Larissas Geheimnis

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»Alle Unterlagen komplett, auch ein persönlicher Brief Ihrer Tante ist dabei.«

Sie sprang auf und schüttete den Inhalt des Umschlags auf den Tisch. Das Testament ihrer Tante und ein schmaler Umschlag mit ihrem Namen. Mit zitternden Fingern öffnete sie ihn.

Geliebte Frauke, mein Kind.

Tränen rannen Frauke über das Gesicht, die Worte verschwammen vor ihren Augen, und sie wischte sich energisch durchs Gesicht, bevor sie weiterlas.

Sei nicht traurig, ich werde immer bei dir sein. Als ich dich mit nach Bielefeld nahm, war es der Wunsch deiner Mutter und meine Pflicht, aber du bist mir ans Herz gewachsen, mehr als ich je geglaubt habe, bleib‘ wie du bist und lass dich niemals irremachen in deinen Vorstellungen.

Für immer Larissa, die auch deine Mutter war. Gott schütze dich.

Am Ende des Briefes war ein Nachsatz.

‚Deine Mutter hat ihr Geheimnis nie verraten, aber ich finde, du musst die Wahrheit wissen. ‚

Darunter standen eine Zahlenkombination und der Hinweis auf den Safe.

Frauke hatte plötzlich das Gefühl beobachtet zu werden. Die Wohnung lag im Parterre, sie trat ans Terrassenfenster und spähte hinaus. Nichts zu sehen, nur die Silhouette der Sparrenburg hob sich über den hohen Bäumen ab, die die Wohnanlage umsäumten, trotzdem ließ sie die Rollläden hinunter. Die Unterlagen des Notars packte sie wieder in den Umschlag und verstaute sie in ihrer Handtasche, den Brief der Tante steckte sie in ihre Hosentasche.

Bevor sie die Wohnung verließ, räumte sie ordentlich auf. Der Tresor ließ sich mit dem Code leicht öffnen. Er enthielt ein Familienbuch, Fotos, mehrere ordentlich gebündelte Briefe und einen länglichen, braunen Umschlag. Frauke nahm alles an sich, verschloss den Safe sorgfältig und verließ, sich vorsichtig umschauend, die Wohnung.

Hauptkommissarin Mira Wiedemann saß an ihrem Schreibtisch in dem kleinen Büro in Hooksiel, wo das Kommissariat während der Umbauarbeiten in Wilhelmshaven ein freudloses Dasein fristete. Alle Kollegen waren in Urlaub und ausgerechnet jetzt, wo sie sich auf eine ruhige Zeit bis zu ihrer Pensionierung eingerichtet hatte, musste sich eine Fremde umbringen lassen. Missmutig betrachtete sie die Fotos des Polizeifotografen vom Tatort und sog dabei heftig an ihrer Zigarette, als läge die Erkenntnis im Tabakrauch. Es klopfte. Ihr Mitstreiter, Thorben Weller, kam zur Tür herein und warf ihr einen Stapel Briefe auf den Schreibtisch, was ihre Laune nicht unbedingt hob.

»Ich habe sie alle gelesen, keine Anhaltspunkte, nur so‘n süßlicher Liebesquatsch. Außerdem sind die Briefe uralt.«

»Noch lange kein Grund sie mir auf den Schreibtisch zu werfen«, zischte Mira und drückte ihre Zigarette aus.

»Haben Sie die Kollegen in Bielefeld kontaktiert?«

Thorben nickte.

»Fehlanzeige. Ein unbeschriebenes Blatt, diese Larissa Norton. Lehrerin, ledig, keine Kinder, einzige Angehörige die Nichte Frauke Thomas. Hat übrigens die Wohnung der Alten geerbt, dahinter sollten wir uns klemmen.«

»Dummes Zeug, sie war in der Pizzeria mit diesem Friedrich Lust, das Alibi steht.«

Thorben holte tief Luft und überlegte, ob er nicht einfach am nächsten Tag blaumachen sollte. Die Zusammenarbeit mit der Wiedemann entwickelte sich zu einem echten Horrortrip, so hatte er sich die Praxisanleitung während der Ausbildung nicht vorgestellt. Sein Gedankengang war noch nicht zu Ende, als Mira Wiedemann sich erkundigte:

»Haben Sie Lust schon überprüft?«

»Ich denke, äh, Sie wollten das übernehmen.«

»Das könnte Ihnen so passen, hier den lauen Lenz zu schieben«, schnaubte Mira. »Wir haben einen Mordfall, vergessen Sie das nicht. In einer Stunde will ich das Ergebnis.«

Er war schon in der Tür, als sie ihn zurückrief:

»Recherchieren Sie gründlich, nicht so schlecht wie bei der Norton.«

»Wieso?«

Verdattert sah er sie an.

»Die Norton hat noch eine Schwester. Ist Ihnen beim Lesen der Briefe nicht aufgefallen, dass sie von zwei verschiedenen Personen geschrieben wurden?« Thorben kam zurück.

»Aber, ich dachte ...«

Mira schnitt ihm das Wort ab.

»Sie sollen nicht denken, sondern ordentlich recherchieren, verdammt.«

Thorben sah ihre blauen Augen, die ihn durchbohrten wie giftige Pfeile und verschwand wortlos. Empört blickte sie ihm nach und griff erneut zu ihrer Zigarettenschachtel. Ausgerechnet diesen Anwärter hatte man ihr aufs Auge gedrückt.

Sie dachte den Tag ihres sechzigsten Geburtstages. Der Polizeidirektor hatte ihr mit einem Blumenstrauß gratuliert und gemeint:

»In Hooksiel haben wir extra für Sie ein kleines Kommissariat eingerichtet, da werden Sie von den Bauarbeiten nicht gestört und können jeden Mittag einen schönen Strandbummel machen.«

Alle Kollegen hatten gelacht und waren kurz darauf in Urlaub gefahren. Nicht, dass es ihr etwas ausgemacht hätte, allein zu sein, aber mit einem Mord hatte sie nicht gerechnet, noch weniger mit einem Anwärter, der sich mehr als dumm anstellte. Gefrustet befasste sich Mira wieder mit den Tatortfotos und dem Bericht der Spurensicherung. Bisher gab es keinerlei Erkenntnisse auf den Mörder, da war nur die Aussage der Nichte, die davon sprach, ihre Tante habe Angst gehabt. Dann noch die ominöse Schwester, Zwillingsschwester der verstorbenen Mutter von Frauke Thomas, Verena Norton, die irgendwo in der Gegend wohnen sollte. Mira drückte ihre halb aufgerauchte Zigarette aus, stand auf und verließ das Büro.

Frauke hatte eine unruhige, von Träumen gequälte Nacht verbracht, trotz mehrmaliger Versuche konnte sie Andreas in seinem Urlaubsort auf Mallorca nicht erreichen, war weiterhin allein auf sich gestellt und schwor sich, mit ihm Schluss zu machen und so bald als möglich die gemeinsame Wohnung zu verlassen, wenn auch momentan andere Dinge anstanden. Sie packte frische Sachen in ihren Koffer und suchte verzweifelt nach ihrer Wetterjacke, bis ihr einfiel, dass sie das gute Stück in Larissas Wohnung zurückgelassen hatte. Eine Nachbarin ihrer Tante empfing sie am Eingang des Hauses, drückte Frauke ihr Beileid aus und überfiel sie mit solcher Redseligkeit, dass es eine Weile dauerte, bis Frauke endlich die Tür zur Wohnung aufschloss und ein Schrei des Entsetzens über ihre Lippen kam. Diesmal war sie froh, dass die Nachbarin neugierig hinzukam und aufgeregt ausrief:

»Um Gottes Willen! Wie sieht es denn hier aus?«

Die Wohnung glich einem Trümmerhaufen. Schränke waren umgestoßen, Vasen lagen zersplittert am Boden und Frauke sank schluchzend in einen Sessel, der seitlich mit dem Messer aufgeschlitzt worden war.

Die Polizisten waren endlich wieder weg. Frauke fand nach langem Suchen ihren Friesennerz unter einem Kleiderstapel im Flur und flüchtete aus der demolierten Wohnung. Die Polizei hatte weder Fingerabdrücke noch Einbruchsspuren an den Türen oder Fenstern finden können. Stundenlang waren Beamte damit beschäftigt gewesen, alles durchzuchecken. Frauke begann, grob aufzuräumen, unterstützt von der Nachbarin, die eifrig hin und her lief, Kaffee kochte und Frauke half.

Die beiden Frauen hatten einen großen Berg im Wohnzimmer aufgeschichtet, die Sachen waren nicht mehr zu gebrauchen. Die wertvollen Gegenstände, wie der Schmuck der Tante, der auf dem Boden verstreut war, wurden sorgfältig wieder zurückgelegt. Es war Frauke ein Rätsel, warum jemand eine ganze Wohnung auf den Kopf stellte und alles Wertvolle, sogar etwa vierhundert Euro Bargeld, zurückließ. Einzig den Tresor hatten die Einbrecher nicht gefunden.

Es war später Nachmittag, als Frauke Richtung Norden aufbrach, das Geld der Tante hatte sie sicherheitshalber eingesteckt, um den Rest ihres Urlaubs in Friesland zu verbringen.

Das Fax spuckte eine Mitteilung aus, die Mira Wiedemann wieder einmal bestätigte, dass ihr Anwärter schusselig gearbeitet hatte. Die Beamten aus Bielefeld meldeten einen Einbruch in die Eigentumswohnung von Larissa Norton. Fingerabdrücke, Einbruchspuren: Fehlanzeige, und das Merkwürdigste, Geld und Schmuck waren unangetastet geblieben. Es wurde höchste Zeit, die Schwester der Norton aufzusuchen. Mira hatte im Standesamt die Geburtsurkunden überprüft und festgestellt, dass die Nortonzwillinge 1958 am dritten August geboren waren und Waltraud Norton im Jahre 1982 den Biologen Werner Thomas geheiratet hatte. Verena Norton hatte im selben Jahr den Kaufmann Karsten Thilo Bornfeld geehelicht. Nach ihren Ermittlungen wohnten die Bornfelds in einer Villa am Stadtrand von Wilhelmshaven und hatten eine Tochter. Bornfeld galt als wohlhabend, womit er sein Geld verdiente, war ihr nicht bekannt.

Zwei Stunden später stand sie mit Thorben Weller vor einem eisernen Tor und betätigte die Klingel. Aus der Gegensprechanlage ertönte eine weibliche Stimme: »Sie wünschen, bitte?«

»Kripo Wilhelmshaven, können wir Herrn Bornfeld sprechen?«

Das Tor öffnete sich fast lautlos und der Hausherr erschien, im eleganten Nadelstreifen mit passender Krawatte zum hellblauen Hemd. Mira zeigte ihren Ausweis und erklärte:

»In der letzten Woche wurde in Hooksiel eine Larissa Norton mit durchschnittener Kehle aufgefunden. Kennen Sie die Frau, Herr Bornfeld?«

Bornfeld, schlank, fast hager, mit für sein Alter dichtem, mittelblondem Haar, welches von einigen Silberfäden durchzogen war, wurde bleich:

»Larissa? Tot? Wie entsetzlich!«

»Ich möchte Ihnen ein paar Fragen stellen.« Mira lugte durch den Türspalt und fuhr fort: »Können wir hereinkommen?«

Bornfeld zögerte einen kurzen Moment, bevor er antwortete:

»Natürlich, kommen Sie.«

Die Beamten traten in eine Halle mit stuckverzierter Decke und dem Charme einer vergangenen Epoche. ‚Die Restaurierung dieser Halle muss ein Vermögen gekostet haben‘, dachte Mira und nahm in einem Sessel Platz, der in der Ecke unterhalb einer geschwungenen Treppe stand.

 

»Rita«, rief der Hausherr. Wie von Geisterhand schwang eine Tür auf. Eine junge Frau in einem adretten Westenkostüm mit weißer Bluse erschien knicksend:

»Haben Sie einen Wunsch, Herr Bornfeld?«

»Bringen Sie bitte etwas zu trinken. Wasser?«

Ein fragender Blick, Mira nickte zustimmend.

»Also Wasser für die Herrschaften, mir bringen Sie bitte einen Bourbon.«

Sie hatten sich nur kurz aufgehalten. Bornfeld berichtete von einem Zerwürfnis der Schwestern, konnte allerdings den Grund nicht angeben. Seine Frau befand sich außer Haus und so blieb den Polizeibeamten nichts anderes übrig, als sich für einen späteren Zeitpunkt anzumelden.

»Irgendwo habe ich den Mann schon gesehen«, erklärte Mira, als sie wieder im Wagen saßen. Thorben Weller zuckte gleichgültig mit den Schultern.

»Wie ein Mörder sah er jedenfalls nicht aus.«

Mira warf ihm einen verständnislosen Blick zu und bog in die nächste Seitenstraße ein.

Die Wirtin hatte das Zimmer für sie frei gehalten, und Frauke packte schnell ihren Koffer aus, lieh sich ein Rad, fuhr an den Strand und mietete sich einen Strandkorb. Sie hatte den Umschlag mitgenommen, den sie im Safe der Tante gefunden hatte. Das Familienbuch hatte sie zurückgelassen. Es enthielt die Heiratsurkunde der Eltern ihrer Mutter und die Geburtsurkunden der Zwillingsschwestern und von Larissa. In dem Umschlag befanden sich Zeitungsausschnitte, das Foto ihrer Mutter und einige Unterlagen, alte Rechnungen, handgeschriebene Notizen, die zu sichten längere Zeit in Anspruch nehmen würde. Die Zeitung war gut dreizehn Jahre alt und zeigte das verbeulte Auto, mit dem ihr Vater tödlich verunglückt war. In dem Artikel wurde die Unfallursache mit Bremsversagen angegeben. Da es sich um einen fabrikneuen Wagen handelte, war laut Polizeibericht von einer Manipulation am Fahrzeug ausgegangen worden, diese Vermutung konnte aber trotz gründlicher Untersuchung nicht belegt werden. Frauke las den Artikel zweimal. Niemals hatte ihre Tante davon gesprochen, dass ihr Vater einem Anschlag zum Opfer gefallen war. Und wenn es so war? Wer steckte dahinter? Und warum? Hatte der Einbrecher in Larissas Wohnung diese Unterlagen gesucht?

Kalt lief es Frauke über den Rücken, und sie spürte die Gefahr fast körperlich. Vorsichtig lugte sie aus dem Strandkorb hervor, nur wenige Menschen, hauptsächlich Familien mit Kleinkindern waren am Strand, die Ferien hatten noch nicht begonnen, und nur vereinzelt waren die Strandkörbe besetzt. Kinder liefen zum Wasser, die Flut hatte eingesetzt, besorgte Eltern liefen ihren Sprösslingen nach, Lachen und Schreien gingen unter im stetigen Auf und Ab der Wellen. Frauke wäre so gern hinausgelaufen mit dem Wind um die Wette, aber die Unterlagen brannten in ihrer Hand und verlangten ihre ganze Aufmerksamkeit. Ihre Angst war schnell wieder verschwunden, eingekuschelt in die windgeschützte Wärme des Strandkorbs fühlte sie sich vollkommen sicher. Ihre schwarzen, sorgfältig gezupften Brauen zusammengezogen, saß sie da mit angewinkelten Knien und vertiefte sich immer mehr in die Geschichte ihrer Familie.

Eine sanfte Brise wehte ins Kommissariat, Mira Wiedemann holte tief Luft und trat ans Fenster, just in dem Moment stürmte Thorben Weller herein, und der Fensterflügel donnerte gegen ihren Kopf.

»Autsch, verdammt!«

Stöhnend rieb sie sich die schmerzende Stelle und fauchte:

»Können Sie nicht vorsichtiger hereinkommen?«

Weller grinste frech, schloss die Tür und hielt ihr ein Schriftstück unter die Nase.

»Sie wollten umgehend informiert werden, Frau Wiedemann. Ein aktuelles Fax der Kollegen aus Bielefeld.«

Seufzend nahm Mira das Schriftstück entgegen. Ein Einbruch in die Wohnung von Larissa Norton, keinerlei Hinweise auf den Täter, und nach Aussage der Nichte war nichts entwendet worden, Schmuck und Bargeld blieben unangetastet.

»Interessant! Aber das gleiche Fax habe ich schon vorher bekommen. Nur nicht so ausführlich.«

Mira rieb nachdenklich an ihrer Beule.

»Es muss in dieser Familie etwas geben, was einen Mord rechtfertigt«, sinnierte Weller und Mira pflichtete ihm bei.

»Nur, was?«

Weller hatte sich in den Sessel gegenüber von Miras Schreibtisch geworfen und kritzelte auf seinem Stenoblock herum.

»Wir müssen diese Frauke Thomas noch einmal vernehmen.«

»Ist sie nicht in Bielefeld, ihre Tante beerdigen?«

Weller schüttelte den Kopf.

»Die Kollegen in Bielefeld haben mitgeteilt, dass sie gestern Nachmittag wieder an die Nordsee gefahren ist.«

Mira blickte ihn anerkennend an.

»Wie haben Sie denn das so schnell herausgefunden?«

»Gut recherchiert.«

Er grinste.

»Sie wohnt in Hooksiel, in derselben Pension wie vorher.«

Mira überlegte nur kurz.

»Diesmal fahren Sie.«

Weller grinste.

»Meinen Sie, das ist eine gute Idee?«

Mira funkelte ihn böse an.

»Ein wenig Übung im Aushorchen tut Ihnen ganz gut.«

»So schlecht bin ich auch nicht«, maulte Weller beleidigt und fuhr fort, »Ich habe mir die Briefe noch einmal angesehen. Hat die Thomas Ihnen gesagt, woher sie stammen?«

Mira runzelte unwillig die Stirn.

»Sagte ich das nicht bereits? Die Tante hat sie ihr mitgebracht.«

»Woher hat die Tante sie?«

»Worauf wollen Sie eigentlich hinaus?«

Weller setzte sich aufrecht, und Mira hatte zum ersten Mal das Gefühl, dass er sich einer Sache wirklich widmen konnte.

»Die Briefe sind an einen Mann gerichtet, warum hat er seine Briefe nicht einfach vernichtet, warum übergab er sie Larissa Norton?«

»Von der Seite habe ich die Sache noch gar nicht betrachtet, aber Sie haben recht.«

Mira sah ihn anerkennend an und Thorben schloss weiter:

»Vielleicht hat die Norton diese Briefe entwendet, um die Schwestern gegeneinander auszuspielen.«

Mira verfolgte die Idee weiter.

»Weil beide denselben Mann liebten, gerieten sie in Streit, der bis heute anhält.«

Nach kurzem Nachdenken schüttelte Mira den Kopf.

»Unmöglich, da muss es etwas anderes geben. Beide Schwestern haben geheiratet und ein Kind vom ihrem Mann, da bringt man sich doch nicht gegenseitig um.«

»Und wenn doch?«

»Fahren Sie raus und vernehmen Sie die Thomas noch einmal. Ich werde versuchen diese Frau Bornfeld zu erreichen.«

Ein Schatten fiel über den Eingang des Strandkorbs, ein blanker Gegenstand blinkte in der Sonne, und Frauke schrak auf.

»He, Sie da! Was machen Sie da?«

Eine herrische Stimme erscholl, jemand lief davon, und ein bärtiges Gesicht über einer blaugelben Wetterjacke lugte in ihren Strandkorb. »Ist Ihnen nicht kalt, Frollein?«

Die gutmütige Stimme des Strandwächters verscheuchte die Angst aus ihrem Gesicht, und sie lächelte.

»Ich packe schon zusammen.«

»Was wollte denn der junge Mann von Ihnen?«, erkundigte sich ihr Retter.

»Ich weiß nicht, Sie haben ihn verscheucht.«

Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass jemand sich unbemerkt ihrem Strandkorb genähert hatte.

»Is och man gut so, Frollein.«

Ohne ein weiteres Wort packte Frauke ihre Sachen und radelte davon. An ihrer Pension wurde sie von einem Beamten der Kripo erwartet, der sie noch einmal zu dem Tod ihrer Tante vernahm. Um den neugierigen Augen der Wirtin zu entgehen, bat sie ihn auf ihr Zimmer.

»Hier sind wir ungestört. Gibt es neue Erkenntnisse?«

Sie sah Thorben Weller fragend an. Weller wurde rot, er hatte sich die junge Frau ganz anders vorgestellt, nicht so attraktiv, und diese dunklen Haare mit den großen, grauen Augen machten ihn nervös.

»Wir sind noch in den Ermittlungen«, erklärte er und erkundigte sich: »Hatte Ihre Tante Feinde?«

Unwillig riss Frauke die Augen auf.

»Das hat Ihre Kollegin mich schon gefragt, nein.«

»Sie haben uns Briefe überlassen. Wie kam Ihre Tante in deren Besitz?«

»Es waren Briefe meiner Mutter. Fotos waren auch dabei, die habe ich mitgenommen. Sie sind noch im Auto.«

»Könnte ich sie mir ansehen?«

Weller beobachtete sie bei diesen Worten genau, aber sie willigte sofort ein.

»Ich hole sie.«

Ohne zu zögern stürmte sie davon und kam Sekunden später etwas außer Atem zurück, ein kleines Lederköfferchen in der Hand.

»Hier ist alles drin.«

Der Koffer war leer bis auf die erwähnten Fotos. Weller blätterte sie durch und legte sie zur Seite.

»Darf ich mir den Koffer einmal ansehen?«

»Warum nicht«, antwortete sie gleichgültig und holte eine Mineralwasserflasche aus dem Kühlschrank.

»Möchten Sie auch ein Glas?«

Weller nickte, ohne sie anzusehen, und glitt mit seinen Händen über das Leder des Koffers. In seinem Innern stiegen Bilder von Geheimfächern und doppelten Böden auf, er war fasziniert von dem geschmeidig glatten, hellbraunen Leder, und seine Gedanken arbeiteten fieberhaft. Frauke schaute erstaunt zu, wie er plötzlich eines der Schnappschlösser drehte und sich der Deckel an der Seite anhob und nach Drehung des zweiten Schlosses ganz aufzuklappen war. Ein großer, brauner Umschlag kam zum Vorschein. Frauke hatte seine Untersuchung mit Misstrauen verfolgt und entriss ihm den Umschlag, bevor er auch nur einen Blick darauf werfen konnte.

»Dieser Umschlag geht Sie nichts an!«, giftete sie, insgeheim dankbar, aber das musste er nicht wissen.

»Wie Sie wünschen«, ergab sich Weller frostig in das Unvermeidliche.

Frauke überlegte mit gerunzelter Stirn, wie sie ihn loswerden konnte.

»Ich denke, ich habe alles gesagt. Sollte sich für die Polizei etwas Neues ergeben, werde ich mich umgehend bei Ihnen melden, Herr Kommissar.«

Notgedrungen erhob sich Weller und verabschiedete sich.

Kaum hatte er das Zimmer verlassen, verschloss Frauke die Tür und öffnete den Umschlag.

II

Vergeblich hatte Hauptkommissarin Wiedemann versucht, Verena Bornfeld zu erreichen, auch Herr Bornfeld war in Deckung gegangen und ließ durch sein Hausmädchen melden, dass er verreist sei. Verärgert sprang Mira in ihren Wagen und wollte gerade das Grundstück verlassen, als ein kleines sportliches Auto an ihr vorbeizischte, dass der Kies knallende Geräusche an ihrem Lack verursachte. Wutschnaubend setzte sie zurück, direkt hinter den Verursacher, sprang aus dem Wagen und schrie:

»Was fällt Ihnen ein, hier solch ein Tempo vorzulegen? Sie haben meinen Lack beschädigt!«

Die rothaarige Fahrerin stieg betont lässig aus, was Mira erst recht zum Kochen brachte, nahm ihre Sonnenbrille ab, warf einen abschätzenden Blick auf den Golf und erklärte hochnäsig:

»Bei der alten Karre ist ohnehin ein neuer Anstrich fällig, außerdem befinden Sie sich hier auf einem Privatgrundstück!«

Mira Wiedemann blieb vor Empörung die Stimme weg, und als sie sich endlich gefasst hatte, war die junge Frau schon im Haus verschwunden. Verärgert klingelte sie Sturm; als das Hausmädchen erschien, schob sie es zur Seite und stürmte in die Halle. Stella Bornfeld wollte gerade mit Schwung die Treppe nehmen, als sie den Tumult an der Haustür mitbekam und Frau Wiedemann hereinkommen sah. Augenblicklich drehte sie sich um und schrie:

»Was fällt Ihnen ein!«

Die Beamtin hatte ihre Fassung wieder gefunden.

»Wiedemann, Kripo, ich habe ein paar Fragen an Sie!«

Überrascht kam Stella Bornfeld zurück.

»Sie wollen mich doch wegen dieser Lächerlichkeit nicht verhaften?«

»Es geht um ihre Tante. Sie sind doch die Tochter von Verena Bornfeld, nicht wahr?«

»Sie haben es erraten, ich heiße Stella. Tante? Welche Tante?«

»Larissa Norton, eine Schwester Ihrer Mutter.«

Stella kräuselte die Stirn, dann lächelte sie.

»Ach die, sie wohnt in Bielefeld, nicht wahr. Was ist mit ihr?«

»Sie wurde nur wenige Kilometer von hier ermordet aufgefunden. Hat Ihr Vater nichts gesagt?«

Sichtlich geschockt schüttelte Stella den Kopf.

»Wie entsetzlich. Wissen Sie, wer es war?«

Mira verneinte.

»Es gibt keine verwertbaren Spuren des Täters. Vielleicht können Sie mir sagen, ob Ihre Tante jemanden in Hooksiel, dort wurde sie ermordet, oder in Wilhelmshaven aufsuchen wollte.« Stella war blass.

 

»Ich habe meine Tante noch nie gesehen, wie soll ich da etwas wissen? Wir hatten keinen Kontakt zu ihr. »

»Ihr Vater soll ihr regelmäßig geschrieben haben, das jedenfalls hat Frauke Thomas ausgesagt, Ihre Cousine.«

»Meine was? Ich habe keine Cousine! », empörte sich Stella Bornfeld.

»Das hat Frau Thomas auch gedacht. Sie ist die Tochter der Zwillingsschwester Ihrer Mutter.«

Stella sprang auf.

»Meine Mutter hat nur eine Schwester, und das ist - war Larissa Norton.«

Mira zog eines der Fotos aus der Tasche, welche die drei Schwestern vor etwa dreißig Jahren zeigten, und hielt es ihr hin.

»Ihre Cousine hat es mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt.«

Stella wurde abwechselnd rot und blass.

»Sie müssen mir glauben, ich habe nichts davon gewusst«, stotterte sie.

Mira nahm ihr das Bild wieder ab und verabschiedete sich.

»Können Sie mir sagen, wo sich Ihre Mutter aufhält? Ich muss sie dringend sprechen.«

Stella hatte sich in einen Sessel geworfen und schüttelte wortlos den Kopf.

Der Umschlag enthielt den Befund eines Krankenhauses, mit dem Frauke nichts anzufangen wusste. Gefrustet steckte sie das Blatt wieder zurück und untersuchte das Geheimfach des Koffers noch einmal gründlich. Nichts. Sie faltete den Umschlag zusammen und steckte ihn wieder in das Fach. In diesem Moment klopfte es und ohne ihr »Herein« abzuwarten, stand Friedrich Lust im Zimmer.

»Hallo, wie geht es dir?«

Sie verstaute den Koffer im Schrank und lächelte.

»Gut, ich habe nur auf einen Kavalier gewartet, der mich an den Strand begleitet.«

Hauptkommissarin Mira Wiedemann war es endlich gelungen mit Verena Bornfeld telefonisch Kontakt aufzunehmen. Die Dame hatte sich bereit erklärt, das Kommissariat persönlich aufzusuchen. Sie kam des Nachmittags im goldgelben Porsche vorgefahren, in einem eleganten zartgrünen Kostüm, welches hervorragend zu ihren rötlichen Haaren passte und ihre schönen Beine zeigte, die in zum Kostüm passenden Pumps steckten. Als sie gegenüber von ihrem Schreibtisch Platz nahm, konnte Mira trotz des gut deckenden Make-ups die vielen kleinen Sommersprossen auf ihrer Nase sehen, welche die Ähnlichkeit mit ihrer Tochter deutlich hervorhoben.

»Ist es wahr, dass meine Schwester Larissa ermordet wurde?«

Ihre hellbraunen Augen musterten Mira interessiert.

»Sie wurde mit durchschnittener Kehle aufgefunden.«

»Wie entsetzlich!«

Verena Bornfeld riss die Augen auf und spielte nervös mit ihrem Autoschlüssel.

»Wissen Sie, ob Ihre Schwester hier mit jemandem in Kontakt stand? Alte Freunde, Schulkameraden?«

Verena seufzte vernehmlich.

»Woher soll ich das wissen? Ich habe sie seit Jahren nicht gesehen.«

»Warum nicht?«

Zum ersten Mal hatte Mira das Gefühl, Frau Bornfeld aus dem Konzept gebracht zu haben. Ihre Wimpern flackerten verräterisch, und es dauerte einige Sekunden, bis ihre Antwort kam.

»Es hat Streit gegeben, wir hatten nichts Gemeinsames. Larissa war so pedantisch, wie soll ich sagen - Lehrerin eben!«

Mira lächelte und stellte leise, ihre Augen fest auf Verena gerichtet, die nächste Frage.

»War Ihre Zwillingsschwester auch Lehrerin?«

Verena beugte sich vor, die Augen zu kleinen Schlitzen verengt.

»Was fällt Ihnen ein?«, fauchte sie. »Meine Zwillingsschwester ist tot. Mehr möchte ich dazu nicht sagen!«

Mira Wiedemann setzte zur nächsten Frage an.

»Wo waren Sie am Samstagabend zwischen zehn Uhr und Mitternacht?«

Verena Bornfeld starrte die Beamtin empört an, stand auf, fasste ihre Handtasche mit festem Griff und antwortete:

»Im Wellnesscenter an der Bremer Straße.« Dann wandte sie sich zur Tür und erklärte bestimmt: »Ich bin in Eile, wenn Sie weitere Fragen haben, wenden Sie sich bitte an meinen Anwalt!«

Sie warf eine Visitenkarte auf den Schreibtisch und verließ ohne ein weiteres Wort den Raum. Mira Wiedemann blickte ihr empört nach und nahm den Telefonhörer zu Hand.

Wenige Sekunden später öffnete sich die Tür erneut, und Thorben Weller ließ sich schnaubend vor Wut auf den Stuhl fallen, den Frau Bornfeld gerade geräumt hatte.

»Dieses Miststück! Sie weiß mehr als sie sagt!«

Er war rot im Gesicht und bemerkte in seinem Ärger nicht, dass seine Kollegin nicht eben begeistert über sein Benehmen war.

»Was fällt Ihnen ein, hier so hereinzuplatzen? Sehen Sie nicht, dass ich telefoniere?«

Erst jetzt sah er ihr zornrotes Gesicht und duckte sich automatisch in seinem Stuhl, als befürchte er einen tätlichen Angriff.

Mira warf den Hörer auf die Gabel und fauchte:

»Polizeiarbeit ist kein Zuckerschlecken, wenn Sie dafür zu sensibel sind, sollten Sie die Ausbildung abbrechen!«

Weller stotterte eine Entschuldigung und erklärte, nun ruhiger:

»Diese Frauke Thomas hat mich praktisch hinausgeworfen, nachdem ich ihr geholfen habe, aus einem Geheimfach ihres Koffers einen Umschlag zu bergen.«

Seine Schilderung ließ Miras Zorn verblassen.

»Diese Familie hat so viele Geheimnisse, dass ich fest überzeugt bin, dass der Mörder im familiären Umfeld zu suchen ist. Diese Verena Bornfeld war vor wenigen Minuten hier, keine vernünftige Aussage, aber die Visitenkarte ihres Anwalts hat sie hinterlassen.«

Weller war froh, dass Mira sich wieder dem Fall zuwandte und steuerte einen weiteren Aspekt hinzu.

»Frau Thomas hat auch einen Gewinn durch den Tod der Norton, sie hat nicht nur eine Wohnung, sondern auch etliches an Geld geerbt, das hat sie mir gesagt.«

»Für die Tat hat sie ein bombensicheres Alibi«, warf Mira ein und fuhr fort: »Da muss es noch andere Gründe geben, die einen Mord rechtfertigen.«

»Wir müssen an den Umschlag kommen, den die Kleine so schnell vor mir versteckt hat, sicher wusste sie, was drin war.«

Weller war noch immer verärgert, dass er mit so wenig in der Hand bei seiner Hauptkommissarin erschienen war. Mira schüttelte den Kopf.

»Für eine Hausdurchsuchung haben wir keinerlei Handhabe.«

»Es muss etwas geben, was sie verbirgt«, ereiferte sich Weller, »völlig ohne Grund wird niemand umgebracht.«

Mira schmunzelte.

»Ihren Eifer in Ehren, aber ich glaube nicht, dass die Nichte mit dem Mord zu tun hat. Sie schien mir völlig glaubwürdig, als sie von den Ängsten der Ermordeten sprach. Wir müssen herausfinden, vor wem diese Frau Angst hatte. Ich tippe da eher auf einen Erpresser.«

»Warum soll man eine Lehrerin erpressen?«

Thorben Weller seufzte und gab sich selbst die Antwort:

»Es muss ein Geheimnis geben, was so brisant ist, dass es einen Mord rechtfertigt.«

Die Hauptkommissarin pflichtete ihm bei.

»Gehen Sie der Sache auf den Grund, versuchen Sie etwas über den Umschlag zu erfahren. Heute Abend ist die Dame sicher im Hotel.«

Wenig begeistert machte sich Weller des Abends erneut auf den Weg zu Frauke Thomas und traf sie im Garten der Pension beim Abendessen.

»Sie schon wieder?«

Frauke war verärgert, am Nachmittag mit Fried hatte sie die schrecklichen Ereignisse fast vergessen und nun brachte dieser Kripobeamte alles wieder zum Vorschein. Weller bestellte sich eine Schorle, wartete, bis sie ihre Mahlzeit beendet hatte, und befragte sie nach dem Umschlag aus dem Koffer.

»Es war nichts Wichtiges, ein Krankenblatt aus einer Klinik. Ich habe es gleich wieder weggelegt. Ich zeige es Ihnen.«

»Merkwürdig, dass es im Geheimfach des Koffers war, finden Sie nicht?«

Sie waren auf dem Weg in Fraukes Zimmer, sie nickte zustimmend, schloss auf und ging zu dem Koffer, um es ihm zu zeigen.

»Es ist weg.«

Hastig schüttete sie den Inhalt des Köfferchens auf das Bett. Es waren nur noch die Fotos vorhanden.

»Komisch, ich habe es zu den Fotos gelegt.«

Sie durchsuchten noch einmal den Koffer und das ganze Zimmer, der Brief war verschwunden.

»Es war vielleicht wichtiger, als Sie angenommen haben.«

Weller war verärgert und Frauke schockiert von dem Gedanken, dass während ihrer Abwesenheit jemand ihr Zimmer durchsucht hatte.

»Sagten Sie nicht, in der Wohnung Ihrer Tante hätten Einbrecher alles durchwühlt, aber nichts mitgenommen?«

Frauke sah Weller verwundert an.