Die Kinder vom Schmetterlingshof

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Die Oma hat kräftig mitgeholfen beim Beerenpflücken und beim Einkochen. Und beim Kräutertrocknen. Und beim Tee verpacken. Und beim Einmachgläserbeschriften. Die Etiketten von der Oma sind etwas ganz Besonderes. Jedes Etikett hat die Oma ein bisschen anders bemalt. Aber dann wurde die Oma krank. Die Oma konnte auf einmal keine Etiketten mehr beschriften und bemalen. Und sie wusste plötzlich nicht mehr, wie man die Marmeladengläser zuschraubt. Oder sich die Schuhe bindet. Oder den Backofen und den Fernseher einschaltet. Am Anfang der Krankheit ist die Oma noch im Lehnstuhl gesessen und hat aus dem Fenster geschaut. Aber dann wollte sie immer öfter in ihr Bett. Und das am hellen Tag. Und eines Tages wollte die Oma überhaupt nicht mehr aufstehen. Sie wollte auch kein Radio mehr hören und kein Fernsehen schauen. Und sie wollte, dass die Fensterläden geschlossen bleiben. Immer. Auch am Tag. Die Oma wollte nicht mehr baden oder duschen. Sie hatte auf einmal große Angst vor dem Wasser. Und weil die Oma auch nicht mehr essen und trinken wollte, musste sie ins Krankenhaus. Und im Krankenhaus machte die Oma komische Sachen. Da meinte der Chefarzt, dass die Oma in einem Pflegeheim besser aufgehoben wäre als auf dem Schmetterlingshof. Da hat der Opa bitterlich geweint. Und die Mama und der Papa auch.

Der Opa besucht die Oma jeden Tag im Pflegeheim. Und manchmal weiß die Oma sogar, wer der Opa ist. Sie sagt dann Helmchen zum Opa. Der Opa singt jedes Mal vor Freude ‚Großer Gott wir loben Dich’, wenn das so ist. Und die Oma singt immer laut mit. So laut, dass die Schwestern den Kopf zur Tür reinstecken und sich wundern, was da los ist. ‚Großer Gott wir loben Dich’ ist das absolute Lieblingskirchenlied von meiner Oma. Und das von meinem Opa auch. Die Oma weiß viele Gebete auswendig. Ihr absolutes Lieblingsgebet ist Vater unser. Und das von meinem Opa auch. Der Opa wünscht sich, dass die Oma wieder ganz gesund wird und zu uns auf den Schmetterlingshof zurückkommen kann. Das wünsche ich mir auch. Und der Michel und die Mama auch. Aber da wird nichts daraus hat der Papa zu der Mama in der Küche gesagt. Die Oma ist schon viel zu schwach. Sie wird nicht wieder gesund.

Wir nehmen den Bello mit zur Oma. Die Oma mag den Bello sehr. Sie streichelt ihn immer ganz lange, vom Kopf bis zu den Pfoten und wieder zurück. Und manchmal fragt die Oma sogar nach Minka, der dicken Katzenmamma. Das ist aber sehr selten. Und die Oma weiß auch nicht mehr, dass die Minka schon wieder drei Babys hat. Obwohl ich ihr das schon dreimal erzählt habe. Aber der Papa hat Fotos gemacht von den Katzenbabys. Er wird sie der Oma zeigen.

Der Opa, der Michel und ich gehen nach den Besuchen bei der Oma immer in die Kirche. Und wir brennen vor dem Marienaltar eine Kerze für die Oma an. Und wir beten darum, dass die Oma keine Schmerzen haben muss. Nach dem Kirchenbesuch gehen wir meist in die Eisdiele. Und beim Eis essen, erzählt der Opa jedes Mal von früher. Der Opa erzählt, wie es war, als er die Oma kennenlernte. Und wie es war, als er mit der Oma Hochzeit gefeiert hat. Und wie es war, als mein Papa auf die Welt gekommen ist. Und wie prima die Oma früher tanzen und singen konnte. Und dass die Oma einmal zur schönsten Frau gekürt wurde. Auf dem Dorffest im Nachbardorf. Und dass die Oma einmal einen Wettbewerb im Schwarzwälder Kirschtorte backen gewonnen hätte.

Der Opa erzählt wie es war, als der einzige Sohn eine Frau mit nach Hause gebracht hatte. Eure Mutter, sagt der Opa. Und er lacht. Er lacht so laut, dass er sich den Bauch festhalten muss. Kinder, da hättet ihr dabei sein müssen. Was eure Mutter sich doch alles fragen lassen musste von der Oma. Eure Großmutter hat eure Mama sogar gefragt, ob euer Papa sie schon einmal geküsst hätte. Da ist eure Mama rot geworden wie eine Tomate. Und sie hat minutenlang auf den Boden gestarrt vor Scham. Natürlich hat er sie geküsst, mein Liebchen, hat der Opa zu meiner Oma gesagt. Ich habe dich doch auch geküsst, Zuckerännchen. Als wir noch nicht verlobt miteinander waren. Hast du das etwa vergessen? Da wurde meine Mutter, also eure Urgroßmutter ganz rot im Gesicht. Und am Hals. Und auch ihre Ohrläppchen glühten wie ein Feuerofen. Sie wurde noch röter als eure Mutter. Der Opa lacht. Lange. Wie immer, wenn er an dieser Stelle der Geschichte ankommt. Und wir lachen mit. Ich stelle mir die Urgroßmutter mit den glühenden Ohrläppchen und dem tomatenroten Hals vor. Wie muss die doch geschwitzt haben.

Mir hat eure Mama gleich gut gefallen, erzählt der Opa weiter. Aber die Oma war erstmal ganz schön eifersüchtig auf eure Großmutter. Aber nicht lange. Die Oma hat schnell gemerkt, dass eure Mama die richtige Frau für unseren Sohn ist, sagt der Opa und nickt. Weil sie so gut kochen und backen und nähen kann. Und weil sie gut zu den Tieren ist. Und weil sie sich mit Blumen und Pflanzen auskennt. Und lieb zu allen Menschen ist. Und weil sie fleißig und hilfsbereit ist. Und als das erste Enkelkind, der Michel auf die Welt kam, haben der Opa und die Oma Rotz und Wasser geheult vor lauter Glück. Das erzählt uns der Opa immer wieder.

Ich mag die Oma-Opa-Geschichten. Und der Michel auch. Obwohl wir die Geschichten alle schon kennen. Manchmal haben der Michel und ich Angst, dass der Opa auch vergessen könnte, dass es uns und den Schmetterlingshof gibt. So wie die Oma. In den Angstnächten schleiche ich über den Flur in Michels Zimmer und lege mich zu ihm ins Bett. Wir kuscheln uns dann ganz eng zusammen. Es ist gut, den Michel zu haben. Auch wenn er manchmal blöd zu mir ist.

Wir haben uns beim Eis essen kennengelernt, erzählt der Opa. Die Anna saß auf einem Stein und lutschte die restlichen Tropfen Vanilleeis aus der Waffeltüte. Die Sonne hatte sich in ihren Haaren verfangen. Und Annas Zöpfe leuchteten wie flüssiges Gold. Ihre Augen waren blauer noch als der Himmel und ihre Bäckchen hatten die Farbe von reifen Kirschen. Du wirst einmal genauso aussehen wie deine Oma Ännchen, sagt der Opa plötzlich zu mir. Und er gibt mir einen dicken Kuss auf die Backe. Dann trinkt der Opa den kalt gewordenen Kaffee. Obwohl er keinen kalten Kaffee mag. Ich will einmal nicht so aussehen wie meine Oma. Ich will für immer gesund und schön sein. So schön wie meine Mama.

Die Anna hatte die gute weiße Bluse an. Weil die Oma in der Tierarztpraxis im Nachbarort war. Dort wollte die Oma in den Sommerschulferien arbeiten. Zur Probe. Die Oma überlegte sich nämlich, ob sie einmal in einer Tierpraxis arbeiten wollte. Oder doch lieber den Beruf einer Schneiderin oder einer Floristin ergreifen sollte. Und zu Vorstellungsgesprächen musste man immer angemessen angezogen sein, sagt der Opa. Der Opa sagt oft so komische Wörter wie angemessen. Und der Papa auch. Das kommt davon, dass der Opa der Papa vom Papa ist. Aber ich glaube die Geschichte habe ich euch schon erzählt, Kinder, ruft der Opa plötzlich aus. Aber das macht nichts. Der Opa erzählt die Geschichte immer ganz spannend. Und immer ein bisschen anders.

Die Oma hatte einen schwarzen Faltenrock an und den hat sie mit Vanilleeis vollgekleckert. Und die Oma versuchte den Fleck mit einem Papiertaschentuch raus zu rubbeln, aber das machte die Sache nur noch schlimmer. Und dann hast du die Oma gefragt, ob du ihr helfen kannst. So war das doch, Opa, gell. Und du bist dann mit der Oma...

Und du bist eine alte Quatsch- und Zappelliese, Ännchen. Nie gibst du auch nur eine Sekunde Ruhe. Jetzt lass doch den Opa mal in aller Ruhe erzählen, Ännchen.

Und du bist ein Blödmann, Michel. Immer meckerst du an mir herum. Jeden Tag. Du bist der blödeste Bruder der Welt, Michel.

Zum Kuckuck und zum Geier aber auch. Ihr sollt euch nicht schon wieder streiten, Kinder.

Zum Kuckuck und zum Geier zu sagen ist auch nicht gerade eine feine Art, Opa. Gell, Michel.

Da hat das Ännchen ganz recht, Opa. Das ist schon fast geflucht. Das sagt die Mama auch.

Aha, da seid ihr auf einmal wieder einer Meinung, ihr zwei Banausen, sagt der Opa. Dann kann ich ja endlich weitererzählen. Ich bin also wie ein Wilder in die Eisdiele gestürmt, sagt der Opa. Und ich habe schnurgerade die Herrentoilette angepeilt. Dort habe ich mein Stofftaschentuch unter den Wasserhahn gehalten und habe das nasse Taschentuch der wunderschönen Anna gebracht.

Damit geht es besser, hast du zur Oma gesagt und die Oma ist tomatenrot im Gesicht geworden, aber sie hat das Taschentuch von dir angenommen. Dann hat sie wie verrückt an dem Faltenrock rumgerubbelt und war froh, dass der Fleck raus gegangen ist. Weil ihre Eltern doch so arg streng waren.

Ganz genau so war es Ännchen, sagt der Opa. Die Oma hätte ganz schön Ärger bekommen, wenn sie mit einem schmutzigen Rock heimgekommen wäre. Der Faltenrock durfte nämlich nur bei besonderen Gelegenheiten aus dem Schrank genommen werden, ebenso die weiße Bluse.

Die jüngeren Schwestern von der Oma sollten die Kleidungsstücke noch tragen. Deshalb sollte die Oma auch immer eine Schürze über den guten Sachen tragen, gell Opa. Aber an diesem Tag hatte die Oma die Schürze nicht umgebunden.

Du sollst den Mund halten, Ännchen.

Zum Kuckuck und zum Geier aber auch. Geht das Gezeter denn schon wieder los?

Was ist ein Gezeter, Opa?

Meine Güte, was habe ich doch für eine dumme Schwester.

Ich bin nicht dumm.

Bist du doch.

Bin ich nicht!

Der Opa winkt die Kellnerin an den Tisch und bestellt drei Tassen mit heißer Schokolade und einem Klacks Sahne obenauf, dazu je ein Stück Marmorkuchen. Obwohl wir doch schon ein Eis gegessen haben. Marmorkuchen ist der Lieblingskuchen vom Opa. Und von der Oma auch.

Weil heute ein ganz besonderer Tag ist, sagt der Opa.

Ein besonderer Tag? Was denn für einer, Opa?

 

Kannst du den Opa nicht einmal ausreden lassen, Ännchen, schimpft der Michel. Und er schaut mich so böse an, als hätte ich etwas Schlimmes gemacht.

Ich kann es nicht leiden, wenn der Michel mich so finster ansieht. Ich fange an zu weinen.

Alte Heulsuse, sagt der Michel. Weicheiprinzessin. Kindergartenbaby.

Zum Kuckuck und zum Geier aber auch müsst ihr euch denn schon wieder in die Wolle kriegen, Kinder, schimpft der Opa.

Opa du sollst doch nicht...

Ist schon gut, Michel. Ist schon gut, sagt der Opa! Dann will ich euch halt mal verraten, dass heute der Jahrestag vom ersten Kusstag ist.

Vom ersten Kusstag? Wer hat denn da wen geküsst, Opa, fragt der Michel. Und warum ist das denn so wichtig, dass man da feiern muss?

Der Opa natürlich die Oma, Michel, mache ich dem Michel klar. Wer denn sonst wen? Du verstehst auch nie was, Michel.

Dann sei mal froh, dass du so gescheit bist, kleine Schwester, schimpft der Michel los. Und er gibt mir eine Kopfnuss.

Zum Kuckuck und zum Geier aber auch, schimpft der Opa. Müsst ihr euch denn immer streiten? Kann es denn keinen einzigen Tag einmal friedlich zugehen mit euch? Und Kopfnüsse gibt es bei der Familie Schäfer schon gar nicht, Michel. Heute nicht, gestern nicht, morgen nicht und übermorgen auch nicht. Hast du das verstanden, Michel?

Und du sollst nicht immer zum Kuckuck und zum Geier aber auch sagen, Opa. Was soll denn unser Ännchen von dir denken?

Ach, schau mal her, der Michel. Wie besorgt er doch auf einmal um seine kleine Schwester ist, lacht der Opa auf. Aber die Kopfnuss wird ein Nachspiel haben. Fußball spielen mit mir fällt heute aus für dich, sagt der Opa ziemlich unfreundlich zum Michel. Und ob ich jetzt noch weiter erzählen werde, muss ich mir noch schwer überlegen. Der Opa stützt sein Gesicht in die Hände, macht einen Schmollmund und schließt die Augen. Hey, Opa, sage ich und zupfe den Opa am Hemdärmel. Sei doch nicht so schnell beleidigt. Und auch der Michel zupft den Opa am Hemdärmel, aber weiter oben und auf der anderen Seite. Sei doch nicht so schnell beleidigt, Opa, sagt auch der Michel zum Opa. Du bist ja eine richtig beleidigte Leberwurst. Eine beleidigte Leberwurst aber will der Opa nicht sein. Das wissen der Michel und ich ganz genau. Der Opa schlägt die Augen auf, sagt, dann will ich halt mal nicht so sein und erzählt weiter.

Eure Oma und ich waren über ein Jahr lang miteinander befreundet, bevor ich ihr den ersten Kuss geben durfte, sagt der Opa. Und es hat nochmals über ein Jahr gedauert, bevor ich zum ersten Mal ihr Elternhaus betreten durfte.

Warum musstest du denn so lange warten Opa, fragt der Michel.

Das war damals ebenso, Michel. Da schloss man nicht so schnell Freundschaften, so wie das in der heutigen Zeit üblich ist. Und die Stimme vom Opa ist wieder ganz freundlich.

Du bist über ein Jahr lang vor dem Haus von der Oma gestanden, Opa?

Bei Tag und bei Nacht?

Bei Regen und bei Schnee?

Bei Sturm und bei ganz heißer Sonne?

Ohne zu essen?

Ohne zu trinken?

Ohne zu schlafen?

Und ohne Pipi und Kacka zu machen?

Wie kann man bloß so dumm daher reden, Ännchen. Meinst du wirklich, dass der Opa über ein Jahr lang vor dem Haus herumgestanden und auf die Oma gewartet hat?

Aber der Opa hat doch gesagt, dass...

Ich kann es kaum glauben, dass ich so eine dumme Schwester habe.

Ich bin nicht dumm!

Bist du.

Bin ich nicht!

Bist du doch!

Zum Kuckuck und zum Geier aber auch, schimpft der Opa. Geht das Theater denn schon wieder los? Könnt ihr euch nicht einmal einen Tag lang vertragen miteinander? Wenn ihr zwei so weitermacht, werde ich euch nie wieder Geschichten erzählen. Das könnt ihr mir aber glauben. So wahr, ich Wilhelm Schäfer heiße!

Das glauben wir dem Opa aber nicht, er erzählt nämlich sehr gerne Geschichten. Und am liebsten Geschichten von der Oma. Der Michel zwinkert mir zu. Wir wissen natürlich genau, wie die Oma-Opa-Geschichte weiter geht. Und wir wissen genau, dass der Opa weitererzählen wird. Aber dieses Mal erzählt der Opa wirklich nicht weiter. Er schaut uns nur an. Und dann hebt der Opa seine Hand in die Luft und ruft die Kellnerin an den Tisch. Ich hätte gerne zwei Kugeln Vanilleeis, sagt der Opa. In einer Waffeltüte bitte. Und packen sie das Eis bitte gut ein, Fräulein. Es wird ein Weilchen unterwegs sein. Was der Opa wohl vorhat? Die Kellnerin kommt mit einem Paket zurück und legt es auf den Tisch. Vorsichtig, sagt sie. Und immer schön gerade halten! Das Eis bringen wir der Oma, sagt der Opa. Und wir eilen, so schnell wir können ins Pflegeheim zur Oma zurück. Und das Eis ist sogar noch heil, als der Opa es auspackt. Nur ein paar Tropfen rinnen an der Waffel runter.

Alle Gute zum ersten Kusstag mein Liebchen, sagt der Opa zur Oma. Er macht eine Verbeugung und überreicht der Oma die Eistüte. Ach Helmchen, sagt die Oma kopfschüttelnd. Du bist ja ganz vollgekleckert. Schau dir mal dein Hemd an. Wenn das nur mal keinen Ärger gibt.

In unserem Obstgarten blühen gerade die Kirschen. Und als ich zum Kräutergarten laufe, höre ich etwas rascheln. Ein Feldhase läuft vor mir davon. Es ist Frühling. Meine Lieblingsjahreszeit. Da könnte ich den ganzen Tag hüpfen und singen vor Freude. Weil die Welt so schön bunt ist. Im Kräutergarten blüht der Schopflavendel. Die Zitronenmelisse und die marokkanische Minze scheinen einen Wachstumswettkampf zu machen, meint die Mama. An einem Tag ist die Minze größer, am anderen Tag die Melisse. Das Currykraut ist auch schon kurz vor der Blüte und der Rosmarinbusch ist viel größer als im vorigen Jahr. Die Mama will Kräuterbutter aus unseren Kräutern machen. Ich freue mich schon darauf. Und der Opa auch. Er mag es, wenn die Kräuterbutter auf dem warmen Brot zerläuft. Aber er achtet darauf, dass er sich nicht vollkleckert. Sonst bekommt er nämlich Ärger mit der Mama. Die Mama schimpft oft mit dem Opa, weil der Opa immer den Badezimmerspiegel mit Zahnpasta vollspritzt und nie den Klodeckel zumacht. Und weil er seinen Teller auf der Spüle abstellt und nicht in die Spülmaschine einräumt. Und weil er den Boden vollkrümelt beim Brotessen. Und weil er sein Bett nie richtig durchschüttelt und lüftet. Aber der Opa kann gar nicht richtig streiten. Er ist ganz still, wenn die Mama mit ihm schimpft. Und die Mama hört auch ganz schnell wieder mit dem Schimpfen auf. Sie liebt den Opa nämlich fast genauso arg wie den Papa.

Der Papa und der Opa spielen Fußball im Hof. Und der Bello flitzt dem Ball hinterher. Der Bello mag Fußballspielen sehr. Er hat sogar schon einmal ein Tor geschossen. Und dann flitzt der Bello dem Papa durch die Beine. Und der Papa fällt ins Gras. Und die Mama kommt dazu und kitzelt den Papa. Und der Papa zappelt wie ein Marienkäfer auf dem Rücken. Und der Michel legt sich auf den Papa und die Mama. Und sie balgen wie verrückt. Ich balge nicht mit. Ich habe mein schönstes Kleidchen angezogen. Und meine neuen Lackschuhe. Und die weißen Kniestrümpfe. Weil wir noch zur Oma ins Pflegeheim fahren wollen. Die Mama hat ein Leberwurstbrot in Häppchen geschnitten. Und ein abgekochtes Ei. Und eine Essiggurke. Für die Oma. Weil die Oma das selbst gebackene Brot und die hausgemachte Leberwurst so gerne isst. Der Bello darf auch mit. Er sitzt schon auf der Rückbank im Auto und schaut aus dem Fenster. Der Bello fährt gerne Auto. Der Papa legt eine CD ein. Und wir singen alle mit. Und erst beim Aussteigen achten wir auf den Bello. Seine Schnauze ist mit Leberwurst verschmiert. Und der Vesperteller für die Oma ist leer. Auch die Gurke und das Ei sind in Bellos Maul verschwunden. Da gibt es nur eins Leute, sagt der Opa. Umdrehen, nach Hause fahren, neues Brot schmieren! Und wir fahren wieder nach Hause zurück und die Mama streicht ein neues Brot mit Leberwurstbrot für die Oma. Und sie würfelt nochmals ein abgekochtes Ei. Und schneidet eine Essiggurke in mundgerechte Stücke. Dann fahren wir wieder zurück ins Pflegeheim. Den Bello nehmen wir nicht mehr mit. Der muss zur Strafe zuhause bleiben. Und vor dem Pflegeheim müssen wir den Michel noch zur Schule fahren. Er hat nämlich eine Chorprobe.

Die Oma hat keinen Appetit. Und der Opa isst den Vesperteller auf. Er trinkt auch den Früchtetee von der Oma. Die Oma sieht nicht gut aus. Sie ist ganz gelb im Gesicht. Und die Mama und der Papa wollen lieber bei der Oma bleiben als Pizza essen zu gehen. Der Opa holt den Michel von der Schule ab. Und er kauft dem Michel eine Pizza zum Mitnehmen. Aber der Michel hat gar keinen Hunger. Er will gleich zur Oma. Ich laufe mit dem Michel über die Flure des Pflegeheims. Die Flure haben alle Blumennamen. Unsere Oma wohnt im Heckenweg. Und die Wände im Heckenweg sind voll behangen mit Omas Blumenbildern. Das sieht schön aus. Die anderen Flure sind nicht so bunt. An der Tür hängt ein Foto von der Oma. Der Papa hat das Foto von der Oma gemacht. Beim Blumenstraußbinden. Die Oma sieht schön aus auf dem Foto. Sie lacht und winkt.

3

Der Michel hat die Hausschuhe vom Opa versteckt. Der Michel macht oft Streiche mit dem Opa. Und der Opa macht die Streiche mit. Der Opa läuft im ganzen Haus herum, rauft sich die Haare und ruft: zum Kuckuck und zum Geier aber auch, wo habe ich denn bloß wieder meine Hausschuhe hingestellt. Kannst du mir bitte mal beim Suchen helfen, Ännchen? Dabei weiß der Opa ganz genau, dass seine Hausschuhe unter seinem Bett sind. Und er weiß auch ganz genau, dass ich nie unter sein Bett schauen würde. Weil da mal eine Maus gesessen hat. Und weil es unter dem Bett vom Opa so staubig ist. Und so viel Zeugs herumsteht.

Der Michel hat dem Opa einen Regenwurm unter das Kopfkissen gelegt. Das findet der Opa aber kein bisschen lustig. Und er schimpft den Michel tüchtig aus. Unter der Erde muss der Wurm sich vor dem Maulwurf verstecken, schimpft der Opa und über der Erde vor unserem Michel. Das arme Würmchen hätte ersticken können. Zum Kuckuck und zum Geier aber auch. Und so einer will einmal Tierarzt werden! Wenn es um das Wohl von Tieren geht, dann kann der Opa richtig zornig werden. Der Opa bekommt auch einen tomatenroten Kopf, als er bemerkt, dass der Michel ihm Salz in den Kaffee geschüttet hat. Da hört der Spaß auf Michel, schimpft der Opa. Mit Lebensmitteln herum zu panschen gibt es nicht. Nicht in diesem Haus! Der Opa schimpft nicht oft mit uns. Aber wenn er das tut, dann ist das ganz schlimm für den Michel und mich. Und für die Minka auch. Die ist das auch nicht gewohnt. Sie verkriecht sich immer unter den Tisch, wenn der Opa schimpft. Es ist keine Selbstverständlichkeit, Kaffee im Haus zu haben, sagt der Opa. In Notzeiten hätte ich manches dafür getan, um eine Tasse richtigen Kaffee trinken zu können. Wir haben Getreidekaffee getrunken. Ersatzkaffee. Und das auch nicht alle Tage. Der Opa erzählt eine lange Geschichte vom Kaffeeanbau. Dass der Kaffee mit den Händen gepflückt werden muss. Und dass in den Ländern die Kinder mitarbeiten müssen auf der Kaffeeplantage. Den ganzen Tag lang. Und dass die Kinder nicht genug zu essen und zu trinken bekommen. Und dass sie noch nicht einmal Unterhosen tragen. Weil sie so arm sind, dass sie gar keine Unterhosen haben.

Der Papa hat eine Hütte aus Holz für den Michel gebaut, da sperrt er den Michel ein, wenn er mal wieder über die Stränge geschlagen hat. Bei uns geht es zu wie auf dem Katthulthof, wo der Michel aus Lönneberga gewohnt hat, sagt die Mama. Aber so wild ist mein Bruder dann auch wieder nicht und die Hütte vom Michel hat zwei große Fenster. Und der Papa und die Mama wissen ganz genau, dass der Michel nicht wirklich weggeschlossen ist. Und der Michel weiß es natürlich auch. Der ist ja nicht blöd.

Die Mama will einen Teil der Scheune zu einem Ferienlager für Kinder umbauen. Das wird sehr spannend werden. Es sollen nämlich auch Kinder aus Peru kommen. Der Herr Pfarrer hat das organisiert. Zusammen mit meinem Religionslehrer. Ich weiß gar nicht, welche Sprache man spricht in Peru. Mach dir da mal keine Gedanken darüber Schneckchen, sagt der Papa. Ein freundliches Lächeln und eine liebevolle Gestik versteht man auf der ganzen Welt. Nur die Liebe zählt, mein süßes, kleines Schmetterlingsmädchen. Der Papa sagt oft Schmetterlingsmädchen zu mir. Und Prinzessin. Und Zuckerännchen. Und Krümelchen. Und Fröschchen. Und Schneckchen. Und Schnuckelchen. Und Mäuschen. Wenn der Papa zu mir Mäuschen sagt, werde ich wütend. Ich will nicht, dass der Papa mich Mäuschen nennt. Ich mag keine Mäuse! Das weiß der Papa doch. Und ich will auch nicht, dass er mich angrinst, wenn ich wütend bin. Auch der Michel grinst, wenn ich zornig bin. Und die Mama. Aber nur ein bisschen. Nur der Opa nicht. Der Opa ist mein Lieblingsmensch.

 

Ich will trotzdem wissen, welche Sprache man spricht in Peru, sage ich zum Opa. Und ich will italienisch lernen, damit ich mit den drei alten Leuten vom Schmitzhof reden kann. Die sind nämlich ganz lieb. Sie gehen sogar manchmal mit zur Oma ins Pflegeheim. Obwohl sie mit der Oma gar nicht sprechen können. Sie singen ihr halt was vor. Und die Oma freut sich immer sehr darüber. Ich will Klavierspielen können! So gut wie der Herr Kugler. Und ich will Mundharmonika spielen können. Und Geige. Und Gitarre. Ich denke, ich will einmal Musikerin werden. Am Theater in der Großstadt vielleicht. Und ich will so schöne Blumenbilder malen können wie die Oma.

Meiner Mama gefällt es sehr, eine große Kinderschar um sich zu haben. Und dem Opa auch. Der Michel und ich dürfen oft unsere Schulfreunde und Schulfreundinnen zu uns nach Hause einladen. Die Mädchen und Jungen dürfen auch oft bei uns übernachten. Und die Mama macht Spiele mit uns und liest Geschichten vor. Und sie spielt auf der Flöte. Und wir singen und tanzen. Und auch der Papa und der Opa haben viel Spaß mit den Freunden vom Michel und mir. Sie spielen immer Fußball mit den Jungs. Schade, dass ich nicht noch mehr Enkelkinderchen habe, sagt der Opa. Eine eigene Enkelkinderfußballmannschaft das wäre schon was. Und der Papa lacht. Was nicht ist, kann ja noch werden. Und da muss auch die Mama lachen.

Der Michel sitzt wieder einmal in der Hütte. Er hat die Hände vor dem Gesicht verschränkt und weint. Ich spähe durchs Fenster. Ich weiß nicht, ob ich in die Hütte reingehen und den Michel trösten soll. Ich weiß auch nicht, was er angestellt hat. Es wird etwas Schlimmes gewesen sein, sonst würde der Michel nicht so bitterlich weinen. Ich gehe ins Haus zurück. Und der Opa holt den Michel aus der Hütte. Und der Opa erzählt uns eine Geschichte von früher. Wie es war, als er der Oma den Heiratsantrag gemacht hat.

Es war am ersten Mai, erzählt der Opa. Ich war schon drei Jahre lang mit der Oma zusammen. Im Dorf gab es ein Maifest. Und die unverheirateten Burschen hatten den Maibaum gestellt. Er war mit buntem Krepppapier geschmückt. Und auf der Krone des Baumes hing ein Kranz. Und es flatterte eine weiße Schleife im Wind. Und auf der Schleife stand Marie. Der Rudolf wollte der Marie nämlich einen Heiratsantrag machen. Da dachte ich mir, was der Rudolf kann, das kann ich auch. Ich habe mich also in der Umgebung nach einem schönen Birkenbaum umgesehen. Ich bin alle Ortschaften angeradelt, habe dann auch einen schönen Baum entdeckt. Er stand vor dem Rathaus. Und ich kam in große Versuchung. Am liebsten hätte ich den Baum mitgenommen. Es fiel mir schwer, weiter zu radeln, sagt der Opa. Sehr schwer! Das könnt ihr mir aber glauben, Kinder. Und der Michel nickt. Am Rande des Waldes lagen auch ein paar schöne Birkenbäume, erzählt der Opa weiter. Aber es wäre Diebstahl gewesen, wenn ich eines der Bäumchen mitgenommen hätte. Und der Michel nickt wieder. Ich habe dann kurzerhand einen dicken Ast von dem Haselnussbaum hinter unserem Haus abgeschnitten und Fliederzweige daran festgebunden, erzählt der Opa weiter. Und Butterblumen, Margeriten, Klatschmohn und alle möglichen Gräser. Krepppapier konnte ich keines auftreiben, so nahm ich eben Toilettenpapier für die Schleifen. Und auf jede Schleife habe ich in roter Schrift geschrieben: Ich liebe dich Anna. Willst du meine Frau werden? Da müssen der Michel und ich arg lachen. Wie immer, an dieser Stelle. Meine Eltern haben einen gehörigen Lachanfall bekommen, als sie den Maibaum für mein Liebchen sahen, erzählt der Opa weiter. Aber das Ännchen weinte vor Rührung. Und sie nahm meinen Heiratsantrag an. Danach bat ich die Eltern um die Hand ihrer Tochter. Und die sagten auch ja. Der Opa strahlt wie ein Honigkuchenpferd am Weihnachtsbaum. Wie immer, an dieser Stelle. Dann erzählt er weiter. Zur Feier des Tages tranken wir zusammen ein Glas Apfelmost. Und ich durfte du zu meinen zukünftigen Schwiegereltern sagen. Und Fritz und Emma. Anschließend fuhren die Oma und ich mit dem Fahrrad zum Tanz aufs Maifest. Die Feuerwehr im Nachbarort lud dazu ein. Eure Oma war es nicht gewohnt Alkohol zu trinken, lacht der Opa. Sie hatte einen kleinen Schwips. Sonst hätte sie sich auch nicht allein auf die Tanzfläche getraut. Den Burschen standen die Münder offen, als die Oma getanzt hat, sagt der Opa. Und der Opa lacht ganz froh. Und ich auch. Die Geschichte von dem Heiratsantrag ist eine meiner Lieblings-Opa-Oma-Geschichten. Und der Opa weiß das ganz genau. Er streichelt über meinen Kopf, sagt Zuckerännchen, mein liebes, liebes Zuckerännchen. Die Oma tanzte geschmeidiger noch als eine Elfe, erzählt der Opa weiter. Und alle Menschen schauten ihr zu. Sie klatschten den Rhythmus der Musik mit. Sogar der Rudolf. Der hatte gar keine Augen mehr für seine Marie. Ich bin fast geplatzt vor Stolz, dass die schöne, stolze Anna meine Frau werden sollte. Und der Opa seufzt. Glücklich. Und er streichelt dem Michel über den Kopf. Wie immer, an dieser Stelle. Und der Opa gibt dem Michel einen dicken Schmatz auf den Kopf. Obwohl er ganz genau weiß, dass der Michel nicht geküsst werden will. Am nächsten Tag schon sind wir mit dem Fahrrad in die Stadt gefahren, sagt der Opa. Und wir haben im Rathaus die Heirat beantragt. Danach ging es zum Pfarramt. Die Hochzeit sollte so bald wie möglich stattfinden. Wir konnten es nicht erwarten, endlich ein Ehepaar zu sein. Zur damaligen Zeit durfte man nämlich nicht miteinander kuscheln, wenn man nicht verheiratet war. Der Opa hat aber trotzdem mit der Oma gekuschelt. Das weiß ich ganz genau. Aber das ist ein Familiengeheimnis.

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