Kompetenzentwicklung und Mehrsprachigkeit

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4.2.2 Kulturelle und soziale Rekontextualisierung

In der mehrsprachigen Kommunikation sind multiple kulturelle und soziale Kontextualisierungen vorhanden, daher muss gemeinsame Bedeutung im Diskurs erst gefunden und neue Symbole erschaffen werden, damit Kommunikation funktionieren kann. Andererseits ist zu tolerieren, dass manchmal Kommunikation eben nicht möglich ist. Zu berücksichtigen ist dabei, dass das mehrsprachige Subjekt unterschiedliche Sprachrollen einnehmen kann. Dazu ist nicht nur der gegenwärtige Rahmen nötig, sondern auch die kulturelle und geschichtliche Vielfalt, die die einzelnen Sprachen mit sich bringen, gebunden an die Subjektivität des Einzelnen, seiner ganz persönlichen Auslegung der Symbole, seiner Erinnerungen und Visionen (Kearney 2016: 47).

Diese Intersubjektivität ist laut Kramsch gleichzustellen mit Intertextualität (Kramsch 2009: 20). Intersubjektives Handeln im mehrsprachigen Kontext befähigt die Lernenden in erhöhtem Maße, Genres und ihre Eigenschaften in den verschiedenen Sprachen zu erkennen, sie zu vergleichen und in ihren mehrsprachigen Gesprächspraktiken zu nutzen, indem sie bewusst ins Gespräch eingebaut, vermischt, neu interpretiert oder parodiert werden. Laut Kramsch gehören Genres zum Sprachhabitus. Sie prägen sich durch ihren routinemäßigen Gebrauch in die mentalen Skripts ein und werden als selbstverständlich angenommen, sie formen unsere mentalen Muster und Denkweisen, ohne dass wir uns dessen bewusst werden, dabei erleben wir die Welt durch sie. Sie prägen das Denken und die Wahrnehmung der Welt mit, ohne dass ein Bewusstsein darüber entstehen kann.

Die Sprecher eignen sich Genres und ihre Eigenschaften im Gespräch an, um ihrem Selbst in vielfacher Hinsicht Ausdruck zu verleihen, denn sprachliche Interaktion kann „response to some remembered or anticipated utterance, it might be a mythic, ritualistic, phatic or ostensible statmetn (ibid. 20) sein. Identität begründet und äußert sich im Diskurs durch das Erzählen der eigenen Geschichte und der Geschichten anderer. Sie ist gebunden an Texte in ihrer vielfachen Ausprägung (geschrieben, gelesen, vorgetragen) und ihrem symbolischen Gehalt. Durch sie positioniert sich das Subjekt in seiner Umgebung, es kann sich selbst in seiner Ganzheit ausdrücken. Im mehrsprachigen Diskurs kann es sich gleichzeitig innerhalb und außerhalb des eigenen Diskurses und der Diskurse anderer positionieren und in der Spannung zwischen Text und Kontext Bedeutung neu rahmen und neu kontextualisieren. Erfundene und reale Welten sind hier gleichwertig, da beide in die subjektive symbolische Realität des Einzelnen eingeschrieben werden. Das symbolische Selbst entsteht durch das Erzählen aus der Spannung zwischen bekannter und neuer unkonventioneller Interpretation von Zeichen. Dieses Fluktuieren zwischen den Sprachen und Kontexten bezeichnet Kramsch als Third Space (Kramsch 2011: 359; Kearney 2016: 46).

Dabei vermitteln die Sprechenden nicht nur zwischen sozialen Normen und pragmatischen Gegebenheiten, sondern auch zwischen ihrem Körper und ihrem Geist, zwischen sich selbst und den anderen (Kramsch 2009: 76). Mehrsprachiges generisches Lernen befähigt die Lernenden, zwischen den verschiedenen symbolischen Welten zu vermitteln, sich spielerisch zwischen diesen Welten zu bewegen und diese miteinander zu vernetzen und zu vermischen. Es befähigt Lernende, die Möglichkeiten und Grenzen auszuloten, wenn Erfahrungen von einer Sprache in die andere übertragen werden. Sie können erfahren, was es bedeutet, wenn sich die symbolischen Referenzsysteme für Erfahrungen ändern, oder sie können sich auf unterschiedliche Erzähltraditionen berufen und spielerisch damit umgehen (Kramsch 2009: 151).

Laut der Blended Space Theory von Fauconnier und Turner ist Sprache von Natur aus metaphorisch, das heißt, dass Umstände und Handlungen durch das Zusammenführen mentaler Bilder beschrieben werden (Turner & Fauconnier 2002: 37). So hat z.B. das Wort independence für eine japanisch/deutsche Lernende in einem englischsprachigen Kontext eine Reihe von metaphorischen Bedeutungen, die durch den mehrsprachigen Entfremdungseffekt kritisch reflektiert werden können und durch Blending neue metaphorische Bedeutung bekommen (Kramsch 2009: 50). Es können durch Blending unterschiedlichste soziale, moralische, psychologische und geschichtliche Aspekte verschiedener Sprachen überlappt werden, um Bedeutung zu schaffen oder einzelne Aspekte der Bedeutung hervorzuheben. Blending ist an vergangene und gegenwärtige Erfahrungen und deren Manipulation gebunden.

4.2.3 Ambiguitätstoleranz in multiplen Diskursen

Mehrsprachigkeit bereichert Kommunikation durch eine Vielzahl an neuen Ressourcen, die aber auch Ambiguitäten mit sich führen können. So muss Mehrsprachigkeit in einer von multiplen Diskursen geprägten Gesellschaft, in der Massenmedien, Politik und Unterhaltungsindustrie in zunehmendem Maße an Macht gewinnen und Bedeutung formen, die Mechanismen der Bedeutungskonstituierung und Veränderung erkennen und hinterfragen. Daher ist es wichtig, dass Lernende Texte und Genres kulturell und geschichtlich verorten können, um zu erkennen, wie diese im Prozess des Erzählens an neue Umstände und Gegebenheiten angepasst und somit in ihrer Bedeutung verändert werden, indem sie rekontextualisiert werden (Kramsch 2006: 251, 2011: 355). MKK bedeutet, mit den Gegensätzen der modernen Gesellschaft umzugehen lernen, indem semiotische Zeichen in ihrer Vielfalt erkannt und richtig interpretiert werden. Es bedeutet aber auch, Ambiguität aushalten zu können, die diese semiotische Vielfalt verursacht, und sich die folgenden Fragen zu stellen: Wer hat das geschrieben? Welche Haltungen bzw. Absichten stecken dahinter? Zu welchem Zweck? Warum ist es in dieser Sprache geschrieben? Warum sind bestimmte Wendungen in einer Sprache möglich und in einer anderen nicht?

Die Grenzen der semiotischen Ambiguität können überwunden werden, wenn dem ästhetischen Aspekt des Sprachenlernens mehr Wichtigkeit beigemessen wird. In einer mehrsprachigen Lernumgebung können Lernende laut Kramsch „draw on the formal semiotic an aesthetic resources afforded by various symbolic systems to reframe these contradictions and create alternative worlds of their own“ (Kramsch 2009: 22). Sie können Wörter und Genres, die für sie in ihrer Konventionalität noch nicht definiert sind, mit neuer Bedeutung anreichern, indem unkonventionelle Verbindungen zu Form, Laut und Ähnlichkeiten hergestellt werden. Dies geschieht beim Versuch der Lernenden, die sie umgebende mehrsprachige Welt zu verstehen, indem Realität durch die Vermischung und Interpretation neuer und fremder symbolischer Formen neu konstruiert wird. Auf die gleiche Weise wird auch ihre Identität und Subjektivität neu konstruiert. Die Wahrnehmung von symbolischen Formen jenseits der Funktion von Sprache als Kommunikationsinstrument führt zu der Erkenntnis, dass Sprache laut Kramsch auch „an exotic and mysterious world of desire, escape, empowerment, and transformation“ ist – eine Welt also, in der jenseits von Kognition tiefe, teils unbewusste rituelle und symbolische Akte vollzogen werden. (ibid.: 43)

Kristeva unterscheidet zwischen einer semiotischen, vorsprachlichen Bedeutungswelt, in der Stimmen, Symbole, Gesten, Farben und Rhythmus vorherrschen, und einer symbolischen Welt, in der sich Bedeutung geschichtlich entwickelt und klar kodifiziert ist. Die symbolische Sprache wird vom Kind im Übergang zur Erwachsenenwelt erworben. Es bleibt aber eine Welt ohne Worte in jedem erhalten, als Erinnerung an die Kindheit. Das veranlasst den Menschen, sich ständig zwischen diesen beiden Welten zu positionieren. Er befindet sich daher an Grenzen, er ist von Natur aus Grenzgänger und hat sich ständig in Frage zu stellen, da er in der symbolischen Welt nicht zu Hause ist (Kristeva 1980: 99f.). Durch kreativen mehrsprachigen Sprachgebrauch, mehrsprachige Spielereien von Lernenden und deren poetischen Gehalt kann die semiotische vorsprachliche Bedeutungswelt durchdrungen und die symbolische Ordnung umgestaltet werden (Kramsch 2009: 98). Die Polysemie von Wörtern, ihre Bezugnahme auf unterschiedliche Referenzsysteme und nicht zuletzt der intertextuelle Umgang mit Genres sind Instrumente, die zur Umgestaltung der symbolischen Ordnung von mehrsprachigen Sprechern genutzt werden können. Die Vorliebe für poetische Formen und metaphorische Sprache beim Erzählen von Geschichten zeugt davon, dass der Erwerb fremder symbolischer Formen tief im kindlichen Gedächtnis verankert ist. Mehrsprachige Lernende erleben einerseits die Not, sich in einem fremdem Symbolsystem zurechtfinden zu müssen, andererseits können sie dieses symbolische System eben durch ihre Fremdheit in seiner Konstitution erkennen und aufbrechen und sich in das semiotische zurückversetzen. Dabei kommen Ironie, Entfremdung und Humor mit ins Spiel, aber auch Rhythmus und Klang. Es können allgemein für wahr geltende Annahmen und Überzeugungen in Frage gestellt werden.

In diesem Sinne entsprechen Sprachen unterschiedlichen Zeitachsen, die gebunden sind an den Zeitpunkt, zu dem die Sprachen erworben wurden und daran, wie sie sich später weiter entwickelt haben. Daraus ergibt sich, dass Sprachen unterschiedliche Zeitwahrnehmungen innewohnen: die Sprache des Berufes, der Schule und die Sprache der Familie. Diese Wahrnehmungen können sich in der Mehrsprachigkeit ausdehnen und zusammenziehen, wodurch unterschiedliche Resonanzen entstehen, die, verbunden mit Emotionen, dem Selbst die Erfahrung der Erweiterung ermöglichen (Kramsch 2009: 71).

4.3 MKK und Sprach(en)bewusstheit

Wie bereits in Kapitel 2 vorweggenommen, stellt der FREPA eine sehr große Anzahl von Indikatoren für die Erhebung mehrsprachiger Kompetenz zur Verfügung. Dabei werden alle Sprach(lern)erfahrungen zu einem mehrsprachigen Repertoire zusammengefasst. Dieses Repertoire gilt es zu mobilisieren und bewusst zu machen, um es aktiv im Sprachlernprozess nutzen zu können (Martinez 2008: 83; Prokopowicz 2017: 23). Das mehrsprachige Repertoire wird so zur Kompetenz, mittels welcher deklaratives bzw. prozedurales Wissen und persönliche Ressourcen aktiviert werden. Metakognitive Fähigkeiten und Sprach(en)bewusstheit spielen in diesem Zusammenhang bei der Beobachtung des eigenen Sprachlernverhaltens eine wesentliche Rolle (cf. 2.3.). Sie dienen als Instrument zur Automatisierung sprachlichen Wissens und folglich zur Beschleunigung des fremdsprachlichen Aneignungsprozesses.1 Der prozessorientierte Kompetenzerwerb wird durch Sprach(en)bewusstheit erst ermöglicht. Es handelt sich dabei laut Gutzmann (1997) um eine auf fast alle anderen Kompetenzbereiche übergreifende Teilkompetenz und versteht sich im Spracherwerb als die Fähigkeit, Sprache(n) analytisch zu hinterfragen. Dabei kristallisieren sich fünf Bereiche heraus, die durch Sprachen(en)bewusstheit eine Veränderung erfahren können: ein affektiver Bereich, ein sozialer, ein politischer, ein kognitiver und eine Performanz-Domäne. Die affektive Domäne besteht aus Gefühlsäußerungen, Haltungen und Einstellungen gegenüber Sprachen (vgl. James & Garett 1992; Eichler & Nold 2007).

 

4.3.1 Die performative und soziale Dimension

Der Begriff Sprach(en)bewusstheit wird zunächst mit der Performanz-Domäne in Verbindung gebracht, da Fehleranalyse und Autokorrektur durch erhöhte Aufmerksamkeit und Kognition ermöglicht werden. Durch Sprach(en)bewusstheit kann laut Burwitz-Melzer (Burwitz-Melzer 2012: 29) auch transkulturelles Lernen initiert und gefördert werden. Die Lernenden erkennen, dass der Sprachlernprozess eine starke emotionale Komponente mit sich führt, die die Lernbereitschaft stark beeinflussen kann. Sie können erfahren, dass Sprachen politisch und sozial geprägt und sich demzufolge geschichtlich entwickeln und umgekehrt durch geschichtliche Entwicklungen stark beeinflusst werden. Dies führt letztlich zur Akzeptanz unterschiedlicher Sprachen, Sprachvarietäten, Kulturen und Minderheitenkulturen. Denn Sprach(en)bewusstheit oder Language Awareness in seiner sozialen und politischen Dimension umfasst auch das Hinterfragen von Machtverhältnissen zwischen Sprachen, Sprechern, sozialen Schichten, Kulturen und nicht zuletzt Genderproblematiken (ibid.: 29; vgl. hierzu auch Morkötter 2004: 28ff.).

Sprach(en)bewusstheit als Teilkompetenz und Instrument zur Kognitivierung kann sich in einem mehrsprachigen Lernprozess am besten entfalten, da hier Sprachen einerseits eng miteinander in Verbindung gebracht, aber auch verglichen und in ihren Besonderheiten geschichtlicher und sozialer Natur erkannt und kritisch hinterfragt werden können. Bevorzugt wird hier jedoch nach wie vor die Performanz-Domäne, wie bei der Ausrichtung der didaktischen Ansätze ersichtlich wird. Auch Krumm rückt ganz in diesem Sinne die „Bündelung sprachbezogener Lernprozesse“ (Krumm & Reich 2012: 87) in den Mittelpunkt. Diese begünstigt laut Königs (Königs 2012: 77) den Sprachlernprozess und wirkt sich motivationsfördernd und hilfreich auf das Lernen aus, da vorgelernte Wissensbestände aktiviert werden. Allerdings wird wie in der Interkomprehensionsdidaktik auch hier betont, dass eine solche Beschleunigung des Lernprozesses nur innerhalb typologisch ähnlicher Sprachen möglich ist (ibid.: 77 und 79), da die Brückensprachenfunktion nur zwischen typologisch eng miteinander verwandten Sprachen gelingen kann. Eine Meinung, die in dieser Form nicht geteilt werden kann, da Sprachlernstrategien und mehrsprachige kommunikative Kompetenz, wie in der vorliegenden Studie gezeigt wird, sich auch in einer heterogenen Sprachkonstellation entfalten können und unabhängig von der Sprachtypologie übergreifend zur Anwendung kommen (Budde 2016: 1).

Das Konzept der Metalinguistic Awareness (Bono 2011 a; Herdina & Jessner 2002; Gibson & Hufeisen 2011) ist der Versuch, das Konzept der Sprachbewusstheit auf der Performanz-Ebene bei mehrsprachigen Menschen zu umschreiben. Die Mehrsprachigkeitsforschung sieht einen klaren qualitativen Unterschied zwischen dem Erwerb von L2 bzw. L3-Lx. Dieser sog. Multilingual Factor (Sanchez 2011: 86) stellt ein Bündel an Kompetenzen und Strategien dar, die bei mehrsprachigen Lernenden (besser) ausgebildet sind und diese klar von einsprachigen unterscheiden: Dazu gehören höhere strategische Kompetenzen, die Fähigkeit, Probleme in der Kommunikation vorherzusehen, ein Repertoire an Fertigkeiten, um mit Unzulänglichkeiten sprachlicher bzw. kommunikativer Natur umzugehen, die Fähigkeit, sprachliche Strukturen selektiv zu analysieren und diese als Problemlösungsmöglichkeiten einzusetzen und insgesamt eine erhöhte Aufmerksamkeit und ein ständiges Monitorisieren des gesamten Sprachverarbeitungs- und Produktionsprozesses vonseiten des mehrsprachigen Sprechers. Dieses sog. Language Monitoring ermöglicht eine teils bewusste und teils unbewusste Überwachung aller mentalen sprachlichen Prozesse zum Zweck der Fehleranalyse und Korrektur sowie der Kommunikationsoptimierung (Bono 2011a: 25; Bialystok 2001:126). Allerdings ist es nicht selbstverständlich, dass sich diese Fähigkeiten auf Spracherwerb und Erhalt positiv auswirken, da häufig das Bewusstsein darüber fehlt und diese daher für die Lernenden oft eher als Hemmung wahrgenommen werden (Bono 2011a: 26). Der mehrsprachige Unterricht soll eben diesen Bewusstwerdungsprozess und die Entfaltung der Language Awareness / Metalinguistic Awareness durch soziales Lernen in heterogenen Arbeitsgruppen bei mehrsprachigen und einsprachigen Lernenden initiieren und unterstützen.

Eine weitere wichtige wissenschaftliche Erkenntnis zur Sprach(en)bewusstheit im Bereich der Mehrsprachigkeitsforschung ist, dass mehrsprachige Lernende dazu neigen, für einen Transfer nicht ausschließlich auf L1 zurückzugreifen, sondern häufig die nachgelernte Sprache L2 vorziehen: Der Grund dafür liegt darin, dass L2 im Gegensatz zu L1 bewusst erworben worden und daher leichter abrufbar ist. Da bei L1 der Spracherwerb fast ausschließlich unbewusst ist, wird diese nicht als Fremdsprache wahrgenommen. L2-Ln werden als Fremdsprachen bewusst erworben und daher von den Lernenden für einen Sprachvergleich als geeigneter empfunden als L1 (Herdina & Jessner 2002: 79; Müller-Lancé 2003: 178f.; House 2004: 64). Dieser sog. L2-Faktor führt dazu, dass sich der Erwerb einer dritten Sprache von dem einer zweiten grundlegend unterscheidet (vgl. Cenoz 2013). Unterschiedliche Vergleichsstudien haben gezeigt, dass frühe Zweisprachigkeit sich auf den Erwerb einer dritten Sprache positiv auswirkt (vgl. Lasagabaster 1997, 2006; Ringbom 2011; Safont 2003; Sanz 2000). Es wird belegt, dass ProbandInnen in Englisch L3 umso höhere Leistungen erzielen, je höher das Niveau in L1 und L2 ist (z.B. Lasagabaster 1997; Muñoz 2000; Sagasta Errasti 2003). In Studien, in denen mehrsprachige ProbandInnen Regeln einer künstlichen Sprache herausfinden mussten, erzielten sie höhere Resultate (z.B. Kemp 2009). De Angelis & Jessner untersuchten Schreibkompetenzen dreisprachiger ProbandInnen in Südtirol (De Angelis & Jessner 2012). Es stellte sich heraus, dass das Kompetenzniveau in der Drittsprache mit der Schreibkompetenz in L1 und L2 korreliert. Für diese Studie erwies sich als relevant, dass der L2-Faktor und seine Auswirkung auf den nachfolgenden Spracherwerb sehr stark von der Psychotypologie der Sprachen beeinflusst wird.1 Wird L2 als ferne und unerwünschte Sprache wahrgenommen, dann erschwert das folglich auch den Transfer von L2 auf L3/Lx. Je nach Zusammensetzung der DLC kann dies unterschiedliche Auswirkungen auf den nachfolgenden Spracherwerb haben.

4.3.2 Die emotionale Ebene

Die besondere DLC Südtirols hat zur Folge, dass L2 in fast allen Fällen Italienisch ist, zweisprachige Lernende erwerben diese im Familienumfeld von klein auf und können alle Vorteile nutzen. Einsprachig aufgewachsene Lernende hingegen erwerben Italienisch erst als erste Schulfremdsprache im Alter von 6 Jahren. Wie sich L2 auf den Erwerb weiterer Sprachen auswirkt, ist abhängig von der Haltung gegenüber dieser Sprache im Elternhaus und der sozialen Umgebung (Lasagabaster & Huguet 2006; Krumm 2003). L3 hingegen ist in der Regel Englisch. Es wäre hier im Unterricht naheliegend, L2 Italienisch als Brückensprache für L3 Englisch heranzuziehen.1 Daher wäre es nötig, L2 Italienisch für alle Lernenden abrufbar zu machen, indem die psychotypologische Wahrnehmung verändert wird. Ein Bewusstsein darüber, wie unterschiedlich Sprachen den Erwerb von L1 und L2 beeinflussen und über die Wichtigkeit von L2 für alle nachgelernten Sprachen, könnte diesbezüglich behilflich sein und wird in diesem Sinne auch einen Aspekt der MKK darstellen.

Über diese kognitiven Aspekte der Sprach(en)bewusstheit hinaus soll in der vorliegenden Studie zudem anhand der einzelnen Fallstudien aufgezeigt werden, inwiefern in heterogenen mehrsprachigen Arbeitsgruppen vorgelernte Einstellungen und Haltungen durch den Vergleich und die Interaktion mit anderen sich positiv verändern können. MKK bedeutet in diesem Fall besonders, dass Lernende die eigene Sprachbiographie im Vergleich mit anderen kritisch reflektieren und sich der eigenen Haltungen und Emotionen gegenüber Sprache(en) bewusst werden. Besonders für einsprachige Lernende bedeutet dies, Erfahrungen und Haltungen mehrsprachiger Lernender zu erkennen und anzunehmen und die eigenen dadurch zu ändern, um am mehrsprachigen Gespräch aktiv und selbstwirksam teilnehmen zu können.

Dazu ist für die Operationalisierung von mehrsprachigen Unterrichtsformen erforderlich, dass die sprachliche Identität der Lernenden – ihre Sprachbiographie – in den Mittelpunkt gerückt werden (De Florio-Hansen & Hu 2003b: VIII), denn Lernende verbinden mit Sprachenlernen nicht nur schulischen Erfolg, auch viele andere Faktoren sind von erheblicher Relevanz. So gilt es zum Beispiel, die biographische Sprachabfolge der einzelnen Lernenden, die ein komplexes persönliches Sprach- und Emotionsgefüge darstellt, zu berücksichtigen. Jede neu erworbene Sprache verschafft Zugang zu neuen Welterfahrungen und somit neuen, auch hybriden Ausdrucksformen und Vernetzungen der Realitätswahrnehmung. Der Erwerb der zweiten Sprache geht bereits mit der Erkenntnis einher, dass die eigene Identität nicht unveränderlich und starr ist, sondern sich entwickeln, verändern und erweitern kann (vgl. Javier 2007: 30). Dieses Bewusstsein wird mit jeder weiteren Sprache erweitert und wächst in seiner Komplexität (vgl. Krumm 2012: 88; Königs 2012: 79). Auch diese Form der Sprach(en)bewusstheit macht MKK aus, das Bewusstsein nämlich, dass jeder Sprechende eine ganz individuelle Sprachbiographie hat (vgl. Krumm 2001, der bei Kindern sehr erfolgreich mit Sprachenportraits arbeitet), dass mit dieser bestimmte Haltungen und Emotionen verbunden sind, die seine Sprachhandlungen ausmachen und ohne deren Verständnis Kommunikation nur zum Teil gelingen kann (zu Sprache und Emotion siehe folgendes Kapitel). Diese bislang in der Forschung unbeachteten Aspekte der Sprach(en)bewusstheit wie die kreative Dimension des Sprachenlernens, affektive Aspekte und soziales Lernen im mehrsprachigen Umfeld sowie die symbolische Dimension (cf. 4.2.1.) sind in der vorliegenden Untersuchung Bestandteil der Modellierung einer MKK.