Der Mord am Pulverbach

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»Können Sie mir etwas über Volker Wiener erzählen. Hobbys, Freunde, Bekannte?«

Endlich wurde er ernst, dachte einen Moment nach und stellte eine Gegenfrage:

»Was haben denn die anderen so gesagt?« Vera riss langsam der Geduldsfaden und sie antwortete schärfer als beabsichtigt:

»Ich will Ihre Aussage, was die anderen ausgesagt haben, geht Sie nichts an!«

Kai Wildmann nippte an seinem Wein und sah die Beamtin über das Glas hinweg an, als überlege er, ob es wagen könne sie zum Essen einzuladen, setzte dann das Glas ab und erklärte:

»Der Junge war noch etwas grün für unsere Runde, aber ein guter Kartenspieler. Mehr kann ich Ihnen nicht sagen, tut mir leid.« Mit einem unterwürfigen Dackelblick, der Vera die Zornesröte ins Gesicht trieb, sah er die Beamtin an, stand auf und meinte abschließend: »Schade, ich hätte gern noch länger mit Ihnen geplaudert, aber ich habe in einer Viertelstunde einen wichtigen Termin.«

So hinaus komplimentiert, blieb Vera nichts anderes übrig, als zu gehen, und sie war froh, von dem Wein nicht einmal genippt zu haben. An der Tür drehte sie sich noch einmal um und erkundigte sich:

»Was sind Sie von Beruf?«

Er hatte offensichtlich nicht mehr mit einer Frage gerechnet, zuckte leicht mit den Wimpern und antwortete:

»Bauingenieur. Tut das was zur Sache?«

Jetzt lächelte Vera.

»Interessant. Bei welcher Firma denn?«

Wildmann war von dieser Frage nicht begeistert und antwortete empört:

»Bei der Montag GmbH! Warum suchen Sie nicht das Schwein, welches Volker überfahren hat, statt mir solche dummen Fragen zu stellen?«

Vera bedankte sich und stellte sich den ganzen Rückweg die Frage, warum ihre letzte Frage Wildmann so verärgert hatte.

Die Antwort darauf glaubte Josef Tann schon zu wissen, als sie ihm am nächsten Morgen davon berichtete. Er saß vor ihr am Schreibtisch, knallte mit der Faust auf den Tisch und rief:

»Genau das habe ich vermutet. Der Junge war nicht zufällig dort, er hat gewusst oder zumindest geahnt, dass da etwas nicht in Ordnung war.«

»Wenn mitten in der Nacht jemand auf einer normalen Baustelle arbeitet, ist oft etwas nicht in Ordnung. Was hat das mit Wildmann zu tun?«

»Kann doch sein, dass Wildmann beim Kartenspielen davon gesprochen hat, dass sie auf den Baustellen eine Wache eingesetzt haben.«

»Du meinst, der Junge hat daraufhin dort angehalten?«

»Ist doch nachvollziehbar. Wildmann macht sich jetzt Vorwürfe, womöglich hat er Angst, dass man ihn mit der Sache in Verbindung bringt.«

Vera schüttelte energisch den Kopf.

»Na und? Man kann Wildmann kaum einen Vorwurf machen, wenn ein anderer neugierig ist. Da muss etwas anderes dahinter stecken.«

»Vielleicht war er auch einfach nur wütend, weil du seinen geschätzten Wein nicht getrunken hast.« Josef Tann grinste bei diesen Worten, und Vera antwortete mit einer Grimasse.

»Ich trinke doch keinen Wein, wenn ich noch fahren muss. Außerdem kam mir die Sache mit dem Wein irgendwie komisch vor, noch dazu dieses charmante Getue. Er hat was zu verbergen, und das hängt mit seinem Job beim Bauunternehmen Montag zusammen«, fauchte Vera und setzte nachdenklich hinzu: »Ich komme schon noch dahinter!«

Es war ein regnerischer, grauer Morgen an dem Schwarz die herausragende Farbe war. Verwandte, Bekannte, die engsten Freunde, die Schulklasse mit dem Klassenlehrer und etliche Bürger waren gekommen, um Volker Wiener das letzte Geleit zu geben. Als der Sarg durch die Reihen zu dem ausgehobenen Grab getragen wurde, riss der Himmel einen Moment auf. Die Sonne warf ihre Strahlen über den Sarg und der Pfarrer sprach zu der versammelten Gemeinde.

Josef Tann und Vera Senft standen abseits der Trauergemeinde unter einem Baum. Fröstelnd umklammerte Vera ihren Schirm, während der Hauptkommissar, der sie um etliches überragte, seinen Schirm schräg auf der Schulter abstützte, um nicht in den Ästen des Baumes hängen zu bleiben, unter dem sie Schutz gesucht hatten. Die Rede des Pfarrers gab ihnen Gelegenheit die Menschen zu beobachten.

Frau Wiener hing bleich am Arm ihres Bekannten, Horst Kastner, der fürsorglich einen riesigen Schirm in der anderen Hand hielt. Die Kartenspieler standen eng zusammen, die Gesichter zu Boden gerichtet. Sie hatten auf einen Schirm verzichtet, und der kurze Sonnenstrahl ließ ihre nassen Haare aufschimmern. Als sich der Sarg langsam in die Gruft senkte, verdunkelte sich der Himmel erneut, und es kam ein so heftiger Schauer nieder, dass viele der Anwesenden in die Kirche eilten, um dort Zuflucht zu suchen. Nur die engsten Angehörigen blieben stehen, klammerten sich unter den Schirmen aneinander, warteten den Segen des Pfarrers ab und wenig später lag der Friedhof verlassen da.

Vera Senft und Josef Tann harrten unter dem Baum aus, bis der Regen etwas nachließ und fuhren dann zurück Richtung Clarholz, wo Josef Vera zuvor abgeholt hatte.

»Ist dir etwas Besonderes aufgefallen bei der Beerdigung?«, erkundigte sich Vera unterwegs. Tann überholte einen Lastwagen und zuckte die Schultern:

»Nein. Oder vielleicht doch. Alle Schüler seiner Klasse waren da, nur Cora Meier konnte ich nirgends entdecken.«

»Sie ist nicht in seiner Klasse. Sie ist ein Jahr jünger.«

»Das könnte ein Grund sein. Trotzdem, sie war seine Freundin.«

»Vielleicht konnte sie es nicht ertragen, sie hat ihn geliebt.«

»Du meinst, es war mehr als nur eine Schwärmerei?«

»Definitiv!«, erklärte Vera abschließend und fuhr mit Blick auf das Ortsschild von Herzebrock-Clarholz fort: »Puh, bin ich froh, wenn ich aus diesen nassen Klamotten komme.«

Der Schirm hatte nur ihren Oberkörper geschützt. Bei dem heftigen Schauer war ihre Hose bis an die Knie nass geworden und in ihren Schuhen stand das Wasser, ihrem Kollegen ging es allerdings nicht anders. Wenige Minuten später hielt Josef Tann vor Veras Wohnung. Sie sprang aus dem Wagen, bedankte sich und rief:

»Bis nachher!« Kaum waren ihre Worte verklungen, war sie schon im Haus verschwunden und Josef fuhr weiter Richtung Gütersloh, er war in Spexard zu Hause.

Am Nachmittag hatten sie einen Termin bei der Gerichtsmedizin. Dr. Ulrike Term war blass, hatte tiefe Ringe unter den Augen und sog hastig an ihrer Zigarette, als sie vor der Tür eintrafen.

»Etwas frische Luft schnappen, Frau Doktor?«, erkundigte sich Josef Tann mit einem strahlenden Lächeln. Ein kurzes Lächeln huschte über Ulrike Terms Gesicht. Sie warf den Zigarettenstummel in den Ascher, der neben der Tür stand und meinte gähnend:

»Besser noch wäre ein Bett, die letzte Nacht war lang.« Sie stieß die Tür auf und ging trotz ihrer angeblichen Müdigkeit schnellen Schrittes voraus. Vera fing den Blick ihres Kollegen auf, der fasziniert die Beine der Ärztin betrachtete, deren ebenmäßige Schönheit auch der etwas zerknitterte, weiße Kittel nichts anhaben konnte. Erst als sie vor der mit einem weißen Tuch verhüllten Bahre standen, konzentrierte sich der Hauptkommissar wieder voll auf den Grund seiner Anwesenheit und lauschte dem Vortrag von Dr. Term.

»Er hat einen so heftigen Schlag auf den Kopf bekommen, dass der Schädelknochen im vorderen Bereich eingebrochen ist, dabei ist eine Arterie zerplatzt. Er muss sofort bewusstlos geworden sein, und ist an der Blutung verstorben. Den Todeszeitpunkt liegt zwischen ein und zwei Uhr morgens. Bei dem Tatwerkzeug handelt es sich vermutlich um einen Gegenstand aus Metall, einen großen Hammer oder ein Beil.«

»Wir haben im Wagen nur einen Baseballschläger gefunden, alle Arbeitsgeräte waren gestohlen«, erklärte Tann.

Frau Dr. Term nickte. »Dann wird das Mordwerkzeug von den Dieben mitgenommen worden sein.« Sie machte eine Handbewegung, die den ganzen Körper des Toten umfasste und fuhr fort: »Ansonsten sind keine weiteren Verletzungen vorhanden. Allerdings hatte er einen Blutalkoholgehalt von zwei Komma eins Promille.«

Vera riss erstaunt die Augen auf.

»Dann war er wahrscheinlich so benommen, dass er sich kaum gewehrt hat.«

»Davon ist auszugehen«, bestätigte Frau Dr. Term. »Wahrscheinlich hat er geschlafen. Als er wach wurde und von seiner Liege aufstand, müssen der oder die Täter sofort zugeschlagen haben.«

Josef schaute auf den Toten und ging in Gedanken den Bericht der Spurensicherung durch, doch es war Vera, die sich als erste zu Wort meldete.

»Merkwürdig. Die Spurensicherung hat gar keinen Alkohol gefunden. Keine Flasche, kein Glas. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Täter das mitgenommen haben.«

Tann schaltete sich nickend ein: »Vielleicht hat jemand anders die Flasche entfernt, bevor wir sie gefunden haben.«

Vera spann seine Gedanken weiter: »Das kann doch nur jemand sein, der auch den Toten gefunden hat.«

»Und dieser jemand hat ein Interesse daran, dass es nicht bekannt wird.«

Josef und Vera hatten bei ihrem Gespräch für einen Moment Frau Dr. Term völlig vergessen. Sie räusperte sich jetzt laut und meinte:

»Ich glaube, dass ist alles, was ich Ihnen sagen kann.«

Tann zuckte zusammen, setzte ein strahlendes Lächeln auf, bedankte sich wortreich, fasste Vera Senft am Arm und strebte mit riesigen Schritten dem Ausgang zu.

Die Luft im Raum war stickig, die Liegen dicht belegt und die Ärzte schwirrten von einem Alarmsignal zum anderen. Der Klassenraum lag unter dem Dach der Grundschule in Marienfeld. Das Rote Kreuz hatte zu einer Blutspende aufgerufen, um zu Beginn des Sommers die Reserven aufzufüllen. Vera Senft war gleich nach Feierabend los gefahren und fand sich in einer kleinen Schlange wieder, die neben dem Treppenaufgang im Flur vor einem Bildschirm auf den Ausdruck der Papiere wartete. Der Arzt hatte ihr einen hervorragenden Blutdruck bescheinigt, und nun saß sie auf einem Stuhl, hielt ihren rechten Ringfinger in die Höhe, spürte den kleinen Stich zur Blutuntersuchung, der einen kurzen Augenblick ein brennendes Gefühl verursachte, ließ sich gehorsam Fieber messen und lag wenig später auf einer Liege. Der Arzt, ein Mann um die vierzig, leicht untersetzt, mit fast kahlem Schädel, aber überraschend schönen, langbewimperten, braunen Augen, erkundigte sich nach ihrem Namen und ihrem Geburtsdatum, um es mit den ausgedruckten Daten zu vergleichen. Dann suchte er die passende Vene an ihrem linken Arm für die Nadel. Er verstand sein Handwerk. Sie spürte den Stich kaum und ließ sich, nachdem der Arzt sich einem anderen Spender zuwandte, in eine angenehme Ruhe gleiten. Mit geschlossenen Augen registrierte sie das Gemurmel der Patienten auf den anderen Betten, das piepende Signal, wenn einer der Blutbeutel gefüllt war und das Quietschen der Klappliegen beim Aufstehen oder Hinlegen der Patienten. Ihre Gedanken aber waren weit weg, sie sah das Gesicht von Ulrike Term und den Toten auf der Bahre. Fieberhaft überlegte sie, wer ihm den Alkohol gebracht haben könnte. Sie sah Frau Schreiner vor sich, die von ihrer Angst gesprochen hatte. Waren die Gefühle des Mannes ähnlich gewesen? Hatte er selbst den Fusel mitgebracht. Aber wer hatte die Flasche entsorgt? Jäh wurde Vera aus ihren Gedanken gerissen.

 

»Geht es Ihnen gut?«, erscholl eine Stimme an ihrem Ohr. Sie schlug die Augen auf und sah in ein lächelndes Gesicht. Es war der Arzt, der sie aufmerksam musterte und die Stütze unter ihrem Arm zurecht schob.

»Sie sind gleich fertig«, sagte er noch und ließ sich auf dem Hocker neben ihrer Liege nieder. Mit geübtem Griff befreite er sie von der Nadel, drückte ein Mullknäuel auf die Einstichstelle und befestigte es mit einem Strechband. Etwas schwankend erhob sich Vera, schnappte ihre Tasche, die sie am Fußende der Liege deponiert hatte und ging in den Nebenraum. Eine ältere Dame wies ihr eine freie Liege zu und meinte, mit Blick auf die große Wanduhr über der Tür:

»Zehn Minuten sollten Sie ruhen.« Die Liege ächzte, als sich Vera darauf gleiten ließ, und sie hatte dabei das unbestimmte Gefühl, etliches an Gewicht zugelegt zu haben. Auch dieser Raum war stickig und heiß, was auch das weit geöffnete Fenster an der Stirnseite nicht ändern konnte, denn die Außentemperatur lag ebenfalls bei dreißig Grad. Vera fühlte sich verschwitzt und klebrig, obwohl sie noch vor kaum einer Stunde geduscht hatte. Eigentlich hatte sie sich vorgenommen ins Freibad zu gehen, aber der Blutspendetermin war ihr wichtiger gewesen. Sie war sich sicher, dass es die richtige Entscheidung war, denn der Strom der willigen Spender ebbte bereits ab und es war erst sieben Uhr. Sie wartete die zehn Minuten nicht ab, sprang plötzlich auf, ließ sich den Arm fachmännisch verkleben und ging hinunter zum Essen.

Sie fühlte sich noch etwas wackelig auf den Beinen, aber ansonsten satt und gesund als sie in ihr Auto stieg und langsam heimwärts rollte. Das Essen war so reichhaltig gewesen, dass sie sich das Abendessen sparen konnte. Sie verbrachte den Abend auf dem Balkon, es war eine tropisch warme Nacht und am liebsten hätte Vera auf dem Balkon auch geschlafen, denn in ihrer Wohnung stand die Luft. Obwohl sie alle Fenster aufgerissen hatte, war keine Kühlung in Sicht, und der Wetterbericht hatte für den nächsten Tag erneut über dreißig Grad Celsius gemeldet. Sie saß ganz in der Ecke neben einem riesigen Kübel mit einer noch riesigeren Pflanze mit duftenden Vanilleblüten. Ihre Eltern hatten ihr die Blume zum Einzug geschenkt und sie genoss gern den Duft. Auf ihren Knien lag ihr Notizbuch. Dort notierte sie wichtige Termine, Verdachtsmomente und Besonderheiten der Fälle, die sie bearbeitete in Steno, einerseits um Platz zu sparen andererseits damit es nicht gleich für jeden lesbar war. Heute notierte sie einen Kurzbericht über den Blutspendetermin.

Plötzlich musste sie an eine kleine Episode aus ihrer Ausbildungszeit denken. Damals war sie mit Josef Tann zu einem Einbruch gerufen worden und hatte sich schnell alle Fakten notiert. Tann hatte ihr das Heft aus der Hand genommen, um zu sehen was sie schrieb. Er starrte auf den Text, gab ihr das Notizbuch zurück und meinte etwas anzüglich:

»Sieht aus als sei ein Huhn drüber gelaufen. Hoffentlich können Sie später noch lesen, was da steht!« Verärgert hatte sie geantwortet: »Ich schon!« Er hatte sie irritiert angesehen, dann plötzlich gegrinst und gemeint: »Fein, dann schreiben Sie heute den Bericht!«

Sie musste lächeln, als sie daran dachte und begann mit schnellen Strichen den Abend aufzuzeichnen. Als sie den Speisesaal beschrieb, fiel ihr ein, dass ein Mann es sehr eilig gehabt hatte. Sie hatte ihn nur flüchtig gesehen, trotzdem war ihr aufgefallen, dass er groß und kräftig war, blondes kurzes Haar und einen Schnauzbart trug, was für einen Mann seines Alters, sie schätzte ihn auf etwa dreißig Jahre, etwas ungewöhnlich war. Er wäre ihr gar nicht aufgefallen, wäre er nicht so in Eile gewesen. Er hatte sich gerade hingesetzt, als sie hereinkam, war mit einem überraschten, aber freundlichen Blick auf ihre Erscheinung gleich wieder aufgestanden und hinaus gegangen, ohne einen Bissen gegessen zu haben. Jetzt, als sie es aufschrieb, kam ihr sein Benehmen merkwürdig vor, und sie fragte sich, ob es ihr Erscheinen war, was ihn vertrieben hatte.

Der Gedanke daran ließ sie die ganze Nacht nicht los und am anderen Morgen fuhr sie gereizt und verschlafen zum Dienst.

Es war Samstag und sie hatte Bereitschaft, während Hauptkommissar Tann sein freies Wochenende nahm. Während des Tages vergaß sie den kleinen Zwischenfall und widmete sich den letzten Vernehmungsprotokollen und einer Aufstellung von Geräten, die auf der Baustelle gestohlen wurden. Es war ein ruhiges Wochenende, zum Glück, denn aufgrund der Blutspende fühlte sie sich müde und schlapp. Kaum war sie zu Hause, legte sie sich hin und schlief ein. In der Nacht zum Sonntag wurde sie weit nach Mitternacht unsanft aus dem Schlaf gerissen. Ein Unfall an der Haller Straße mit drei Verletzten und einem Schwerverletzten. Als sie ankam, war die Feuerwehr gerade dabei den Fahrer aus dem Auto heraus zu schneiden. Das Auto war quer über die Fahrbahn nach links direkt vor einen Baum geprallt. Es waren junge Leute, die von einer Party kamen. Die Frauen hatten im Fond gesessen und waren nur leicht verletzt. Der Beifahrer wurde im Krankenwagen von einem Notarzt behandelt, während ein weiteres Team von Helfern und einem Arzt sich um den Fahrer kümmerten. Vera machte sich Notizen und ging zu den Frauen, die zitternd und frierend am Straßenrand unter einer Decke hockten. Sie nahm die Personalien auf und erkundigte sich nach dem Hergang des Unfalls.

Ein Reh war über die Fahrbahn gelaufen, der Fahrer hatte gebremst, war zu weit nach links gerutscht und direkt vor den Baum geprallt. Vera registrierte leichten Alkoholgeruch und erkundigte sich, ob auch der Fahrer Alkohol zu sich genommen hatte, was von beiden Frauen verneint wurde. Noch während die Kommissarin die Frauen vernahm, landete kaum fünfzig Meter entfernt ein Hubschrauber. Der Wind blies den Anwesenden scharf ins Gesicht, und der Helikopter blieb mit laufenden Rotoren stehen, während zwei Männer mit einer Bahre heraus kletterten. Den Feuerwehrmännern war es kurze Zeit zuvor gelungen, den Fahrer aus dem Wrack zu befreien und wenige Minuten später flog der Rettungshubschrauber mit ihm davon. Der Krankenwagen hatte den Beifahrer schon kurz zuvor mitgenommen. Kommissarin Senft ging auf der Straße auf und ab, sah den Kollegen zu, wie sie die Bremsspuren anzeichneten und hielt nach dem Reh Ausschau, von dem die beiden Frauen erzählt hatten. Sie konnte nirgends etwas entdecken, verließ die Straße und ging bis an den Waldrand, aber die Scheinwerfer gaben nicht genügend Licht. Eventuell hatte der Fahrer das Tier gar nicht berührt, oder nur leicht verletzt und es war schon über alle Berge. Als die Kollegen mit dem Abmessungen auf der Straße fertig waren, ging Vera Senft zu ihnen hin und bat sie den Graben bis zum angrenzende Wald auszuleuchten. Dann konnte man etwas sehen, frisch abgeknickte Zweige, die direkt den Weg in den Wald wiesen und dann das Tier etwas versteckt im Gebüsch. Es war tot. Starker Blutgeruch drang ihr in die Nase, als sie sich zu ihm herunter beugte. Das Hinterteil des Tieres war zerschmettert, die Läufe hingen nur noch mit dem Fell am Körper. Wahrscheinlich hatte es sich bis zu dieser Stelle geschleppt. Die Blutspuren waren auf dem niedergedrückten Gras schwach im Licht zu erkennen. Die Kommissarin trat zurück auf die Straße. Ihr Herz hämmerte so stark gegen ihre Brust, dass sie dachte der Brustkorb würde ihr zerspringen. Sie liebte Tiere und dieser Anblick des zerschmetterten Tierkörpers ging ihr ebenso nahe, wie die Verletzungen der Menschen. Sie verständigte das Forstamt. Trotz der späten Stunde war schon wenig später der Förster zur Stelle und nahm den Kadaver an sich.

Es war schon hell als Vera Senft wieder zu Hause war. Sie tippte den Bericht, schlüpfte in ihre Sportkleidung und lief hinaus in den Wald. Nach einer Stunde kam sie verschwitzt, aber mit sich im Reinen und einer Brötchentüte in der Hand zurück. Nach einer erfrischenden Dusche und einem gemütlichen Frühstück auf dem Balkon fuhr sie gegen neun Uhr ins Kommissariat.

Gegen zehn bekam sie einen Anruf aus dem Klinikum in Bielefeld. Man teilte ihr mit, dass bei dem Fahrer des Unfallwagens kein Alkohol im Blut festgestellt worden war. Der Mann war wegen schwerer Kopfverletzungen in ein künstliches Koma versetzt worden und noch nicht außer Lebensgefahr, hatte aber nach Auskunft des behandelnden Arztes durchaus gute Chancen den Unfall zu überstehen. Der Beifahrer war im Gütersloher Elisabeth Hospital behandelt worden und nicht so schwer verletzt, wie anfangs angenommen. Die Frauen waren noch in der Nacht von Angehörigen nach Hause gebracht worden. Die Kommissarin hatte alle Unterlagen zu dem Unfall zusammengestellt, sie an Polizeirat Brunger weitergeleitet und machte sich kurz nach Mittag auf den Heimweg. Nach einer kurzen Pause, nahm sie ihr Rad und fuhr zur Eisdiele nach Herzebrock. Während sie gemütlich ihr Eis löffelte, beobachtete sie durch ihre Sonnenbrille die Menschen, die die Lokalität in Scharen aufsuchten. Eine Gruppe von Radlern, alles Männer, stellten die Räder zur Seite und suchten sich den letzten leeren Tisch auf der anderen Seite. Plötzlich schrak Vera auf, der Mann, der beim Roten Kreuz geflüchtet war, sah zu ihr hinüber, sagte etwas zu dem jungen Mann neben sich und kam direkt auf sie zu.

»Guten Morgen. Schmeckt das Eis?«

Vera sah ihn erstaunt an.

»Kennen wir uns?«

Er grinste und warf sich in den Stuhl ihr gegenüber.

»Wie man’ s nimmt. Ich habe Sie in Marienfeld beim Blutspenden gesehen.«

»Ach?« Sie legte so viele Fragen in dieses Wort, dass er sich genötigt sah, etwas spöttisch zu antworten:

»So tolle Haare gibt es doch nicht zweimal, oder?«

Jetzt musste sie lachen.

»Da sind Sie gleich geflüchtet und haben Ihr Essen stehen lassen.«

»Geflüchtet? Ich hatte einen Anruf bekommen, Bereitschaft. Bei der Feuerwehr.«

Vera kratzte konzentriert die Reste aus ihrem Eisbecher. »Ich dachte schon, ich hätte Sie verschreckt.«

Er stand auf, wies mit der Hand zu seinen Freunden.

»Die anderen warten auf mich. Ich habe Karten für’ s Theater für nächsten Sonntag. Hätten Sie Lust?«

Vera runzelte die Stirn.

»Wir kennen uns doch gar nicht.«

»Was nicht ist, kann ja werden. Übrigens, Vera ist ein ganz toller Name.«

Er legte ihr eine Visitenkarte auf den Tisch und ging ohne sich noch einmal umzusehen zu seinen Freunden zurück. Verblüfft sah Vera ihm nach, zahlte, schnappte sich ihr Rad und fuhr zurück, nicht ohne die Karte einzustecken.

Der Montag begann sonnig und ausgesprochen warm. Schon an der Leitstelle kam Vera ein gut gelaunter Josef Tann entgegen.

»Es geht nichts über ein freies Wochenende mit der Familie«, verkündete er fröhlich und fuhr fort: »War viel los hier?«

Sie lächelte und meinte: »Es ging. Ich hole den Bericht, dann komme ich zu dir ins Büro.«

Der Kaffee stand schon bereit, als Vera Senft mit ihrer Mappe unterm Arm bei Josef Tann erschien. Sie berichtete kurz die wichtigsten Vorfälle und übergab Tann die Abschriften der Protokolle und die Fotos von dem Verkehrsunfall. Während er sich einen Überblick verschaffte, goss sich Vera Kaffee ein und genoss das schwarze Getränk in kleinen Schlucken. Ihre Gedanken waren bei dem Feuerwehrmann. Sie fragte sich, woher er ihren Namen wusste und was ihn dazu gebracht hatte anzunehmen, sie würde mit ihm ins Theater gehen. Sie war gerade intensiv dabei sich vorzustellen, wie es sein würde, mit ihm auszugehen, als sie durch ihren Kollegen abrupt aus den Gedanken gerissen wurde.

 

»Bist du sicher, dass es ein Wildunfall war?«

Sie sah ihn irritiert an, reagierte dann aber sofort.

»Oh ja, ich habe das Reh gefunden und den Förster verständigt. Das steht doch im Protokoll.«

Tann zog eine Augenbraue hoch und sah sie prüfend an.

»Der Förster hat es entsorgt?«

Sie holte tief Luft und nickte.

»Er wohnt dort in der Nähe und war innerhalb einer Viertelstunde da.«

Josef Tann schaute noch einmal in den Bericht, nickte als er die Stelle gefunden hatte und blickte dann wieder zu Vera hinüber, die sich erneut Kaffee eingeschenkt hatte.

»Ist irgendwas vorgefallen, was nicht im Bericht steht?«

Sie schrak zusammen.

»Was meinst du damit?«

»Du bist so abwesend. Irgend etwa stimmt nicht. Zumindest kommt es mir so vor. Geht es dir nicht gut?«

Vera seufzte, setzte ihre Tasse ab und meinte:

»Was soll schon sein. Ich bin halt müde vom Wochenende.«

Josef runzelte die Stirn, legte die Unterlagen zur Seite und goss sich ebenfalls Kaffee ein. Er kannte Vera Senft schon einige Zeit und war sich sicher, dass da etwas war, er würde schon noch dahinter kommen.

Nachmittags fuhren sie gemeinsam zur Beerdigung von Ludwig Schreiner. Wie bei der vorherigen Beerdigung, hatten sie sich etwas entfernt von der Gemeinde der Trauernden postiert und beobachteten von dort das Geschehen. Der Sarg wurde von acht Männern in Rot Kreuz Uniform aus der Kapelle getragen. Vera Senft starrte hinüber und wurde gleich an ihre neueste Eroberung erinnert. Sie vermutete, dass Franz Stauder, der Name stand auf seiner Visitenkarte, regelmäßig an der Blutspende teilnahm, weil er als Mitglied der Feuerwehr um die knappen Blutreserven wusste. Der Anflug von Röte, der ihr Gesicht überzog, als sie die Sargträger beobachtete, war ihrem Kollegen nicht entgangen und er fragte sich erneut, was Vera verheimlichte. Kurz darauf wurde er durch das Geschehen am Sarg abgelenkt und konzentrierte sich ganz auf die Beobachtung der Menschen, die während der Predigt des Pfarrers zum Teil zu Boden blickten, zum Teil aber auch in den Himmel, der sich heute in sonnigem Blau zeigte, einem der Raben hinterher, die den Kirchturm umkreisten oder zu den hohen Bäumen, die am Rand des Friedhofs leise im Wind rauschten. Frau Schreiner hing mit bleichem, unbeweglichem Gesicht am Arm ihrer Tochter, die immer wieder ihre Tränen mit einem weißen Spitzentaschentuch abwischte. Dahinter machte Tann eine Frau aus, die sich bei einem weißhaarigen Mann eingehängt hatte. Sie sah Frau Schreiner sehr ähnlich, er ging davon aus, dass es ihre Schwester war. Er warf einen Blick zu seiner Kollegin hinüber und bemerkte, wie ihr Blick erstaunt einen Mann in den hinteren Reihen taxierte. Als er ihrem Blick folgte, erkannte er Horst Kastner. Sie stieß ihn mit dem Ellbogen an und flüsterte:

»Frau Wiener ist auch da.«

Er entdeckte die Gestalt von Frau Wiener, von Kastner halb verdeckt. Vera hatte schon ihr Notizbuch gezückt und trug etwas ein.

Josef Tann verfügte über ein so gutes Gedächtnis, dass er in der Regel auf derartige Notizen verzichtete. Mit halbem Ohr hörte er die Gebete des Pfarrers, sah wie der Sarg langsam in die Gruft gesenkt wurde und entschloss sich, den Friedhof zu verlassen, um nicht in die Menge zu geraten. Vera Senft steckte ihre Schreibutensilien in die Jackentasche und folgte ihm zum Parkplatz. Ein letzter Blick zu den Menschen, die jetzt langsam am Grab vorbei schritten und plötzlich blieb Vera stehen, stieß Josef erneut in die Seite und flüsterte:

»Der kleine Dicke mit der Halbglatze und der Brille ist Kai Wildmann.«

Josef blieb stehen, sah genau hin und erkundigte sich:

»Ist das einer der Kartenspieler von Volker Wiener?«

Sie nickte und steuerte entschlossen auf das Auto zu. Josef Tann folgte ihr eilig. Beide sprangen in den Wagen und fuhren langsam davon.

»Kannst du dir vorstellen, was Frau Wiener und dieser Kastner auf der Beerdigung zu suchen hatten?« Josef Tann war schon auf dem Parkplatz der Kreispolizeibehörde, als er diese Frage stellte.

Vera Senft sprang aus dem Wagen und antwortete: »Vorstellen kann ich mir vieles, aber ob ich da richtig liege, steht auf einem ganz anderen Blatt.«

»Himmel, Vera«, fauchte Tann, »was ist eigentlich los? Du bist so komisch in letzter Zeit.«

»Dieser Fall macht mir echtes Kopfzerbrechen. Es liegt auf der Hand, dass die beiden Todesfälle irgendwie miteinander zu tun haben. Dass Frau Wiener auf der Beerdigung war, bestätigt es. Aber immer wenn ich eine Theorie habe, kann ich sie gleich wieder verwerfen.«

»Ist das nicht immer so? Wenn wir alle Fakten hätten, wäre der Fall gelöst.«

Sie waren bereits an der Leitstelle angekommen, holten ihre Post ab und gingen in ihre Büros. Vor der Tür hatte sich Vera endlich durchgerungen, von ihrer Begegnung beim Roten Kreuz zu erzählen.

»Das macht dir Probleme!« Tann lachte herzlich. »Ein wenig primitiv für eine Anmache, aber ich denke es war eine.«

»Glaubst du wirklich? Ich hatte das Gefühl, er hängt mit unserem Fall zusammen.«

»Wie sollte er?«

Vera steckte den Schlüssel ins Schloss ihrer Bürotür und drehte sich noch einmal zu ihrem Kollegen um, der ebenfalls sein Büro aufschloss und meinte:

»Wieso nicht?«

Tann verschwand mit einem Schulterzucken im Büro, hängte sein dunkles Jackett an den Haken neben der Tür und schlüpfte in eine helle Weste. Er hatte gerade seinen dunklen Schlips ordentlich über die Jacke gehängt, als es klopfte und Vera herein platzte und verkündete:

»Frau Wiener hat früher in Werther gewohnt. Sicher kannte sie Frau Schreiner und war deshalb auf der Beerdigung.«

Tann stieß die Luft durch die Zähne und sank auf seinen Schreibtischsessel.

»Stimmt. Daran habe ich auf der Beerdigung gar nicht gedacht.«

»Und Kastner hat sie begleitet.«

»Und warum war Kai Wildmann da?«

»Wildmann ist Bauingenieur bei der Montag GmbH. Lorenz Montag war ebenfalls da, auch alle dort beschäftigten Maurer haben an der Beisetzung teilgenommen. Das ist wohl das Mindeste.«

»Kai Wildmann war auch einer der Kartenspieler, die Volker Wiener zuletzt gesehen haben.«

»Das sagtest du schon auf der Beerdigung. Ich frage mich allerdings die ganze Zeit, wer von all denen Ludwig Schreiner den Alkohol verpasst hat.«

»Mir würde schon reichen, wenn ich wüsste, wer die Flasche entsorgt hat.«

Vera holte ihren Notizblock aus der Tasche, warf einen kurzen Blick hinein und meinte nachdenklich:

»Vielleicht sollte ich noch einmal nach Werther fahren und mit Frau Schreiner sprechen.«

»Eine gute Idee«, pflichtete Josef Tann ihr bei und fuhr fort: »Ich nehme mir noch einmal die Mitarbeiter der Montag GmbH vor.«

Cäcilia Tann wuchtete den schweren Karton mit dem aufblasbaren Gartenteich die Kellertreppe hoch. Sie hatte gerade die letzte Treppenstufe erreicht, als ihr Sohn jubelnd auf sie zu geschossen kam. Nur mit einem schnellen Griff zum Geländer konnte sie sich vor dem Absturz retten, aber der wuchtige Karton polterte die Treppe wieder hinunter.

»Christian«, schimpfte sie außer Atem, »du hättest mich bald von der Treppe gestoßen.«

Der Junge bekam einen roten Kopf.

»T’schuldige, Mama.« Er machte ein geknicktes Gesicht, was sich aber gleich wieder aufhellte. »Hast du den Teich gefunden?«

Sie nickte.

»Er liegt da unten. Glaub nur nicht, dass ich das schwere Ding noch einmal hoch schleppe. Das muss dein Vater machen.«

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