Vorsicht! Mann in Wechseljahren

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»Es gibt keine Zufälle«, bemerkt der Blutsauger, als wir vor unseren Autos stehen. Er nimmt seine langen Eckzähne aus dem Mund, verstaut sie in seiner Hosentasche und hält wie hergezaubert ein Fläschchen mit Schloss-Enteiser in seiner Krallenhand. Er sprüht sein Autoschloss ein, wartet ein paar Minuten, steht da und sieht dem Schneeflockenbrillantfeuerwerk zu. Sein Blick ist weich und seine Stimme warm, als er mir in die Augen sieht und »wie schön«, flüstert. Ich fühle meinen Puls bis zur Halsschlagader.

Er öffnet seine Autotür und greift zielsicher nach dem Handbesen auf dem Beifahrersitz. Kommentarlos wischt er damit den Schnee von meinen Autoscheiben und dem Nummernschild.

»Kommen Sie gut nach Hause, Burgfräulein«, sagt er und hält mir die Autotür auf. Im Rückspiegel sehe ich, wie er sein Auto vom Schnee befreit, bemerke später, dass er ein Stück weit hinter mir herfährt, dann nach rechts abbiegt. Er hat weder nach meinem Namen oder mich sonst irgendetwas gefragt, wundere ich mich.

Im Treppenhaus brennt Licht, Frau Schulze vom ersten Stock huscht wortlos mit ihrem Hund an mir vorbei. Jugendliche gehen ein und aus. Sie tragen Stachelarmbänder, sind bleich geschminkt und sehen böse aus. Aus dem dritten Stock dröhnt für mich undefinierbare Musik. Jan Kralitschka feiert seinen 18. Geburtstag.

Ich keuche verängstigt die letzten sechs Stufen zum vierten Stock hoch und wünsche mir wie immer eine Neubauwohnung im Erdgeschoss. Ich stecke den Schlüssel in das Schloss der zerkratzten Holztür, höre im Geiste die Stimme meiner Busenfreundin Barbara.

»Wenn du erst mal einen Beamten auf Lebenszeit gefunden hast, Margit …«

Ich stelle meine Handtasche auf der Kommode im Flur ab, hänge den Mantel an den Garderobehaken. Danach peile ich schnurgerade mein Schlafzimmer an, lege wegen meiner Rufbereitschaft das Handy auf dem Nachttisch ab, schleudere die unbequemen High Heels von meinen geschwollenen Füßen und befreie mich aus den Fängen meines Kostüms. Ich streife die halterlosen Nylonstrümpfe ab, entledige mich des Bügel-BHs das Mord-Instrument hat dicke rote Streifen auf meiner Haut hinterlassen und lasse mich mit einem tiefen Seufzer in mein Bett fallen. Ich ziehe die Bettdecke bis zu den Ohren hoch und drücke mein Trösterchen-Kissen ganz fest an mich. Nie wieder lasse ich mich von meiner Freundin zu etwas überreden, nehme ich mir vor.

Mein Handy auf dem Nachttisch lacht. Barbara hat mir unlängst das Babylachen auf mein Handy geladen. Ungefragt!

»Ja, ich bin gut nach Hause gekommen und nein, er hat mich nicht geküsst, Barbara«, nuschele ich verschlafen in den Hörer.

»Guten Morgen. Mein Name ist Winfried Schneider.« Die Stimme kommt mir bekannt vor.

»Sie erinnern sich an mich?«

»Hm.«

»Winterwunderland«, sagt die samtweiche Stimme.

»Sie können nicht tanzen, mein Fräulein«, sage ich. Winfried Schneider lacht.

»Genau, der.«

»Woher haben Sie meine Handynummer, Herr Schneider? Von meiner Freundin? Na, der werde ich aber etwas erzählen …«

»Sind Sie morgens immer so kratzbürstig, Fräulein Vogt?«

»Was wollen Sie von mir, Herr Schneider?«

»Ich würde mich gerne mit Ihnen treffen, Fräulein Margit. Auf einen Kaffee vielleicht? Im Bistro um die Ecke? In einer halben Stunde, vielleicht?«

Mein Herz schlägt wie hundert Schamanen-Trommeln und ein heiseres »Ja« verlässt meinen Mund.

Er steht auf, als er mich zur Tür hereinkommen sieht, hilft mir aus dem Mantel, hängt ihn auf einen der Garderobenbügel und begleitet mich zum Tisch. Er rückt mir den Stuhl zurecht und strahlt mich an. »Schön, dass Sie gekommen sind, Fräulein Margit.«

Er legt mir die Frühstückskarte vor, empfiehlt tête-à-tête für 2 Personen und zum zweiten Mal an diesem Morgen verlässt ein heiseres »Ja« meinen Mund. Ich versuche aufrecht und entspannt dazusitzen, ruhig in den Bauchraum zu atmen, meinen Atemrhythmus wahrzunehmen. Er bestellt mit einem Lächeln das Tête-à-tête, hält mir den Brötchenkorb hin. »Sie sind noch warm«, freut er sich. »Möchten Sie auch ein Schokoladencroissant, Fräulein Margit?«

»Ja, bitte.«

Er greift nach der Gebäckzange und legt ein Schokocroissant auf meinen Teller, rückt die Platte mit dem geräucherten Lachs so zurecht, dass ich mühelos danach greifen kann.

»Ein Ei, Fräulein Margit?«

»Nein danke.«

Ich esse kein Ei, habe Angst, dass meine Zähne danach vom Dotter gelb sind. Er langt kräftig zu, verspeist vier Brötchen mit rohem und gekochten Schinken, Käse, Konfitüre und Honig. Mein Hals ist wie zugeschnürt. Ich bekomme kaum einen Bissen herunter. Ich spüre mein Herz flimmern. Und mein Gehirn will mir keine passenden Antworten für seine Fragen in den Mund legen.

»Sie essen ja wie ein Vogelkind, Fräulein Margit«, stellt mein Traummann fest, drückt mir ein Glas Prosecco in die Hand und prostet mir zu. Er sieht mir in die Augen.

»Auf uns, Fräulein Margit.«

Ich nippe an dem prickelnden Getränk, verschlucke mich, er klopft mir behutsam auf den Rücken.

»Sie trinken nicht oft Alkohol, Fräulein Margit«, stellt er fest.

»Nein.«

Er schmachtet mich an. »Das spricht für Sie, Fräulein Margit.« Mein Handy lacht.

»Ich muss los«, erkläre ich.

Er nickt verständnisvoll. »Die Rufbereitschaft, Fräulein Margit. Ich weiß.«

Er steht auf, begleicht an der Theke diskret die Rechnung, begleitet mich zur Garderobe, hilft mir in den Mantel und bringt mich zu meinem Auto.

»Dankeschön für den schönen Vormittag, Fräulein Margit.«

»Herr Schneider ist ein Gentleman von der Sohle bis zum Scheitel«, schwärme ich meiner Freundin Barbara am Telefon vor.

»Herr Schneider? Ihr seid per Sie, Margit?«

»Aber selbstverständlich, jede volljährige Person hat das Recht, mit Sie angesprochen zu werden, wir sind in Deutschland, nicht in den Niederlanden. Und ich bin nicht von der schnellen Truppe, Barbara.«

Ich höre Barbara auflachen, höre den Klang von Löffel an Tasse. Barbara trinkt den lieben langen Tag Cappuccino.

»Manchmal bist du wirklich ganz schön vorgestrig, Margit.«

»Alles zu seiner Zeit, Barbara.«

»Aber du wirst doch hoffentlich wissen, wie er mit Vornamen heißt, Margit? Wo er wohnt? Wo er arbeitet?«

»Mit Vornamen heißt er Winfried. Wo er wohnt und als was er arbeitet? Tja, danach habe ich nicht gefragt, Barbara. Das spielt auch gar keine Rolle für mich.«

»Ich glaub’s nicht, Margit. Über was habt ihr denn dann geredet beim Frühstücken.«

»Über Theaterstücke, Filme, Bücher, Blumen, Kochund Backrezepte…«

»Aha, Herr Schneider ist ein Frauenversteher.«

»Du sagst es. Winfried Schneider ist ein Frauenversteher!«

Ich höre das Öffnen einer Metalldose. Ein vertrautes Geräusch. Barbara isst immer Cantuccini zu ihrem Cappuccino. Und aller Wahrscheinlichkeit nach zerbröckelt sie das Mandelgebäck in mundgerechte Stücke und schiebt sie auf dem Teller hin und her, bevor sie die Quadrate in ihrem Mund verschwinden lässt. Das macht meine Freundin immer so.

»Werdet ihr euch wieder treffen, Liebes?«

»Frag ihn selbst, Barbara. Du hast ihm meine Handynummer gegeben.«

»Wie bist du denn wieder drauf, Margit?«

»Sprich nicht mit vollem Mund und hör endlich mit der Kaffeetassenklopferei auf, das macht einen ja ganz meschugge, Barbara!«

»Ich glaube, wir sollten unser Gespräch für heute beenden, Margit.«

Barbara legt auf. Ich verschränke meinen Kopf in meinen Armen und döse vor mich hin.

Lautes Hüsteln beendet meine Tagträume. Ich hebe den Kopf von meinen gekreuzten Händen und blinzele in weißes Neonröhrenlicht. Braune Brühe schwappt über die Tageszeitung. Winfried steht wie ein drohendes Unheil vor mir. Er zieht die Augenbrauen nach oben und verdreht seine Augen. Ich sehe nur noch weiß, keine Pupillen mehr. Mein Magen stülpt sich von innen nach außen, als ich seine krächzende Stimme vernehme.

»Du meine Güte, Frau, wie bist du doch wieder ungeschickt heute!«

4. Kapitel

Er sitzt auf dem Sofa, hält eine Tüte mit Kartoffelchips in der linken, in der rechten Hand ein Glas mit Cola, zappt sich durch das Fernsehprogramm und schimpft.

»Das ist doch was für Hohlköpfe, für geistig Minderbemittelte. Und für solchen Schrott bezahlt man Fernsehgebühren. Zwangsgebühren, Frau!«

Er pult sich die Chips-Reste mit dem Zeigefinger aus den Zähnen und wischt die Pampe an der Tischdecke ab. Unser schnurloses Telefon liegt neben ihm. Martin und Herbert haben heute schon angerufen, er erwartet noch die Anrufe von Ulli, Herbert, Harald, Jürgen und Helmut. Siggi blockiert gerade unser Badezimmer. Aus Erfahrung weiß ich, dass das Ewigkeiten dauern wird. Siggi wohnt schon seit über vier Wochen bei uns …

»So, jetzt bin ich wieder frisch wie der Frühling«, flötet mein Ex-Kur-Genosse, strahlt meinen Mann an und lässt sich neben ihm auf das Sofa fallen.

»Und jetzt was kühles Blondes, Winnie.«

Siggi lacht wie ein Pferd, Winfried wiehert mit.

»Hol mal ein Bierchen aus der Kühle, Frau!«, fordert mein Mann.

Ich hole zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank, zwei Weizenbiergläser aus dem Wohnzimmerschrank.

»Noch was zum Knabbern, Frau!«

Minuten später knautscht er die leere Kartoffelchipstüte zusammen und wirft sie mir zu. Ich greife daneben. Unser Berber gleicht einem Krümelmonster. Winfried schüttelt seinen Kopf.

»Du meine Güte, Frau. Das hättest du aber wirklich auffangen können.«

»Tut mir leid, dass ich so ungeschickt im Müll auffangen bin«, kontere ich, hole Handbesen und Schaufel aus der Küche und entferne die Krümel aus dem Berber-Teppich, den uns meine Schwiegermutter hinterlassen hat.

 

»Da musst du mit dem Staubsauger ran, Frau!«

»Oder du, Winfried.«

»Wann bügelst du eigentlich, Margitchen?«, fragt Siggi süffisant.

»Bügeln?«

»Ich habe kein frisches Hemd mehr!«

Siggi sieht mich vorwurfsvoll an. »Ich will morgen gleich nach dem Frühstück ins Solarium, Margitchen, hänge meine Hemden bitte ins Badezimmer, ich weiß noch nicht, welche ich in die Tasche packen werde. Mittagessen zubereiten brauchst du nicht, Margitchen. Mal seh’n was sich so ergibt.«

Er lacht abrupt auf. »Das Schnuckelchen an der Theke ist zum Anbeißen. Die müsstest du mal sehen, Margitchen. Die ist noch appetitlicher wie die Putzperle in der Klinik.«

»Ich habe nicht vor, deine Hemden zu bügeln, Siggi.«

Der Gesichtsausdruck von Siggi ist eine Mischung von verblüfft, fassungslos, erstaunt und bedeppert.

»Ich habe sie auch nicht gewaschen, Siggi.«

»Was sagst du da? Du hast meine Hemden nicht gewaschen, Margitchen?«

»Nein, Siggi. Ich habe deine Hemden nicht gewaschen.«

Siggi nestelt an seinen Kragenknöpfen. »Aber Margitchen, ich will doch …«

»Das fällt nicht in meinen Zuständigkeitsbereich, Siegfried.«

»Aber ich …«

Mein Mann schüttelt missbilligend seinen Kopf.

»Also das bisschen Siggi-Wäsche hättest du ruhig mit unserer mit durchlaufen lassen können, Frau. Das macht ja wirklich nicht viel Arbeit!«

»Siggi-Wäsche fällt nicht in meinen Zuständigkeitsbereich, Winfried!«

Winfried kratzt seine Stirn. »Ich glaub’s nicht! Was verstehst du denn unter Gastfreundschaft, Frau?«

»Ich habe niemanden eingeladen, Winfried. Das warst du, Winfried. Also, wenn du die Wäsche deines Freundes waschen magst?«

»Siggi hat in der Kur so gut auf dich aufgepasst, Frau. Und ich habe den Jungs versprochen, mich dafür erkenntlich zu zeigen, das weißt du ganz genau, Frau. Ich bin ein Ehrenmann.«

Er schlägt sich mit der flachen Hand auf die Brust.

»Jawohl, das bin ich. Ich halte meine Versprechen, Frau!«

»Ich will keinen Dauergast in meinem Haus haben, Winfried!«

»Erstens ist das nicht dein Haus, sondern unseres. Mir gehört die Hälfte, Frau, vergiss das bitte nicht. Und ich habe immer mehr verdient wie du, vergiss das bitte auch nicht!«

»Ich habe drei Kinder großgezogen, Winfried.«

»Die ich allein verköstigt habe, weil du jahrelang nicht gearbeitet hast, Margit.«

Die Worte treffen mich wie Pfeile, mitten in mein Herz.

»Das ist jetzt aber nicht dein Ernst, Winfried.«

Meine Augen füllen sich mit Tränen. Mir behagt das Niveau nach unten nicht.

»Siggi hat emotionalen Stress. Großen Stress, Frau.«

»Ich auch! Noch größeren, Winfried.«

»Der kann momentan nicht allein sein.«

»Ich wäre sehr gerne allein, Winfried.«

Er sieht mich an wie ein gereizter Stier. »Himmel Herrgott noch mal, das musst du doch einsehen, Frau!«

»Ich sehe überhaupt nichts mehr ein, Winfried, nicht heute, nicht morgen und nicht übermorgen. Und nenn mich, verdammt noch mal, nicht immer Frau! Ich habe einen Namen, Winfried!«

Winfried kneift die Augen zusammen, zieht die Luft durch seine Nase. »Meine Güte, Weib, was bist du doch wieder zickig heute!«

Er springt auf, holt die Flasche mit dem kanadischen Whisky aus der Getränkevitrine und klatscht zwei unserer besten Gläser auf den Tisch. »So, den trinken wir jetzt pur, mein Freund!«

Siggi und Winfried stoßen so heftig an, das ich um meine Kristallgläser bange.

»Ex«, sagen beide zur gleichen Zeit und wie auf ein geheimes Kommando aus dem Hinterhalt. Ihre Bewegungen sind synchron. Sie schauen sich in die Augen und schütten zur gleichen Zeit die teure Flüssigkeit in ihre Hälse, wischen sich im gleichen Moment mit den Handrücken über die Münder, sagen zur gleichen Zeit »mmmhhh, war das jetzt aber gut!«

Sie stellen in Zeitlupentempo und zur gleichen Zeit ihre leeren Gläser auf dem Tisch ab. Ich bin beeindruckt von der Choreografie. Meine Freundin Barbara und ich hätten das auch mit viel Üben nicht hinbekommen.

Sie rülpsen wie verwilderte Hausschweine. Laut! Ziemlich laut sogar. Siggi fast noch etwas lauter als Winfried.

»Ihr ekeligen alten Säcke, ihr widert mich an«, brülle ich, schnappe nach den Kristallgläsern und werfe sie an die Wand.

Siggi reibt den Brilli an seinem Ohr und wimmert wie ein krankes Kätzchen.

»Ich glaube, ich sollte abreisen, lieber Winnie.«

»Was hast du nun schon wieder angerichtet, Frau.«

Winfried kneift seine Augen zu Schlitzen. »Jetzt bist du ganz durch -gedreht!«

Er legt beschützend seinen rechten Arm um Siggi und spricht beruhigend auf ihn ein, während er ihn behutsam die Stufen nach oben zum Gästezimmer führt. »Die Margit meint das nicht so, Siggi, für die muss man Verständnis aufbringen, die ist doch in den Wechseljahren.«

Kurze Zeit später höre ich die Haustür ins Schloss fallen. Ich spähe aus dem Küchenfenster und sehe, wie Siggi seinen Sportflitzer aufschließt. Er verstaut seine Schmutzwäsche auf dem Beifahrersitz. Eine letzte Umarmung. Siggi heult auf wie unser Kater, wenn ihm versehentlich jemand auf die Pfoten getreten ist. Mein Mann holt sein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und wischt sich damit über die Augen. Siggi steigt in seinen Flitzer, sein wehmütiger Dackelblick streift meinen Mann. Winfried steht am Straßenrand, genau an der Stelle, wo vierzehntägig unser Mülleimer steht und schwenkt sein blau kariertes Taschentuch.

Er winkt dem rotschwarzen Auto nach, bis es außer Sichtweite ist, kommt schleichenden Schrittes ins Haus zurück, setzt sich auf das Sofa und zappt sich durch das Fernsehprogramm.

5. Kapitel

»Die Facetten, die einer hat, gehen dem einen Menschen so, dem anderen so, zu Herz und Verstand. Wie man einen sieht, lässt am meisten von einem selbst erkennen«, sagt unser Hausarzt.

»Hm. Nun ja, Herr Doktor Clemens. Ich dachte bisher immer, dass ich ein positiv denkender Mensch bin. Dass ich hilfsbereit und ein Menschenfreund bin. Dass ich eine fürsorgliche Mutter war, jedenfalls habe ich immer nur das Beste für meine Kinder gewollt!! Mein Hausarzt nickt zustimmend, er kennt mich schon einige Jahrzehnte.

»Und jetzt bringt Ihr Mann alles aus dem Gefüge, Frau Schneider?!«

»Er sagt, ich sei anspruchsvoll.«

»Hm.«

»Ich bin genügsam und bescheiden, gehe nie aus, laufe nur in Feldern, Wiesen, Wäldern und Weinbergen spazieren. Ich gehe nie zum Friseur, schneide meine Haare selbst, war noch nie bei einer Kosmetikerin und nur einmal in meinem Leben in Urlaub. Auf einem Bauernhof am Chiemsee. Als die Kinder noch klein waren.«

Dr. Clemens reißt ein Stück von der Papierrolle an der Wand ab und streckt es mir entgegen. Ich wische die Tränen von meinen Wangen, putze meine Nase und schäme mich. Mein Blick verharrt auf dem Blutfleck am Boden.

»Entschuldigen Sie bitte«, sage ich leise.

Mein Hausarzt sieht mich an. »Erzählen Sie ruhig weiter, Frau Schneider.«

»Ich peppe meine alten Kleider mit modischen Accessoires auf, statt mir neue zu kaufen.«

Dr. Clemens nickt.

»Ich kaufe weder teure Cremes noch Schminkutensilien, benutze die ausrangierten Tester aus dem Kosmetikstudio meiner Freundin Barbara. Ich spare, wo es nur geht, die Kinder sollen das Haus einmal schuldenfrei erben, außerdem steht die Hochzeit unserer Tochter vor der Tür. Es ist üblich, dass die Brauteltern die Hochzeit bezahlen. Ich habe eine Hochzeit-Sparschachtel angelegt. In Herzform. Eine cremefarbene mit gelben Rosen und zwei Täubchen drauf. Jeden Cent, den ich irgendwo einsparen kann, horte ich in dieser Schachtel. Es ist mir eine Herzenssache.«

Dr. Clemens nickt.

»Ich habe aber erst 305,70 Euro zusammen. Und die Hochzeit ist schon in vier Monaten. Bis jetzt reicht das Geld noch nicht einmal für ein Viertel des Brautkleides, das sich meine Tochter im Atelier Noblesse ausgesucht hat. Ein rotes. Ein schönes. Ausgefallen und exklusiv. Mit einem passenden Schirm aus echter Brüssler Spitze dazu. Der Schirm ist ein Muss für jede Braut, die auch nur einigermaßen Stil hat, meint meine Tochter. Aber das würde ich sowieso nicht verstehen, so altbacken wie ich bin.«

Dr. Clemens zieht seine Stirn zu Furchen. »Meint Ihre Tochter?«

»Er hat eine Spannweite von 80 cm, das ist so groß wie ein Standard-Kopfkissen, Herr Doktor.«

»So, so, Frau Schneider.«

»Und unserem Großen ist letzte Woche der Fernseher kaputtgegangen. Der Bub hat aber kein Geld für einen neuen, die Reise nach Norwegen hat seine allerletzten Ersparnisse verschlungen. Norwegen ist ein teures Land, Herr Doktor. Für acht Tage hat unser Großer 4.000 Euro hinlegen müssen. Und er hat doch in vier Wochen Geburtstag und …«

Die Wörter schlagen in meinem Mund Purzelbäume und ich spüre wie die Hitze in meinem Herzen den Kopf erreicht. Wie brodelndes Lava. Im Innern wütet der Feuerteufel Gluto.

»Unser Mittlerer ist von seiner Freundin verlassen worden und kann die teure Wohnung nicht alleine unterhalten. Ich habe ihm versprochen, dass ich ihm jeden Monat eine kleine Summe zukommen lassen werde. So lange jedenfalls, bis er etwas Günstigeres gefunden hat. Aber der Bub fühlt sich in der Wohnung doch so wohl, Herr Doktor. Sie liegt auch so günstig zur Stadtnähe, er kann zu Fuß in sein Büro laufen und …«

Dr. Clemens greift nach dem Blutdruckmessgerät. Sie steigern sich da gerade in etwas hinein, Frau Schneider. Ihren Arm bitte, Frau Schneider.«

»Mein Mann sagt, ich sei pessimistisch. Dabei war ich immer eine Frohnatur, Herr Doktor. Ich habe immer alles halb schlimm und doppel gut gefunden.«

»Ganz ruhig, Frau Schneider.«

»Er sagt, ich sei rechthaberisch, stellen Sie sich das einmal vor, Herr Doktor. Dabei fresse ich alles in mich rein, weil ich schon lange keine Kraft mehr zum Streiten habe.«

»190 zu 130«, sagt Dr. Clemens. Er läuft zur Glas-Vitrine und zieht eine Spritze auf.

»Wir spritzen etwas zur Beruhigung, Frau Schneider.«

»Ich würde immer herummotzen, sagt mein Mann. Das tue ich aber nur im Notfall, Herr Doktor. Nur dann, wenn es wirklich gar zu arg mit ihm ist und wenn ich übermüdet und überarbeitet bin.«

»Ihren Oberarm, bitte Frau Schneider.«

»Gestern zum Beispiel hat er den Stecker meiner Computertastatur entfernt, weil er meint, dass die Stromkosten zu hoch sind, wenn ich täglich eine Mail an meine Tochter sende. Das ist doch nicht normal, Herr Doktor. Ich habe …«

Dr. Clemens zückt den Rezeptblock. »Ich schreibe Ihnen noch etwas für die Nacht auf, Frau Schneider. Damit Sie besser schlafen können. Ein ausgeruhter Mensch kann viele Dinge leichter ertragen.«

»Er sagt, ich sei negativ eingestellt.«

»Sie nehmen davon eine halbe, kurz vor dem zu Bett gehen, Frau Schneider.«

»Er bringt mich um Herz und Verstand, Herr Doktor!« Dr. Clemens streicht behutsam über meinen Rücken.

»Ich gebe Ihnen einen Rat, Frau Schneider.«

»Ja?«

»Stürzen Sie sich ins Leben, liebe Frau Schneider. Sie leben nur einmal. Denken Sie ab sofort nur noch an sich. Gehen Sie zum Friseur, Frau Schneider. Zur Massage! Lassen Sie sich verwöhnen, Frau Schneider! Nehmen Sie das Geld aus Ihrer gelben Schachtel und gehen Sie damit shoppen.«

»Die Schachtel ist cremefarben.«

Dr. Clemens kratzt seine Stirn. »Äh …«

»Die Rosen darauf sind gelb, Herr Doktor!«

»Kaufen Sie sich neue Kleider, Frau Schneider. Gehen Sie ins Theater, ins Konzert, lenken Sie sich ab. Und hören Sie endlich damit auf, sich um das Wohl Anderer zu sorgen!«

Er sieht mich durchdringend an. »Hören Sie mit dem Sparen auf, Frau Schneider! Ansonsten haben Sie für Ihren Sarg gespart.«

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