der Stiftungssatzung. Das Geburtshaus Guenthers, ursprünglich Bestandteil des Stiftungsvermögens und damit hälftig Kirche und Stadt zugehörig, wurde 1928 der Kirche alleinig übereignet. Veränderungen traten ein nach dem Tod Guenthers im Jahre 1932. In seinem Testament hatte er seine Heimatstadt nochmals bedacht, diesmal mit 50.000 US-Dollar, allerdings nicht in bar, sondern in Form von Grundstücken, Hypotheken und Industriepapieren. Die langwierigen Verhandlungen bis zum Antritt des Erbes durch die Stiftung im Jahre 1940 nehmen einen großen Teil der Akten im Stadtarchiv ein und werden ab Seite 62 extra behandelt.

Im Jahr 1941 fand die erste Betriebsprüfung der Stiftung durch das Finanzamt Rochlitz statt. Im Prüfungsbericht wird dem Stiftungsvorstand eine gewissenhafte Arbeit bescheinigt. Er enthält aber auch eine Empfehlung, die im Folgejahr 1942 zu einem aus steuerlichen Gründen vollzogenen Austritt der Kirche aus der Stiftung führte. Der Auseinandersetzungsvertrag vom 13. Februar 1942 (35, Nr. 2227) regelte ausführlich und korrekt die Aufteilung des Stiftungsvermögens. 1942 gab es deshalb eine Änderung der Stiftungssatzung. Die geänderte Satzung galt bis 1947. Die letzte Neufassung der Stiftungssatzung erfolgte im Juni 1999. Sie setzte in § 12 die Fassung von 1947 außer Kraft. Der Genehmigungsbescheid (Freistaat Sachsen, Reg.-Bezirk Leipzig) wurde am 07. Juli 1999 erteilt. Seit 1922 bis dato steht die Bruno-und-Therese-Guenther-Stiftung als eine der ältesten Stiftungen Sachsens im Deutschen Stiftungsverzeichnis. Es handelt sich um eine „rechtsfähige Stiftung des Bürgerlichen Rechts und sie verfolgt ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige und mildtätige Zwecke“.

In den Unterlagen befindet sich eine Vermögensaufstellung (von Ackermann, damals für Finanzen der Stadt Geithain zuständig) per Jahresende 1942, also nach dem Ausscheiden der Kirche und nach Abschluss der Verhandlungen wegen der Erbschaft in Neukirchen bei Chemnitz (s. S. 62). Danach betrug das Stiftungsvermögen 123.439,01 RM. Es setzte sich zusammen aus der Hypothek, den Bareinlagen bei der ADCA bzw. Sparkasse Geithain und diversen Anlagen wie beispielsweise Goldpfandbriefe Hypobank, Deutsche Reichsschätze. Die Währungseinheit Reichsmark galt zunächst auch nach 1945 in Deutschland. 1948 wurden die Deutsche Mark in den drei westlichen Besatzungszonen und die Mark in der sowjetischen Besatzungszone eingeführt. In einer Mitteilung des Landrates an den Bürgermeister vom 26. Juli 1948 steht, „dass durch die Währungsreform in vermögensrechtlicher Hinsicht Veränderungen nicht eingetreten sind. Die Stiftung besteht nach wie vor“. (35, Nr. 2152)

Der besseren Übersicht halber werden diese wichtigen Bezugsdaten inklusive genauer Geldbeträge in einer Tabelle angegeben.


Stiftungsvermögen per 31.12.1942
1 Hypothek in Chemnitz 93.487,50 RM
2 Bareinlagen bei der ADCA bzw. Sparkasse Geithain 6.601,51 RM
3 diverse Anlagen z. B. Goldpfandbriefe der Hypobank, Deutsche Reichsschätze u. a. 23.350,00 RM
Stiftungsvermögen 123.439,01 RM

Die Aussage „keine Veränderungen durch die Währungsreform 1948“ trifft auf die Hypothek zu – und nur auf diese! In vielen Dokumenten zur Sache Neukirchen (heute Stadtteil von Chemnitz), beginnend mit 1945 über die 1950er Jahre bis zum Jahr 1990, taucht exakt immer wieder die Zahl 93.487,50 RM (M) auf. Aus einem Brief des Geithainer Bürgermeisters an den Landrat in Borna vom 18. Mai 1948 (35) ist ersichtlich, dass der Stiftungsertrag 4440,66 RM betrug.

Auffällig ist, dass nach 1945 die anderen zwei Bestandteile des Stiftungsvermögens (zusammen 29.951,51 M) in keinem Dokument auftauchen, jedenfalls konnte bisher nichts gefunden werden. Es erscheint in den Dokumenten im Zusammenhang mit Stiftungsvermögen bis 1989 immer nur die Hypothek. Dem oben genannten Stiftungsertrag von 4440,66 RM entspräche ein Zinssatz von 4,75 % bei einem Vermögen von 93.487,50 RM und 3,6 % bei einem Vermögen von 123.439,01 RM. Beides liegt im Bereich des Möglichen und müsste durch genauere Recherchen verifiziert werden. Als Anfang 1990 (vor der Währungsumstellung von DDR-Mark auf DM!) die Hypothek aufgelöst wurde, erhielt die Stadt 93.487,50 DDR-Mark von dem Grundstückseigentümer überwiesen und die monatliche, seit Jahrzehnten erfolgte Zinszahlung, wurde eingestellt. Die Stadt tätigte, aufgerundet auf einen bequemen Betrag, nach Empfang des Geldes eine Festgeldanlage von 100.000 DDR-Mark. Und wieder wird nur die Hypothek als Stiftungsvermögen genannt, obwohl sie doch nach der Aufstellung von 1942 nur einer von drei Bestandteilen war. Nach der Währungsumstellung im Juli 1990 wurden aus den 100.000 DDR-Mark 50.000 DM. Nach der Euro-Einführung waren das 25.000 €. Endlich und erstmalig in der über 90 Jahre währenden Geschichte der Bruno-und-Therese-Guenther-Stiftung erfolgte eine Information der Geithainer Öffentlichkeit im Amtsblatt 12/2015 über Stiftungsvermögen und Verwendung der Erträge: Per 31. Dezember 2014 betrug das Stiftungsvermögen der Bruno-und-Therese-Guenther-Stiftung 26.000 €.

Weil die Stiftung betreffend so viele Jahre lang Unwissenheit und übertriebene Erwartungen vorherrschten, kam es nach Veröffentlichung 2015 zu Reaktionen enttäuschter Geithainer: „Was? So wenig Geld? Warum dann so viel Aufhebens um den Stifter Guenther?“ Ursache dieser Reaktionen sind sowohl die Intransparenz zur Stiftung während der DDR-Zeit und danach als auch die Unkenntnis über die erheblichen Geldbeträge, welche in Fortführung der Spenden- und Stiftertradition ab 1995 flossen! (s. S. 152)

Folgende Fragen sind zurzeit noch offen und erfordern ein weiteres Studium in den Unterlagen bei der Stadt:

1 Was geschah nach 1945 mit den Bestandteilen 2 und 3 aus der Aufstellung von 1942?

2 War nach 1945 alles verfallen oder hat man seitens der Stadtverwaltung diese Anteile im Stadthaushalt geführt und verwendet? Dann hätte man gegen einen Grundsatz der Stiftungssatzung – „Das Stiftungsvermögen ist unantastbar“ – verstoßen!

Ab Seite 62 wird beschrieben, wie und ab wann die Stiftung in den Genuss der Erbschaft in Neukirchen gelangte. Auch dort bleiben am Ende noch einige Fragen offen.

Die Grundaussagen der ursprünglichen Stiftungssatzung von 1922 blieben bei allen folgenden Neufassungen bzw. Nachträgen bis zur Fassung von 1999 unverändert. Sie legen fest, dass das Stiftungsvermögen unangetastet zu erhalten und so anzulegen ist, dass eine spekulative Geldanlage ausgeschlossen und eine angemessene Verzinsung gewährleistet ist. Die jährliche Verwendung der Stiftungserträge war von Anfang an inhaltlich in klarer Form festgelegt. Immer wieder beeindruckend ist, wie genau Paul Guenther die Verwendung der Stiftungserträge festgelegt hatte. Die Sorgfalt des Stifters, sein großes Bemühen um gerechte Verteilung, die besondere Berücksichtigung „bedürftiger und würdiger“ Geithainer und auch sein Sinn für Details oder scheinbar unwichtige Belange wurden bereits auf Seite 53 angedeutet. Zwei weitere Beispiele seien genannt:

1. Bestimmungen für Stadt und Schule


lfd. Nr. %-Satz Verwendungsfestlegung
66,8 zwei Drittel für städtischen Bedarf
1. 54,7 Geithainer Arme, davon mind. 23 % alte Arme
2. 1,6 Weihnachtsbescherung im Armen- und Krankenhaus
3. 5,2 Gemeindediakonie
4. 5,3 Frauenverein
33,2 ein Drittel für Schule
5. 10,5 Konfirmanden bei Schulentlassung
6. 3,2 Bücherprämien an Schüler, am 13. Mai
7. 5,3 Albert-Zweigverein für Geithainer Kinder
8. 2,1 Jugendheim
9. 5,3 Anschaffung von Lehrmitteln
10. 4,2 begabte Schüler armer Eltern zum Besuch einer höheren Schule
11. 2,6 für Lehrerbibliothek

Anmerkung G.S.: Die Anteile werden im Original (1922 und folgende Versionen der Stiftungssatzung) nicht in Hundertstel (also %), sondern als gemeine Brüche mit dem Nenner 190 angegeben.

 

In der Stiftungssatzung von 1999 lautet die entsprechende Formulierung: „Zwei Drittel der Erträge zur Unterstützung bedürftiger und würdiger Einwohner der Stadt und ein Drittel zur Unterstützung bedürftiger und würdiger Schüler der Paul-Guenther-Schule Geithain.“

2. Ähnlich detaillierte Festlegungen galten für den Kirchenanteil. Dort heißt es u. a.: „3,2 % zur Schmückung und Instandhaltung der Grabstätte der Guentherschen Eheleute.“ Dieser Satz stammte aus der Stiftungssatzung von 1922. Die Geithainer Kirche ist dieser Bestimmung auch nachgekommen bis zu ihrem Austritt aus der Stiftung im Jahre 1942. Leider ist das Grabmal der Guenther-Eltern in den nach 1942 formulierten Stiftungssatzungen – ob bewusst oder unbewusst – nicht aufgenommen worden. Diese Tatsache wurde den Verantwortlichen von Stadt, Kirche und Schule erstmals 2001 bewusst, als eine aufwendige Reparatur des Grabmals notwendig und 2005 abgeschlossen werden konnte.

Bild 31: Grabmal auf dem Geithainer Friedhof, von Guenther 1919 zu Ehren seiner Eltern errichtet, restauriert im Jahr 2005

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